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Immer mehr interessierte mich das Schicksal des stillen Dulders, und schon am andern Morgen horchte ich ihn weiter ab.
»Ich war,« so fuhr er fort, »einen Frühling, einen Sommer und zwei Winter im Dienste des Bankiers. Im zweiten Winter stieß mir ein Unfall zu, der mir verhängnisvoll wurde, weil er mein Schicksal verschlimmerte.«
»Wir sollten unsere Herrschaft von einem Ball abholen und standen lange nach Mitternacht noch in Schnee und Kälte vor dem Ballhause. Ich war eingeschlafen, während der Kutscher Flüche murmelte. Plötzlich kam die Herrschaft. Der Kutscher zog die Zügel rasch an, ich schrak auf, stürzte und verletzte mir das rechte Vorderbein.«
»Jetzt war ich unbrauchbar zum Karossier eines reichen Mannes. Um billiges Geld verkaufte dieser mich an einen ehemaligen Leibkutscher, den er starken Trinkens halber hatte entlassen müssen und der Droschkenkutscher geworden war.«
»Nun verschlechterte sich meine Lage ins Qualvolle. Ich reiße alte Wunden auf, wenn ich dir weiter erzähle. Ich will es aber doch tun, damit du weißt, was unsereiner leidet, und damit du selber geduldiger werdest.«
»In der Vorstadt Neudorf stand die Hütte, in welcher mein neuer Herr wohnte. Der Stall, worin ich seither gelebt, war ein Palast gewesen gegen dieses Häuschen. Hinter demselben, durch einen Hof von ihm getrennt, erhob sich eine zerfallende Remise, in welcher die vier Pferde des Droschkenkutschers und seine elenden Wagen untergebracht waren.«
»Ich war zweifellos das schönste der vier Tiere, als ich in den Dienst des Lohnkutschers kam. Meine drei Kollegen, magere, abgeschundene Klepper, nahmen mir aber alsbald mein Hochgefühl und meinten: ›In sechs Wochen siehst du gerade so aus wie wir; denn bei unserm Meister gibt's mehr Schläge als Hafer, und wenn du Hunger hast, kannst du die Streu zu deinen Füßen fressen.‹«
»Nachdem ich ihnen meine Herkunft und mein bisheriges Geschick erzählt, begannen auch sie der Reihe nach mir aus ihrem Leben zu berichten.«
»Allen war es zu wohl gewesen auf dem Land und in den Steppen; alle hatten sich in die Stadt gesehnt, nachdem sie gelegentlich einmal in eine solche gekommen waren. Alle hatten, wie ich, Enttäuschung auf Enttäuschung erlebt, einzelne von ihnen noch weit größere als ich.«
»Rechts von mir stand ein herabgekommener Engländer. Einst galt er als echtes Vollblut, war zum Rennen trainiert und malträtiert worden und hatte seinem Besitzer manch großen Preis gewonnen.«
»Eines Tages war er mit seinem Jockei in rasendem Laufe gestürzt und hinkend geworden. Ohne Rücksicht auf seine bisherigen Verdienste und Leistungen hatte sein Besitzer ihn um einen Spottpreis weggegeben. Er kam dann von einer schlechten Hand jeweils in eine noch schlechtere, bis er zum Droschkengaul herabgesunken war.«
»Mit Erbitterung sprach auch er von dem ihm durch die Menschen bereiteten Lose. Er stampfte in seinen alten Tagen heftig auf den Boden, wenn er erzählte von den Wettrennen und von den Qualen und Plagen, welche er dabei auszustehen hatte. Nach Atem ringend, aus weiten Nüstern nach Luft stöhnend, schweißtriefend und an allen Gliedern zitternd, standen die armen Pferde nach dem Rennen da, während ihre Herren, unbekümmert um die abgehetzten Tiere, davon fuhren, um bei Sekt und Austern die Schinderei und ihren Verlauf zu besprechen.« –
»Mir zur Linken stand ein alter Ungar. Die helle Freude glänzte in seinen dunklen Augen, wenn er von seiner Jugendzeit auf den Pußten seiner Heimat erzählte, wie er und seine Eltern und Verwandten die Steppe auf und ab galoppierten, oder in Herden rasteten an stolzen Flüssen, während ihre Hirten um lodernde Feuer tanzten, sangen und musizierten.«
»Groß geworden, war mein Ungar in den Besitz einer Zigeunerbande gekommen und hatte mit derselben halb Europa durchzogen. Er lobte diese Zeit und die Zigeuner. Sie sorgten allzeit für ihre Pferde, und wenn diese nichts auf grüner Heide fanden, stahlen ihre Herren bei den Bauern das Futter für ihre Tiere.«
»Stets lagerten die Zigeuner im freien Feld unter Gottes offenem Himmelszelt, und das gefiel dem Ungar tausendmal besser als das Wohnen in dumpfen Ställen.«
»Die Bande, der er viele Jahre treu und redlich gedient hatte, wurde wegen eines Diebstahls im Elsaß teils gefangen, teils zersprengt. Die Pferde wurden gepfändet und versteigert, Dabei war der Ungar in die Hände unseres Droschkenkutschers geraten. Er fühlte sich sterbensunglücklich in diesem Dienst und hatte großes Heimweh nach seinen braven Zigeunern und nach dem freien Leben auf der Landstraße und auf der Heide.«
»Der vierte Gaul in unserm Stall war der einzige mit seinem Schicksal zufriedene. Er war ziemlich schwächlich auf die Welt gekommen, taugte deshalb, groß geworden, weder zum Zug noch zum eleganten Springen. So kam er frühzeitig an die Droschke, kannte kein besseres Los und war darum zufrieden.«
»Wenn wir andern, die bessere Tage gesehen hatten, seufzten und stöhnten über unser Schicksal und über den Droschkendienst, so hielt er begeisterte Reden auf den Stand eines Droschkengauls.«
»›Was wären,‹ so rief er oft aus, ›die Menschen in den Städten ohne uns Droschkengäule! In tausend Verlegenheiten stünden sie, besonders zur Nachtzeit, mit ihrem Gepäck an den Bahnhöfen, wenn wir nicht da wären und sie in die Hotels oder heimführten. Und die besseren Bürger und Bürgerinnen und alles Herrenvolk müßte an die Bahn zu Fuß gehen bei allem Wetter, wenn wir sie nicht dahin brächten.‹
›Alle Leute, bei denen Zeit Geld bedeutet, sind in den großen Städten froh, wenn sie mit der Droschke schnell ans Ziel und wieder heimkommen.‹
›Kranke und Genesende könnten keine frische Luft in Gottes freier Natur genießen ohne uns, Gesunde und Erholungsbedürftige keine Lustfahrten aufs Land machen, wenn es keine Droschken gäbe.‹
›Angeheiterte Arbeiter, die blauen Montag machen, brächten die letzten Groschen nicht weg, wenn sie nicht Droschken fahren könnten.‹
›Verschämte Liebende wüßten nicht, wo sie allein sich ungestört treffen könnten, wenn keine Droschken existierten.‹«
»Der Gaul, der so sprach, war ein wahrer Philosoph, der seinem elenden Stand noch eine gute Seite abzugewinnen wußte.«
»Mich hat er manchmal getröstet durch seine Lobsprüche auf das gemeine Volk der Droschkenpferde, die so verachtet und doch so nötig sind.« –
»Wir vier taten immer je zu zweit Dienst, abwechselnd zwei am Morgen und zwei am Nachmittag; denn unser Kutscher führte einen Zweispänner und hatte seinen Standort auf dem Kleberplatz.«
»In der Regel war ich mit dem Zufriedenen zusammengespannt, und die Lebensweisheit, mit der er sich in unseren trostlosen Beruf schickte, rettete mich zeitweilig vor Verzweiflung über mein Los.«
»Es gibt in der Tat, wenn man nicht ein Weltweiser ist wie unser vierter Gaul, den wir aber im Ingrimm oft einen Esel nannten wegen seiner Zufriedenheit, nichts elenderes als einen Droschkengaul.«
»Ruhelos bei Tag und Nacht, schlecht gefüttert und schlecht behandelt, allen Unbilden des Wetters preisgegeben, von allen Bresten und Gebrechlichkeiten heimgesucht, in der Brust die nagende Erinnerung an bessere Tage, von den Menschen verachtet statt bemitleidet, das sind die Merkmale eines Droschkenpferdes.«
»O, wie oft stand ich in Regen und Wind, in Eis und Schnee auf dem Kleberplatz in Straßburg und fror und hungerte und zitterte! Es war mir schon eine Wohltat, wenn in solchen Tagen ein Mensch in die Droschke stieg und ich mich wieder warm laufen konnte.«
»Und was haben wir gelitten von den Launen und von der Roheit unseres Kutschers.«
»Er war ein Trunkenbold. Verdiente er viel, so trank er viel, und dann schlug er in seinem Rausch erbarmungslos auf uns ein. Verdiente er wenig, so war er schlechter Laune, und diese ließ er auch wieder an seinen geschundenen Pferden aus.«
»Wer noch mehr litt als wir, das war sein braves Weib. Sie mußte ihm, wenn er am Abend heimkam, die Pferde putzen und füttern, damit er seinen Rausch alsbald ausschlafen oder, wenn er noch nicht ganz betrunken war, in einer benachbarten Kneipe weiter trinken konnte.«
»Unter Tränen pflegte das arme Weib, das dazu noch eine Schar kleiner Kinder aufzuziehen hatte, uns, ihre Leidensgefährten, und wir vier wahrhaftig auch nicht Glücklichen sagten uns oft, ein unglückliches und überdies armes Weib sei doch das erbarmungswürdigste Geschöpf auf Erden.« –
»In den ersten Tagen, da ich auf dem Kleberplatz stand, erneuerte ich auch eine alte Bekanntschaft. Es traf sich, daß zwei Droschken neben einander hielten, und da erkannte ich in dem einen der Pferde an der andern Droschke meinen ehemaligen Stallgenossen, den ›Professor‹.«
»Er war so herabgekommen und stand so traurig da, daß ich tiefes Mitleid empfand mit dem einst so stolzen und gelehrten Kollegen.«
»Eine große Träne des Schmerzes und der Verzweiflung trat aus seinem mir zunächst stehenden Auge, als ich ihn an unsere Bekanntschaft erinnerte und ihn fragte, wie es ihm ergehe.«
»Ich konnte die Gedanken, die er mir mitteilen wollte, aus seinen Augen lesen.«
»›O wäre ich nie,‹ so sprach er, ›in die Hände eines Gelehrten geraten; denn je gebildeter ein Geschöpf ist, um so unglücklicher wird's, wenn schlimme Tage kommen und es nichts anderes hat als seine Bildung.‹
›Was nützt mir jetzt all mein Wissen an der Droschke eines armen Kutschers; was nützt es mir für Regen und Wind, für Hunger und Kälte!‹
›Ich bin der unglücklichste unter uns Droschkengäulen allen, weil ich der gebildetste bin.‹
›Im Unglück sieht man erst ein, wie wenig einem die Bildung hilft, um sich aufzurichten‹«
»So lautete seine Augensprache.«
»Bei all seinem Elend aber konnte es der heruntergekommene Professorsgaul nicht lassen, zu spötteln und zu höhnen, wenn ein geistlicher Herr oder gar ein Kapuzinerbruder des Wegs daherkam, wenn wir auf dem Kleberplatz standen.«
»Stieg gar einmal ein verspäteter Kapuziner, der von auswärts gekommen war und noch ins Kloster Königshofen fahren wollte, in seinen Wagen, so schlug er hinten und vornen aus; denn er hatte es noch von seinem alten Herrn im Leib, daß die Mönche die gefährlichsten und verächtlichsten Menschen seien.«
»Unsere Kutscher waren nicht so wild gegen die Geistlichkeit: ihnen, die meist altelsässisches Blut in den Adern rollen fühlten, waren allein die ›Prüße‹ verhaßt, welche in ihrem schönen Land die Herren spielten und keine Trinkgelder bezahlten.«
»Sie sprachen oft von den alten, schönen Tagen, da die Franzosen noch in ›Stroßburi‹ die erste Rolle spielten und ihr Geld springen ließen wie Heu.«
»Mir war es zu allem Elend entsetzlich langweilig auf dem Kleberplatz, und ich beneidete jeden Bauerngaul, der an uns vorüberzog, um sein besseres Los.«
»In Wahrheit, ich komme nochmals darauf zurück, wer vermag die Leiden eines Droschkengauls auf den Straßen und Plätzen unserer Städte zu schildern?«
»Gibt es einen bemitleidenswerteren Anblick als den eines solchen Geschöpfes, wie es gesenkten Hauptes dasteht und aus seinen Augen eine Flut von Wehmut und aus allen Linien seines Leibes ein Meer von Müdigkeit sprechen läßt?«
»Tausende gehen an ihm vorbei, heiter, lustig, lachend, scherzend; keiner bekümmert sich um das arme Tier und keiner ahnt das Elend, an dem er vorübereilt.«
»Ein Milchkarrengaul ist ein König gegen einen Droschkengaul. Er kommt wieder zur Stadt hinaus, arbeitet auf Feld und Flur und hat zur rechten Zeit seine Nahrung und seinen Trank.«
»Die Droschkengäule haben allzeit nur Pflaster- und Straßenstaub zu treten, leiden oft Durst in der Nähe der städtischen Brunnen, weil es verboten ist, sie an denselben zu tränken. Und wenn ihr Herr Passagiere hat, so fährt er zu, ohne an den Hunger und Durst seines Gaules zu denken.«
»Drum war ich herzlich froh, als eines Tages meinem Herrn seine Wagen und Pferde gerichtlich versteigert wurden. Schlechter, so sagte ich mir, kann es dir nicht gehen, als in Neudorf. Der Jude, von dem er Hafer und Pferde bezog, hatte den Verkauf veranlaßt.«
»Am gleichen Tag, da wir unter den Hammer kamen, war der berühmte Pferdehalter Jenne von Freiburg in Straßburg, erfuhr von der Steigerung und erstand mich und meinen Kameraden für die Freiburger Pferdebahn.«
»Doch für heute genug. Ich sehe, du bist noch nicht rasiert, was du immer am Fenster tust. Also schließe die Vorhänge und rasiere dich, und ich schließe dieses Kapitel.«