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2.

Was war das für eine wundervolle Stadt, das alte Gohlungen!

Ihre Straßen waren nicht schön, und der Markt mit dem alten Rathaus in der Mitte und den Linden und den alten Beischlägen ringsum lag meistens still da. Man konnte zur englischen Vorstadt hineinkommen und zur polnischen Vorstadt herausgehen, ohne einen Menschen zu treffen, wenn nicht gerade ein paar Mägde bei der Pumpe in der Ecke des Marktes standen und mit den Eimern an der Pede Wasser holten. Dann aber wieder wimmelte es wie in einem Ameisenhaufen. Lange Wagenzüge fuhren, ohne abzureißen, durch die Stadt, auf dem Markt standen dicht bei dicht die Karren der Verkäufer vom Lande und hatten mehr, als die viertausend Gohlunger zum Essen, zum Einmachen oder als Vorräte gebrauchen konnten. Zwanzig Kastenwagen oder noch mehr standen da mit Kartoffeln oder mit Kohlköpfen, eine ganze Reihe von Ständen entlang wurden Fische aus den benachbarten großen Seen angeboten, in großen Holzkästen wimmelten die grünen oder braunen Krebse, Kälber und halbe Schweine hingen an eisernen Haken. Je nach der Jahreszeit lagen Kiepen voller Erdbeeren, Blaubeeren oder Brombeeren aus dem Stadtwald oder dem Tannenwald herum. Dazwischen schoben sich die Hausfrauen mit den bauschigen Turnüren durch das Gedränge, die Mägde mit Korb und Tasche hinter sich. Es wurde gerufen, gefeilscht, angepriesen, zurückgewiesen, gekauft, als wäre dieser Dienstagmarkt der letzte, der je stattfinden würde. Gegen Abend lag die Stadt wieder still, und die alten Weiber aus dem Armenhaus sammelten unter der Aufsicht der Polizisten Daniel und Geball die Papierfetzen und den zurückgebliebenen Kehricht auf, und am nächsten Tag war der Markt wieder wie ausgestorben.

Aber am Freitag ging es wieder los und am nächsten Dienstag schon wieder. Man wußte nicht, wer das alles kaufen konnte, aber es wurde gekauft, das Stof Erdbeeren für drei Pfennig, das Schock Krebse gar für fünfzehn, ganz zu schweigen von den Hammeln und Kälbern, die dutzendweise unter dem Hackbeil der Metzger verschwanden und in die Markttaschen und Körbe wanderten, und den Karotten und Radieschen und den Kaulbarsen und Karauschen, die mit offenen Mäulern und blutigen Kiemen noch nach Luft zu schnappen schienen.

Aber die Landleute kauften auch in der Stadt. Die Kommis der Manufakturwaren- und Konfektionshandlung von A. W. Seidel hatten alle Hände voll zu tun, wälzten die Ballen der bedruckten Kattune, maßen mit der Elle, schnitten mit der Schere. Fitzelband, Barchent, Knöpfe, große Wirtschaftsschürzen häuften sich auf den Tonbänken, Fräuleins kletterten auf den hohen Leitern auf und nieder, und dazwischen ging Herr Seidel mit dem Kneifer auf der Nase im Laden herum, rieb sich hier schmunzelnd die Hände, schnauzte dort, machte hier eine Verbeugung, riß dort eine Tür auf. Nicht anders ging es bei Heinz Winkler am Markt zu, dessen Mutter an der Kasse saß, ganze Geldhaufen einstrich und mit bewunderswert schnellen Fingern herausgab. Selbst bei Amendes, obwohl sie weniger auf die Markttage angewiesen waren, war der Laden voll von Leuten, die Formulare und Einwickelpapier, Gesangbücher und Haussegen haben wollten, Kalender und Bleistifte und Federn, denn damals fing man auch auf dem Lande schon an, einzutragen und Buch zu führen. Auch hier setzte sich Frau Ernestine an die Kasse, rief Fräulein Haase zu, wo die neuen Milchbücher lagen, suchte unter den Rollen Pergamentpapier die leichtesten heraus. Willy unterhielt in der Zwischenzeit die Kunden, fragte sie nach ihrer Zufriedenheit mit der Zeitung und dem Befinden der Frau Gemahlin. Der alte Amende ging wortlos herum, bot hier und da schweigend eine Prise Schniefke an und stieß plötzlich wie ein Habicht zu, wenn er irgendwo Unordnung witterte. An diesen Tagen kam man auch bei Amendes nur spät und einzeln an den Mittagstisch.

Noch lauter aber ging es im Englischen Hof und bei Scheffler oder bei Leßheim zu. Die Ställe waren überfüllt, und die Pferde standen bis in die Einfahrt. Alle Augenblicke mußte jemand mit der Peitsche herausstürzen und dreinschlagen, weil die Pferde sich schlugen und bissen. Die Männer saßen in den Gaststuben oder standen an den Tonbänken, besprachen Verkauf und Einkauf, schmissen Lagen und gossen einen »Bonbon« nach dem andern in die Gurgel. Wenn es zu laut wurde, erschien der Hausknecht mit aufgekrempelten Ärmeln in der Tür, denn auf die Polizisten konnte man nicht warten. Die hatten auf dem Markt genug zu tun, und alle Augenblicke sah man, wie der dünne strenge Geball oder der dicke gutmütige Daniel einen am Schlafittchen hatte und abführte.

So ging es an den Markttagen zu, aber das war nicht alles. Was die Gohlunger wirklich beschäftigte, das waren die großen alten Adelsfamilien der Umgegend. Da saßen die Dohnas auf wohl zwanzig Gütern, die Grafen Kanitz, die Barone v. d. Goltz, die Finkensteins, die Freiherren v. Buddenbrok, die v. d. Gröben, die Edlen v. Greve, um nur einige zu nennen. Die Gohlunger kannten sie alle, wenn sie in die Stadt gefahren kamen, um Einkäufe zu machen. Sie erkannten sie schon von weitem an den Pferden, den Wagen und den Kutschern. Wenn Graf Kanitz, der Landrat, der im Dohnaschlößchen residierte, eine Gesellschaft gab, dann stand es in dichten Reihen um das Barockportal des Schloßhofs, um die Auffahrt der Coupés und Karossen anzusehen. Einige Mutige drückten sich auch in den Hof hinein, und ganz Bevorzugte wurden vom Kreissekretär Schäfer, der auch im Dohnaschlößchen wohnte, eingeladen, die Auffahrt vom Fenster aus zu bewundern, wo man die Herrschaften sogar aussteigen sehen konnte. Die Gohlunger hatten ganz recht, denn die Gesellschaft, die sich jährlich zwei-, dreimal im Dohnaschlößchen versammelte, stand nicht hinter der Berliner Hofgesellschaft zurück, ja es war dieselbe. Und die Gohlunger Kaufleute, Heinz Winkler oder Herr A. W. Seidel oder der Apotheker Schnepper, bedienten nicht geringere Herrschaften als irgendein Hoflieferant in der Residenz.

Mit diesen Kreisen hatten gewöhnliche Sterbliche natürlich keine Berührung. Es war schon viel, sie zu sehen oder ihnen im Laden mit einem Bückling die Tür aufreißen zu dürfen, und kaum dem Landrat konnte man auf der Straße begegnen. Meistens fuhr er im Wagen zur Stadt hinaus, oder er erging sich mit der Gräfin und den Komtessen im Garten des Dohnaschlößchens, der im alten Burggraben hinter dem Schloß angelegt war und im weiten Schwung fast ein ganzes Viertel der Stadt umspannte. Ein Teil dieses Gartens war dem Kreissekretär Schäfer zugewiesen, und wenn Willy Amende seinen Freund dort besuchte, konnte er bei gutem Glück die gräfliche Familie hinter Buchsbaumhecken in der Ferne wandeln sehen. Aber zweimal im Jahr mengten sich auch die Adelsfamilien unter das Volk. Das eine Mal im Herbst auf dem Bazar des Frauenvereins vom Roten Kreuz, dem die Landrätin vorstand. Der große Saal und die Nebenräume des Deutschen Hauses waren dann in ein orientalisches Zeltlager verwandelt, in dem die Frauen und Töchter der Honoratioren die gestifteten Torten und Beutel, Mappen, Bilder, Straußenfedern, Vasen, Aschbecher und tausend Andenken und Geschenkartikel zu wohltätigem Zweck verkauften. In besonderen Buden wurde nach Preisen geschossen, gewürfelt und das Glücksrad gedreht, und in einem rot ausgeschlagenen Zelt verkauften die schönsten jungen Frauen – immer war die Frau Kreisbaumeister Bresgott darunter – glasweise Sekt Auf der Bühne wurde von Liebhabern ein Lustspiel gespielt oder auch von Dilettanten Musik gemacht. Auch hier zeichnete sich die Kreisbaumeisterin aus, indem sie mit ihrer herrlichen und sogar ausgebildeten Stimme Lieder von Abt oder Franz oder gar von dem modernen und schwer verständlichen Hildach sang. Oft mußte auch Herr Schnepper mit seiner Geige heran. Dann gab es gewöhnlich das Largo von Händel oder das Ave Maria von Bach-Gounod. In einem Nebenraum spielten drei Mann von der Pelzschen Kapelle aus Elbing zum Tanz auf. Jeder Tanz kostete einen Groschen.

Alles, was in Gohlungen zur besseren Gesellschaft gehörte, freute sich das ganze Jahr über auf diesen Bazar. Nur die Kaufleute schimpften, weil sie Waren in Menge unentgeltlich hergeben mußten, ohne daß der Ertrag des Festes auch nur einigermaßen im Einklang mit ihren Opfern gestanden hätte. Aber gegen die allgemeine Begeisterung für den Bazar konnte niemand ankämpfen. Jedes Jahr leitete er die Wintersaison mit ihren Gesellschaften und Tanzabenden ein, und es war ein so vornehmer und offizieller Auftakt, wie man sich ihn nur wünschen konnte. In einer Bude zu verkaufen oder gar bei dem Theaterstück mitzuwirken, war hohe Auszeichnung. Das ganze Jahr über wurde von den einzelnen Leistungen oder den Kleidern, die die Damen getragen hatten, gesprochen. Jedesmal gegen Abend erschien der Landadel im Saal, kaufte pflichtschuldig von dem Tand, ließ sich Sekt einschenken, sah dem Tanz oder auch dem Theaterstück zu und zog sich nach einer Stunde zurück. Das Fest aber ging mit Trinken und Tanzen bis weit in die Nacht hinein weiter. Hier spannen sich die Verlobungen an, wurden von der allgemeinen Meinung gutgeheißen oder von Beginn an mit übler Nachrede verfolgt. Hier zeigte es sich, wer mit wem verkehrte. Hier wurden die Händedrücke gemessen oder die Worte gezählt, die das landrätliche Paar austeilte.

Das zweite Fest fand zur Zeit der größten Kälte im Januar oder Februar statt und hieß kurzweg Schlittenfest. An ihm konnte jeder teilnehmen, der Schlitten und Pferde hatte oder von Bekannten in einen Schlitten aufgenommen wurde. Die Schlitten des ganzen Kreises versammelten sich um vier Uhr nachmittags in der Zölp. Die Zölp war eigentlich der Sitz der Verwaltung des Oberländischen Kanals, der die großen Seen miteinander verband und durch seine »schiefen Ebenen«, ein Schleusensystem nach amerikanischem Muster, berühmt war. Die Zölp lag malerisch an der Stelle, wo der Kanal aus dem Samrothsee hinaustritt und in den Rötloffsee einmündet. Gegenüber dem Sitz des Regierungsbaumeisters lag, ganz im Walde und unter hohen Bäumen, ein Gasthaus, das beim Schlittenfest seinen großen Tag erlebte. Es hatte fast den ganzen Kreis Gohlungen mit Spritzkuchen und Raderkuchen, mit Kaffee und mit Grog zu laben und zu letzen. Zwei Stunden lang drängte sich alles in den Zimmern und auf der großen heizbaren Glasveranda zusammen. Dann sank die Zölp wieder in ihre ländliche Ruhe zurück.

Die Gutsbesitzer, die auf dieser Seite von Gohlungen wohnten, fuhren direkt nach der Zölp, aber die Schlitten von der anderen Seite des Kreises und aus der Stadt selbst sammelten sich gegen zwei Uhr auf dem Markt von Gohlungen. Es war ein Korso von unvergleichlicher Pracht der Pferde und Gefährte. Man sah Geschirre, die über und über mit schwerem Silber beschlagen waren, ganze Kettengehänge von Glocken und Glöckchen, malerische Kopfaufputze der Pferde aus blauen und roten Federbüschen, silbergewirkte Netze, die den Tieren übergeworfen waren, scharlachrote Schabracken mit Goldstickereien. Einige spannten drei Pferde nach Art einer russischen Troika zusammen, wieder andere zwei Pferde, aber nicht neben-, sondern hintereinander. Im allgemeinen aber hielt man sich lieber an die landesübliche Art und fand die besondere Bespannung gesucht. Es waren durchgehends so wundervolle Schlitten, daß die Gohlunger sich schon freuten, wenn wenigstens der Schlitten des Herrn A. W. Seidel nicht allzusehr von den anderen abstach.

Eine Stunde lang etwa fuhren diese Schlitten auf dem Markt herum und ließen sich bewundern, dann kam der schwere, metallbeschlagene Schlitten des Landrats mit den beiden breitbrüstigen Rappen aus dem Portal des Schlößchens gefahren, fuhr einmal zum Gruß um den Markt herum, setzte sich an die Spitze, und nun ging es im schlanken Trab durch die englische Vorstadt und den schneeüberhangenen Wald zur Zölp, wo man sich mit den anderen Schlitten vereinigte. Gegen sieben Uhr abends aber fuhr die ganze Kavalkade wieder in Gohlungen ein. Zwei Fackelträger sprengten dem Zug voraus, und in jedem Schlitten brannte qualmend und durch die schnelle Fahrt nach hinten gerissen eine Pechfackel. Die Gesichter waren durch das unstete Licht seltsam verzerrt, Lederzeug und glänzende Beschläge, seltsame Formen von Schlittenkufen, kostbare Pelze, schlanke Tierleiber und Frauengestalten, alles zitterte im Schein der magischen Beleuchtung vorüber und zog durch den Dampf der Pferde und der Fackeln wie auf Nebelwolken hoch in den Lüften einher. Bei dem schnellen Tempo mußte man sich von Schlitten zu Schlitten zurufen, wenn Stockungen eintraten, um nicht auf einanderzupreschen. Es war ein phantastischer Zug von Lichtfetzen, Dampfschwaden und lautem Hussa. Der Schwärm fiel in das Hotel Dorsch ein, und dort ging es nun die ganze Nacht hindurch mit Essen, Trinken und Tanzen. Die Champagnerpfropfen knallten, die Wachslichter bogen sich unter der Hitze, der Boden dröhnte unter dem Stampfen der Quadrillen und dem Scharren und Schleifen der Tanzenden. Erst gegen Morgen fuhren die letzten Schlitten fort.

Das waren die beiden Feste, auf denen sich der Landadel unter die Gohlunger Gesellschaft mischte. Aber auch sonst, wenn man mehr unter sich war, fehlte es nicht an Abwechslung. Da gab es zum Beispiel alljährlich Kaisers Geburtstag. Am Vormittag zog der Kriegerverein mit einer wehenden Fahne einmal um den Markt, voran die Musikkapelle, dann die Reserveoffiziere im Waffenrock und Helm, hinter ihnen in schwarzen Gehröcken, mit Regenschirmen in der Hand und Zylinderhüten auf dem Kopf, in Abmärschen zu vieren die gedienten Soldaten. Wer von ihnen noch den Krieg mitgemacht hatte, war an Orden und Ehrenzeichen kenntlich. Vom Markt zog man an das Kriegerdenkmal, das in dem von alten Kastanienbäumen überwölbten Schloßhof lag. Dort, wo auf dem Sockel die Namen der gefallenen Gohlunger eingemeißelt waren, wurde ein Kranz mit schwarzweißroter Schleife niedergelegt, und der Vorsitzende des Kriegervereins hielt dazu eine Rede und brachte das Kaiserhoch aus, das man drei Straßen entlang hören konnte. Dann kam der Parademarsch vor dem rangältesten Offizier. Es war diesmal nicht der Landrat, der in der leuchtenden Uniform der Gardedragoner ein wenig zurücktrat – denn er konnte sich immerhin nicht gut in Reih und Glied stellen –, sondern der alte Posthalter Rekittke als Rittmeister der Landwehrkavallerie. Es war der schönste Tag im Jahr für den alten Herrn. Er stand in seiner blauen Uniform mit der Hand am Tschako da und ließ die Reihen an sich vorüberdefilieren. Ein eisengrauer Bart wallte ihm auf die Brust hernieder und ließ nur noch gerade so viel Platz, daß das Eiserne Kreuz auf dem Waffenrock sichtbar war. Vor ihm aber marschierten die jüngeren Offiziere mit den herausgezogenen blitzenden Degen, warfen die Gehrockmänner die Beine, klemmten die Regenschirme gegen die Schultern und reckten die fetten oder sehnigen Hälse aus den weißen Kragen. Ringsherum standen die Honoratioren und Kinder und sahen zu, wie der aufsichtführende Amtsgerichtsrat Vogel, für heute ein Oberleutnant, die kurzen Beine warf, schüttelten den Kopf über Dr. Palleske, der als Oberarzt nicht mitmarschierte und überhaupt kein vollgültiger Soldat schien, und verachteten geradezu trotz seines schwarzen Federbusches den Gutsbesitzer Siebenroth, der nur Leutnant des Trains war. Unnötig zu sagen, daß im Anschluß an diese Parade ein offizielles Mittagessen stattfand, dem fernzubleiben schon an Landesverrat grenzte. Es dauerte bis in die Nacht hinein und war schon ein halbes Jahr vorher der Schrecken der Hausfrauen, denn keine Betrunkenheit konnte groß genug sein, um dem überquellenden Patriotismus Ausdruck zu geben.

Dem Dohnaschlößchen gegenüber lag das eigentliche Schloß auf einer Anhöhe. Es stammte noch aus der Ordenszeit und sah weit kriegerischer und burgartiger aus als das Dohnaschlößchen. Obwohl es kleiner war, sagte man doch stets »Schloß« und »Dohnaschlößchen«. Das Schloß beherbergte das Amtsgericht und das Landrentamt, und es war somit Sitz der hohen Behörden, die gleich hinter dem Landratsamt kamen. Man teilte die Gohlunger Familien danach ein, ob sie dem aufsichtführenden Amtsgerichtsrat Vogel oder dem Rentmeister Hennig näherstanden. Die um Vogel waren die eigentliche Gesellschaft, zu ihr gehörten vorzugsweise die Akademiker, also zunächst alle Juristen, die überhaupt in der Stadt tonangebend waren, bis hinab zum jüngsten Referendar und den beiden Rechtsanwälten. Zu ihr gehörten natürlich auch der alte Sanitätsrat Arnold, der Kreisphysikus und der Dr. Palleske, bei dem Apotheker war es schon zweifelhaft. Hier entschied nicht so sehr der Sitz der Hohenzollernapotheke am Markt als die Persönlichkeit. Den Apotheker Schnepper jedenfalls rechnete man zur Gesellschaft, denn er war am Stammtisch mit Witzen und Schrullen unbezahlbar. Von den eingesessenen Gohlunger Familien gehörte ganz unzweifelhaft eigentlich nur der frühere Posthalter Rekittke dazu, aber es war im Laufe der Jahre gekommen, daß auch Herr Seidel, der Inhaber von A. W. Seidel, eine große Rolle spielte. Die Seidels wurden überhaupt mehr und mehr zur ersten Familie der Stadt. Ihre Haltung war geradezu vornehm. Sie wußten ihren Gesellschaften durch herumgereichten Mokka und besondere Kotillonüberraschungen eine weltmännische Note zu geben, und von dem jungen Herrn Seidel, der gerade in Königsberg sein Jahr abdiente, erwartete man in der Stadt mit Bestimmtheit, daß er es bis zum Reserveoffizier bringen würde.

Zu diesem Kreis der Akademiker und ersten Familien gehörte eine Reihe der umliegenden Gutsbesitzer. Auch größere Rittergüter des Kreises waren in bürgerlichen Händen. Manche dieser Familien suchten Anschluß an den Adel, dem sie zum Teil verschwägert waren, legten Wert auf prächtige Gespanne und ließen ihre Söhne vom Gesinde Junker nennen. Andere aber griffen nicht so hoch, hielten sich in ihrem Bezirk, ließen es sich sauer werden auf ihren Klitschen und saßen im Hotel Dorsch auch außerhalb des Schlittenfestes mit den Städtern zusammen, luden Ärzte oder Amtsrichter zur Jagd ein, und es war eigentlich nur das Großartige des Landlebens an sich, das Herrschen über weite Gefilde, das Wohnen in geräumigen Gutshäusern mit Park und Teich und alten Bäumen, die Fülle an Pferden und Geflügel und Hunden und die Untertänigkeit eines ganzen Dorfes, die auch diese einfachen Menschen auf eine feudale Stufe der Lebenshaltung emporhob. In diesen Kreisen war immer etwas los. Man spielte Theater, hielt Kränzchen ab, fuhr aufs Land hinaus, tanzte. Man veranstaltete Wagenfahrten nach der Zölp, Wanderungen nach Golbitten am Mariensee, Picknicks im Tannenwald. Hier waren auch die Übergänge nach unten zu fließend. Man berührte sich vielfach mit den Beamtenfamilien, die zwar an sich nach der üblichen Auffassung der Akademiker subaltern, aber doch auch wieder in gewissem Sinne »Spitzen« waren. Da waren Bürgermeisters, Rentmeisters, Kreissekretärs, Steuerkontrolleurs, Rektors mit ihren Freundschaften und einer Fülle junger Damen und Herren, die zum Theaterspielen, Tanzen und Verloben gut zu gebrauchen waren. Man hielt Grenzen ein, verschob sie aber nach Bedarf.

*

Es war noch sehr die Frage, ob auch die Amendes so ohne weiteres zu diesen Kreisen gehörten. Herr Amende machte sich aus dem gesellschaftlichen Hokuspokus nichts. Er fühlte sich in der Stadt noch immer als Fremder. Wenn er vor seinem Hause auf und ab ging, ärgerte er sich, daß hier die Sonne so tief am Horizont entlangschlich, viel tiefer als in der sächsischen Heimat. Frau Ernestine hatte mit dem Haushalt zu tun, und die beiden Töchter waren verheiratet. Willy vermied es ängstlich, sich in Kreise zu drängen, die nach seiner Meinung über ihm lagen. Er hielt sich zu seinen besonderen Freunden Heinz Winkler und dem Kreissekretär Schäfer. Oft ging er mit ihnen am Sonntag früh mit der Angelrute an das Ufer des Mariensees. Es waren seine schönsten Stunden, wenn der Glast der Frühe noch über dem Wasser lag, die Sonne allmählich zu brennen anfing und sie sich die Röcke auszogen und auch ein Bad nahmen. Jedesmal nahm er sich vor, von jetzt ab jeden Sonntag mit den Freunden hinauszugehen, aber die Nächte von Sonnabend zu Sonntag waren die einzigen, in denen er sich seiner Leidenschaft des Lesens mit gutem Gewissen überlassen konnte, und so lag er denn meistens am Sonntag noch spät im Bett und genoß das behagliche Faulenzen, das ihm sonst nicht vergönnt war. Er liebte es auch, abends im Kreis älterer und erfahrener Männer zu sitzen, wie es die Freunde seines Vaters waren, auf ihre Gespräche zu hören und hin und wieder ein kleines Abenteuer aus Leipzig oder vom schönen Rhein zum besten zu geben. Wenn er, was vorkam, am Stammtisch im Deutschen Haus teilnahm, beängstigte ihn die Redeweise der studierten Männer. Er empfand, wie sehr seiner Entwicklung die ungebundenen Studentenjahre fehlten. Er atmete auf, wenn er wieder in der kleinen Tischrunde im Hinterzimmer bei Heinz Winkler saß. Hier sprach das Leben in reineren Formen zu ihm, hier waren die kleinen Sorgen des Tages und das allmähliche Aufsteigen und Vorwärtskommen von Wichtigkeit. Ihm war, als wenn man hier in der Verbundenheit mit den kleinen Geschehnissen des Alltags dem Leben näher war als bei den lustigen und geistvollen Umschreibungen besonderer Vorfälle, wie sie am Stammtisch üblich waren. Er bangte sich nicht aus seinen Bezirken heraus, und auch seine Liebe zu Regine war von keinen Hoffnungen begleitet, sondern war vielmehr ein unverbindliches romantisches Träumen, ein Ausgleich gegen die Unerbittlichkeit, mit der das Schicksal seine geistigen Triebe zurückgeschnitten hatte. Diese Liebe war eine kleine selbstquälerische Wollust, die er sich gönnte, seit er zufällig im Winter die Bekanntschaft des jungen Mädchens gemacht hatte.

Vielleicht hätte er sich überhaupt nicht in seinen Träumen so weit vorgewagt, wenn da nicht noch ein Hindernis gewesen wäre, das sich jeder ernsteren Hoffnung entgegenstemmte: Die Steinbocks waren katholisch. Es lag ihm fern, die Rechtlichkeit des andern Bekenntnisses anzweifeln oder prüfen zu wollen, ihm genügte eine feindliche Einstellung, die sein Inneres gegen den, wie er empfand, fremden Glauben einnahm. Seine Eltern hätten keine Katholiken in der Familie geduldet. Schon über die bloße Annahme einer solchen Erörterung hätte er erröten müssen. Der Schatten des Leipziger Kantors und Organisten beherrschte bis in diese ferne östliche Welt den Gedankenkreis des Elternhauses und den seinigen. Diese Liebe hatte nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Wenn er den Kopf voll neuer Muster und origineller Druckaufmachungen, voll von den Tabellen der amerikanischen Buchführung, die er im Geschäft eingeführt hatte, zu seinem kleinen Zimmer unter dem Dach emporstieg, dann wollte er oben an etwas denken, das außerhalb dieser ganzen Welt lag, an etwas Unerreichbares, das sich wie ein feiner Hauch über den Staub des Setzersaales und den Geruch der Druckwalzenmasse legte, und es hätte ihn in Scham aus dem Schlaf gerissen, wenn Regine von seinen Träumen auch nur das mindeste geahnt hätte.

Zum erstenmal stieß er heute in seiner Liebe mit der Wirklichkeit zusammen. Niemand hatte in Gohlungen etwas von alten Beziehungen zwischen den Steinbocks und dem neuen Postvorsteher geahnt, und nun tauchte auf einmal Richard Ambrus, der Abgott seiner Knabenjahre, wieder auf, und am ersten Morgen schon fuhr Regine bei seinem Hause vor, und er durfte ihr die Hand reichen und gehörte wie selbstverständlich zu ihrem Kreis. Zum erstenmal empfand er voll Bitterkeit den Abbruch seiner Studien, ging verwirrt neben der Mutter zum Markt zurück und antwortete in seiner Zerstreutheit nicht auf ihre Frage, ob denn die Ambrus' auch Katholiken wären.

»Man hätte es doch erfahren«, meinte Frau Amende und beruhigte sich damit, daß die Gnuschkes jedenfalls evangelisch gewesen wären.


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