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Noch ehe Richard seinen lange aufgeschobenen Besuch in Schwenkendorf machen konnte, kam überraschend ein Brief von Ulrich Reuschhagen an, merkwürdigerweise aus dem nahen Grünwalde.
»Verehrungswürdiger Meister Ambrus!« schrieb Reuschhagen. »Von Dir hört man Heldentaten, die an das Reckenzeitalter gemahnen. Es geht die Sage, Du habest bei einem Exbummel Deines ehrwürdigen Gerichts nach Golbitten ein Achtel Bier alleine ausgetrunken. Wohl dem Staat, der solche Männer zeugt! Ich selbst habe mich inzwischen in Wien und Rom herumgetrieben, und in meiner Abwesenheit sind Dinge passiert, die erst noch sehr meiner Begutachtung bedürfen. Unter anderem hat man meine Schwester Ulrike an den ehrsamen Pfarrer Lemke in Grünwalde verheiratet. Urkundlich wird mir bezeugt, daß in Elbing die Hochzeit stattgefunden habe. Das wird eine schöne Hochzeit ohne mich gewesen sein! Sie genügt mir nicht, ich muß meine Schwester noch einmal und gründlicher verheiraten und habe mich zu diesem Zweck nach Grünwalde begeben.
Kennst Du Grünwalde? Es ist ein Paradies! Die schwindsüchtige Orgel gibt wahre Miserere-Klänge von sich, und das Dorf liegt zwischen See und Wäldern wie ein Larghetto. Hier vertreibe ich mir die Zeit mit Spazierengehen durch stundenlange Rotbuchenwälder, mit Liegen auf dem Wasser, Angeln und Dösen. Kurzum ich lasse mir fast wie gebildete Mitteleuropäer einen Bart stehen. Ich gedenke noch wochenlang hierzubleiben, ehe ich mit Beginn des Winters wieder von Podium zu Podium springe. Aber dazwischen will ich mir ein Fest machen. Nimm einen Wagen, belade ihn mit Jungfrauen, soviel Du kannst. Drei bis vier kann das Pfarrhaus beherbergen. Und eine gleiche Schar ehrliebender Jünglinge. Wir wollen uns Kränze flechten und durch die Wälder streifen. Der Keller meines Schwagers liegt voller Braunsberger Lagerbier, und ein Fäßchen Rotwein habe ich von der würdigen Firma Wolff aus Elbing mitgebracht. Toback ist nach der Vorschrift kühl und trocken aufgespeichert. Uns fehlt nichts als Festteilnehmer. Drei oder vier Tage sind für diesen Feldzug in Aussicht zu nehmen. Schreibe schnell, wann und wie viele Ihr kommt.« –
»Was meinst du, Küken«, fragte Richard die Schwester, »fahren wir nach Grünwalde? und wen nehmen wir mit?«
Paula konnte sich noch nicht darüber beruhigen, daß die häßliche Ulrike Reuschhagen – sie hatte sie in Elbing gesehen – geheiratet habe. Und einen Pfarrer, von dem man immer so viele Kinder bekommt! »Wenn wenigstens Ulrike selbst geschrieben hätte. Ich kann doch nicht auf die Einladung eines Herrn nach Grünwalde fahren!«
»Papperlapapp! Das ist Weibergeschwätz. Ihr wollt noch jede einen besonderen Briefbogen haben!«
Man einigte sich darauf, daß die Geschwister und Regine fahren sollten. Richard wollte noch ein männliches Wesen mithaben. Er hoffte, Eleonore von Stetten in Grünwalde vorzufinden, und brauchte für diesen Fall jemanden, der Regine beschäftigte. Aber sie wußten keinen, der für die Partie geeignet war.
Regine war über die kleine Reise selig und zwang ihren Eltern die Erlaubnis ab. Das evangelische Pfarrhaus erregte in Schwenkendorf Bedenken, aber gerade das evangelische Pfarrhaus gebrauchte Regine still im Innern für sich als kleinen Probepfeil. Sie ließ nicht nach, und nach vielem Hin- und Herreden und Schreiben wurde der Tag festgesetzt. Man wollte an einem Sonnabend hinfahren und Montag nachmittag zurückkehren.
Es traf sich zufällig, daß an diesem Sonnabend auch Erich Steinbock von seiner Manöverübung aus Königsberg zurückkehrte. Er sollte den Vormittag bei Ambrus' verbringen und mittags den Schulwagen nach Hause benutzen. Alle wollten sie um halb eins noch gemeinsam bei Ambrus' essen, ehe sie in verschiedenen Richtungen auseinander fuhren. Der Kutscher Böhnke von Günthers Fuhrgeschäft schimpfte, daß man nicht schon am Vormittag fuhr. Seine Schwarzen würden auf diese Weise erst spät nach Hause kommen, denn bis Grünwalde wären es fast drei Meilen Wegs. Er putzte mißmutig an seinem Geschirr, als Richard mit ihm verhandelte. Aber ihm war nicht zu helfen.
Damit er die Reise bezahlt bekäme, mußte Erich in Uniform fahren, und Stine bekam keinen kleinen Schrecken, als vor der Tür ein Offizier im blauen Interimsrock mit knallroten Aufschlägen und einem blitzenden Säbel an der Seite stand. Sie hatte keine Anrede für ein solches Wesen und stand sprachlos, bis Paula aus der Küche zu Hilfe eilte und den ihr noch fremden Erich mit einer Sicherheit begrüßte, als ginge sie täglich mit Offizieren der verschiedensten Waffengattungen um.
Das Auftreten eines veritablen Leutnants konnte natürlich nicht ohne Einfluß auf die Gesamtlage bleiben. Wenn Paula bis jetzt lächelnd auf Regines demütiges und hoffnungsloses Werben um ihren göttlichen Bruder herabgeblickt hatte, so konnte sich Regine jetzt aufrichten. Auch ihr war es im Augenblick klar, welch hohen Trumpf sie als Bruder in der Hand hielt. Der ganze Ambrussche Salon schien ein anderes Aussehen zu erhalten. Frau Ambrus wagte sich mit ihrer mütterlichen Herzlichkeit nur schüchtern hervor, und wenn der Postvorsteher »Herr Leutnant« sagte, schwang in seiner Stimme ein deutliches Respektsgefühl mit, und er überlegte sich, daß der Offizier nicht so ohne weiteres neben Paula gesetzt werden konnte, sondern die Hausfrau zu Tisch führen mußte. Seine Gedanken gebrauchten geradezu den Ausdruck »zu Tisch fuhren«. Selbstverständlich lehnte er es im Innern ab, daß Menschen unter allerhand unwürdigen Gliederverrenkungen vor einem so jungen Manne strammstehen mußten, aber die Tatsache solcher Machtstellung war nun einmal nicht aus der Welt zu schaffen.
An dem Auftauchen Erichs wurde der heimliche Wettlauf zwischen den beiden Familien Steinbock und Ambrus mit einem Schlage sichtbar. Pferde, Jagd und Rittergut und jetzt noch die Leutnantsuniform auf der einen Seite, und auf der anderen das schmucke weiße Haus mit den Butzenscheiben, die gepachtete Stadtjagd, der von Günther für die Visite gemietete Wagen und der unvergleichliche Referendar, der eine ganze Stadt einfach auf den Kopf stellen konnte – alle diese Werte ordneten sich nun auf einmal in Reihen gegeneinander und rückten aufeinander zu, und auf dem einen Flügel drohte Erich wie ein Kriegselefant machtvoll durchzubrechen, während die Gegenkraft, die von Natur aus dazu bestimmt war, ihn aufzuhalten oder gar zu entwaffnen, Paula mit dem keck aufgenestelten Haar, gerade noch ehrenvoll ihre Haltung bewahrte. Regine aber, die schon drauf und dran gewesen war, durch erbärmliches Retirieren die Stellung der Steinbocks verhängnisvoll zu gefährden, bemerkte mit Erleichterung, daß auch die Gegenseite ihren schwachen Punkt hatte.
Erich beobachtete nicht viel von dem Umschwenken der Flügel auf beiden Parteien. Da er seit sechs Wochen unausgesetzt Gelegenheit gehabt hatte, festzustellen, daß über dem Leutnant der Hauptmann und über diesem der Major steht und die Staffel sich bis ins kaum noch Sichtbare aufwärts verfolgen läßt, erschien ihm sein Rang als nichts allzu Außerordentliches. Immerhin hatte er mit einer gewissen Freude seine Reise in Uniform angetreten und hielt es schon für durchaus zweckmäßig, dem hübschen Ding auf dem Ambrusschen Familienbild als Leutnant und nicht in der Landwirtsjoppe zum erstenmal zu begegnen. Aber Paulas nach außen hin zur Schau getragene Sicherheit und Gewandtheit verbarg ihm das Schwanken der feindlichen Linie. Übrigens liebte er im Verkehr mit Menschen die kühle Sachlichkeit, und so berührte ihn die Distanz, die das Ergebnis seiner Uniform war, nur angenehm, während sie ihn eigentlich hätte erschauern lassen können.
Nun aber war Richard, der auf dem Gericht zu tun hatte, noch nicht auf den Plan getreten, und beide Parteien warteten mit unbewußter Neugier ab, wie die beiden Haupttürme der Schlacht sich gegenüberstehen würden, und vor allem war Regine gespannt, ob von dem Glanz ihres Bruders ein Schimmer auf sie selbst zurückfiel. Man sah es Richard, als er kam, deutlich an, daß er draußen bereits Mütze und Säbel bestaunt hatte, und es war unverhohlene Anerkennung in seinen Schritten, mit denen er auf Erich zuging, um ihn zu begrüßen. Man konnte sogar feststellen, daß seine lärmende Art ein wenig gedämpft war, ja seine Haltung hatte dabei etwas leicht Militärisches. Er drückte die Schulterblätter zurück und die Brust heraus. Es war schon ein deutlich festzustellender Erfolg der Steinbocks, aber andererseits war nicht zu leugnen, daß die Anwesenheit des Offiziers und die Kameradschaftlichkeit, mit der er ihn begrüßte, auch Richard selbst erhöhte. Man sah ihn, der bald selbst an sein Dienstjahr denken mußte, gewissermaßen schon in Uniform und stellte sich vor, wieviel »militärischer« er sich ausnehmen würde als der stillere und ein wenig schwerfällige Erich. Dem Angriff war, so fühlte man, die Hauptstoßkraft genommen, aber immerhin drohte die Uniform als eine Macht von nicht zu unterschätzendem Gewicht, und wenn Regine auch wieder still in sich zusammensank, so blieb doch auch Paula von einer unterwürfigen Lustigkeit. Man sah ihr an, wie sie diesmal lieber mit Erich in den Schulwagen eingestiegen wäre als in die Kalesche Böhnkes mit ihren mageren Rappen. Aber als erst der Wagen über das Pflaster ratterte, stolz am Rathaus und der Firma Amende vorüber, wo Willy in der Ladentür stand und grüßte, als die Gardinen hinter den Fenstern in Bewegung gerieten und neugierige Augen sie verfolgten, da ergriff sie die Lust der abenteuerlichen Fahrt, und sie warf Willy Amende einen strahlenden Blick zu.
Links lag das Dohnaschlößchen mit dem Barockportal und den überhangenden Kastanien, die schon anfingen, sich zu färben. Wann, wann, wann würde Eleonore hier residieren? rief es in Richard. Rechts ließ man den Manufaktur- und Konfektionsladen von Seidel liegen, dessen Sohn soeben – er war übrigens noch vor dem Manöver Unteroffizier geworden – sechs ganze Wochen vor Erich hatte strammstehen müssen. Dann ging es über die Fließbrücke in die englische Vorstadt. Diese Straße beherbergte nicht etwa Engländer, wie man meinen könnte, sondern sie hatte ihren Namen lediglich daher, daß sie nach Nordwesten aus der Stadt heraus und so schließlich im weiteren Verlauf auch einmal nach Danzig und von dort über das Wasser nach England führen mußte. Links kam der neue Kirchhof, auf dem erst wenige Menschen beerdigt waren, mit jungen Bäumen und noch magerem Strauchwerk. Man sah den Spiegel des Gohlungsees, der bis hierher reichte, hindurchblitzen. Weiter rechts lag der alte Kirchhof im gesprenkelten Grün von Linden und Kastanien. Dann hörte das Pflaster auf, die Räder senkten sich weich in den Grund der Landstraße, und nach wenigen Biegungen schlug die Reisenden der Schatten des Waldes ein.
Die Mädchen saßen in den bequemen Polstern und Richard ihnen gegenüber auf dem Rücksitz. Es war ähnlich wie auf jener denkwürdigen Fahrt nach Schwenkendorf, und wie damals berührten sich Richards Knie unter der Decke mit denen Regines. Paula bemerkte mit boshafter Genugtuung, wie Richard der Freundin den Hof machte, während sie in Gedanken den leeren Platz sich gegenüber durch eine blaue Uniform mit roten Aufschlägen ausfüllte. Aber Richard war nicht sehr bei der Sache. Er suchte nur, auf angenehme Weise möglichst rasch die Fahrt hinter sich zu bringen, um endlich zu erfahren, ob Eleonore in Grünwalde war. »Das ist Groß-Bestendorf, Baron von der Goltz«, sagte der Kutscher und zeigte mit dem Peitschenstiel auf das Schloß, das weiß hinter dem Walde über bunten Gartenterrassen schimmerte. Dann ging es wieder durch dichten Wald, der mit regelmäßigen Fichtenreihen zu beiden Seiten des Weges Wache stand. »Eine langweilige Fahrt!« meinte Richard, und Regine sah ihn erschrocken an, da sie noch drei Tage so hätte fahren mögen.
Aber nach einer halben Stunde hörte der Wald auf, schwang sich wie ein dunkler Kranz im weiten Bogen gegen den Horizont aus. Abgeerntete Felder buckelten sich, wogten in weiten, grüngelben Erdwellen, durch die sich Wege mit alten Bäumen und grünen Hecken schnitten, und vor ihnen im Tal lag der See mit bewaldeten Ufern. Bis dicht an das Wasser traten die Bäume heran und schoben das Erlengesträuch bis in den glänzenden Spiegel hinein vor. Als sie die Höhe eines Berges erreicht hatten, sahen sie rechts die Fläche eines zweiten Sees breit in die Hügel eingesenkt, zwischen den beiden Seen das blitzende Band des Kanals und unter sich, halb verdeckt durch das Grün von Bäumen und Büschen, die Dächer der Zölp. An einem weißen Brückengeländer lag der kleine helle Regierungsdampfer mit rauchendem Schlot.
»Donnerwetter!« sagte Richard. In scharfem Trab ging es den Berg hinunter, an der Zölp vorbei und dicht an dem Dampfer über die Brücke. Links sahen sie über den mit Ulmen umsäumten Kanal wie durch einen Rahmen in den See hinein, dann versanken die Wasser hinter den Höhen. Während sie hinanfuhren, warteten sie, daß die blitzenden Flächen wieder auftauchten. Auf einmal sahen sie Wasser von einem Horizont bis zum andern gelagert, dick wie Quecksilber über die Ränder stehend, zwischen Wiesen, Feldern und Wäldern, die sich klein in die Talmulden duckten. Hier erst begann eigentlich ihre Reise, sie fühlten sich von der Stadt losgelöst und in neue Landschaft gestellt. »Die dämlichen Gohlunger!« rief Richard, »daß sie ihren schönen See ausfließen lassen!« Die Mädchen stimmten ihm bei.
Von der Zölp ab war die Gegend belebter. Immer sahen sie Gutshöfe mit dem grünen Hallensockel ihres Parks liegen. Kühe lagerten in Wiesen, und Pferde kamen mit neugierig gespitzten Ohren an die Drahtzäune gelaufen und wieherten Böhnkes Rappen zu. Dreimal fuhren sie durch Dörfer, in denen die Räder auf Pflaster ratterten. Kinder in Unterröckchen liefen auf der Straße, Hunde verfolgten bellend den Wagen, Blumen standen in kleinen Fenstern, und wenn sie an der Dorfkirche und dem Pfarrgarten vorüberkamen, in denen sich die Zweige unter gelben und roten Äpfeln über die Mauer niederbogen, dachten sie an das Pfarrhaus von Grünwalde und waren begierig, wie es aussehen würde, und als ein junges Mädchen lesend auf einer Veranda saß, dachte Richard, daß so Eleonore jetzt vielleicht nur wenige Kilometer noch entfernt mit einem Buch da saß und auf ihn wartete. Dann senkte sich der Wagen wieder vom Pflaster in den weichen Grund, und fern drehten sich am Horizont Güter und Parks, Kirchtürme und Waldspitzen.
»Komisch!« sagte Paula, »das geht nun von Schwenkendorf und viel weiter an bis hierher und noch immer weiter und weiter durch ganz Deutschland hindurch und hört vielleicht auch dann noch nicht einmal auf, immer weiter mit Dörfern und Pfarrhäusern und Roßgärten!«
»Es ist gar nicht abzusehen, wie viele Paulas und Regines es da auf der Welt geben muß«, fiel Richard ein.
»Na, an Referendaren scheint auch kein Mangel zu sein.« Sie lachten.
Böhnke zeigte mit dem Peitschenstiel nach rechts. Sie dachten, es wäre Grünwalde, aber er meinte ein großes Rittergut, das mit steinernen Ställen und dem hohen Dach seines Schlosses wie eine Burg aussah. Eine schnurgerade Allee von riesigen alten Kastanienbäumen lief auf ein hohes geschwungenes Portal zu. »Schmalbitten, Freiherr von Buddenbrok«, sagte Böhnke. Als der Weg sich ein wenig hob, sahen sie hinter dem Park wieder den Spiegel des großen Sees aufglänzen. »Ja«, sagte der Kutscher, »Schmalbitten liegt auch am Samroth, und an dem Zipfel, der von hier nicht zu sehen ist, liegt das Sägewerk.«
Es ging rechts in einen Talgrund hinunter. Zu beiden Seiten stiegen grüne Böschungen, auf denen Ziegen angepflockt waren. Von rechts her grub sich ein zweiter Weg zu ihnen herunter. »Nach Schmalbitten 2 km« stand auf dem Wegweiser. Sie stritten sich darüber, ob sie es näher oder weiter geschätzt hätten. Böhnke entschied, daß die Wegweiser nicht stimmten und es entweder weiter oder auch wohl etwas näher sein könnte. Jetzt ging es links um die Ecke, und vor ihnen lag, im Halbrund an das Ufer eines schilfbewachsenen Sees gelehnt, Grünwalde. Am Eingang des Dorfes lag eine alte Wassermühle. Graue Weidenbäume hingen weit in den Mühlteich hinein. Das große Schaufelrad neben der Brücke stand still, und von dem Teich rann es nur wie eine dünne polierte grüne Schicht über das zerfressene Brett in das Wehr hinunter, brauste unten splitternd auf und blänkerte über bemooste Bohlen in den See hinein. Die Holzbrücke donnerte unter dem Wagen wie fernes Gewitter. Das Müllerhaus und seine Veranda waren mit Wein bewachsen, und so lieblich lag es da, daß sie bedauerten, nicht lieber vom Müller eingeladen zu sein. Der Weg führte dicht am See entlang, und die kleinen Wellen leckten beinahe an die aufgeworfenen Wagenspuren. Dann begann zu beiden Seiten das Dorf mit kleinen hölzernen Häusern und hohen Strohdächern darüber. Auf einmal gabelte sich der Weg, in der Gabelung stand, durch eine alte Steinmauer herausgehoben, die Dorfkirche mit dem efeuumsponnenen Holzturm, und dahinter das Pfarrhaus mit steinernen Mauern und großen Fenstern und einer breiten Veranda, in der Ulrich Reuschhagen vor einem Buch saß.
»Hoiho!« rief er und stand auf, breit und knochig, und das verlegene Lächeln ging über das ganze Spitzmausgesicht. In der Tür wurde nun auch der Pfarrer sichtbar, klein, rosig und strahlend, ein gesticktes Samtkäppchen auf dem Kopf und eine lange Pfeife in der Hand, wie aus der »Gartenlaube« herausgeschnitten, und hob beide Hände zum Gruß. Hinter ihm kam die Pfarrfrau hervor, wie ihr Bruder knochig und hager, mit dem gleichen Spitzmausgesicht, nur eine Brille über der vorspringenden Nase.
»Willkommen, willkommen!« rief Pfarrer Lemke und half den Mädchen aus dem Wagen, wobei er beim Zufassen nicht zimperlich war.
»Ist Eleonore da?« fragte Richard flüsternd Reuschhagen.
»Nein. Wieso?« fragte der erstaunt dagegen.
Böhnke wurde angewiesen, um die Ecke in den Pfarrhof zu fahren, die Rappen zu füttern und zu tränken und dann selbst in der Küche zu erscheinen. Die Pfarrfrau umarmte die beiden Mädchen, eine halbe Minute wurde mit Fragen und Händeschütteln ausgefüllt, ehe man hineinging. Regine stand als letzte draußen, und nur Richard war noch hinter ihr, durch die Auskunft Reuschhagens aus der Fassung gebracht. Böhnke ließ die Pferde anziehen und verschwand hinter der Ecke. Regine sah sich nach Richard um, und in diesem Augenblick umfaßte er sie, selbst überrascht von seinem Tun, und küßte sie auf den Mund.
»Nicht doch, Richard!« sagte sie entsetzt. »Nicht doch! Richard!« Er küßte sie noch einmal und schob sie vor sich her in den Hausflur zu den übrigen.
Diese Situation war so außer der Ordnung, daß sich das Fehlen eines zuverlässigen Leitfadens schmerzlich bemerkbar machte. Regine wußte nicht, ob sie mit diesem Kuß an der Schwelle der Brautzeit stand oder nur eine neue Demütigung erfahren hatte. Sie wagte nicht, zu Richard hinüberzusehen und in seinem Gesicht zu lesen. Richard selbst fühlte, daß er ohne Willen unter dem Zwang einer dunklen Gesetzmäßigkeit gehandelt hatte, die irgendwie fern in Eleonore verankert war. Er liebte Regine nicht, es hatte ihn nur in dem einen Augenblick gereizt, in den Kreis dieses fremden Mädchens einzubrechen, von dem er so gut wie nichts wußte. Drinnen fiel er in lärmende Lustigkeit, schlug den freundlichen Pfarrer auf beide Schultern, fragte nach dem Keller mit dem Braunsberger Lagerbier und blieb auch an der Kaffeetafel in dieser Verfassung, umriß in glänzenden Farben das Fest, zu dem Ulrich eingeladen. Es stellte sich aber heraus, daß man morgen von Bekannten des Pfarrers zu einer Taufe eingeladen war. Es war nicht zu verhindern gewesen.
Man saß sehr gemütlich in einem Eßzimmer mit schneeweißen Mullgardinen. Große Berge von Schmandwaffeln standen auf dem Tisch, und die Sahne ergoß sich mit dicken Tropfen in den Kaffee. Richard arbeitete mit Reuschhagen um die Wette und leistete Fabelhaftes. Er griff der Pfarrfrau mageres Aussehen an, die bei solcher Kost noch wie eine Städterin ausschaute. Dazwischen warf er ängstliche Blicke zu Regine hinüber, der aber nichts anzumerken war. Sie unterhielt sich mit Reuschhagen und erklärte diesem gerade, daß sie ganz unmusikalisch wäre. »Das gibt es kaum«, sagte Reuschhagen, »es muß nur geweckt werden«. Sie sah ihn zweifelnd an. Richard fühlte sich in seiner Haut nicht wohl. Er überdachte die möglichen Folgen seiner Handlung, schwankte zwischen einer Auffassung, die sein Vergehen als ganz und gar harmlos hinstellte, und einer zweiten, die ihn schon als Bräutigam festnagelte, und sah sich drittens in einen Ehrenhandel mit Leutnant Erich verwickelt.
Indessen ließ das »Festprogramm« wenig Gelegenheit zum Nachdenken. Zunächst war das Pfarrhaus zu besichtigen. Die Städter staunten über die Dicke der Mauern und das riesige Gebälk im Dachgeschoß, in das die Fremden- und Vorratsstuben eingebaut waren. Große Räume, auf deren alten bauchigen Schränken schon die Einmachgläser von diesem Sommer dicht bei dicht standen, wie die Puppen mit ihren Hauben aus Pergamentpapier nebeneinander, und deren Böden sich in wenigen Wochen mit Äpfeln und Birnen bedecken würden. Das größte Giebelzimmer, mit der Aussicht auf den See und die kleine Insel inmitten, bewohnte Reuschhagen. Er hatte sich mit Büchern, Noten und einer stummen Klaviatur, die bestaunt wurde, häuslich niedergelassen, einen kleinen Tisch vor den Sessel am Fenster gerückt und arbeitete hier täglich seine vier Stunden.
»Ja, mein Lieber«, sagte er zu Richard, »wo kämen wir hin, wenn wir nicht täglich arbeiteten! Künstler sind Gaukler und müssen sich ihre Glieder geschmeidig erhalten und wie die Mönche leben!« Während er dies sagte, bekam sein Gesicht wirklich einen fast mönchischen Zug. Paula und Regine sahen ihn verlegen an, der Pfarrer und die Pfarrfrau voller Ehrfurcht. Nur Richard klopfte ihm lachend auf die Schulter: »Ihr Künstler und wie die Mönche! Na, ich weiß Bescheid!« Aber im Augenblick dachte er daran, wie er Reuschhagen in der Pause seines Konzerts gefunden hatte, mit dem Gesicht gegen die Wand und dem abwinkenden Arm, und verstummte. Reuschhagen überhörte die Worte und wandte sich an Regine: »Sehen Sie dort den wilden Schwan auf dem See? Das ist auch eine Spezialität der oberländischen Seen. Zweimal schon flog er über meinen Kopf hinweg und sang. Es ist nämlich Unsinn, daß sie nur im Sterben singen.« Man drängte sich an das Fenster, um den Schwan zu sehen, der fern in der Bucht mit großen, unsichtbaren Stößen ruderte.
Richard sollte in einem Zimmer neben Reuschhagen schlafen, die beiden Mädchen waren auf der anderen Giebelseite untergebracht. Sie verteilten gleich Betten, Handtücher und Wassergläser untereinander, von dem Reiz ergriffen, sich in einem fremden Zimmer für einige Zeit einzurichten. Legten Kämme und Bürsten sauber auf den Waschtisch und hängten die Kleider in den Schrank. Volants und Turnüren drängten immer wieder heraus, und sie mußten lachend die Schranktür mit einiger Gewalt schließen. Als sie allein waren, und Paula, am Fenster stehend, sich die Hände abtrocknete, fühlte sie sich von Regine umfaßt, die hinter sie getreten war. Hätte nicht in Paulas Gesicht gestanden, daß sie Regine durchschaute und sich nur als zufälligen Empfänger anders gemeinter Zärtlichkeiten betrachtete, hätte Regine ihr den Kopf auf die Schulter gelegt und alles gestanden. So aber sagte sie nur: »Wir wollen doch du zueinander sagen.«
»Ja, gern!« antwortete Paula, wobei sie an Erich denken mußte, und sie gaben sich einen Kuß.
Regine mußte bemerken, daß das Leben in einem Pfarrhaus bewegter ist als in einem Gutshaus. Pfarrleute sind halbe Städter und machen deshalb mehr aus der Natur. In Schwenkendorf wäre man jetzt im Wohnzimmer geblieben und hätte den Abend dort versessen, im Pfarrhaus aber beschloß man, mit Rücksicht auf die noch unverdauten Schmandwaffeln, das Abendessen hinauszuschieben und nach »der Eiche« zu rudern. Diese Eiche war ein Jahrhunderte alter Baum, bei dem man in der Bucht anlegen konnte. Große Findlinge aus Granit, die dort herumlagen, machten es wahrscheinlich, daß man es mit einer alten heidnischen Opferstätte zu tun hatte. Weil es abends auf dem Wasser schon kalt war, bekamen die Mädchen aus dem Vorrat der Pfarrfrau dicke Mäntel und Decken. Der Pfarrer blieb zu Hause, um seine Predigt für den morgigen Sonntag auszufeilen. Die Pfarrfrau schloß sich den Gästen an. Sie liebte es leidenschaftlich, abends auf dem Wasser zu liegen und es dunkel werden zu lassen. Reuschhagen verteilte mit der Sachkunde eines alten Fischers die Plätze, stieß den großen Kahn ins Wasser und sprang dann selbst nach. Er ruderte allein. Man merkte eigentlich erst bei dieser Beschäftigung, wie herkulisch sein Körper war. Es war seltsam, wie seine innere stille und zarte Flamme diesen Körper in einen Beruf zwang, der kaum ein Zehntel seiner Kraft ausnutzte.
Ober eine halbe Stunde gebrauchte man, um in die Bucht zu kommen. Hier hatte man vom Fenster aus den Schwan gesehen und fand nun eine kleine Feder auf dem Wasser treiben. Unheimlich still lag das grüne Halbrund des Spiegels, in dem sich schweigend die hohen Bäume betrachteten. Die Sonne war gerade hinter dem Wald verschwunden, und die dünne Sichel des Monds schnitt durch den Himmel. Die lauten Farben erloschen allmählich, aus den Essen des Dorfes stieg der Rauch kerzengerade in die Höhe und verlor sich oben in einen feinen Dunst. Reuschhagen ruderte in der Bucht mit halber Kraft, fuhr in einer leichten Kurve, so daß man die Furche hinter dem Kahn perlmutterrosa aufleuchten sah. Erst als er bei der Eiche landen wollte, legte er sich in die Riemen und preschte mit voller Gewalt auf den Strand. »Aufgepaßt!« rief er, aber die Insassen waren schon durcheinandergeschüttelt.
Sie stiegen aus. Regine wurde seltsam berührt, daß in der alten Eiche an diesem Tage gerade wieder die heidnische Vergangenheit der Landschaft auf sie zukam. Sie sah scheu zu Richards gesundem, ungebändigtem Körper hinüber. Fast war ihr, als wären höllische Kräfte am Werk, um sie von ihrem Glauben und den Ihrigen zu lösen. Sie spürte eine unbekannte Gewalt sich in ihr selber aufbäumen, wie rasende Rosse tobte es in ihr, so daß sie einen Augenblick die Lider senkte und die Hände zu Fäusten einpreßte. Als sie die Augen aufschlug, wußte sie, daß ein sengender Blick daraus fuhr, sie konnte es nicht mehr hindern. Aber statt Richards Gesicht zu treffen, fühlte sie den Blick Reuschhagens auf sich ruhen, der sie forschend ansah. Als ihre Augen sich trafen, lächelte er ihr freundlich zu. Es war ihr so ungewohnt und fremd, daß sie schnell fortblickte.
Alle zusammen gerade konnten sie den mächtigen Baum umspannen. Sie wollten in seine rissige Höhle hineingehen, aber als sie davorstanden, rauschte es über ihnen, und eine Eule flog mit weit ausgespannten Flügeln davon und verlor sich im Schatten des Waldes. Sie schraken zusammen und gaben es auf. Nur Richard bestand darauf, hineinzugehen und sich drinnen eine Zigarre anzuzünden. »Nimm dich in acht«, sagte Reuschhagen, mehr unter dem Eindruck des Schauers, als weil er wirklich an eine Gefahr dachte. »Es kann ein Bienenschwarm oder sonst etwas drin sein.« Aber Richard ließ nur sein gewohntes »Papperlapapp!« vernehmen, und gleich darauf sahen sie das Streichholz im Innern des Baumes aufflammen. »Nur eine Bärenmutter mit zwei Jungen ist darin«, sagte er heraustretend. Alle lachten, und die unheimliche Stimmung löste sich.
Auf der Rückfahrt kam Richard neben Regine zu sitzen. Es war kalt und schon so dunkel, daß sie sich gegenseitig wie Schattengestalten sahen. Wie ein Spiegel lag das Wasser reglos um sie, und nur die Furche des Kahns bildete einen hellen Streifen hinter ihnen. Am Steuer saß die Pfarrfrau, neben ihr Paula, dann kamen auf der Bank Richard und Regine, und vor ihnen tauchte der Kopf des rudernden Reuschhagen auf und nieder. Aus den Häusern vom Ufer blinkte das rote Licht der Petroleumlampen herüber, und die Pfarrfrau begann nach ihrer Gewohnheit zu singen. Paula fiel ein, und selbst Reuschhagen, der eigentümlicherweise nicht einen richtigen Ton treffen konnte, brummte mit. »Setzt euch dicht zusammen«, sagte Paula, »dann ist es wärmer.« Sie gehorchten aus Furcht, um nicht die Spannung zwischen ihnen zu verraten, und ihre Körper berührten sich an Schulter und Arm. Leblos und steif saß Regine da, sie wagte nicht die mindeste Bewegung ihres Arms. Er aber fühlte ihren Körper neben sich, ergänzte aus der Dunkelheit das schwere dunkle Haar mit dem griechischen Knoten im Nacken, die großen erschrockenen Augen, und wieder reizte es ihn, in diesen unbekannten Kreis einzubrechen. Vielleicht war auch Verlegenheit dabei und der Drang, wiedergutzumachen. Vorsichtig suchte er ihre Hand, die sie leblos in seiner ließ.
Paula und die Pfarrfrau waren in ihr Singen verloren. Da wagte er es, leise die Hand zu drücken, und er fühlte, wie sie den Druck ganz leise zurückgab. »Ja«, sagte sie plötzlich, denn sie glaubte, daß Richard sie etwas gefragt hätte. Im gleichen Augenblick merkte sie ihren Irrtum, er hatte nur leise mitsingen wollen. Entsetzt zog sie ihren Arm zurück und schämte sich wegen ihres »Ja« zum Sterben. Was dachte er von ihr! Wozu sollte sie »ja« gesagt haben! Vielleicht hatte sie ihm jetzt gesagt, daß sie nur auf ein Wort von ihm wartete. Am liebsten hätte sie sich in den See gestürzt. Sie rückte zur Seite, daß sich ihre Arme nicht mehr berühren konnten. Es war ihr alles gleichgültig geworden außer diesem Ja, das noch immer in der Luft zu hängen schien.
So blieb sie den ganzen Abend. Sie konnte kein Wort zu Richard sprechen und unterhielt sich kaum mit Reuschhagen.
Richard konnte nicht einschlafen, wälzte sich noch spät auf dem fremden Bett, stand schließlich auf und ging ans Fenster. Da sah er, daß Reuschhagen neben ihm noch Licht hatte. Er klopfte an seine Tür und trat ein. Der saß bei der Lampe am Tisch und las eine Partitur. Das Fenster stand offen, und eine dichte Wolke von Nachtgetier flatterte um seinen Kopf. Kam ihm ein Falter oder Käfer zu nah, setzte er ihn vorsichtig auf das Fenster. So war er mit den Armen in einer fortwährenden Bewegung, die von der gänzlichen Unbewegtheit seines Kopfes und des Körpers seltsam abstach.
»Ja? Was ist's?« fuhr er auf. »Ach du bist's, Meister Ambrus. Schau her, was sagst du zu dieser Modulation von h nach a? Fabelhaft, was? Wie sich das in der Melodie mühelos weiterschwingt!« Es war der »Barbier von Bagdad« von Cornelius. Aber Richard verstand die Partitur nicht zu lesen. »Die Homer in b, die Trompete in e, das ist mir zu kompliziert. Sage mir lieber, was macht Fräulein von Stetten?«
Aber Reuschhagen hatte lange nichts von ihr gehört. »Vielleicht hat sie ihren ekelhaften Kerl schon geheiratet. Daß die besten Weiber sich immer die scheußlichsten Kerle nehmen!« brummte er. Er wollte näheres von Regine wissen, die ihn interessierte. »Natürlich, in euerm Drecknest kann keiner diese stille Natur würdigen. Übrigens bist du wieder einmal ein Glückspilz. Bis über die Ohren in dich verschossen!«
Richard zuckte die Achseln. »Wenn sie dir gefällt, so verlobe dich mit ihr!« sagte er.
»Nein!« sagte Reuschhagen und hatte sein verlegenes Lächeln. »Sie ist keine Künstlerfrau, und ich heirate überhaupt nicht. Jedenfalls noch lange nicht. Ich muß noch arbeiten, ich kann noch nichts. Aber du solltest auch die Finger von ihr lassen. Sie ist zu schade für dich.« Er brummte das alles vor sich hin, während er in der Partitur weiterlas und das Getier verjagte. Schließlich schlug er den Buchdeckel zu. »Geh, laß mich schlafen!«