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Neunzehntes Kapitel.

Kurz vor Essenszeit kehrte Anthony nach Hause zurück. Er fand Adrian in seinem Arbeitszimmer am Klavier, mit zerzaustem Haar, offenem Hemdkragen, den Kopf mit kritischer Miene auf die Seite geneigt, wie er wieder und wieder eine Phrase spielte und kleine Änderungen daran machte, die er rasch in ein Notenheft eintrug, das neben ihm auf einem Tischchen lag.

»Machst du diesen Sommer keine Erholungsreise?« fragte ihn Anthony in lässigem Ton.

»Stille, stille!« sagte Adrian, indem er sich in das neben ihm liegende Manuskript versenkte.

»Es ist Zeit zum Ankleiden,« bemerkte Anthony und steckte sich eine Zigarette an.

Adrian probierte seine Phrase noch einmal mit zusammengezogenen Augenbrauen und sehr kritischer Miene. Dann drehte er sich auf seinem Klavierstuhl um und fragte zerstreut: »Wie? Was sagtest du?«

»Ich fragte nur, ob du diesen Sommer keine Erholungsreise machest?«

»Und du störst einen gottbegnadeten Musiker, wenn gerade der Geist über ihn gekommen ist, um etwas so Unwichtiges zu fragen?«

Damit klappte er sein Notenbuch zu.

»Natürlich mache ich eine,« antwortete er dann.

»Wann?«

»Im September, wie immer.«

»Ich dachte, ob du nicht dieses Jahr deinen Urlaub etwas früher antreten möchtest – vielleicht schon im August?«

»Warum?« fragte Adrian vorsichtig.

»Es würde mir besser passen, ich könnte dich besser entbehren,« sagte Anthony.

Adrian sah ihn mißtrauisch an.

»Im August? Wir sind ja schon im August, oder nicht?«

»Ich glaube es auch,« bestätigte Anthony, »das kann man ja vielleicht mit Hilfe des Kalenders feststellen. Es wäre mir sehr geschickt, wenn du deinen Urlaub sofort antreten wolltest.«

Adrians Mißtrauen wuchs.

»Was hast du vor? Warum willst du mich loswerden?«

Anthony blies eine Rauchwolke von sich.

»Ich will dich nicht loswerden. Im Gegenteil, ich will mit dir gehn, wenn dir's recht ist.«

Mißtrauen und Verwunderung lagen in dem forschenden Blick, mit dem Adrian ihn musterte. Plötzlich leuchtete ein Blitz der Erkenntnis in seinen Augen auf.

»Aha! Ich sehe, was du getrieben hast! Du hast versucht, mit der Nobil Donna Susanna di Torrebianca anzubändeln – und sie hat dich deiner Wege gehen heißen. Ja, ja, ich habe wohl gesehen, wie der Hase läuft.« Er nickte und wackelte bedeutungsvoll mit dem Kopf.

»Damit bist du ganz auf dem Holzweg,« entgegnete Anthony. »Sage Wickersmith, er solle für uns packen. Wir nehmen morgen früh den Achtuhrzug – dann kommen wir auf dem Viktoriabahnhof rechtzeitig an für den Elfuhrkontinentalexpreßzug.«

»So! Wir gehen ins Ausland?« fragte Adrian.

»Ich denke wohl. Wohin sollte man denn sonst gehen?«

»Das hätte ich dir im voraus sagen können,« tröstete ihn Adrian. »Du hattest von Anfang an nicht die mindeste Aussicht bei ihr. Ein so ernster, trockener, einsilbiger Mensch wie du ist doch nichts für eine so reiche, poetische, südliche Natur wie Signora Torrebianca. Die braucht einen überströmenden, mitteilsamen, warmherzigen, sonnigen Mann – einen Mann wie ein saftiger, zarter, reifer Pfirsich. Wenn es mir nicht gegen die Natur ginge, geschäftliche Interessen mit persönlichen Gefühlen zu vermengen, hätte ich ihr wahrscheinlich selbst den Hof gemacht. Und jetzt hast du mich vermutlich um meinen Mieter gebracht, denn ich nehme an, daß sie unter solchen Umständen den Mietvertrag nicht erneuern wird.«

»Das weiß ich nicht,« erwiderte Anthony, »aber du kannst sie ja fragen, denn wir essen jetzt gleich bei ihr, und dieses Thema ergibt ein ganz passendes Tischgespräch.«

Adrian riß die blauen Augen auf vor Staunen.

»Wir sind heute abend zu Tisch bei ihr?«

»Wenigstens ich,« bestätigte Anthony, indem er den Rest der Zigarette in den Aschenbecher warf; »aber sie hat gesagt, ich dürfe dich auch mitbringen, falls du versprächest, artig zu sein.«

»Den Kuckuck auch!« rief Adrian. »Aber dann – dann – ja, was ist denn dann los? Warum in aller Welt gehst du dann ins Ausland?«

»Eine bloße Laune – Eigensinn – ein toller Streich,« lautete Anthonys Antwort. »Aber jetzt ist es die höchste Zeit zum Anziehen!«


Susanna sah sehr schön aus in einem rosafarbenen, mit gelblichen alten Spitzen besetzten Gesellschaftskleid, mit einer scharlachroten Geranienblüte im Haar und einer Perlenschnur um den Hals. Ab und zu lugte auch ein Paar niedliche, hochstöckelige, scharlachrote Schuhe unter dem Saum ihres Gewandes hervor.

Ja, sie war sehr schön und freundlich und unterhaltend, obgleich sie ab und zu etwas weniger lustig, etwas nachdenklicher und träumerischer schien als sonst, wenn sie sich für ein paar Augenblicke ganz vergaß, ihre Blicke ins Weite starrten und ihre Lippen leicht geöffnet blieben. In Anthonys Augen schien sie aber dadurch nicht weniger liebenswert.

Den ganzen Abend sehnte er sich vergeblich nach einem Augenblick des Alleinseins mit ihr. Nach Tisch gingen sie alle zusammen auf die durch die Fenster des Wohnzimmers erleuchtete Terrasse, wo sie auf Rohrstühlen sitzend den Kaffee tranken. Er sah sie an, und sein Herz wurde schwer vor Kummer, Ärger, Wonne und Entzücken, vor Hoffnung und Verzweiflung.

»Sie liebt mich – sie hat's mir gezeigt, aber warum schickt sie mich dann auf diese sinnlose Fahrt? Sie liebt mich – aber warum verschafft sie mir dann nicht heute abend noch eine Minute mit ihr allein?«

Schließlich kam ihm aber doch noch ein Zufall zu Hilfe. Oder war es Adrian oder Miß Sandus?

»Warum ist denn niemand so nett, daß er sagt: ›Lieber, guter Mr. Willes, seien Sie doch lieb und singen Sie uns etwas?‹« fragte Adrian in kläglichem Ton.

Anthony faßte die Gelegenheit bei der Stirnlocke.

»Lieber, guter Mr. Willes, seien Sie doch lieb und singen Sie uns etwas!« sagte er sofort.

»Ich will Sie begleiten,« bot sich Miß Sandus an. Und damit gingen der Sänger und seine Begleiterin ins Wohnzimmer.

»Gott sei Dank!« sagte Anthony leise, aber feurig und sah dabei Susanna fest an.

Sie lachte.

»Worüber lachen Sie?« fragte er.

»Über Ihre plötzliche Anwandlung von Frömmigkeit.«

»Jedenfalls brauche ich Ihnen nicht zu danken,« entgegnete er, »denn wenn es auf Sie angekommen wäre, hätten wir diesen ganzen, unschätzbaren letzten Abend in Gesellschaft von Fremden verlebt.«

» Maman dites-moi ce qu'on sent
Quand on aime
«

erklang Adrians Stimme drinnen im Zimmer.

»Wenn Sie sprechen, hören wir ja nichts von der Musik!« mahnte Susanna.

»Zum Henker mit der Musik!« lautete Anthonys liebenswürdige Antwort.

»Sie selbst haben ihn aufgefordert zu singen,« sagte sie.

»Zum Henker mit seinem Gesang! Dies ist mein letzter Abend mit Ihnen! Glauben Sie, daß eine Frau überhaupt das Recht hat, so strahlend schön zu sein wie Sie? Finden Sie, daß das rücksichtsvoll ist gegen die Gefühle eines armen Teufels, der Sie anbetet, und den Sie aus schierer, mutwilliger Bosheit ans äußerste Ende der Welt jagen?«

In Susannas Schoß lag ihr weißer Federfächer, über den sie ihre Finger liebkosend gleiten ließ.

»Ich muß Sie etwas fragen,« sagte Anthony.

»Und das wäre?« erwiderte sie.

»Sie sollen mir eine Auskunft erteilen, die mir auf meiner Reise zu statten kommen soll. Wollen Sie sie mir geben?«

»Natürlich, wenn ich kann,« sagte sie und legte ihren Fächer auf den Tisch.

»Sie versprechen es mir?«

»Wenn ich Ihnen irgend eine Auskunft geben kann, die Ihnen auf Ihrer Reise von Nutzen sein mag, stehe ich Ihnen mit dem größten Vergnügen zur Verfügung,« sagte sie einwilligend.

»Sehr gut! Das ist ein richtiges Versprechen,« sagte er. »Nun also zu meiner Frage. Ich liebe Sie – lieben Sie mich auch?«

Er sah sie fest an.

Sie quittierte durch ein Lachen darüber, daß sie ihm auf den Leim gegangen war. Dann nahmen ihre Augen einen weichen, innigen Ausdruck an: »Ja,« sagte sie leise.

Aber noch ehe er eine Bewegung machen konnte, war sie auf und davon gesprungen und entwischte ihm durch eine der Fenstertüren, die ins Wohnzimmer führten, wo sie sich zu Miß Sandus und Adrian an den Flügel stellte.

Bei ihrer eiligen Flucht hatte sie aber ihren Fächer vergessen und auf dem Tische liegen lassen.

Anthony nahm ihn und drückte ihn an sein Gesicht. Er schloß die Augen und atmete den leisen Veilchenduft ein, der den Federn entströmte und dem sich etwas ganz besonders nur ihr eigenes beizumischen schien.

Sachte ließ er dann den Fächer in seine Tasche gleiten – die Federn nach unten, damit sich sein Raub leichter verbergen ließe. Dann schloß auch er sich der Gesellschaft am Flügel an.


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