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Einheim'scher Kunst ist dieser Schauplatz eigen,
Hier wird nicht fremden Götzen mehr gedient,
Wir können mutig einen Lorbeer zeigen,
Der auf dem deutschen Pindus selbst gegrünt,
Selbst in der Künste Heiligtum zu steigen,
Hat sich der deutsche Genius erkühnt.
Und auf der Spur des
Griechen und des
Briten
Ist er dem bessern Ruhme nachgeschritten.
Schiller.
Kurz vor Vollendung des Wallenstein hatte Goethe geschrieben: »Sie werden selbst erst finden, wenn Sie diese Sache hinter sich haben, was für Sie gewonnen ist. Ich sehe es als ein Unendliches an.« Diese Worte bestätigten sich in vollem Maß. Schiller fühlte sich jetzt im vollen Besitz seiner dramatischen Schöpfungskraft sicher; er bekannte, daß er jetzt »das Handwerk gelernt« hätte. Und er bewährte das durch die Raschheit seiner ferneren Produktion. Fast alljährlich brachte er jetzt ein großes, den Abend füllendes Stück auf die Bühne, neben zahlreichen Übersetzungen und Bearbeitungen anderer Stücke. Daß diese Werke, besonders die beiden ersten der Reihe, dem »Wallenstein« nicht gleichwertig sind, ist eine Tatsache; jene beiden verhalten sich zu diesem wie die geschickte Arbeit des Routiniers zu dem genialen Meisterstück. Aber es wäre ungerecht, Schillern daraus einen Vorwurf zu machen; ebenso ungerecht, wie seinerzeit der Vorwurf Mercks gegen Goethe, daß er auf den »Götz« einen »Clavigo« folgen lasse. Die Bühne kann nicht nur von einzelnen genialen Taten, von neuen, großen Würfen leben; sie braucht ein Repertoir, in dessen bekannter und vertrauter Manier sie sich leicht, in gewissem Grade behaglich bewegen kann, – und gerade Schillers schnelle Produktion in seinen letzten Jahren hat am meisten dazu beigetragen, dem deutschen Theater ein solches Repertoir zu schaffen, nicht nur durch seine eigenen Stücke, sondern noch mehr durch das kräftige Beispiel, durch die entschiedene, eigentümliche Richtung, welche der dramatischen Produktion dadurch gegeben wurde. Das wird auch der nicht leugnen können, der für den besonderen dramatischen Stil Schillers keine Sympathie hat.
Ebenso wird freilich jeder unbefangene Beobachter zugeben, daß »Maria Stuart« und »Die Jungfrau von Orleans« sich nicht mit dem »Wallenstein« messen können. Es ist dies schon in der Anlage begründet. Jetzt, wo es Schiller auf rasche Produktion ankam, legte er sich nicht dieselbe Last auf wie bei jenem Meisterwerk! Er erleichterte sich die Arbeit, zwar nicht in Hinsicht der dramatischen Wirkung, wohl aber in bezug auf seine Selbstkritik. Er verzichtete jetzt auf jene künstlerische Objektivität, die er im »Wallenstein« seiner Natur abgerungen hatte und von deren Einhaltung er sich ermüdet fühlte; er suchte oder vielmehr er schuf sich jetzt dramatische Hauptgestalten, die er mit dem vollen subjektiven Wohlgefallen seines Idealismus ausbilden konnte. So idealisierte er sich zuerst die gefangene »Maria Stuart« zu einer Höhe, daß sie mit der abenteuerlustigen jungen Königin wenig mehr als den Namen gemeinsam hatte, und daß ihr Tod als ein unverschuldetes Unglück erschien (denn die Vergehungen ihres früheren Lebens zählen dramatisch nicht mit). Er war ferner der politischen Aktion, überhaupt der breit sich entfaltenden Vorgänge des realen Lebens auf der Bühne müde geworden und wünschte sich möglichst im Gebiet der psychologischen Schilderung und der Darstellung der einfachen tragischen Affekte zu halten. So ließ er sein Stück überhaupt erst nach Fällung des Todesurteils beginnen und sah seine Hauptaufgabe in der Vergegenwärtigung und Kontrastierung der Gemütszustände Marias und ihrer Gegnerin. Wenn es ihm nun trotzdem gelang, ein wirksames Bühnenstück zu liefern, so spricht sich hierin eben die souveräne Beherrschung der Technik aus, zu der er jetzt gelangt war. Auch in der Schnelle seiner Arbeit fand er diese Sicherheit jetzt bewährt. Im Frühjahr 1799, gleich nach Vollendung des »Wallenstein«, hatte er das neue Werk begonnen, und schon zu Anfang des nächsten Jahres hoffte er es beenden zu können. Freilich stellten sich Hindernisse verschiedener Art dazwischen. Schon im Mai war Goethe auf längere Zeit in Jena und suchte Schiller lebhaft für seine seit dem vorigen Jahr erscheinende Kunstzeitschrift »Propyläen« zu interessieren. Schiller stand der bildenden Kunst zu fern, um aktiv mitzuwirken, auch war er theoretischem Kunstforschen jetzt durch seine eifrige poetische Tätigkeit weit entrückt; aber seine energische, überall kräftig zupackende Natur verleugnete sich auch hier nicht. Bis ins einzelne sprach er alles mit Goethe durch, sowohl dessen ihn hoch interessierende Aufsätze, als auch die praktischen Maßregeln zur Verbreitung des leider mit wenig Interesse aufgenommenen Unternehmens. Auch seine persönliche Mitwirkung gab er zu einem Aufsatze, der freilich nicht über den Entwurf hinausgekommen ist, über Nutzen und Schaden des Dilettantismus. In engem, persönlichem Verkehr wurde ein allgemeines Schema, sowie Schemata für die einzelnen Künste detailliert ausgearbeitet, so daß der ganze Gedankengang der Freunde uns klar vor Augen steht; für die bildende Kunst gab Meyer eine Beisteuer. Im ganzen fiel das Urteil der auf ihrer künstlerischen Bahn so gewissenhaft sich mühenden Dichter recht hart und herbe aus. Mit Dilettanten hatten sich beide und besonders Schiller als Herausgeber der »Horen« und des »Musenalmanachs« zu plagen. Auch im nächsten Kreise fehlte es nicht an solchen, auch nicht an weiblichen, die mit höflicher Rücksicht behandelt werden mußten. Ein gewisser stiller Groll tritt hervor in der Bemerkung: »Impudenz des neuesten Dilettantismus durch Reminiszenzen aus einer reichen kultivierten Dichtersprache, und durch die Leichtigkeit eines guten mechanischen Äußeren geweckt und unterhalten. Belletristerei auf Universität durch eine modernere Studierart veranlaßt. Frauenzimmergedichte.« Auf das tatsächliche Können legte Schiller jetzt, mitten im produktiven Schaffen stehend, das größte Gewicht. Gegen bloße gute Absichten verhielt er sich ablehnend, wie er auch für seine eigenen Jugendmerke, in denen er nur Ausbrüche einer ungeregelten Natur, keine Kunstleistungen sah, kein Interesse mehr übrig hatte. Aber auch die Regel, das künstlerische Gesetz wurde ihm jetzt gleichgültig, weil keine schaffende Fähigkeit dadurch erzeugt werde. Über seine eigenen früheren theoretischen Schriften urteilte er ungerecht wie über eine unnütze und verlorene Mühe. Es ist das nicht überraschend; denn zu jeder Zeit hat der schaffende Künstler mit der ästhetischen Theorie nicht viel anzufangen gewußt. In Schiller war freilich beides vereinigt, der Theoretiker wie der Künstler: aber es konnte dies nur so geschehen, daß beide abwechselnd die Herrschaft behaupteten. Als er theoretisierte, war er zu dichterischem Schaffen unfähig, und jetzt, da er rastlos schuf, fühlte er sich der Theorie fremd. Ganz unberechtigt aber ist es, wenn spätere Kritiker daraus den Schluß gezogen haben, daß er seine ästhetische Theorie verdammt oder auch nur zurückgenommen hätte, – und noch willkürlicher, wenn sie daraus den Wert jener ästhetischen Schriften an sich haben leugnen wollen. Diese würden selbst dann ihren Wert nicht verlieren, wenn sich Schiller in seinen späteren Dichtungen zu ihnen in Widerspruch gesetzt hätte, was durchaus nicht der Fall ist. Charakteristisch für Schillers jetzigen Standpunkt war aber, daß er Goethes nicht systematischen, sondern in freiem Wechsel von Beobachtung und Reflexion sich ergehenden Kunstaufsätzen großes Interesse entgegentrug. Besonders die in Briefen verfaßte Kunstnovelle »Der Sammler« erregte seine höchste Bewunderung, und er prophezeite – leider irrig – von ihr einen großen Aufschwung des Erfolges der »Propyläen«. Auch an den künstlerischen Preisaufgaben, die Goethe in dieser Zeitschrift zur Bearbeitung stellte, nahm er lebhaften Anteil. Er sah hierin einen sehr zweckmäßigen Weg, durch unmittelbare Anregung und praktische Kritik auf die Künstler einzuwirken, und im Zusammenhang damit ließ er sich auch bereden, einmal persönlich einzugreifen; er richtete an »den Herausgeber der Propyläen« jenen kritischen Brief über die eingesandten Konkurrenzzeichnungen, der im dritten Bande der Zeitschrift abgedruckt wurde. In dieser Zuschrift zeigt sich Schiller als entschiedener Anhänger der Kunstanschauungen Goethes und seines Freundes Meyer; vor allem rühmt er in den Bildern das »Symbolische«, wie wir heute sagen würden: »Typische«, d. h. die Züge, in welchen der Einzelvorgang als Abbild einer allgemein menschlichen Lebensäußerung erscheint, in welcher das einzelne »mehr vorstellt, als es ist«.
Im Zusammensein mit Goethe reifte in Jena auch eine wichtige Entscheidung über Schillers äußere Existenz: seine Übersiedelung nach Weimar ward beschlossen. In Jena hielt ihn nichts Wesentliches zurück; zwar hatte das Jahr 1798 ihm die Ernennung zum ordentlichen Honorarprofessor gebracht, aber an eine akademische Tätigkeit war weder nach seinem Gesundheitszustand, noch nach seinen jetzigen Neigungen irgendwie noch zu denken. Nach Weimar dagegen zog ihn das Theater, dessen beständige Anschauung ihm für seine feinere dramatische Tätigkeit sehr wertvoll sein mußte, und dem er andererseits als Dramaturg große Dienste leisten konnte. Goethe wünschte die Übersiedelung des Freundes dringend und wußte auch den Herzog dafür zu gewinnen. Ohnehin zahlte ja dieser das bescheidene Gehalt Schillers aus seinen Privatmitteln, und es war nur natürlich, wenn er den Dichter nun in seine Residenz zog. Ein unbedingter Bewunderer von Schillers dramatischer Dichtung – auch vom »Wallenstein« – war der Herzog freilich nicht, aber er mußte doch den großen Bühnenerfolg anerkennen, der im Sommer noch eine besondere Bestätigung durch den rückhaltlosen Beifall des jungen preußischen Königspaares erhielt, das bei einem Besuch in Weimar der Vorstellung der Trilogie beiwohnte. Karl August hegte auch den Gedanken, wenn Schiller nach Weimar übersiedelte, einen direkten Einfluß auf seine dramatische Produktion, besonders die Wahl der Stoffe gewinnen zu können. So wurde der Umzug für den kommenden Winter beschlossen und Schillern die Erhöhung seines Gehalts auf vierhundert Taler zugesichert. Freilich in seiner Voraussetzung, auf Schiller einwirken zu können, täuschte sich der Herzog; er war aber auch einsichtsvoll genug, derartige Versuche bald wieder fallen zu lassen.
In einer anderen Hinsicht war es freilich nicht möglich, die Wünsche des Herzogs unbeachtet zu lassen, obgleich sie mit Goethes und Schillers Ansichten nicht ganz übereinstimmten. Karl August wünschte auf seinem Hoftheater einige Pflege des französischen, klassizistischen Dramas, das seit Lessings kritischem Strafgericht geradezu in Mißkredit gekommen war. Die neueste dramatische Literatur – sowohl die idealistisch gerichtete wie die naturalistische – hatte sich im Gegensatz zur Kunst Corneilles und Racines entwickelt. Es erschien wie eine Selbstaufgabe, wenn man wieder dorthin zurückkehrte. Goethe entschloß sich, doch den Versuch zu wagen, indem er hoffte, die strenge Kunstform der Franzosen werde in mancher Hinsicht erzieherisch auf allerlei Nachlässigkeiten und Unarten der Schauspieler einwirken. Er übersetzte den »Mahomet« des Voltaire und ersuchte Schiller, ein einführendes und gleichsam entschuldigendes Gedicht dazu zu liefern. Schiller willigte ein; aber es erging ihm, wie einst in Mannheim, als er den Namenstag der Kurfürstin auf der Bühne feiern sollte; seine Persönlichkeit drängte sich zu entschieden hervor, und das Gedicht wurde für seinen Zweck unbrauchbar. Die Stanzen »an Goethe, als er den Mahomet des Voltaire auf die Bühne brachte«, gingen zwar im allgemeinen auf Goethes Gedankengang ein, betonten aber um so viel stärker die Bedenklichkeiten als die Motive der Zustimmung, daß sie nicht mehr als eine Ermutigung gelten konnten. Schon die erste Strophe spricht von der »Aftermuse, die wir nicht mehr ehren«, und noch die letzte verklausuliert die Anerkennung des »Franken« so, daß sie fast wertlos wird:
Nicht Muster zwar darf uns der Franke werden,
Aus seiner Kunst spricht kein lebendiger Geist;
Des falschen Anstands prunkende Gebärden
Verschmäht der Sinn, der nur das Wahre preist.
Ein Führer nur zum Bessern soll er werden,
Er komme wie ein abgeschiedener Geist,
Zu reinigen die oft entweihte Szene
Zum würd'gen Sitz der alten Melpomene.
Für die Erkenntnis von Schillers dramatischem Idealziel ist das Gedicht ein wertvolles Zeugnis; es zeigt ihn im gleichen Widerspruch zum überwundenen »Klassizismus« wie zur platten Naturnachahmung; es schließt sich als positives Bekenntnis würdig der satirischen Expektoration »Shakespeares Schatten« in den »Xenien« an.
Etwa gleichzeitig mit diesem Gedicht vollendete Schiller auch die lyrisch-epische Dichtung, welche vielleicht sein populärstes Werk geworden ist: »Das Lied von der Glocke«. Die Schilderung der menschlichen Kultur als einer über den Naturzustand erhobenen, einheitlich geordneten Art und Weise menschlicher Existenz hat Schiller gern in dichterischer Form ausgeführt. Zuerst schon 1795 in dem unter seinen philosophischen Gedichten von uns erwähnten »Spaziergang«. Dort weicht aber die Behandlung von Schillers gewohntem Gedankengang völlig ab, da das Gedicht auf eine krasse Darstellung der Mißstände und der endlichen Fäulnis der Überkultur hinausläuft, aus der es Rettung nur in der Flucht zur unverfälschten Natur findet. Drei Jahre später entstand, in Ablösung eines älteren Planes, die Begründung der athenischen Kultur durch fremde Einwanderer zu schildern, das »Eleusische Fest«, das sich mit dem »Lied von der Glocke« im Preise des durch die Ordnung erst herbeigeführten menschenwürdigen Zustandes berührt. Der Hauptnachdruck ist aber in jenem Gedicht auf die Entstehung dieses Zustandes gelegt, während er in diesem schon als bestehend geschildert wird. Mit wahrhaft dramatischer Gewalt wird dort das Mitleid der menschensuchenden Göttin mit dem irrenden Geschlecht und ihr Entschluß es zu retten geschildert. Es erinnert an die tiefsinnigsten Gebilde des religiösen Gefühls, wenn der Dichter die Göttin im »gequälten Herzen« der Menschheit Angst und Wehen empfinden läßt und wenn sie dann den Nebel zerteilt, der sie den Blicken verhüllt; »plötzlich in der Wilden Kreise steht sie da, ein Götterbild.« Ergreifend ist die Gründung der ersten Menschengemeinschaft durch das Geschenk des Saatkornes und die Bekräftigung der Gründung durch das Zeichen der höchsten Gottheit. Etwas äußerlicher wird das Gedicht, wenn es in rascher Folge dann alle anderen Götter ihre besonderen Gaben darbringen läßt; aber zu hoher Bedeutung erhebt es sich wieder in den Schlußworten der Ceres:
»Freiheit liebt das Tier der Wüste,
Frei im Äther herrscht der Gott;
Ihrer Brust gewalt'ge Lüste
Zähmet das Naturgebot.
Doch der Mensch in ihrer Mitte
Soll sich an den Menschen reih'n,
Und allein durch seine Sitte
Kann er frei und mächtig sein.«
Es war ein weiter Weg, der den freiheitschwärmenden Jüngling zu diesem Bekenntnis des reifen Mannes gefühlt hatte. Und doch ist die Grundanschauung nicht eigentlich verändert. Denn am Glauben an menschliche Willensfreiheit hält Schiller auch hier unerschütterlich fest. Vom Naturgebot, d. h. der unablenkbar bestimmten Willensrichtung, die der Gottheit wie dem Tiere zukommt, wird der Mensch nicht gebändigt; er kann sich selber bestimmen. Aber er soll sich selber so bestimmen, daß er freiwillig auf den willkürlichen Gebrauch jener Freiheit verzichtet. Sie wird erst dann und insoweit wertvoll, als er sich mit der »Sitte« der Gemeinschaft, der er angehört, in inneren Einklang gesetzt hat. – Der befriedigende Zustand innerer und äußerer Harmonie, der durch die Herrschaft der Sitte sich ausbildet, ward dann in dem lang geplanten »Lied von der Glocke« dargestellt. Indem Schiller hier an das Symbol der Kirchenglocke anknüpfte, gab er dem Gedicht eine leise christlich-religiöse Färbung, wie sie ihm sonst nicht gewohnt ist. Aber auch ohne diese Färbung würde niemand im Zweifel sein, daß dieses Gedicht keine Phantasiewelt, sondern die uns allen vertrauten, ererbten sittlich bürgerlichen Lebensformen darstellt. Mit der »Glocke« gab Schiller, ähnlich wie Goethe mit »Hermann und Dorothea«, den Beweis, daß der Weg ihrer Selbstbildung durch das klassische Altertum sie nicht der christlichgermanischen Welt entfremdet hatte. Aber freilich nicht im Sinne einer dogmatischen Verehrung, sondern nur als einen wertvollen Entwickelungs- und Durchgangspunkt konnte Schiller, der ewig-strebende, unseren Kulturbesitz schätzen. Darum schließt auch der Weihespruch des »Meisters«:
»Und wie der Klang dem Ohr vergehet,
Der mächtig dröhnend ihr entschallt,
So lehre sie, daß
nichts bestehet,
Daß
alles Irdische verhallt.«
Die entschiedene Absage an jeden gewaltsamen Umsturz, an jede Durchbrechung der gefestigten Ordnung wird aber gleichfalls in unserem Gedicht vollzogen. Mit deutlichem Hinweis auf die französische Republik, deren Bürgerdiplom ihm vor kurzem endlich zugekommen war, ruft der Dichter mit dem so mächtig von ihm beherrschten Pathos schaudererregende Bilder im Kontrast zu den glücklichsten Szenen des Friedens hervor und verkündigt:
»Wo rohe Kräfte sinnlos walten,
Da kann sich kein Gebild gestalten.«
Mit welch künstlerischer Feinheit er seine Darstellung an das »Gebilde« der Glocke und ihr Entstehen angeknüpft hat, bedarf keiner besonderen Darlegung. In gewissenhafter Treue dem Fortgang des Glockengusses folgend, mit dem er durch Studium und Anschauung sich vertraut gemacht hatte, weiß er doch überall in natürlichem und zwanglosem Übergang die Bilder seiner Phantasie anzureihen und einzuschieben. Meisterhaft ist der Gebrauch der wechselnden Rhythmen, und wie diese der Stimmung die der Dichter erzielen will, überall aufs feinste angepaßt sind, so nicht weniger die äußerst bewegliche, bald kindlich einfache, bald hochfeierliche Sprache.
Das Gedicht erschien im Musenalmanach für das Jahr 1800, dem letzten, den Schiller herausgab. –
Die Jahreswende war diesmal für Schiller durch schwere Krankheitssorge bezeichnet, die nicht ihm selber, sondern seiner Gattin galt. Im November wurde sie nach der Geburt des dritten Kindes von einem schweren Nervenfieber befallen, das sie in äußerste Gefahr brachte, und als die Krisis überstanden war, trat eine völlige Geistesabwesenheit ein, die Schillern die schwersten Befürchtungen für die Zukunft erweckte. Die sechswöchentliche aufopfernde Pflege erschöpfte auch seine Kräfte in schlimmer Art, wie sich bald zeigen sollte. Unter so schweren Umständen kam nun auch die Zeit heran, da er nach Weimar übersiedeln sollte. Sobald Lotte sich einigermaßen erholt hatte, wurde sie, um sie vor der Unruhe des Umzuges zu schützen, von Frau von Stein in Weimar gastfreundlich aufgenommen. Auf Schiller lag also die ganze Last. Am 3. Dezember 1799 verließ er die Musenstadt, die mehr als zehn Jahre seine Heimat gewesen war, den Ort, wo er in seinem rasch dahinstürmenden Leben die längste Rast gemacht hatte. Und von dem tatsächlich schon lange verlassenen akademischen Beruf kehrte er wieder zu der Tätigkeit zurück, die er schon in der Jugend in Mannheim geübt und die als praktischer Beruf die einzige ihm gemäße war, zu der dramaturgischen. Ehe er aber noch in Weimar sich völlig zurechtgefunden hatte, verfiel nun er selber in ein schweres »Schleimfieber«, durch das sich die Natur offenbar für die vorhergegangenen Anstrengungen rächte. Wiederum fürchtete man für sein Leben, und die Genesung erfolgte sehr langsam.
So war durch Krankheitssorge und äußere Unruhe Schiller fast ein halbes Jahr von intensiver Arbeit abgezogen. Begreiflich, daß in solcher Lage an den Abschluß der »Maria Stuart« nicht zu denken war. Trotzdem war Schiller mit Ausnahme weniger Wochen unausgesetzt tätig, wenn auch nicht in produktiver Weise. Zuerst galt es die Drucklegung des »Wallenstein« (in Cottas Verlag), wobei noch manches zu bedenken war, vieles gekürzt, anderes erst definitiv bestimmt wurde. Im Versbau behielt Schiller manche Freiheit bei, die er sich zuerst nur im Bühnenmanuskript gestattet hatte, fand er doch auch bei Shakespeare die freie Behandlung des dramatischen Jambus! Manche lyrische oder bilderreiche Stelle fiel, wie wir schon hörten, auf Körners Rat. Dagegen lehnte Schiller rundweg den auf die ganze Komposition einwirkenden Wunsch Körners ab, Max Piccolomini noch mehr in den Vordergrund zu rücken und seine »hohe sittliche Natur« das Ganze beherrschen zu lassen. Allerdings ein merkwürdig verfehlter Rat, der deutlich zeigt, daß auch den Nächststehenden – Goethe ausgenommen – nicht klar wurde, wie hoch sich Schiller im Wallenstein gehoben, und was er hier erreicht hatte. Manche Mühe brachte Schiller ferner die Herausgabe seiner gesammelten Gedichte und mehrerer Bändchen kleiner prosaischer Schriften, die bei Crusius in Leipzig erschienen. Über die Gedichte seiner früheren Zeit urteilte er jetzt sehr streng, und nur eine höchst bescheidene Auswahl wurde gedruckt; auch in diesen wurde eine höchst sorgfältige Reinigung, öfters auch Kürzung vorgenommen. Fast möchte man die Mühe bedauern, die sich Schiller damit gab; denn einem feineren Kunsturteil konnten die Gedichte meist auch nach diesen Veränderungen nicht genügen, weil der ganze Grundton disharmonisch war und blieb. Nur an den besten lohnte der Erfolg die Arbeit, so an »Hektors Abschied«. Ersprießlicher war die Umarbeitung, die der Dichter seinen neueren, im Musenalmanach und in den »Horen« erschienenen Dichtungen angedeihen ließ. Jetzt erst erhielten gerade die hervorragendsten Gedichte wie »Der Spaziergang«, der »Genius«, die »Ideale«, das »Ideal und das Leben« die Vollendung, zu der sie innerlich bestimmt waren, die ihnen zukam. Welcher Unterschied zwischen der Strophe:
So schlangen meiner Liebe Knoten
Sich um die Säule der Natur,
Bis durch das starre Herz der Toten
Der Strahl des Lebens zuckend fuhr;
und der jetzigen:
So schlang ich mich mit Liebesarmen
Um die Natur mit Jugendlust,
Bis sie zu atmen, zu erwarmen
Begann an meiner Dichterbrust.
Auch die prosaischen Schriften wurden einer genauen Revision unterzogen: die Aufsätze über das Naive und über sentimentalische Dichtung erhielten erst jetzt ihre einheitliche Form. Von der Abhandlung über das Erhabene wurde ein beträchtlicher Teil beseitigt und der Rest unter dem Titel »Über das Pathetische« gedruckt. Dagegen erschien ein neuer Aufsatz »Über das Erhabene« im dritten Bändchen der kleineren Schriften (1801). Man hat wohl geglaubt, auch dieser neue Beitrag stamme doch schon aus der Zeit der »Horen« oder der »Neuen Thalia«, weil Schiller in späteren Jahren nicht mehr zu solchen reflektierenden Untersuchungen neigte. Aber es ist höchst unwahrscheinlich, daß der Herausgeber der »Horen« bei seiner beständigen Manuskriptnot einen so abgerundeten, inhaltreichen Aufsatz nicht verwendet haben sollte, wenn er schon vorhanden war. Dagegen ist es an sich die nächstliegende Annahme, daß diese Darlegung des »Erhabenen« entstanden ist, als Schiller jenen älteren Aufsatz zum Teil verwarf; und es läßt sich auch der Punkt seines Geistesganges finden, an dem er wieder ein flüchtiges Interesse für das Problem des Schönen und des »Erhabenen« gewann. Es war bei Beobachtung der Wirkung seines »Wallenstein«. Unter den zahlreichen, sich kreuzenden und aufhebenden Äußerungen über das Werk kam ihm auch eine kleine Druckschrift mit Begleitbrief des Professors Süvern zu Händen, die er einer sachlich eingehenden, wenn auch kurzen Antwort würdigte. Dabei schloß er mit den charakteristischen Worten: »Unsere Tragödie ... hat mit der Ohnmacht, der Schlaffheit, der Charakterlosigkeit des Zeitgeistes und mit einer gemeinen Denkart zu ringen, sie muh also Kraft und Charakter zeigen, sie muß das Gemüt zu erschüttern, zu erheben, aber nicht aufzulösen suchen. Die Schönheit ist für ein glückliches Geschlecht, aber ein unglückliches muß man erhaben zu rühren suchen.« Hier liegt der Keimpunkt jenes Aufsatzes, der in wenig Tagen rasch entstanden sein dürfte und den gewaltigen Ernst einer »sehr traurigen Epoche«, die seine Frau und ihn selbst dem Tode nahe gebracht hatte, wiederspiegelt.
Im ganzen Ton unterscheidet er sich von denen, die aus der Periode der philosophischen Studien Schillers stammen. Er hat nicht die Subtilität der Distinktionen, nicht die Strenge der logischen Durchführung wie jene; er ist mehr ein gewaltiger Panegyrikus zum Lobe des Erhabenen, das uns über die Abhängigkeit von den Naturgesetzen zum Bewußtsein unserer sittlichen Freiheit erhebt. Es ist der Tragiker, der hier, umgekehrt wie Lessing, seine eigentliche Kanzel verläßt, um von einer anderen den Zuhörern ins Herz zu reden. Jene Ermahnungen, den »schlaffen verzärtelten Geschmack« hinwegzuwerfen, der eine Harmonie zwischen dem Wohlsein und dem Wohlverhalten lügt, wovon sich in der wirklichen Welt keine Spuren zeigen, jene Aufforderungen, »die pathetischen Gemälde der mit dem Schicksal ringenden Menschheit, der unaufhaltsamen Flucht des Glückes, der betrogenen Sicherheit, der triumphierenden Ungerechtigkeit und der unterliegenden Unschuld zu betrachten«, sie sind ein mächtiger Aufruf zum Verständnis des Tragischen und zur Vertiefung in die tragische Kunst. Das schöne Bild von den »Zwei Führern des Lebens« hat Schiller hier nochmals in Prosa verwendet, zur selben Zeit, da er den Titel des Gedichtes in »Schön und Erhaben« umänderte. Der Schluß des Aufsatzes bringt deutliche Anklänge an das kurz zuvor entstandene Gedicht zu Goethes Mahomet-Übersetzung; auch hier bekennt Schiller, daß die Kunst nur den Schein, nicht die Wirklichkeit nachzuahmen habe.
Mit dem Problem der »Naturnachahmung« beschäftigen sich auch die nur wenig Seiten umfassenden »Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst«, welche in ihrem fast ausschließlich der künstlerischen Praxis zugewandten Gedankengang einen Verfasser erkennen lassen, der selbst mitten im künstlerischen Schaffen darinsteht. Sie verraten durch die häufige Beziehung auf die bildende Kunst die Nachwirkung der eifrigen Gespräche mit Goethe über dessen »Propyläen«. Schillers jetzt errungener Standpunkt rein objektiver künstlerischer Betrachtung spricht sich darin aus, daß ihm die Frage nach dem »Gemeinen« durchaus eine Frage der künstlerischen Darstellungsform ist. »Ein gemeiner Kopf wird den edelsten Stoff durch eine gemeine Behandlung verunehren. Ein großer Kopf und ein edler Geist hingegen wird selbst das Gemeine zu adeln wissen, und zwar dadurch, daß er es an etwas Geistiges anknüpft und eine große Seite daran entdeckt.«
In der Tragödie, die er damals vollendete, hatte er freilich auch dem stofflichen Interesse und der stofflichen Wirkung, wie wir schon wissen, ein großes Gewicht eingeräumt. Das durch so manche Zwischenfälle dem Dichter fern gerückte, dann von ihm wieder aufgenommene Stück erhielt seine Vollendung endlich bei einem stillen Landaufenthalt, auf dem Schloß Ettersburg, den die Güte des Herzogs im Mai und Juni 1800 Schillern gewährte. Lange Spaziergänge im Walde erfrischten hier Körper und Geist und gaben die beste Stimmung zur Produktion. Unmittelbar nach dem Abschluß erschien »Maria Stuart« auf der Weimarer Bühne und tat ungeachtet mancher kritischer Einwände, die sich erhoben, große Wirkung. Es war freilich nicht die Wirkung des Erhabenen, sondern die des Rührenden. Der eigentliche tragische Konflikt, der den Helden vor große Entscheidungen stellt und endlich in sein Verhängnis hinabreißt, fehlt in »Maria Stuart«. Die gefangene Königin befindet sich im Konflikt mit ihrer unwürdigen äußeren Lage, aber nicht mit sich selbst. Sie redet und handelt in allem mit der königlichen Würde, die ihr zukommt; wenn sie sich ihrer Feindin gegenüber zu heftigen Worten hinreißen läßt, so geschieht das erst, nachdem sie aufs schwerste beleidigt wurde und nun verpflichtet ist, ihre königliche Stellung zu wahren; wenn sie am Schlusse ihre Sünden beichtet, so tut sie das, ohne damit einen Titel ihres Rechts aufzugeben und ohne sich in Widerspruch mit ihrem bisherigen Verhalten zu setzen; wir empfinden ihr Geschick als ungerecht und höchst beklagenswert und zollen der sympathischen und edlen Gestalt unser tiefstes Mitgefühl. Um so schwärzer ist die Gegenseite gezeichnet. In Elisabeth sind alle widerwärtigen Züge, die die Geschichte berichtet, beibehalten oder noch gesteigert, die hoheitvollen möglichst abgeschwächt oder verhüllt, und auch ihr einflußreichster Ratgeber, Lord Burleigh, ist ohne ersichtliche Motivierung als ein niedriger Charakter hingestellt. Dagegen ist selbst der intrigante Fanatiker, der Maria befreien will, der Jesuitenzögling Mortimer, mit einem Glorienschein umgeben. Kurz, während Schiller im »Wallenstein« das möglichste getan hat, um unser Interesse nach beiden Seiten hin, der des Helden und der seines Gegners, gleichmäßig zu verteilen und in Kampf geraten zu lassen, fühlen wir uns hier zwischen Licht und Finsternis gestellt. Die Folge ist, daß wir mitleidige Rührung nach der einen Seite hin, widrigen Abscheu nach der andern hin empfinden, daß wir aber nicht das tragische Schicksal erblicken, »welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt«. Jene Rührung und jener Abscheu würden nun freilich nicht den dramatischen Erfolg hervorbringen können, wenn sie nicht durch die dramatische Komposition in entscheidendem Maß unterstützt würden. Der Gang der Ereignisse – von einer »Handlung« kann ja kaum gesprochen werden – ist mit voller Meisterschaft gefügt und geordnet. Man bedenke nur, daß von Beginn des Stückes an tatsächlich das Schicksal Marias entschieden ist. Weder haben die Befreiungsversuche eine Chance des Gelingens, denn Maria würde nicht lebend den englischen Boden verlassen, noch kann Elisabeth die Verurteilte begnadigen; denn was sollte dann ihr Los sein? Es ist natürlich, daß Befreiungsversuche gemacht werden, daß die Königin von England vor dem letzten Schritt ein Zagen empfindet, – aber der Ausgang steht dennoch fest. Selbst wenn das Attentat gegen Elisabeth geglückt wäre, so hätte das den Tod der Maria nur beschleunigt. Aber welcher Zuschauer, welcher unbefangene Leser wird angesichts des Dramas diese Reflexionen anstellen; wer wird nicht das Für und Wider der Erwägungen, das Schwanken von Furcht und Hoffnung mit voller Spannung verfolgen, – wer wird nicht unter dem Eindruck stehen, als habe Maria selbst erst ihr Schicksal durch den Zornesausbruch gegen Elisabeth besiegelt, während doch ihr Schicksal im Geiste dieser Elisabeth von Anfang an schon feststand? Ja wer folgt nicht, nachdem das Urteil schon sanktioniert ist, noch mit Erregung der Komödie, welche die Königin mit dem Sekretär Davison aufführt, als ob diese Komödie noch irgend welche sachliche Bedeutung hätte! Ein vortreffliches Bühnenstück bleibt »Maria Stuart«, auch wenn wir ihr die tragische Erhabenheit absprechen müssen.
Und welch weite Perspektiven eröffnet die Dichtung uns über die Sphäre der uns szenisch gezeigten Vorgänge hinaus? Der ganze welthistorische Kampf des Zeitalters taucht vor unseren Augen auf. Bis nach dem Vatikan und der Peterskirche wird unsere Phantasie geführt, und uns damit, so virtuos auch Schiller die sinnliche Schönheit des katholischen Kultus zu verwerten weiß, doch über den eigentlichen Charakter des Kampfes, der um England tobte, kein Zweifel gelassen. Es ist die großartige Eigenschaft der letzten historischen Dichtungen Schillers, daß sie nicht nur einzelne Vorgänge und Gestalten aus der Vergangenheit aufgreifen, sondern aus dem Vollen, aus einer historischen Totalanschauung geschöpft sind. Schiller scheut sich nicht, hier mit dem ganzen Zauber poetischer Schönheit die katholische Sphäre, als deren Vertreterin die unglückliche Heldin erscheint, zu umkleiden; aber dennoch erregt er den unmittelbaren Eindruck, daß die dauernd siegende Kraft, daß das künftige Schicksal Englands und Schottlands trotz aller abstoßenden Züge bei den mit unbeirrbarer Sicherheit handelnden Gegenspielern zu finden ist.
Während Schiller die Tragödie vollendete, hatte er zugleich noch eine wichtige dramaturgische Arbeit unter der Feder, die Übersetzung und Bearbeitung von Shakespeares »Macbeth«. Mit seinem ganzen Interesse historischen Stoffen zugewandt, hatte er einige Jahre zuvor daran gedacht, die ganze Folge der »Königsdramen« zu bearbeiten. Aber dies Unternehmen unterblieb, – wohl weil allzu weitschichtig und allzu schmierig für die Bühne wie für das Publikum. Auf den »Macbeth« lenkte vermutlich der dem »Wallenstein« ähnliche Stoff und die eigentümliche Ausprägung des Schicksalsmotivs in den »Hexen« Schillers Aufmerksamkeit. Schon am 14. Mai 1800 fand die Aufführung seiner Bearbeitung statt. Über sie ist oft ungerecht geurteilt worden. Man urteilte von absoluten Voraussetzungen aus oder vom Standpunkt des Shakespeare-Kennertums, und vergaß, daß hier eine Arbeit vorlag, die sich mit Bewußtsein dem damaligen Zustand der deutschen Bühne und des deutschen Publikums anpaßte, zugleich aber beide zu Höherem erzog. An eine originalgetreue Darstellung Shakespeares war damals in Deutschland gar nicht zu denken. Bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde sein Dialog auf der Bühne, und selbst in die Führung der Handlung wurden die schwersten Eingriffe gewagt. Demgegenüber erscheint Schillers Bearbeitung als ein energischer Versuch, den wahren Shakespeare dem Publikum um ein gutes Stück näher zu bringen. In allem Wesentlichen schloß er sich dem Original an. Zugleich aber war es natürlich – und wiederholt sich bei all seinen Bearbeitungen, – daß er, insoweit als er änderte oder hinzudichtete, seinen eigenen Stempel dem fremden Stück aufdrückte. Schiller war kein gelehrter Übersetzer und kein geschickter Nachempfinder, der sich sorgfältig in eine fremde Haut zu verhüllen wußte. Er war eine eigenartige Dichterkraft, die sich nicht verleugnen konnte, – und es auch nicht wollte. Und wer einen Schiller zum Dramaturgen nahm, der mußte, wie Goethe es tat, ihn nehmen als den, der er war. Eckermann hat wohl eine Szene zum zweiten Teil des »Faust« so hinzugedichtet, daß der Herausgeber sie »entschieden goethesk« nennen konnte; aber nach diesem Ruhm strebte Schiller nicht. Gewiß wirkte das an manchen Stellen ungünstig, besonders in bezug auf die Hexen. Diese wollte der Bearbeiter den Zuschauern verständlicher machen, sie an ihnen bekannte Vorstellungen anknüpfen; damit aber treten sie gar zu sehr aus dem Nebel ihrer nordischen Haide und dem Rahmen des ganzen Stückes heraus. Aber im ganzen ist und bleibt Schillers Bearbeitung doch eine würdige Übertragung der Shakespeareschen Dichtung in dem Stil unseres deutschen klassischen Dramas.
Unablässig und rastlos drang jetzt Schiller in seinem Bemühen für das deutsche Theater vorwärts. Schon im Juli 1800 begann er eine neue Tragödie, und bereits im April 1801 war sie vollendet; es war »Die Jungfrau von Orleans«. In allem eine Steigerung der in »Maria Stuart« angegebenen Art und Weise! Bühnentechnisch noch mehr vollendet, ist die »Jungfrau« wohl das effektvollste, auch den skeptischen Zuschauer gewaltsam fortreißende Werk Schillers; an innerem Wert, an tragischem Gehalt ist sie eines der schwächsten, nächst dem »Fiesco« wohl das schwächste seiner Dramen. Daher ist auch die Wirkung eine vorübergehende; jeder wird gerne einmal diese »romantische Tragödie« über die Bretter gehen sehen; aber wenige werden ein Verlangen haben, sie zum zweitenmal zu sehen.
Schiller hatte hier einen Stoff ergriffen, der ihm erlaubte, seine Kunst der Idealisierung so recht aus dem Vollen zu üben. An Jeanne d'Arc hatten die Dichter schweres Unrecht geübt; Shakespeares von engherzig nationalem Parteisinn diktierte Verzerrung und Voltaires von verständnisloser Skepsis eingegebene Verhöhnung hatten den Zeitgenossen das wahre Bild dieser heroischen Gestalt geraubt. Darüber sprach Schiller mit tief empfundener Entrüstung sein Verdikt: »Es liebt die Welt das Strahlende zu schwärzen und das Erhabene in den Staub zu ziehn.« Sein historischer Sinn führte ihn hier zur »Rettung«, zur Wiederherstellung einer edlen Erscheinung. Aber leider blieb er dabei nicht stehen. Er idealisierte sich das heldenhafte Landmädchen zur überirdischen Gestalt, zur Himmelsbotin. Und ihr gegenüber sendet die Hölle ihre Geister aus; der englische Feldherr Talbot muß als Incarnation des Bösen erscheinen, und sogar nach seinem Tode noch als »Schwarzer Ritter« aus dem Abgrund wiederkehren. Damit aber sind mir aus der wirklichen Welt in eine ganz Klopstocksche Welt versetzt, in der für tragische menschliche Schicksale kein Raum mehr ist. Darum kann auch die tragische Verwickelung, die Schiller frei erfunden und eingefügt hat, kein wahres menschliches Interesse erwecken. Schon ihre Voraussetzung ist keine glückliche. Die historische Jeanne d'Arc hat bekanntlich dem Heere nur die Fahne vorausgetragen, nicht aber selbst das Schwert gefühlt; Schiller läßt sie dagegen, einem himmlischen Gebot folgend, die Feinde in Scharen niedermähen. Die Vorstellung eines Mädchens, das nur aus Pflichtgefühl mitleidslos tötet und dabei doch die volle Milde und Zartheit des Gemütes wahrt, ist überhaupt keine menschlich faßbare; sie ist willkürlich konstruiert. Und auch die Schuld, die aus Übertretung dieses Gebotes entspringen soll, vermögen mir nicht menschlich mitzuempfinden. Daher erscheint uns auch der Tod der Jungfrau als kein tragisch notwendiger; er ist ein zufälliges Unglück. Gelitten hat unter diesem Grundmangel auch die Charakteristik. – Sie ist schattenhafter als in irgend einem anderen Schillerschen Stück, die Diktion allgemeiner und unpersönlicher; die Lyrik überwiegt nirgend so sehr als hier und tritt nirgend so selbständig auf (ausgenommen in der »Braut von Messina«, die aber einer ganz anderen dramatischen Gattung angehört). Nicht recht am Platze in der historischen Tragödie sind auch die plötzlich eintretenden wunderbaren Ereignisse; das Zerreißen der Ketten inmitten einer ganz realistischen Szenenreihe wirkt ebenso unnatürlich wie das von Lessing getadelte Auftreten des Voltaireschen Gespenstes am hellen Tage in der Ratsversammlung. Und bei dem, im verhängnisvollen Augenblick erschallenden Donner bleiben wir im Zweifel, ob er ein Zufall oder die Äußerung eines mit grausamer Strenge urteilenden geheimnisvollen Wesens sei. »Eine Fügung des Schicksals«, möchte vielleicht mancher sagen; dann aber wäre es ein äußerlich waltendes Schicksal, nicht das in des Menschen eigener Brust sich offenbarende, dem wir uns im »Wallenstein« beugen mußten. Schiller glaubte wohl manche dieser Eigentümlichkeiten damit erklären zu können, daß er auf den Titel den Zusatz »Eine romantische Tragödie« setzte. Und in der Tat haben die katholisierenden, der Legendenwelt zustrebenden Neigungen der Romantiker auf das Stück Einfluß geübt, wie auch schon in einzelnen Stellen der »Maria Stuart«, in dem Entwurf eines Ritterdramas »Die Gräfin von Flandern« die Einwirkung der romantischen Zeitströmung zutage trat. Aber die Angabe des Ursprungs des Unheils war keine Rechtfertigung. Und das um so weniger, als Schiller, der sich in einem wahren Kriege mit den Romantikein, besonders Friedlich Schlegel, begriffen fühlte, innerlich ihrer ganzen Betrachtungsweise viel zu fern stand, um sein ganzes Stück in diese Atmosphäre zu versetzen; die einzelnen Bestandteile, die er von dort entnahm, waren doch nur eine Anleihe.
Trotzdem – Schillers Eigentümlichkeit mit ihren großen Vorzügen verleugnet sich auch in der »Jungfrau« nicht. Vor allem ist es die gewaltige Handhabung der Massen, der gegeneinanderwirkenden Mächte des jahrhundertelangen englisch-französischen Zwiespalts. Wieder ist nicht ein Fetzen Weltgeschichte, sondern eine ganze welthistorische Bewegung, widergespiegelt im engen Rahmen einer dramatischen Handlung, von ihm gegeben worden. Und den Abschluß dieser Bewegung ahnen wir voraus, wenn wir sehen, wie Frankreich, das zerspaltene, zum Teil an den Feind hingegebene, sich aufrafft, sich einigt, indem es die abgetrennten Glieder teils von sich stößt, teils wieder an sich zieht. Wie mächtig herausgearbeitet ist das Hervortreten der wieder Glauben und Vertrauen anfachenden Jungfrau inmitten der äußersten Verlassenheit und Hoffnungslosigkeit. Wie meisterhaft vorbereitet und durchgeführt ist der den Umschwung entscheidende Übertritt des Herzogs von Burgund! Wie gewaltig wird der Niedergang der englischen Macht durch den Tod des gefürchteten Talbot symbolisiert! Ganz zu schweigen von dem meisterhaften Kompositionsgeschick, daß sich in allem und jedem erweist und auch die innerlich anfechtbaren Szenen, wie die vor der Krönungskathedrale, aufs effektvollste anzuordnen und auszugestalten weiß.
Die »Jungfrau von Orleans« konnte aus persönlichen Ursachen, gegen die auch Goethe machtlos war, zunächst in Weimar nicht in Szene gehen. Schiller sah die erste Aufführung in Leipzig im Herbst 1801. Er hatte mit seiner Familie einen längeren Besuch bei Körner in Loschwitz gemacht und kam von dort aus nach Leipzig herüber. Ein gewaltiger Erfolg wurde seinem Stück und eine große Ovation ihm selber zuteil. Nachdem er schon bei seinem Eintritt mit Pauken und Trompeten empfangen und während der Aufführung dem Hervorruf gefolgt war, wurde er beim Ausgang des Theaters von dem gesamten Publikum erwartet und mit stürmischen Rufen: »Es lebe Schiller, der große Mann!« begleitet. Und dabei hatten die Schauspieler nicht einmal Bedeutendes geleistet; es war allein Schillers geniale Kunst, welche diese Begeisterung hervorbrachte. – Seine alte Mutter schrieb auf die Nachricht von dieser Huldigung in ihrer altertümlichen Einfachheit, als ob sie das zu große Glück fürchte: »Das sind nun freilich Ehren, wie sie sonst nur einem Prinzen gebracht werden!« Es war die letzte freudige Nachricht, die sie von ihrem Fritz erhielt; bald darauf (1802) starb sie nach längerem Leiden. –
Die Reinheit und Schrankenlosigkeit seiner idealen Betrachtungsweise hatte Schiller in der »Jungfrau von Orleans« im höchsten Maß bewährt, indem er den patriotischen Aufschwung und die Rettung Frankreichs mit voller Begeisterung schilderte, während gleichzeitig Deutschland in größter Gefahr der Zertrümmerung durch ebendasselbe Frankreich schwebte. Und der Dichter, obgleich in Weimar den Kriegsstürmen zunächst noch entrückt, war gegen die politischen Vorgänge durchaus nicht gleichgültig. Schon deshalb nicht, weil sie sein schwäbisches Heimatland aufs schlimmste betrafen. Dann aber auch aus allgemeinem Interesse. Wie scharf und durchdringend er auch die politischen Ereignisse der Gegenwart betrachtete, bezeugt deutlich das Gedicht, mit dem er den »Eintritt des neuen Jahrhunderts« begrüßte. Als das Wesentliche der verworrenen Begebenheiten rings umher erkennt er mit scharfem Blick den Gegensatz zwischen Frankreich und England, den alten Zwiespalt, der nach Jahrhunderten wieder, freilich unter anderen Formen, ausgebrochen ist.
Zwo gewalt'ge Nationen ringen
Um der Welt alleinigen Besitz,
Aller Länder Freiheit zu verschlingen,
Schwingen sie den Dreizack und den Blitz,
Gold muß ihnen jede Landschaft wägen,
Und wie Brennus in der rohen Zeit
Legt der Franke seinen eh'rnen Degen
In die Wage der Gerechtigkeit.
Seine Handelsflotten streckt der Brite
Gierig wie Polypenarme aus,
Und das Reich der freien Amphitrite
Will er schließen wie sein eignes Haus.
Im Gegensatz zu jenen machtgierigen Nationen empfand Schiller mit vollem Bewußtsein den höheren, sittlichen Charakter der deutschen Nation. Dem Erbprinzen, der nach Paris reiste, rief er zu:
Daß dich der vaterländ'sche Geist begleite,
Wenn dich das schwanke Brett
Hinüberträgt auf jene linke Seite,
Wo deutsche Treu' vergeht.
Ausführlich hat er sich über den deutschen Nationalcharakter in einem größeren Gedicht aussprechen wollen, das Entwurf und Fragment geblieben ist und seiner Entstehung nach wohl auch dem Anfang des Jahrhunderts, der Zeit des traurigen Friedens von Luneville angehört. Jede politische Bestimmung des deutschen Volkes wird da zurückgewiesen; rein geistig ist die Aufgabe des Deutschen. Man hat oft Schiller in einen Gegensatz zu Goethe setzen wollen, indem man ihm ein größeres Verständnis für nationalpolitische Ideen zuschrieb. Nach diesem Gedicht ist dies aber kaum aufrecht zu erhalten. Beide Dichter trafen in dem Gedanken des Xenions zusammen:
Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es Deutsche vergeben«,
Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus!
Und Schiller verkündigt jetzt:
Das ist nicht des Deutschen Größe
Obzusiegen mit dem Schwert,
In das Geisterreich zu dringen,
Vorurteile zu besiegen,
Männlich mit dem Wahn zu kriegen,
Das ist seines Eifers wert.
Als die Haupttat der Deutschen wird demgemäß die Reformation gepriesen, und zwar ohne jede Zutat romantischer Unklarheit.
Schwere Ketten drückten alle
Völker auf dem Erdenballe
Als der Deutsche sie zerbrach,
Fehde bot dem Vatikane,
Krieg ankündigte dem Wahne,
Der die ganze Welt bestach.
Höhern Sieg hat der errungen,
Der der Wahrheit Blitz geschwungen,
Der die Geister selbst befreit.
Freiheit der Vernunft erfechten
Heißt für alle Völker rechten,
Gilt für alle ew'ge Zeit.
Es entsprach ganz Schillers Natur, sich durch solche ideale Betrachtung über die Misere der Gegenwart zu erheben. Und in dieselbe ideale Höhe erhob er nun auch die nationalen Pflichten der Deutschen, die er durchaus nicht verkannt wissen wollte. Im Zorn über die traurige Kriecherei, die deutsche Fürsten und Stämme damals bewiesen, ruft er aus:
Ew'ge Schmach dem deutschen Sohne,
Der die angeborne Krone
Seines Menschenadels schmäht,
Kniet vor einem fremden Götzen,
Der des Briten toten Schätzen
Huldigt und des Franken Glanz.
Wir sehen – hier ist volles, wahres Nationalgefühl; aber es ist das Gefühl eines Mannes, der ideale Güter über alles schätzt. Es ist die Resignation des Dichters, der sich darein gefunden hat, bei der »Teilung der Erde« zu spät gekommen zu sein, und sich im Fluge nach dem Himmel glücklich weiß. Dieselbe Rolle wies Schiller dem ganzen deutschen Volke zu, und er glaubte in ihm, auch die Kraft des Idealismus zu finden, diese Rolle durchzuführen. Ob er in der Zeit des napoleonischen Drucks und der preußischen Erhebung zu einer realpolitischeren Auffassung gelangt wäre oder ob er auch den Befreiungskampf nur als einen Kampf um geistige Güter aufgefaßt haben würde, darüber muß jedem das Urteil unbenommen bleiben.