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XIII

Fernere dramaturgische Tätigkeit. Die Braut von Messina

Wie wenn auf einmal in die Kreise
Der Freude mit Gigantenschritt
Geheimnisvoll nach Geisterweise
Ein ungeheures Schicksal tritt,
Da beugt sich jede Erdengröße
Dem Fremdling aus der andern Welt
Des Jubels mächtiges Getöse
Verstummt und jede Larve fällt ...

Im Anfang des Jahres 1801 war Goethe von einer schweren Krankheit ergriffen worden, die für sein Leben fürchten ließ und deren Nachwirkungen seine Schaffenskraft lange beeinflußt haben. Bis über Schillers Todesjahr hinweg reicht eine Periode der Zurückgezogenheit von der Außenwelt und sehr beschränkter dichterischer Produktion. Natur- und Kunststudien beschäftigten ihn in der Stille. Mit dieser Wendung war Schillers rastloser, jetzt ganz auf rasche Wirkung gewandter Geist sehr wenig einverstanden. Besonders schmerzlich war ihm, daß Goethe jetzt auch den »Faust« beiseite liegen ließ. Es kam darüber zwar nicht zu einer Entfremdung, aber doch zu einem Auseinanderrücken der beiden Freunde. Dies hatte wieder die Folge, daß Goethe das einzige poetische Werk, das im Lauf dieser Jahre langsam reifte, die »Natürliche Tochter«, Schillern verheimlichte, während er doch bisher all seine Dichtungen während des Entstehens mit ihm durchgesprochen hatte. Um so weniger konnte der Freund die scheinbar gänzliche poetische Unfruchtbarkeit begreifen, und in den Briefen an Körner wie an Humboldt findet sich manches unmutige Wort über Goethes »Hinschlendern«, über den ihm mangelnden »Glauben an die Möglichkeit von etwas Gutem«. Es ist merkwürdig, daß Schiller hier selber das Verständnis für Goethes Gesamtpersönlichkeit nicht mehr zeigt, welches er in jenem berühmten Brief, der ihre Freundschaft eröffnete, bewiesen hatte. Welchen Wert für Goethes ganze Lebens- und Kunstauffassung das Naturstudium hatte, entging ihm jetzt; er schrieb an Goethe, »möchten Sie einmal all diese Schlacken aus Ihrem reinen Sonnenelemente herausschleudern!«

Goethe seinerseits war zwar für Schillers eifrige Bühnentätigkeit sehr dankbar und ermutigte Schiller beständig; aber sein persönliches Interesse an diesen neuesten Produkten war kein allzu großes, und selbst seinem Lob ist es anzumerken, daß es nicht aus reiner künstlerischer Bewunderung entsprang. Wenigstens glaube ich das aus dem kurzen Urteil über die »Jungfrau« herauszuhören: »Es ist so brav, gut und schön, daß ich ihm nichts zu vergleichen weiß.« Und ein andermal schreibt er: »Meinem ersten Eindruck nach ist alles so recht, und darauf kommt es denn wohl bei Arbeiten, die auf gewisse Effekte berechnet sind, hauptsächlich an.« Ein unleugbarer Ton der Vornehmheit klingt da heraus. Er hat es später als den Hauptfehler des Stückes bezeichnet, daß die Heldin, »da sie von Lionel ihr Herz getroffen fühlt, sich dessen bewußt ist und ihr Vergehen ihr nicht aus irgend einem Mißlingen oder sonst entgegenkommt«, und er hat damit den empfindlichsten Punkt der Charakteristik, die Vereinigung von visionärer Ekstase und von klarer, sicherer Bewußtheit, in derselben Person scharf getroffen.

Von dem Bestreben direkter Einwirkung auf das Publikum, wozu ihn Schiller fortgerissen hatte, zog Goethe sich jetzt wieder zurück; er hat es in späteren Jahren sogar als einen Mißgriff bezeichnet, daß er damals zuviel Zeit und Mühe auf solche vergängliche und vergebliche Augenblickswirkungen verbraucht habe. So vermied er es jetzt auch nach außen hin eine Parteistellung zu nehmen; von der Xenienstimmung war er gründlich frei geworden. Das sagte nun wiederum Schiller nicht zu, der sich der Welt gegenüber beständig als Kämpfer fühlte. Auch jetzt noch fühlte er sich zwischen die beiden feindlichen Hauptmächte der Plattheit und der Phantastik gestellt. Die erstere war in Weimar durch Kotzebue, den flachen Dramenfabrikanten, vertreten, die letztere durch Jean Paul, der sich besonders an Herder angeschlossen hatte. Aber in weiterem Sinne rechnete Schiller die ganze junge Romantik, besonders die Schlegels in diese zweite Gruppe. Er schrieb an Humboldt: »Die Schlegel- und Tiecksche Schule erscheint immer hohler und fratzenhafter, währenddes sich ihre Antipoden immer platter und erbärmlicher zeigen, und zwischen diesen beiden Formen schwankt nun das Publikum.« Goethe aber brachte unbedenklich die Dramen Kotzebues und der Schlegels auf die Bühne, nicht im mindesten, um den Autoren eine Freude zu machen, sondern die einen, weil das Publikum sie absolut verlangte, die anderen, weil die Schauspieler dabei die schwierigen griechischen und romanischen Versalien sprechen lernten! Schiller war darüber unglücklich und klagte über Goethes Krankheit, »sich der Schlegels anzunehmen«. Diese aber wurden gerade dadurch im Zaum gehalten, ihren Groll gegen Schiller allzu rücksichtslos zu äußern; sie wußten sehr wohl, daß Goethe im selben Augenblick sich völlig von ihnen getrennt haben würde, und gestanden sich das selber ein.

Denn trotz jener zeitweiligen Erkaltung blieb nach außen hin das Verhältnis Goethes und Schillers immer das vollständiger Einigkeit, und auch der tiefe Grund der gegenseitigen Hochschätzung blieb unangetastet. Die Verschiedenheit beider mußte sich auf die Dauer wieder geltend machen; aber jeder von ihnen erkannte stets den Wert der Eigentümlichkeit des anderen. Gerade über Schillers fortwährenden Drang, geistige Wirkung auszuüben, äußerte sich Goethe noch in später Zeit mit Bewunderung. Karoline von Wolzogen hat Gesprächsaufzeichnungen veröffentlicht, die eine junge Verwandte (Fräulein von Wurmb) im Verkehr mit Schiller während des Jahres 1801 niedergeschrieben hatte. »Alles Unterhaltung im höheren Sinne«, schrieb Goethe, als er diese Blätter gelesen, »woran mich sein Glaube rührt, dergleichen könne von einem jungen Frauenzimmer aufgenommen und genutzt werden. Und doch ist es aufgenommen und hat genutzt, gerade wie im Evangelium: Es ging ein Säemann aus zu säen.« Dazu ist hinzuzufügen, daß Schiller durchaus nicht mit größerem Vertrauen als Goethe das geistige Interesse und Verständnis des Durchschnittsmenschen betrachtete; es war nur der innere Trieb seines eigenen beständig regen Geistes, der ihn anspornte. »Schiller«, schreibt Goethe über dieselben Gespräche, »erscheint hier wie immer im absoluten Besitz seiner erhabenen Natur; er ist so groß am Teetisch, wie er im Staatsrat gewesen sein würde.« Und weiter: »Schiller berührte nichts Gemeines, ohne es zu veredeln.«

Ein Versuch, Goethe und Schiller zu entzweien, wurde von dem intriganten Kotzebue im Frühjahr 1802 nicht ohne Geschicklichkeit angestellt. Es sollte eine Feier zu Ehren Schillers veranstaltet werden, mit der ausdrücklichen Absicht, Goethe dadurch zurückzusetzen und zu kränken. Dieser ignorierte die Sache natürlich, die endlich an einigen äußeren Hindernissen scheiterte. Schiller schrieb glücklich über dieses Mißlingen an Goethe und freute sich darüber, daß gerade jetzt Kotzebues »Üble Laune« auf dem Theater dargestellt werde. Durch Schmeicheleien seiner Feinde sich betören zu lassen, war das letzte, wozu Schiller sich hergegeben hätte.

Goethes fortdauerndes Einvernehmen mit dem Freunde bewährte sich auch darin, daß er ihm seine bisher noch nicht auf der Bühne erschienene »Iphigenie« zur Theaterbearbeitung überließ. Schiller verfuhr hier weit schonender als einst mit dem »Egmont«. Denn er erkannte, daß man dieses Drama von Grund aus hätte umwerfen müssen, wenn man ein Theaterstück im gewöhnlichen Sinn daraus hätte machen wollen, wenn man die äußere Handlung, die durchweg hinter die Szene verlegt ist, auf die Bühne hätte bringen wollen. So begnügte er sich, wie es scheint, mit Kürzungen und hütete sich anzutasten, was er den Hauptvorzug dieses Dramas nannte: Seele. Leider ist seine Einrichtung uns nicht erhalten.

Fast ebenso konservativ verfuhr Schiller mit Lessings in Weimar gleichfalls noch nicht gegebenem »Nathan«, einem Stück, dessen sittlichen Charakter er hochschätzte, dem er aber als Drama schwere Vorwürfe machte. Die Handlung als solche erschien ihm lustspielmäßig, während sie zugleich durch die ernste Tendenz um ihre Heiterkeit und Leichtigkeit gebracht werde. Aber dieses Grundübel zu beseitigen, wären wiederum zu schwere Eingriffe nötig gewesen: entweder die Aufopferung der Tendenz, d.h. hier des wesentlichen Gedankeninhalts des Dramas, oder die Umkehr der Handlung zu einem tragischen Ausgang hin. An beides war nicht zu denken, und so beschränkte sich Schiller hauptsächlich darauf, den schwierigen, öfters spitzfindigen Dialog Lessings der Bühnensprache und dem Verständnis der Zuschauer mehr anzupassen.

Sehr frei verfuhr er dagegen bei einem anderen kühnen Unternehmen, mit dem er sich auf die Bühne wagte, – bei der Bearbeitung der Gozzischen Maskenkomödie »Turandot«. Der venetianische Graf Gozzi hatte vor etwa dreißig Jahren es versucht, in einer Anzahl märchenhafter Komödien (»Fabeln« nennen sie die Italiener) die hergebrachten Maskengestalten der italienischen Bühne (Pantalone, Brighelle u. a.) zu kunstmäßiger Dichtung zu verwerten. Diese Stücke waren auch in Deutschland bekannt geworden, und besonders die Prosa-Übersetzung von Werthes hatte Beifall gefunden. Schiller wollte sich offenbar von den historischen Stoffen etwas ausruhen, indem er sich zu einem solchen freien Phantasiespiel hinwandte. Es lag aber in seinem Charakter, daß er es nach Möglichkeit zu vertiefen und gehaltreich zu machen suchte. Die Parteien, in welchen die Verwickelung unlösbar scheint, erhalten dadurch zum Teil eine tragische Färbung, die aus dem Ton des Ganzen heraustritt. Noch bedeutungsvoller ist, daß er für nötig hielt, die Grausamkeit der Turandot durch tiefere Motive als bloße Laune zu erklären; die Prinzessin erscheint als Rächerin ihres beleidigten und unterdrückten Geschlechts.

»Ich sehe durch ganz Asien das Weib
Erniedrigt und zum Sklavenjoch verdammt,
Und rächen will ich mein beleidigtes Geschlecht
An diesem stolzen Männervolke, dem
Kein anderer Vorzug vor dem zarten Weibe
Als rohe Stärke ward. Zur Waffe gab
Natur mir den erfindenden Verstand
Und Scharfsinn, meine Freiheit zu beschützen.
Ich will nun einmal von dem Mann nichts wissen;

Ich hass' ihn, ich verachte seinen Stolz
Und Übermut. Nach allem Köstlichen
Streckt er begehrend seine Hände aus....
Muß denn die Schönheit eine Beute sein
Für Einen? Sie ist frei so wie die Sonne,
Die allbeglückend herrliche am Himmel,
Der Quell des Lichts, die Freude aller Augen,
Doch Keines Sklavin und Leibeigentum.«

Das sind eigene Worte Schillers, der hier seinen Freiheitssinn einer Vertreterin des schönen Geschlechts lieh. Aber in Wirklichkeit war er durchaus kein Freund weiblicher Emanzipationsgelüste, und er läßt daher auch diese Vorkämpferschaft der Turandot ohne weitere Erwähnung sich verflüchtigen, sobald ihr Herz sich entschieden hat.

Ein besonderes Interesse suchte Schiller der Hauptszene des Stückes durch die selbstgedichteten Rätsel zu geben, die bei jeder Aufführung durch neue ersetzt wurden. So ist die Reihe der Schillerschen Rätseldichtungen entstanden, die alle, nach Goethes Ausdruck, den »schönen Fehler« haben, daß sie den Gegenstand nicht eigentlich verhüllen, sondern idealisierte, erhöhte Bilder desselben geben.

Große Wirkung hat das Stück in Deutschland nicht getan: dem Publikum waren schon die Gozzischen Masken auf der Bühne fremdartig, noch mehr aber vielleicht fremdartig, Schiller als Lustspieldichter zu sehen, der nun einmal als Tragiker registriert war. Iffland freilich, der »Turandot« mit größter Sorgfalt in Berlin inszenierte, urteilte anders; er war zwar von dem Gozzischen Genre nicht eingenommen, wünschte aber dringend von Schiller ein eigenes, »ein deutsches Lustspiel«. »Warum wollte der Genius, der den treuen, wahren, lebendigen Musikus Miller, der »Wallensteins Lager« schuf, es uns verweigern?« Iffland überschätzte hier gewiß nicht Schillers Können; aber er beurteilte seine Geistesart nicht richtig. Ein Lustspiel als Selbstzweck würde Schillers ernstliches Interesse nicht lang genug gefesselt haben. Dieser Wunsch mußte unerfüllt bleiben, so sehr wir es auch bedauern mögen.

In Schillers äußerem Leben brachte das Jahr 1802 einige erfreuliche Veränderungen. Er erwarb sich in Weimar, wonach er sich lange gesehnt, ein eigenes Haus. Freilich ist es ein bescheidenes Heim, das in der jetzigen »Schillerstraße« gelegene zweistöckige Häuschen mit dem Giebel darauf; aber der Dichter war doch hochbeglückt durch diesen Besitz. Heutzutage erinnern nur noch die beiden Mansarden, von ungezählten pietätvollen Beschauern aufgesucht, an die stille Einfachheit, inmitten deren so schwungvolle, so mächtig tönende Werke entstanden. Ihrem Schöpfer genügte diese Umgebung; denn ganz in seiner Phantasie lebend, war ihm das Äußere gleichgültig. In dem Lied »An die Freunde«, das damals entstanden ist, hat er diese Geringschätzung all des großen Welttreibens, so glänzend es auch scheinen mag, und seine Schätzung des geistigen Besitzes, mit ruhig zufriedenen Worten ausgesprochen. Er gesteht gern ein, daß es »schönre Zeiten« gegeben hat, daß es »glücklichere Zonen« gibt, daß ein »größeres Leben« anderswo rauscht; aber dem allen zum Trotz bekennt er:

»Größ'res mag sich anderswo begeben
Als bei uns in unserm kleinen Leben,
Neues hat die Sonne nie gesehen ...

Alles wiederholt sich nur im Leben,
Ewig jung ist nur die Phantasie,
Was sich nie und nirgends hat begeben,
Das allein veraltet nie!«

Es mutet fast seltsam an, daß der so ganz in idealer Sphäre lebende Dichter damals auch eine äußere Ehre über sich ergehen lassen mußte, an der ihm für seine Person wahrlich nicht gelegen war. Auf Antrag des Herzogs wurde er vom Kaiser Franz in den Reichsadelstand erhoben. Geheimrat Voigt hatte den Antrag zu begründen, und Schiller schrieb ihm launig darüber, es sei freilich keine kleine Aufgabe, aus seinem Lebenslauf etwas herauszubringen, was sich zu einem Verdienst um Kaiser und Reich qualifiziere, und Voigt habe es vortrefflich gemacht, sich zuletzt an dem Ast der deutschen Sprache festzuhalten. Erfreulich war Schiller diese Ehrenbezeugung nur für seine Frau, die dadurch wieder in ihren Adel eingesetzt wurde und in der Weimarer Gesellschaft nicht mehr hinter ihrer Schwester zurückstehen brauchte. Aber auch für ihn selbst hatte es doch den tatsächlichen Vorteil, daß er jetzt vollkommen » hoffähig« war und von nichts mehr ausgeschlossen, was er, nach eigenem Geständnis, doch manchmal unangenehm empfunden hatte. Selten genug ist er freilich, durch Arbeit wie durch Krankheit gehindert, auch künftig an den Hof gekommen.

Überhaupt war aus denselben Gründen sein gesellschaftliches Leben äußerst eingeschränkt. Den wesentlichen Bestandteil davon bildeten in jener Zeit die »Mittwochsgesellschaften«, die Goethe bei sich veranstaltete, um dadurch sich gleichsam das Recht zu erkaufen, sonst in möglichster Zurückgezogenheit zu leben. Diese Gesellschaften, zu denen sich ein fest bestimmter, sorgfältig ausgewählter Kreis versammelte, wurden durch Poesie und Musik belebt. Sie entlockten auch Schiller einige, für den geselligen Zweck bestimmte Gedichte, die er freilich auch möglichst in die Region des Ideenlebens hinaufzuheben suchte. So das schon genannte »An die Freunde«, dann das »Punschlied«, die »Vier Weltalter«, und als bedeutendste, gestalten- und gedankenreiche Gabe: »Das Siegesfest«. Dies für den Wechsel von Einzelvortrag und Chorgesang bestimmte Gedicht ist der Gipfel einer eigentümlichen Reihe von Dichtungen, die sich als vorwiegend lyrische Balladen kennzeichnen. Neben der wesentlich erzählenden Ballade, die nur durch die lyrische Stimmung sich vom rein Epischen entfernt, hat Schiller gleichfalls, wenn auch seltener, jene andere Form der Ballade gepflegt, welche die Handlung zumeist aus dem lyrischen Strom sich widerspiegeln und den Hörer sie von dort entnehmen läßt. In dieser Art schuf er schon 1797 »Die Klage der Ceres«, die nur aus einem Monolog besteht und doch mit Recht als Ballade bezeichnet ist. Auch in »Hero und Leander« (1801) überwiegt das Lyrische bei weitem; in »Kassandra« und im »Siegesfest« ist es fast allein herrschend. Jene, ein einziger, gewaltiger, erschütternder Ausbruch des Gefühls; dieses eine lebensvoll charakterisierte, tönereiche Folge von Sinnsprüchen und Mahnungen, Klagen und Freudenbezeugungen, welche durch den, jede Strophe mit wechselndem Versmaß abschließenden Chor zusammengehalten werden. Beide Gedichte sind verwandt durch die starke Betonung des Schicksalsgedankens, wenn auch in verschiedener Färbung. Als düsteres, die Lebensfreude tötendes Verhängnis erscheint es in der »Kassandra«, als die unabänderlich nahende, aber eben deshalb zum Genuß der noch vergönnten Gegenwart mahnende Zukunft wird es im »Siegesfest« uns gezeigt.

Diese Herrschaft des Schicksalsgedankens im Geiste des Dichters entsprang zweifellos dem Ernst, mit dem er sich in den schicksalsschweren Stoff einer neuen dramatischen Dichtung versenkt hatte. Der laute Erfolg der »Maria Stuart« und der »Jungfrau von Orleans« hatte ihm nicht mehr genügt; auf der Stufe, die er erreicht hatte, fühlte er sich nicht mehr befriedigt. Sein strebender Geist verlangte wieder nach einer neuen, alles Bisherige unter sich lassenden Erhebung, und er glaubte diese in der möglichsten Annäherung an die griechische Tragödie zu finden. Naturgemäß entfernte er sich damit von der heutigen, tatsächlichen Bühne; aber das kümmerte ihn nicht. Er glaubte jetzt genug für sie getan zu haben, er wollte wiederum für sich selber arbeiten. An der griechischen Tragödie zog ihn zunächst die Einfachheit an; er war der komplizierten historischen Stoffe müde, bei denen ein massenhaftes prosaisches Detail erst durch eine mühsame Geistesoperation künstlerisch brauchbar gemacht werden muß. Einen einfachen, frei erfundenen Stoff wollte er bearbeiten. Es zog ferner seine reflektierende Natur der griechische Chor an, der ihm gestattete, die ausgesponnenen Reflexionen, die er sonst den handelnden Personen, bisweilen zum Schaden der Charakteristik, in den Mund gelegt hatte, nun einem eigenen dramatischen Organ in breiter Entfaltung zuzuteilen. Es war endlich der feierliche Ton der griechischen Tragödie, der ihm die Hoffnung gab, das neue deutsche Drama endgültig aus den Regionen des Platten und Gemeinen herauszuheben. Wir dürfen sagen: Schiller fühlte sich von der Kritik und dem Publikum nicht verstanden, in dem, was er bisher, zumal mit dem »Wallenstein«, gewollt hatte. Er glaubte, daß mehr nur die glänzende Außenseite seiner Stücke wirke als der künstlerische Wert ihrer Komposition. Statt sich nun dem Publikum weiter zu nähern und sich ihm verständlicher zu machen, verfuhr er nach seiner gewaltsamen Natur umgekehrt: er entfernte sich absichtlich, er wurde schroffer, um jedes Mißverstehen, jedes Herabziehen seiner künstlerischen Intentionen unmöglich zu machen.

Mit der Annäherung an die griechische Form erfolgte nun in natürlichem Zusammenhang auch die Annäherung an den Gedankeninhalt. An Stelle des Gedankens der menschlichen Selbstbestimmung trat der das ganze Griechentum durchdringende Glaube an die Abhängigkeit von unerreichbar waltenden Mächten. Hier heißt es nicht mehr:

»Da siehst du, wie die »Sterne« dir gelogen«,

sondern

»Die Orakel sehen und treffen ein, der Ausgang wird die Wahrhaftigen loben;«

nicht mehr

»In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne«,

sondern

»Noch niemand entfloh dem verhängten Geschick;
Und wer sich vermißt es klüglich zu wenden,
Der muß es selber erbauend vollenden.«

An die Stelle des subjektiven Schicksalsbegriffs ist der objektive getreten. Damit sind wir in eine Welt versetzt, die nicht mehr die unsrige werden kann, und wo es ganz allein von der siegenden Kraft des Dichters abhängt, ob er unsere Phantasie dort für einige Stunden heimisch machen kann. Schiller hat das vermocht; mit erhabener Fruchtbarkeit wirkt das »Schicksal« in der »Braut von Messina«; wer aber ihn darin nachahmen wollte, verfiel in das Sonderbare oder gar Alberne. Es hat dies die Folge gehabt, daß manche das ungünstige Urteil über diese späteren »Schicksalstragödien« nun auch auf Schillers Werk zuiückübertragen haben. Wer Gefühl für wahre poetische Größe und poetisches Leben hat, wird freilich nicht auf ein solches Mißurteil verfallen. –

Äußere Anlässe, die Schiller auf das griechische Drama hinwiesen, hatten in der letzten Zeit nicht gefehlt. Er hatte den Aeschylus in Graf Stolbergs Übersetzung gelesen. Die Beschäftigung mit Goethes »Iphigenie« hatte ihn zu scharfem Nachdenken über das Wesen des Antiken und des Modernen geführt; er hatte Goethes Drama »erstaunlich ungriechisch« gefunden. Und der an Euripides sich anlehnende »Jon« von August Wilhelm Schlegel, der ihm ganz ungenügend erschien, mußte ihn gleichfalls zu reinerem Erfassen des antiken Dramas aneifern. Er glaubte nun in der »Braut von Messina« in der Tat den griechischen Tragikern auf ihrer Bahn zu folgen. An Wilhelm von Humboldt schrieb er: »Mein erster Versuch einer Tragödie in strenger Form wird Ihnen Vergnügen machen; Sie werden daraus urteilen, ob ich als Zeitgenosse des Sophokles auch einmal einen Preis davongetragen haben möchte. Ich habe es nicht vergessen, daß Sie mich den modernsten aller neueren Dichter genannt und mich also im größten Gegensatz mit allem, was antik heißt, gedacht haben. Es sollte mich also doppelt freuen, wenn ich Ihnen das Geständnis abzwingen könnte, daß ich auch diesen fremden Geist mir zu eigen gemacht.«

Den Schauplatz verlegte Schiller jedoch nicht in das alte Griechenland; er hätte sich hier entweder in das Gebiet der Sage oder der Geschichte begeben müssen und würde nicht die volle Freiheit der Erfindung, die er diesmal erstrebte, sich haben wahren können. Er wählte sich Sizilien, und zwar in einer verworrenen, damals noch wenig aufgehellten Periode seiner Geschichte. Die noch fortwirkende Macht antiker Religionsvorstellungen hat sich durch die Invasion der Sarazenen mit orientalischem Aberglauben vermengt; äußerlich herrscht das Christentum; aus allem zusammen ergibt sich ein Dämonen- und Schicksalsglaube, dem sich alles beugt und in den der Dichter auch uns hineinzwingt. Die politische Macht liegt in den Händen eines fremden, normannischen Herrschergeschlechts, das mit eiserner Hand die Volksmasse daniederhält, aber selbst ängstlich nach den Worten des christlichen Eremiten oder des arabischen Sterndeuters hinhorcht. Das Volk ist ohne Anhänglichkeit an seine Herren, aber auch ohne Widerstreben gegen sie; es empfindet Fügsamkeit gegen die irdische wie die überirdische Gewalt als erste Bedingung seines Glückes.

Auf diesem Boden, in dieser Umgebung läßt Schiller sich die Geschicke eines Hauses erfüllen, das unter der schweren Last eines ererbten Fluches seufzt wie das Atridenhaus in Mykenae, wie das Labdakidenhaus in Theben. Der tragische Ausgang, und noch mehr das Motiv unnatürlicher Liebe und Ehe erinnert vor allem an die thebanische Sage. Sie war Schiller vertraut, seit er die »Phönizierinnen« des Euripides übersetzt hatte. Aber anders als es dort geschehen, hat er den Fluch aus dem eigenen Verschulden der Voreltern abgeleitet und sich darin wieder der Atridensage genähert. Unserer Betrachtungs- und Empfindungsweise wird dadurch der Schicksalsgedanke näher gerückt, ja nur insofern überhaupt verständlich. Eine unnatürliche, frevelhafte Ehe hat den Fluch des Ahnherrn auf die Nachkommen herabgerufen, und auch sonst weiß das Gerücht von »Greueltaten ohne Namen« zu erzählen. Schiller hat es selbst ausgesprochen (gegen R. Böttiger), daß er nicht nur einen mystischen, sondern auch einen realen Zusammenhang der Vererbung habe darstellen wollen: sowie es Familiengesichter und Familienkrankheiten gebe, so auch forterbende moralische Gebrechen ... Und diese fortsündigende Schuld müsse endlich die Nemesis herabziehen. Zwischen den älteren Generationen und der jüngsten, nach welcher das Drama seinen Doppeltitel (Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder) führt, steht die verwitwete Fürstin, die Mutter der fluchbeladenen Kinder. Sie, Isabella, ist die Hauptfigur, die wahre Heldin der Tragödie, und es darf uns nicht in dieser Erkenntnis irre machen, daß gerade sie in beiden Titeln nicht genannt wird. Sie ist die Heldin, weil durch ihr Handeln der unwiderrufliche Untergang des Hauses, die Vollendung des Fluches geschieht, ein erschütternder Gegensatz zu der Befreiung und Entsühnung, die Iphigenie als dramatische Heldin an ihrem ganzen Hause vollzieht.

Es ist das einzige Mal, daß Schiller eine Mutter in den Mittelpunkt eines Dramas gestellt hat, aber mit welcher Großartigkeit und welchem Aufgebot psychologischer Kunst hat er hier alle mütterlichen Empfindungen von stolzester Freude bis zur tiefsten Verzweiflung geschildert. Wohl mag ihm die Gestalt der Niobe vorgeschwebt haben, die sich zuerst ihres Glückes rühmt, um dann unter der Härte des schwersten Schicksals zu versteinern. Aber hier ist das Schicksal um so härter, als das Glück ja nur für einen kurzen Augenblick der Fürstin gelacht hat; ihr ganzes Leben ist sonst von Furcht und Sorge gequält worden. Sie legt selbst einen Teil der schweren Erfahrungen, die sie durchlebt, in der majestätischen Eingangsrede dar, welche die Rede der Jokaste in den »Phönizierinnen«, der sie wohl nachgebildet ist, weit übertrifft. In fortwährendem Zwist hat sie ihre beiden Söhne neben sich aufwachsen sehen; mit furchtbarer Strenge hat der Vater die Äußerungen ihres Hasses unterdrückt, aber für die Zukunft nicht vorsorgen können; für den Augenblick seines Todes ließ sich das Schlimmste voraussehen. Tatsächlich brach auch sogleich der Bürgerkrieg aus: »Messina teilte sich; die Bruderfehde löst alle heil'gen Bande der Natur.« Aus dem Kampf geht eine allgemeine Mutlosigkeit, ja Verzweiflung hervor. Die Bürger, zur Besinnung gelangt, denken daran, ein anderes Herrschergeschlecht zu berufen. Auf der Fürstin, die noch die Herrschergewalt übt, lastet die ganze Verantwortlichkeit des Augenblickes. Aber dies sind nicht die einzigen Sorgen, welche die Fürstin verfolgt haben und verfolgen; noch schwerer hat das Schicksal der einzigen Tochter sie bekümmern müssen. Vor ihrer Geburt war die Weissagung eines sternkundigen Arabiers ergangen, diese Tochter würde »beide Söhne töten und der ganze Stamm durch sie vergehen«. Der Vater gab Befehl, »die Neugeborene alsbald ins Meer zu werfen«. Die Mutter vereitelt das grausame Vorhaben und rettet das Kind durch einen treuen Diener in die Verborgenheit. Ihr wird von einem Mönch ein anderer Orakelspruch: »Die Tochter würde der Söhne streitende Gemüter in heißer Liebesglut vereinigen.« Es ist vielleicht kein glücklicher Zug, daß Schiller die Mutter hervorheben läßt, sie habe geglaubt, dem »Gott der Wahrheit« mehr trauen zu müssen als dem der »Lüge«, dem christlichen mehr als dem heidnischen; denn aus dem ganzen Verlauf des Stückes geht hervor, daß beiden Orakeln derselbe Wert, die gleiche Untrüglichkeit zuzuschreiben ist. Wir befinden uns unter dem Walten eines Schicksals, das in der Verkündigung seines Willens keinen Unterschied zwischen den Organen der einzelnen Religionen macht. Im Sinne unseres Dramas begeht Isabella dadurch einen schweren Fehler, daß sie ihre Weissagung nicht offen, sondern nur in versteckter Heimlichkeit zu befolgen wagt. Sie teilt den zweiten Spruch ihrem Gatten nicht mit, sie versucht nicht, ihn dadurch von seinem früheren Entschluß abzubringen; sie bewahrt die Tochter bis zu seinem Tode in gänzlicher Verborgenheit, – und nur dadurch werden die folgenden Verwickelungen geschaffen. Welch' tragisches Los liegt darin! Hat sie doch nur aus Mutterliebe so gehandelt, und doch ruft der eine Sohn am Schluß ihr mit Recht zu: »Verflucht sei deine Heimlichkeit, die all dies Gräßliche verschuldet!« Wie Iphigenie durch die Kraft der Wahrheit ihr ganzes Haus entsühnt, so wird hier durch die Verstecktheit – und nicht durch die der Mutter allein – das ganze Haus vernichtet.

Doch zu Beginn unseres Dramas hält Isabella den Augenblick der Enthüllung für gekommen. Sie hat ihre Söhne entboten, um ihnen ins Gewissen zu reden, um sie womöglich zu versöhnen. Ist das gelungen, so will sie die Schwester ihnen zuführen. Scheinbar erschöpft sie vergeblich ihre Worte; aber als sie endlich schon verzweifelnd mit furchtbarem Ernst der Rede das Bild einer schrecklichen Zukunft den hadernden Söhnen zeigt, besiegt sie die stolzen Herzen dennoch. In der zweiten Szene, die sie uns vorführt, sehen wir sie hochentzückt zwischen beiden Söhnen stehen, und ohne Säumen enthüllt sie nun auch das Geheimnis. Ihrer Überraschung wird mit zwei anderen Überraschungen geantwortet. Beide Söhne eröffnen ihr, daß jeder ihr noch heute die Braut ins Haus führen werde. Entzückt ruft sie aus:

»Noch gestern sah ich mich im Witwenschleier,
Gleich einer Abgeschiednen, kinderlos
In diesen öden Sälen ganz allein,
Und heute werden in der Jugend Glanz
Drei blüh'nde Töchter mir zur Seite stehen.
Die Mutter zeige sich, die glückliche,
Von allen Weibern, die geboren haben,
Die sich mit mir an Herrlichkeit vergleicht!«

Aber ein Schatten fällt sogleich auf diese Freude. Auch die Söhne haben in versteckter Heimlichkeit und zugleich mit wilder Raschheit gehandelt. Don Manuel, der ältere, verweigert seiner Mutter jeden näheren Aufschluß; Don Cäsar weiß nur mitzuteilen, daß er die Geliebte bei des Vaters Leichenfeier vor drei Monaten erblickt habe; nicht einmal ihren Namen vermag er zu nennen. Betroffen weiß Isabella sich nur in stille Ergebung zurückzuziehen:

»Den eignen freien Weg, ich seh' es wohl,
Will das Verhängnis geh'n mit meinen Kindern ...«

Wir aber wollen hier noch einen tief tragischen, ja mehr als das, einen grausamen Zug hervorheben. Mit Aufgebot all seiner dichterischen Kraft, in berühmt gewordenen Versen hat Schiller beide Brüder hier die bezwingende Macht des ersten untrüglichen Gefühls der Liebe schildern lassen.

»Wenn sich Verwandtes zum Verwandten findet,
Da ist kein Widerstand und keine Wahl,
Es löst der Mensch nicht, was der Himmel bindet.«

Und dieses scheinbar untrügliche Gefühl trügt hier so entsetzlich, daß es beide Brüder in unnatürlicher Neigung mit der eigenen Schwester verbindet. Welche tragische Ironie liegt da in den Worten:

»Und klar auf einmal fühlt' ich's in mir werden.
Die ist es oder keine sonst auf Erden!«

Während Isabella sich noch nicht von ihrer Überraschung erholt hat, trifft sie eine neue schwer beunruhigende Nachricht. Ihre Tochter ist, wie der ausgesandte Diener berichtet, in der letzten Nacht aus dem Kloster entführt worden, wie man glaubt, von maurischen Seeräubern. In höchster Erregung treibt die Mutter die Söhne an, die Schwester aufzusuchen und zu befreien. Ganz von diesem Gedanken hingenommen, ist sie für alles andere unempfindlich. Sie bemerkt nicht, daß Don Manuel »in tiefe Zerstreuung versunken« ist und nach dem hier zuerst genannten Namen »Beatrice« mit sichtlicher Besorgnis fragt. Sie antwortet kaum auf irgend eine Anrede, und als endlich beide Söhne sie verlassen haben, bricht sie in die trauervolle Frage aus: »Wann endlich wird der alte Fluch sich lösen, der über diesem Hause lastend ruht?« Der Zuschauer weiß es schon, daß dieser Fluch jetzt erdrückend und vernichtend sich niedergesenkt hat.

Wie wir die Fürstin zum drittenmal erblicken, ist sie noch von der Unruhe um die Tochter ganz eingenommen; sie hat, um Trost zu finden, sich an einen allverehrten frommen Klausner gewandt. Der hat ihr kund getan, Don Manuel habe ihre Tochter gefunden, zugleich aber hat er mit dreimaligem furchtbarem Weheruf den Boten von sich gewiesen. Und noch verworrener erscheint, was vorgegangen, als nun das Gefolge des Don Cäsar die ohnmächtige Beatrice hereinträgt. Doch wer sie auch gerettet haben möge, mit sorglicher Liebe empfängt sie die Fürstin, sucht sie ins Leben zurückzurufen und nennt sie dabei laut ihre Tochter. Mit Schrecken hören dies die Mannen, welche den verderblichen Streit beider Brüder um die Geliebte miterlebt haben. Isabella versteht die Ursache dieses Schauderns nicht, aber tiefverletzt durch die Teilnahmlosigkeit ruft sie aus:

Umsonst in diesem ganzen Kreis umher
Späh' ich nach einem Auge, das empfindet.

Mit der erwachsenden Tochter findet sie sich im ersten Augenblick in gemeinsamer Freude zusammen, da Beatrice aus frühester Jugend noch eine Erinnerung an die Züge ihrer Mutter bewahrt hat und sie mit frohem Staunen wiedererkennt. Als die Tochter aber dann vernimmt, daß diese ihre Mutter die Fürstin von Messina, die Mutter Don Manuels und Don Cäsars sei, ist der kurze Augenblick des Glücks jäh zerschnitten. Noch versteht Isabella nicht Beatrices Schreckensruf; aber zugleich kündigt ein Trauermarsch die fürchterliche Aufklärung an. Das Gefolge des Don Manuel erscheint mit der verhüllten Bahre, und die Mutter selbst zieht die Decke vom Leichnam ihres Sohnes. Und wie Iphigenie nach dem Wiederfinden des Bruders zuerst zu den Göttern ihren Dank sendet:

»So steigst du denn, Erfüllung, schönste Tochter
Des großen Vaters, endlich zu mir nieder;«

wie sie die verzögerte, aber dadurch erst wahrhaft beglückende Erfüllung des Gebets feiert, so wendet auch die verzweifelte Isabella sich zuerst zu den Überirdischen, aber im entgegengesetzten Sinne:

»So haltet ihr mir Wort, ihr Himmelsmächte?
Das, das ist eure Wahrheit? Wehe dem,
Der euch vertraut mit redlichem Gemüt! ....
Vermauert ist dem Sterblichen die Zukunft,
Und kein Gebet durchbohrt den ehr'nen Himmel.«

Und zu allem muß sie noch den Vorwurf ihrer Tochter hinnehmen, daß sie nur zum Verderben sie gerettet habe, daß sie weiser habe sein wollen als »die alles Schauenden«.

Ein Strahl des Trostes leuchtet noch einmal auf, als Don Cäsar eintritt. Er, der glaubt den Brudermord mit gutem Recht verübt zu haben, ist für einen Augenblick tief beglückt, nun die Geliebte in den Armen der Mutter zu sehen. Als aber diese ahnungslos ihm dankt, daß er »die Schwester« ihr hergesendet, da plötzlich tagt es im Bewußtsein des unglücklichen Mörders, und mit einem Schlage schafft er nun auch der Mutter volle Klarheit und wälzt alle Schuld des Unheils grausam auf sie ab.

»Verflucht sei deine Heimlichkeit,
Die all dies Gräßliche verschuldet! Falle
Der Donner nieder, der dein Herz zerschmettert!
Nicht länger halt' ich schonend ihn zurück.
Ich selber, wisse, ich erschlug den Bruder,
In ihren Armen überrascht' ich ihn.
Ist sie wahrhaftig seine, meine Schwester,
So bin ich schuldig einer Gräueltat,
Die keine Reu' noch Büßung kann versöhnen!«

Wie versteinert hört Isabella diese ihr ganzes Haus zerstörende Verkündigung! »Bei Ehren bleiben die Orakel, und gerettet sind die Götter,« ruft sie mit schneidendem Hohne aus, da sie die buchstäbliche Erfüllung der Sprüche anerkennen muß. Ein Gedanke an die Verschuldung des ganzen Hauses, an ihre eigene – freilich leichte – Schuld kommt ihr nicht. Dagegen wendet sich ihre Verzweiflung gegen Don Cäsar, wie von einem »Basilisken« scheidet sie sich von dem Mörder und läßt ihn bei dem Leichnam und der Schwester zurück. Als sie wieder – zum letztenmal – auftritt, hat sie sich gefaßt; von Vorwürfen ist keine Rede mehr; sie will nun den Sohn von seinem Entschluß zurückhalten, sein Verbrechen an sich selber zu richten. Aber es ist zu spät; ja, sie muß auch die Tochter zum Tode entschlossen sehen. Der Chor beklagt die »jammervolle Mutter«, deren Kinder sich wetteifernd nach dem Grabe drängen und sie allein im »öden, liebeleeren Leben« stehen lassen. Es gelingt Beatrice im Leben zurückzuhalten, nicht Don Cäsar; und beider Söhne beraubt bleibt Isabella zurück, bestimmt, weiter die trostlose Bürde des Lebens und Herrschens zu tragen.

Die Gewalt der Tragik in ihrem Schicksal ist unvergleichlich. Ihr Lebenlang für die Zukunft ihres Hauses besorgt, nach langem Dulden und Harren endlich zum Gipfel des scheinbaren Glückes geführt und auf einen Schlag alles zusammenstürzen sehend, mit dem Bewußtsein, durch das eigene Handeln diesen Ausgang erzeugt zu haben! Meisterhaft – ähnlich wie im »Wallenstein« – ist die Verwickelung auch hier so geführt, daß im Augenblick des freudigen Triumphs der Heldin der Hörer schon ahnt, welch' grauenvolle Täuschung sie verblendet! Aber die Wirkung ist noch tiefer als im »Wallenstein«, weil es menschlich ergreifendere Motive und Leidenschaften sind, die hier herrschen. Auf diese tiefe Tragik ist wohl auch der Eindruck zurückzuführen, den Schiller selbst bei der Aufführung empfand: daß er zum erstenmal eine wahre Tragödie gesehen habe. Nicht aber wird dieser Eindruck durch den eigenartigen Stil und die Einzelheiten der Ausführung bedingt, die trotz des künstlerischen Wertes die Wirkung auf uns erschweren.

Besonders gilt das von dem Chor, den Schiller einführte und in einer dem Stück vorausgeschickten Abhandlung verteidigte. Wie immer von seinem Gegenstand hingerissen, verstieg er sich bis zu der Behauptung: »Der alte Chor ... würde ohne Zweifel Shakespeares Tragödie erst ihre wahre Bedeutung geben.«« Und zwar in dem Sinne, daß die Hinzufügung des Chores eine Probe darstelle, ob das Drama wirklich tragische Größe besitze oder nicht; im einen Falle würde es durch ihn gehoben, im anderen Falle in seiner Dürftigkeit dargestellt und zu nichte gemacht werden. Man sieht leicht, daß hier das Tragische in rein idealem Sinne ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Bedingungen der dramatischen Darstellung gefaßt wird, und daß anderseits die reale Beziehung des griechischen Chors zur Musik ganz außer acht gelassen wird. Im musikalischen Drama hat der Chor eine ganz andere Stellung und Bedeutung, als wenn er in ein bloß gesprochenes Drama übertragen ist und auch selbst auf den Gesang verzichtet. Die Oper ist unter allen Umständen von der Wirklichkeitsdarstellung ein gutes Stück weiter entfernt, als es das noch so idealisierende Drama je sein kann; in der Oper folgt alles einem eigenen, mehr konventionellen Gesetz; im Drama ist es uns viel schwerer, auf die Analogie mit der Wirklichkeit zu verzichten. Gewiß hat Schiller recht, zu sagen, daß der Chor das tragische Gedicht reinigt, indem er die Reflexion von der Handlung absondert und eben durch diese Absonderung sie selbst mit poetischer Kraft ausrüstet; aber dieser Vorgang erleichtert durchaus nicht die tragische Wirkung, sondern erschwert sie. An den Zuschauer wird eine große Anforderung gestellt, wenn er sich den Chor als außerhalb der realen Handlung denken soll, und von den Darstellern selbst und ihrer Leitung wieder eine kaum zu erfüllende Leistung verlangt. In wie verschiedener Art, von streng stilisierter Einheit bis zu völlig zügelloser Auflösung, ist nicht schon der Chor der »Braut von Messina« behandelt worden, und eine maßgebende Form hat man nicht gefunden. Schiller glaubte die Sache dadurch zu erleichtern, daß er den Chor als Gefolge der Brüder neben seiner idealen Rolle auch in der Handlung tätig eingreifen ließ. Aber er hat gerade dadurch noch eine Erschwerung herbeigeführt; denn es ist jedenfalls das allerschwierigste, plötzlich in idealem Licht als leidenschaftlose Beurteiler der Handlung dieselben Gestalten anschauen zu sollen, die wir eben noch in heftiger Erregung, ja im Kampf miteinander gesehen haben. Freilich hat ja auch der griechische Chor nicht aus Idealwesen bestanden, sondern meist die wirkliche Umgebung der Hauptpersonen repräsentiert; aber er wurde nicht in dem Maß in die reale Handlung hineingezogen, und er war stets in sich geschlossen und einig, während Schiller ihn, der Anlage des Dramas nach, in zwei Parteien trennen mußte. Er hat sich damit zu helfen gesucht, daß er die allgemeinen Reflexionen fast ausschließlich dem »Ersten Chor«, dem Gefolge des älteren Bruders, das auch aus älteren Rittern besteht, zugeteilt hat; um so überraschender aber ist es uns dann, wenn wir auch diese zu heftigen und leidenschaftlichen Reden übergehen hören.

All diese Schwierigkeiten zu besiegen war Schillers ganze lyrische und rhetorische Kraft erforderlich, und diese hat er auch in vollem Maße angewandt. Eine Fülle der Gedanken, eine Tiefe der Empfindung, eine Gewalt der Sprache lebt in den »Chören«, die immer von neuem zu staunender Bewunderung hinreißen. Einzelnes herauszuheben ist hier nicht möglich, wo alles sich auf gleicher Höhe hält. Dramatisch am wirksamsten aber werden diese lyrischen Reflexionen da, wo sie nicht zurückschauen, sondern vorwärts blicken, wo sie die Handlung voraus nehmen. Weniges ist von so erschütternder Kraft gedichtet worden, wie der Chor, der Isabella auf den Augenblick vorbereitet, da sie das Tuch von der Leiche ihres Sohnes heben wird:

Wenn die Blätter fallen
In des Jahres Kreise,
Wenn zum Grabe wallen
Entnervte Greise
Da gehorcht die Natur
Ruhig nur
Ihrem alten Gesetze,
Ihrem ewigen Brauch,
Da ist nichts, was den Menschen entsetze.
Aber das Ungeheure auch
Lerne erwarten im irdischen Leben!
Mit gewaltsamer Hand
Löset der Mord auch das heiligste Band;
In sein stygisches Boot
Raffet der Tod
Auch der Jugend blühendes Leben!

Mit lebendigem Bewußtsein unseres heutigen Formempfindens hat Schiller nicht antike Versmaße dem Chor geliehen, sondern sich an die Reimstrophen gehalten, wie er ja auch schon in der Euripides-Übersetzung die Chöre auf diese Art wiedergegeben hatte. Die Kraft des Reimes, so wie er ihn zu handhaben mußte, ist für unser Ohr durch nichts zu ersetzen. Er bewies damit aber auch deutlich, daß er nicht nach einer bloßen Nachahmung, nach einer Repristination der Antike strebe, sondern daß er sie in die Gegenwart einführen und mit ihr verschmelzen wollte. Es wäre auch äußerst irrig, wenn man die »Braut von Messina« in der Tat als ein »griechisches Drama« betrachten wollte. Hier ist Altes mit Neuem innig verbunden. Zwar romantisches Wesen, das man auch hier hat nachweisen wollen, kann ich hier nicht mehr finden, als durch die Natur des mittelalterlichen Stoffs unumgänglich geboten war; das Verhältnis des Gefolges zu den Fürsten ruht auf mittelalterlicher Grundlage und erhält dadurch stellenweise etwas Romantisches. (»Der ist kein Tapferer, kein Ehrenmann, der den Gebieter läßt verachten«.) Aber das ganze Empfindungsleben in dem Reichtum und der Tiefe, wie es hier erscheint, ist erst Erzeugnis der Neuzeit, seine Darstellung erst ein Triumph der neueren Kunst. »Überall,« schrieb Wilhelm Humboldt, »geht Reflexion und Empfindung in Tiefen ein, welche die Alten in ihrem heiteren Sonnenlicht zu verschmähen scheinen, die sie aber, unparteiisch gestanden, auf diese Weise nicht kannten.« Um Schillers eigenen Ausdruck zu brauchen, es ist auch viel »Sentimentalisches« in der »Braut von Messina«, auch in den Reflexionen des Chors; besonders die Sehnsucht nach der »Natur«, nach Befreiung aus »des Lebens verworrenen Kreisen« hatte Schiller ja selbst als ein Hauptkennzeichen neuerer Empfindungsweise der »Naivetät« des Altertums gegenübergestellt. Antik ist dagegen die große Einfachheit der Charakterzeichnung, die geschlossene Einheitlichkeit jedes Charakterbildes. In dieser Hinsicht darf man unsere Tragödie mehr antik nennen als Goethes Iphigenie.

Im ganzen ein Bau wunderbarer Großartigkeit, den Schiller hier errichtet hat! Auf den festen Fundamenten des antiken Schicksalsglaubens erhebt er sich, reicht aber empor in eine Sphäre freierer Betrachtung, die als »der Übel größtes« die eigene Verschuldung erkennt. In strengen Formen griechischer Kunst ist er angelegt, aber mit allem Glanz und aller Zier unserer Kunstübung ausgeschmückt. Fremdartig, dem Herantretenden nicht leicht zu erschließen; aber von einem Hauch geistiger Größe belebt, der bis in jedes einzelne Bruchstück hinein spürbar ist.

Diesem Werke Schillers zollte auch Goethe wieder seine volle Teilnahme. Nach der Aufführung sprach er das Gefühl aus, der theatralische Boden sei dadurch zu etwas Höherem eingeweiht worden. Wenn aber Schiller und Goethe meinten, nach dieser »Einweihung« nun auch ferner in gleichem Sinne auf der Bühne wirken zu können, so war das eine Täuschung, die bald zerrinnen mußte. Die »Braut von Messina« errang einen »Achtungserfolg« höchster Art; aber auch nicht mehr. Iffland, der sie mit aller Hingabe und allem Verständnis in Szene setzte, fand trotzdem: was Schillers Genius hier von sich habe ausgehen lassen, sei doch nicht für die tatsächliche Theaterwelt bestimmt. Und zweifellos wird das Stück immer nur auf ein Publikum wirken können, das schon so weit künstlerisch erzogen ist, um sich aus seiner gewohnten Sphäre willig in eine fremde Welt versetzen zu lassen. Die Aufführung wird immer ein Experiment, wenn auch ein sehr verdienstvolles und rühmenswertes, bleiben. Wie »ein Fremdling aus einer anderen Welt, mit Gigantenschritt« geht diese Tragödie über die gegenwärtige Bühne hinweg.


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