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Einer der ersten Beamten, die mich nach meiner Einlieferung besuchten, war der evangelische Lehrer, ein alter Herr von sehr freundlichem Wesen, schon über dreißig Jahre im Gefängnisdienst tätig. Er brachte einen Band Lessing, gab seiner Teilnahme Ausdruck an meinem harten Geschick und sprach die Hoffnung aus, daß es mir doch noch gelingen möchte, eine Wiederaufnahme des Verfahrens durchzusetzen. Er sei auf Grund seiner langen Arbeit unter den Gefangenen von der Unfehlbarkeit der Richter nicht so sehr durchdrungen wie mancher andere, und eher geneigt, sein Urteil so lange aufzuschieben, bis er aus eigener Anschauung eine genügende Grundlage für dasselbe gewonnen habe. Meinen Prozeß habe er genau verfolgt und gehöre zu denen, die von der Beweisführung des Staatsanwalts nicht überzeugt seien. Wohlverstanden, er sei auch von meiner Unschuld keineswegs überzeugt. Aber das Schuldig über mich auszusprechen, dazu hätte er sich, wenn er Geschworener gewesen wäre, nicht entschließen können.
In der Tat hat er sich mir gegenüber nie so verhalten, wie wenn er in mir einen Schuldigen sähe. Seiner Güte verdanke ich viele Stunden anregender und genußreicher Lektüre, seine Besuche waren immer eine angenehme Unterbrechung der Monotonie des Alltags. Gern teilte er mit aus dem reichen Schatz seiner Erfahrung. Kein anderer Beamter kannte die Schattenseiten der Strafanstalt so genau wie er, aber er ließ sich dadurch weder in seiner Arbeitsfreudigkeit stören noch irremachen in seinem Glauben an die Besserungsfähigkeit auch des scheinbar unverbesserlichsten Verbrechers. Auf die persönliche Einwirkung komme alles an. Das Problem des Strafvollzugs sei ein reines Persönlichkeitsproblem, die äußere Form ziemlich gleichgültig. Darum halte er es auch nicht für so schlimm, daß die gegenwärtige Form offenbar sehr mangelhaft sei.
Leider war der alte Herr schon bald genötigt, wegen Krankheit aus dem Dienste auszuscheiden. Sein Nachfolger war ein jüngerer Lehrer, strebsam und tüchtig, aber zu sehr nur Lehrer. Menschlich trat er den Gefangenen nicht näher. Man hörte die Leute selten über ihn sprechen, und wenn dies geschah, so handelte es sich nur um ganz belanglose Dinge. Er weckte keinen Haß und keine Liebe.
Ganz anders der katholische Lehrer. Dieser ließ eine ziemliche Anzahl von Wochen verstreichen, ehe er sich bei mir einfand, und als er dann endlich kam, gab er sich sehr zurückhaltend. Ein hagerer, sehniger Mann mit scharfgeschnittenen Zügen, von gesuchter Einfachheit in der Kleidung, schlicht und etwas derb im Wesen. Gehörte sein junger evangelischer Kollege der liberalen Richtung an, so kennzeichnete ihn eine strenge, fast fanatische Orthodoxie. Für ihn war die Religion das Maß aller Dinge. Nach ihrem Verhalten zur Religion schätzte er die Gefangenen ein, was ihm unter diesen viele Feinde machte. Die Freidenker haßten ihn. Andere waren seines Lobes voll.
Jeden Vormittag in der Woche war zwei Stunden Unterricht. Es gab sechs Klassen, in der ersten saßen die Analphabeten. Bis zum fünfunddreißigsten Lebensjahr war der Besuch der Schule vorgeschrieben. Aber solche Gefangenen, deren Bildungsstand eine Teilnahme am Unterricht unnütz erscheinen ließ, waren ausgeschlossen. Diese Bestimmung traf auch mich, was mir gar nicht recht war. Mein Gesuch um Aufnahme in die Schule wurde von der Konferenz abgelehnt. Vergebens suchte ich Direktor, Pfarrer und Lehrer meinem Wunsche günstig zu stimmen, es hieß immer wieder: Sie haben Schulen genug besucht, Sie können hier bei uns nichts mehr lernen.
Erst als mir in der Person des Ministerialreferenten ein Fürsprecher erstand, ließ der Widerstand nach. Dieser Würdenträger erschien eines Tages in meiner Zelle, die ganze Macht und Hoheit des Staates in sich verkörpernd, und doch auch wieder voll Huld und Gnade, voll Urbanität und Leutseligkeit, voll Humanität und Herablassung – ein Gott, der zu dem Paria herniederstieg. »Wofern Sie irgendein Anliegen haben, das ich gewähren kann und dessen Gewährung sich mit der Strafe vereinbaren läßt, so können Sie es mir getrost mitteilen; wir suchen Gerechtigkeit mit Menschlichkeit zu verbinden.« Da faßte sich der Paria ein Herz und sprach den Wunsch aus, zur Schule zugelassen zu werden. Runzeln der ministerialrätlichen Augenbrauen. »Schule? Sie sind doch Akademiker. Was wollen Sie in der Zuchthausschule?« – »Der Besuch der Schule wäre eine Ablenkung für mich.« – »Sie fühlen das Bedürfnis nach einer solchen?« – »Gewiß, Herr Ministerialrat, Sie würden das begreifen, wenn Sie einmal ein Jahr lang hier am Tisch gesessen und Schachteln geklebt hätten.« Er überlegte eine Weile, und dann nickte er mit gnädigen Worten Gewährung. Mir fielen dabei die herrlichen Verse ein bei Homer, die den Phidias begeistert haben zu seiner Zeusstatue:
Also sprach und winkte mit schwärzlichen Brauen Kronion;
Und die ambrosischen Locken des Herrschers wallten ihm vorwärts
Von dem unsterblichen Haupt; es erbebten die Höh'n des Olympos.
Zu Beginn des neuen Schuljahres wurde ich in die fünfte Klasse aufgenommen. Im Schulraum wieder dieselben Holzkästen wie in der Kirche. Gegenüber, auf einer Estrade, der Lehrer. Von seinen Mitschülern sah man also nichts, hörte nur die Stimmen.
Das Interesse am Unterricht war sehr rege. Es wurde gerechnet, etwas Geographie und Geschichte getrieben, auch gelesen. Und zwar nicht bloß Lesestücke und Gedichte, sondern sogar »Minna von Barnhelm« mit verteilten Rollen. Endlich kamen kleine, in der Zelle angefertigte Aufsätze zum Vortrag, mit daran anschließender Kritik und Diskussion, wobei eine große Freiheit des Wortes gestattet war. Nur die Religion durfte nicht angegriffen werden, das wußte jeder und richtete sich danach; hier und da, wenn einer aufs äußerste erbost war, machte er einen Ausfall auf das verbotene Gebiet und fand sich gewöhnlich nach kurzem Wortwechsel vor die Tür gesetzt.
Leidenschaftliche Debatten waren an der Tagesordnung. Auf dem Katheder stand der strenge Verteidiger der christlichen Moral; die ihm gegenübersaßen, lebten fast alle mit dieser Moral auf dem Kriegsfuß, die Einfältigeren instinktiv, ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen, die Klügeren mit vollem Bewußtsein und einer gar nicht so sehr zu verachtenden Dialektik. Interessant war es, wenn der Kampf der Argumente zuletzt ausartete in einen persönlichen Streit. Behielt der Wächter der Moral die Oberhand, so geriet der Gefangene in Zorn und warf seinem Gegner Beleidigungen an den Kopf; wußte dieser sich der hitzigen Angriffe gegen irgendeinen schwachen Punkt seiner Stellung nicht mehr recht zu erwehren, so ließ er den anderen fühlen, daß er Gefangener sei, Zuchthäusler, Verbrecher. Von der einen Seite hieß es: Sie haben gut reden, brauchen nicht zu stehlen, der Staat bezahlt Sie dafür, daß Sie uns hier blauen Dunst vormachen – auf der anderen Seite: Sie greifen Recht und Sittlichkeit an, nicht als ob Sie auf Grund theoretischer Studien von ihrer Wertlosigkeit überzeugt wären, sondern weil Sie ein Verbrecher sind, der seine Verworfenheit vor sich selber und vor anderen bemänteln will durch Scheinargumente.
Ein Beispiel. Es wird »Minna von Barnhelm« gelesen, die Szene im ersten Akt zwischen dem Wirt und Just. Die Gefangenen haben mehr Sympathie für den Spitzbuben von Wirt, der Lehrer lobt den etwas rauhen, aber ehrlichen und treuen Charakter des Dieners. Es dauert nicht lange, so entbrennt ein Gefecht zwischen dem redegewandtesten der Schüler, der sich zum Wortführer aufwirft für die anderen, und dem Mann auf dem Katheder.
Der Schüler: »Was ist das für ein miserabler Kerl, dieser Just, der vor seinem Herrn kriecht wie ein Hund.«
Der Lehrer: »Treue im Dienst, Anhänglichkeit an den selbstgewählten Herrn, war von jeher eine der edelsten Eigenschaften der germanischen Rasse. Schon eines der ältesten literarischen Denkmäler unseres Volkes, das Nibelungenlied, ist eine Verherrlichung dieser Mannestreue. Treue bis zum Tode, was kann es Schöneres geben?«
Der Schüler: »Das muß ein rechter Dummkopf sein, der für einen anderen in den Tod geht. Mir ist das Hemd näher als der Rock. Der Just hängt nur darum so an dem Major, weil er ein Vieh ist ohne Verstand. Da ist der Wirt doch ein anderer Kerl, der weiß, wie man die Menschen zu nehmen hat. Darum hat er's auch zu was gebracht in der Welt.«
Der Lehrer: »Jawohl, zum Spitzbuben und Lügner. Ein würdiger Vertreter seines Standes.«
Hier mischt sich ein anderer Gefangener in die Debatte ein und erhebt Einspruch gegen eine solche Verunglimpfung eines Standes, dem er anzugehören die Ehre habe. Daß alle Wirte Spitzbuben und Lügner seien, könne nur ein ganz einseitiger, weltfremder Schulmeister behaupten. Auch unter den Wirten gäbe es Ehrenmänner. Er spricht es mit Freimut aus, daß er sich selber für einen solchen halte. Denn er sei weder ein Spitzbube noch ein Lügner, sondern sitze nur wegen Blutschande, was jedem passieren könne. Der Lehrer verbittet sich die Bezeichnung als pp. Schulmeister und bemerkt im übrigen, daß Ausnahmen die Regel bestätigen und er niemand in seiner Ehre habe angreifen wollen. Damit ist der Zwischenfall erledigt, das Wort ergreift wieder der Schüler: »Der Wirt ist ein Spitzbube und Lügner. Was weiter? Die Menschen sind alle Spitzbuben und Lügner.«
Der Lehrer: »Sie werden doch nicht behaupten wollen, daß alle Menschen stehlen?«
Der Schüler: »Fast alle. Einige haben es nicht nötig, weil sie in der Wahl ihrer Eltern vorsichtig waren. Aber auch diese sind eigentlich Diebe, denn Eigentum ist Diebstahl.«
Der Lehrer: »Kommen Sie mir nicht mit solchen Redensarten, die Sie irgendwo aufgeschnappt und nicht verdaut haben. Ich möchte sehen, was das für eine Welt wäre, in der es nur Diebe gäbe. Sie selber hätten keine Lust, in einer solchen Welt zu leben. Sie selber können nur leben, weil es in der Welt nicht bloß Spitzbuben gibt wie Sie, sondern auch ehrliche Leute, die arbeiten. Auf der Grundlage des Diebstahls kann die menschliche Gesellschaft offenbar nicht bestehen, das sieht jeder ein. Unser Herrgott hat wohl gewußt, warum er auf Sinai das Gebot gab: Du sollst nicht stehlen.«
Der Schüler: »Ich war nicht dabei, als das auf Sinai passiert sein soll. Aber jedenfalls steht nirgendwo geschrieben: Du sollst nicht lügen.«
Der Lehrer: »Kennen Sie das achte Gebot nicht?«
Der Schüler: »Doch. Du sollst kein falsches Zeugnis geben. Das ist doch nicht gleichbedeutend mit: Du sollst nicht lügen. Meineid verbietet auch der Staat. Muß ihn verbieten, weil es sonst aus wäre mit seiner Rechtspflege. Aber verbietet er das Lügen überhaupt?«
Der Lehrer: »Das Gesetz verbietet die Lüge, wo immer durch sie einem anderen Unrecht geschieht.«
Der Schüler: »Gut. Und wenn nun einem anderen durch die Lüge kein Unrecht geschieht? Nehmen Sie die Lüge Tellheims gegenüber der Witwe seines Kameraden. Das war doch wohl eine gute Tat?«
Der Lehrer: »Eine Lüge kann niemals eine gute Tat sein.«
Der Schüler: »Angenommen, ich werde als Arzt zu einem Schwerkranken gerufen, und der Kranke fragt mich: muß ich sterben, und ich weiß, wenn ich ihm die Wahrheit sage, verliert er den Mut und stirbt wirklich, während eine Lüge ihm vielleicht das Leben rettet; muß ich da nicht lügen?«
Der Lehrer: »Nein. Man muß nie lügen. Sie wären nicht verpflichtet, dem Kranken die Wahrheit zu sagen, wenn er sie nicht verträgt, aber zu lügen wären Sie auch nicht verpflichtet. Sie könnten einen Mittelweg suchen. Alle diese Beispiele, die man ausgeklügelt hat, um die sogenannte Notlüge zu rechtfertigen, sind nicht stichhaltig. Es bleibt dabei: Du sollst nicht lügen.«
Der Schüler: »Da gehen Sie also weiter als der Gott, an den Sie glauben, und der Staat, dem Sie dienen. Beide verbieten die Lüge nur, insofern sie dem Nächsten schadet. Sie verbieten sie schlechthin. Irgend jemand, ich weiß nicht wer, hat gesagt: Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer. Aber Ihre Moral zu begründen, ist nicht bloß schwer, sondern platterdings unmöglich. Verurteilen Sie immerhin die Lüge. Die Menschen werden doch fortfahren zu lügen. In der Tat, was wäre das Leben ohne die Lüge für eine traurige Sache. Wenn wir einander immer die Wahrheit sagen wollten, wo kämen wir hin? Ist nicht ein großer Teil der Kunst Lüge? Alle menschlichen Unternehmungen, die Erfolg haben sollen, müssen neben einem selbstverständlich notwendigen Wahrheitsgehalt auch eine Dosis Lüge haben, und in der glücklichen Mischung von Wahrheit und Lüge liegt nicht selten das Geheimnis ihres Erfolges. Die nackte Wahrheit ist überhaupt ein Hirngespinst für Narren. Wir anderen lassen uns ruhig Lügner schimpfen. Ist doch, wer einen anderen Lügner schimpft, selber ein Lügner.«
Der Lehrer: »Sie werden unverschämt. Wollen Sie mich einen Lügner nennen?«
Der Schüler: »Na, Herr Lehrer, Hand aufs Herz, haben Sie noch nie gelogen?«
Heiterkeit in der Klasse. Der Herr Lehrer verbittet sich das Lachen. Darauf erklärt er die Debatte für geschlossen und läßt noch einen kleinen Epilog folgen, der für seinen Widersacher nichts weniger als schmeichelhaft ist. So behält er das letzte Wort.
Es kommt auch mal vor, daß einer der Schüler, der sich besonders in Gunst setzen will, einen Vortrag hält nach dem Sinne des Herrn Lehrers. Dieser Vortrag ist dann reichlich mit Moralität gespickt und enthält obendrein als Würze einige massive Komplimente an die Adresse des »edlen Menschenfreundes, der uns durch die Pforte der Weisheit ins Paradies der Tugend führt«. Die schweigende Verachtung seiner Mitschüler straft den Speichellecker für seine schäbige Gesinnung. Niemand beteiligt sich an der Diskussion, die durch den Mangel jeglichen Widerspruchs eine ziemlich eintönige und langweilige Sache wird. Sonderbar, daß der Lehrer für dergleichen so zugänglich ist. Zur Belohnung schickt er dem Heuchler bei der nächsten Buchausgabe einen Band »Hochland«, was diesen am Ende nicht sonderlich entzückt, da er wahrscheinlich lieber einen Karl May gehabt hätte.
Ganz unerwartet erschien einst auch der Herr Assessor in der Schule und wohnte dem Unterricht bis zum Ende der Stunde bei. Er saß mit undurchdringlicher Miene auf einem Stuhl und sagte kein Wort, wiewohl ihm verschiedene Male Gelegenheit geboten wurde, auch seinerseits sich an der Aussaat des Guten zu beteiligen. Einige Zeit nachher, als er mir gerade einen Besuch in der Zelle machte, brachte er das Gespräch auch auf die Schule. »Sagen Sie mal, gehen Sie eigentlich in die Schule? Sie müssen sich doch da oben zu Tode langweilen.« Ich bestritt das natürlich und gab als Grund den Wunsch nach Ablenkung an. »Was halten Sie denn eigentlich von dem Betrieb?« Natürlich antwortete ich mit der gebotenen Vorsicht; lobte alles, was zu loben war, und schwieg mich aus über das andere. Darauf gab er in unverblümter Weise seiner Meinung Ausdruck, daß der Schulunterricht gar keinen Wert habe, bloß dazu diene, diese gefährlichen antisozialen Elemente noch gefährlicher zu machen, indem man den Vorteil, den die Gesellschaft aus ihrer Unwissenheit zöge, verringere. Gerade die entgegengesetzte Politik müßte man befolgen. Wenn so ein Verbrecher ein paar Jahre die Schule besucht habe, gehe er nicht bloß bei der Verübung seiner Straftaten mit mehr Umsicht zu Werke, sondern sei auch viel schwerer zu überführen.
»Aha,« versetzte ich lachend, »aus Ihnen spricht der zukünftige Staatsanwalt. Aber ich glaube, Sie überschätzen das Interesse, das die Gesellschaft daran hat, Ihnen Ihr Metier zu erleichtern. Es ist Ihnen ohnehin schon zu leicht gemacht. Nun wollen Sie die armen Teufel, die Ihnen in den allermeisten Fällen sowieso keine ebenbürtigen Gegner sind, auch noch systematisch verdummen. Nein, Herr Assessor, das ist weder fair noch sportsmanlike. Macht es Ihnen denn nicht mehr Freude, einen abgefeimten Sünder, der Sie alle Aufregungen eines lange unentschiedenen Kampfes durchkosten läßt, zuletzt mit Mühe hinter Schloß und Riegel zu bringen, als irgend so einem Schaf ein Geständnis zu entlocken, mit dem Ihr überlegener Geist spielt wie die Katze mit der Maus? Und dann dürfen Sie nicht außer acht lassen, eine wie günstige Gelegenheit die Schule bietet, auf den Gefangenen moralisch bessernd einzuwirken.«
»Reden Sie mir nicht von moralischer Besserung. Das ist Thema für die Stubengelehrten. Wir Männer der Praxis wissen ganz genau, daß ein Verbrecher nicht moralisch gebessert werden kann. Schade um jedes Wort, das man darüber verliert. Velle non discitur. Durch Moralpredigten vollends ist noch kein Mensch gebessert worden. Ich will nicht leugnen, daß unter anderen Umständen hie und da einmal ein zufällig auf Irrwege geratener Mensch, dessen Charakter im Grunde kein schlechter ist, durch eine große seelische Erschütterung oder vielleicht im Banne einer vorbildlichen Persönlichkeit, deren mächtig packendes Beispiel ihn mit fortreißt, zur Umkehr gebracht werden kann. Das mag vorkommen, viel seltener als man denkt. Aber sich da vor die Leute hinstellen und zu ihnen sagen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht töten, und wenn du es dennoch tust, bist du ein schlechter Kerl und wirst eingesperrt in diesem Leben, und drüben mußt du in der Hölle braten – nein, so einfach ist die Sache nicht. Wenn das etwas hülfe, wir wären schon längst allesamt Engel. So aber braucht die Gesellschaft vorläufig noch Richter und Staatsanwälte.«
»Und Zuchthäuser.«
»Jawohl, und Zuchthäuser, in denen die Feinde der Gesellschaft unschädlich gemacht werden. Wenigstens die Unverbesserlichen, und unverbesserlich sind sie fast alle. Es hat keinen Zweck, vor dieser Tatsache den Kopf in den Sand zu stecken.«
»Wenn Sie recht haben, ist der Strafvollzug, wie er heute gehandhabt wird, die unpraktischste Einrichtung von der Welt. Da müßte man bedauern, daß der Staat von der früher üblichen Gepflogenheit, die Schädlinge einfach auszurotten mit Beil, Galgen oder sonstwie, abgekommen ist und das viele Geld ausgibt für Gefängnisse und was drum und dran hängt, mit dem Erfolg, daß er dadurch Verbrecher nicht bloß züchtigt, sondern auch züchtet.« –
Am Ende des Jahres kam ein Schulinspektor und hielt Prüfung ab. Den fleißigsten Schülern wurden Prämien zuerkannt, bestehend in Geld oder Büchern. Ich fragte einst einen der Glücklichen, der ein schöngebundenes Werk von Friedrich Wilhelm Förster als Preis davongetragen hatte, ob ihm zehn Mark nicht lieber gewesen wären. O nein, war die Antwort, das Buch sei ihm lieber. Warum? Ja, von dem Geld hätte er ja doch nichts, solange er in der Anstalt sei, und wenn er wieder in die Freiheit komme, sei es rasch verpulvert und anderes leicht beschafft – auf welche Weise, wurde pantomimisch angedeutet: nach hinten greifende Bewegung der rechten Hand –, dahingegen sei das Buch von bleibendem Wert.
Ich unterbrach ihn. »Na, hören Sie mal, Verehrtester, quatschen Sie mir doch nichts vor von bleibendem Wert, das mögen Sie dem Lehrer aufbinden, wir sind doch hier unter uns, und ich lasse mir den kleinen Finger abhacken, wenn Sie das Buch überhaupt jemals von Anfang bis zu Ende lesen.«
»Ach nee, Herr Doktor,« versetzte er mit vergnügtem Grinsen, »das haben Sie mißverstanden. Sehen Sie, das Buch hebe ich mir schön auf, habe mir schon einen Umschlag drum gemacht, und wenn ich später mal woanders hinkomme, sagen wir in ein preußisches oder bayerisches Zuchthaus, dann ist das ein wertvolles Führungszeugnis und macht einen sehr guten Eindruck. Denn da steht doch vorne drin, daß ich's bekommen habe für Fleiß und gute Leistungen. Und ein bißchen wissen, was drinsteht, muß ich auch, weil man mal danach gefragt werden könnte; da hilft nun nichts, wenn das verdammte Zeug auch noch so schwer zu lesen ist.«