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11. Der Straßenwart

Einen Posten gab es im Hause, der drei Vorzüge besaß, von denen jeder für mich von Wert war. So gut wie der Straßenwart hat es keiner – das konnte man immer wieder hören. Erstens durfte sich der Straßenwart den ganzen Tag über im Freien aufhalten, zweitens blieb er unbeaufsichtigt und konnte sich innerhalb der Mauern frei bewegen, und drittens hatte er Zutritt zur Küche, so daß er keinen Hunger zu leiden brauchte. Man kann sich denken, wie begehrt der Posten war. Lebenslängliche hatten ihn bisher noch nie bekleidet, aber ich war ja nun kein Lebenslänglicher mehr. Ich hatte nur noch fünf Jahre und wollte diese letzten Jahre meiner Haft ganz dem praktischen Studium des Strafvollzugs widmen, wozu dieser Posten Gelegenheit gab wie kein zweiter. Ich bewarb mich also darum, und meine Bewerbung hatte Erfolg.

An einem schönen Maimorgen öffnete mir der Aufseher die Zellentür, die von jetzt ab tagsüber offen bleiben sollte, und ließ mir freien Lauf. Zum erstenmal seit vierzehn Jahren war nicht jeder Schritt, den ich tat, genau vorgeschrieben, jede Bewegung unter Kontrolle. Ein seltsames Gefühl. Ich ging in den Hof hinaus und machte zuerst einen Rundgang, die Mauer entlang. Da waren im Garten des Krankenhauses Blumen, an denen ich roch, ein Buchfinkenpärchen in den Flitterwochen schmetterte jubelnd seine Lebensfreude hinaus, der Himmel war so blau, die Sonne schien so hell. Noch konnte ich alles nicht hemmungslos genießen, aber es fiel doch ein großer Teil der Last von meinem Herzen, und es erwachten Ahnungen und Hoffnungen, die lange geschlummert hatten. Leiden ist gut, denn es macht empfänglich. Wie so ganz anders tranken jetzt meine Augen von dem goldenen Überfluß der Welt! Wischte nicht die Schönheit dieser Stunde die Häßlichkeit vieler Jahre hinweg? Petrarka sagt: mille piacer non vaglion un tormento – tausend Freuden sind nicht einen einzigen Schmerz wert – das ist nicht richtig, eine einzige große Freude wiegt tausend Schmerzen auf.

Ich war nur außeretatsmäßiger oder zweiter Straßenwart. Der etatsmäßige oder erste Straßenwart führte mich ein in die Pflichten des neuen Amtes. Diese bestanden hauptsächlich darin, die Wege instand zu halten, das zwischen den Steinen wachsende Gras zu entfernen, gewisse Plätze jeden Tag sauber zu fegen und was dergleichen Arbeiten mehr waren. Die wichtigsten Werkzeuge, gewissermaßen Symbole des Amts, waren Besen, Schaufel und Schubkarren. Mein Kollege, ein kölscher Jung von unverfälschtem Typus, wies mir an einem der Wege eine Beschäftigung zu und entfernte sich mit dem Bemerken, er komme gleich wieder, habe etwas zu besprechen mit dem Holzmann. Ich machte mich an die Arbeit, aber schon nach kurzer Zeit schmerzten mich die Arm- und Rückenmuskeln, der Schweiß brach aus allen Poren, ich mußte die Flucht ergreifen vor den sengenden Sonnenstrahlen. Mein durch das lange Sitzen in der Zelle erschlaffter Körper konnte nicht viel vertragen, es dauerte Wochen und Monate, bis ich mich an die veränderte Lebensweise gewöhnt hatte. Ich ging also auf die Suche nach dem Holzmann. Der hauste, gleichfalls unbeaufsichtigt, in einem großen Schuppen am Ende des zweiten Flügels, wo das in der Schreinerei benötigte Holz lagerte, das er nach Bedarf hineinzuschieben hatte. Als ich mich der Tür des Schuppens näherte, verstummte ein drinnen geführtes Gespräch, ich trat hinein, auf einem Stoß Bretter saßen mein Kollege und der Holzmann. Vorstellung, neugierige Musterung, Mißtrauen. Das Gespräch kam nicht wieder in Gang. Da wurden draußen Schritte hörbar. Im Nu hatte mein Kollege einen bereitstehenden Besen ergriffen, einen anderen mir in die Hand gedrückt, und dann verschwanden wir beide durch eine Hintertür, ehe vorn der Störenfried eintrat. Es war ein Aufseher aus der Schreinerei, der sich irgendeine besondere Holzart aussuchen wollte. Der Kölner belehrte mich, daß wir es auf jede Weise zu vermeiden hätten, beim Holzmann erwischt zu werden. Der Schuppen sei ein sehr angenehmer, kühler und schattiger Aufenthaltsort, aber wir hätten nichts darin verloren. Zum Glück könne man nicht so leicht darin überrascht werden, aber Vorsicht sei dringend geboten, Vorsicht auch beim Hineingehen, damit der Posten auf der Mauer nichts sehe. Dieser Posten auf der Mauer, der jede Viertelstunde seinen Rundgang mache – in der heißen Mittagszeit auch wohl nur jede halbe Stunde oder jede Stunde – sei unser gefährlichster Feind, auf den wir stets unser Augenmerk zu richten hätten. Bei einigen Aufsehern allerdings, die er mir noch bezeichnen werde, sei dies nicht nötig, da sie aus gewissen Gründen uns nicht melden würden. Aus gewissen Gründen? Wir tauschten ein Augurenlächeln. So war ich also doch nicht so grün, wie er geglaubt hatte? O nein, so ganz grün nicht, das war bald festgestellt, und nun wurde der Kollege zutraulicher. Er habe meine Ernennung zum zweiten Straßenwart durchaus nicht mit Freuden begrüßt, sondern befürchtet, daß ich ihm seine Kreise stören und mancherlei Unannehmlichkeiten verursachen würde. Vor allem habe er befürchtet, daß ich nicht dichthalten würde. Ich gab beruhigende Versicherungen. Ja, ich gab sogar auf Wunsch Referenzen, und da es sich so traf, daß eine dieser Referenzen ein mit meinem Kollegen intim befreundeter Aufseher war, so gestalteten sich unsere Beziehungen bald sehr angenehm. Noch am gleichen Nachmittag rauchten wir beim Holzmann die Friedenspfeife, d. h. die beiden rauchten, ich war als Nichtraucher entschuldigt. Später ging der Kölner, begleitet von einem Aufseher, in die Stadt Fleisch und Essig holen. Der Metzger verabreichte das übliche Stück Wurst als Zugabe, und ich mußte, so sehr ich mich sträubte, die Hälfte davon annehmen. Den Schnaps, den er bei dem Essighändler bekam, könne er leider nicht mit mir teilen, wofür ich Gott dankte.

Als wir gegen Abend mit unserer Arbeit im Hof fertig waren, gingen wir in die Küche. Mein Erscheinen erregte Aufsehen: die zwei hemdsärmeligen Gestalten, die im Schweiße ihres Angesichtes mit Riesenschaufeln in den Kesseln herumrührten, hielten inne und starrten mich neugierig an; der am Herde beschäftigte Koch, von allen im Hause der am besten genährte, kam löffelschwingend herbei und sagte: »Also das ist er!« Endlich erschien auch der Küchenmeister aus einem Nebenzimmer und geruhte, von mir wohlwollende Notiz zu nehmen. Dann durften wir die Treppe hinuntergehen in die unteren Regionen.

Um einen Kübel saßen auf Bänken sechs Gefangene und schälten Kartoffeln. Überall herum standen Kübel, große und kleine, Körbe, Säcke, Bänke, Schemel, in einer Ecke ein langer, schmutziger Tisch, in einer anderen Ecke die Kartoffelmaschine, der Boden war naß, es stank nach allem möglichen. Nebenan war ein Gang, in dem die Hauskatzen ihr Lager hatten, die eine gerade im Wochenbett, und daneben lagen zwei Magazine, das Brotmagazin und ein anderes. Nachdem wir ein bißchen beim Kartoffelschälen mitgeholfen hatten, brachte der Koch von oben einen Topf mit Essen herunter – kein gewöhnliches Essen, sondern Überreste von der Aufseher- und Krankenkost – die Fütterung der Raubtiere begann. So sah die Sache wirklich aus; die Verteilung ging nicht ab ohne neidisches Knurren und Fauchen. Mir blieben die Bissen im Halse stecken beim Anblick dieser schmierigen, schmatzenden, schimpfenden Gesellschaft.

Sah man die Strafanstalt an als eine Eiterbeule am Leibe der Gesellschaft, so war die Küche der Ort, wo die Fäulnis am deutlichsten in die Erscheinung trat. Die darin beschäftigten Gefangenen waren viel sich selbst überlassen. Wohl gab es zwei Aufseher, einen für die obere und einen für die untere Küche, aber zu gewissen Tageszeiten, besonders in den Stunden nach dem Mittagessen, tat nur einer Dienst, und der hielt lieber in seinem Zimmer oben ein Verdauungsschläfchen, als daß er sich in das übelriechende, feuchte Loch unten gesetzt und das Gemüseputzen überwacht hätte. Das waren die Stunden, in denen sich auf den Bänken um die großen Kübel herum die erlesensten Geister des Hauses zusammenfanden und sich aussprachen. Denn auch die meisten der Schänzer durften zur Aushilfe in die Küche hinunter. Da wurde zunächst die Schänzerzeitung redigiert, die neuesten Gerüchte erfunden, aber auch jedes Geschehnis im Hause erörtert, wobei es oft unbegreiflich war, wie die Sache bekannt werden konnte trotz Amtsgeheimnis und Isolierung; Geschichten von Verbrechen wurden zum besten gegeben, Pläne zu neuen entworfen, man sang, rasierte einander, spielte, zankte sich, prügelte sich, intrigierte, log, fluchte und schweinigelte – es war sehr interessant zuzuhören, aber nicht gerade angenehm. Wer den Strafvollzug kennenlernen wollte, so, wie er ist, nicht so, wie er in den Büchern steht, hier war der Ort, wo er Studien machen konnte.

Bitte, verehrter Leser, nehmen Sie dort in der Ecke Platz auf dem Stuhl; der Herr Aufseher, der eigentlich auf diesem Stuhle sitzen sollte, hat sich in sein Privatgemach zurückgezogen und schnarcht. Darf ich vorstellen? Der Rothaarige da, der eben die Dickrüben kleinhackt, ist der Kapo der Bande. So wird er genannt von Aufsehern und Gefangenen. Er trägt die Verantwortung dafür, daß Kartoffeln und Gemüse zum richtigen Zeitpunkt fertig sind, aber sein Titel ist, wie so mancher andere Titel, ohne viel Bedeutung, denn Autorität über seine Mitarbeiter besitzt er natürlich keine. Die Verfassung hier unten ist eine rein demokratische; er befiehlt, und die anderen machen, was sie wollen. Irgendwie wird alles zur rechten Zeit doch fertig, und wenn es nicht fertig wird, so ist's auch nicht so schlimm. Dann kommt zuerst der Küchenmeister herunter und tobt, danach kommt der Oberaufseher – Verzeihung, seit der im Gefolge der Revolution eingetretenen Rangerhöhung heißt er Inspektor – der Hauswirtschaft herunter und tobt noch mehr, und zum Schluß fliegt irgendein Sündenbock zum Tempel hinaus. Der Kapo muß in erster Linie mit seinen Vorgesetzten gut stehen, aber er darf es auch mit seinen Leuten nicht verderben, sonst machen sie seiner Herrlichkeit ein jähes Ende, indem sie ihn entweder absetzen oder ihn windelweich hauen oder sich verschwören, ihn in Strafe zu bringen. Um sich die Gunst des Aufsehers zu sichern, muß er diesem ein wenig den Spion machen; nur ein wenig, denn geht er zu weit, so ereilt ihn die Rache des Verratenen. Dreck am Stecken haben sie alle hier unten, dieser stiehlt Brot, jener stiehlt Fett, der eine stiehlt Heringe, der andere stiehlt Zucker, wieder ein anderer treibt Schmuggel mit Tabak, so daß es niemals an Stoff fehlt zu Verrätereien. Bisweilen gelingt es einem Kapo, der etwas von dem hat, was man Organisationstalent nennt, eine Bande zu bilden, die fest und treu zusammenhält in einer Einheitsfront gegen den gemeinsamen Feind. Aber sobald der Küchenmeister das merkt, wirft er bei der nächsten Gelegenheit einen auf die Zelle und sorgt dafür, daß an dessen Stelle jemand in die Küche versetzt wird, der bereits erprobt ist als Denunziant. Hat ein Kapo eine Zeitlang zur Zufriedenheit des Chefs amtiert, so wird er befördert, und zwar zu einer der Stellen in der oberen Küche, die einträglicher sind als die unten.

Der Rothaarige, den ich eben die Ehre hatte vorzustellen, ist ein Kapo von Meriten und Distinktion. Er hat den Trick, sich ein wenig geistesgestört zu stellen. Seine Mitgefangenen lachen über ihn, nehmen ihm so leicht nichts übel und halten ihn für gänzlich harmlos. Er gebraucht nie ein Wort des Befehls, sondern weiß seine Anordnungen so in Scherz und Blödsinn einzukleiden, bringt alles so närrisch heraus, daß man ihm den Willen tut, ohne sich der Folgsamkeit bewußt zu sein. Oder er stellt die Sache zur Diskussion: Wie wär's, wenn wir zuerst das Kraut putzten für morgen, ehe wir mit den Kartoffeln anfangen, was meint ihr? – und die Diskussion versteht er dann so zu leiten, daß als Volksbeschluß herauskommt, was als Kommando allgemeinen Widerspruch hervorgerufen hätte. So ist er bei den Gefangenen wohlgelitten, aber auch sein Vorgesetzter ist mit ihm zufrieden. Denn er wirft ihm von Zeit zu Zeit einen Brocken hin, etwa so: »Herr Aufseher, der Hannes hat ein paar Heringe beiseite geschafft beim Zählen und in seinen Holzpantinen versteckt« – worauf der Küchenmeister, während die Leute abwesend sind, hingeht, die Heringe beschlagnahmt, aber wegen der Geringfügigkeit des Objekts weiter kein Aufhebens davon macht; während Hannes, nachdem er das Verschwinden der Heringe entdeckt, sich sagt: »Die hat wahrscheinlich einer von den Spitzbuben gefressen, da kannst nix machen«, so daß die Geschichte ausgeht wie's Hornberger Schießen. Von den wirklich nennenswerten Diebstählen dagegen, die mit Hilfe von Nachschlüsseln in den Magazinen angestellt werden, piepst er keinen Ton, sondern macht tapfer mit.

Der Schwarze da auf der vordersten Bank ist besagter Hannes. Er geht in einigen Wochen ab, darum darf ihm der Rasierer nichts mehr anhaben. Ein Schwabe, der Hannes, aus Schdugert, Arbeiter in einer Schuhfabrik. Kommunist. Sein Bruder ist eine Größe in der Partei, und darum fühlt sich der Hannes berufen, wütende, wenn auch etwas verworrene Reden zu halten gegen die »Kapitalischte«. Anfangs war er sehr geneigt, diesen Reden eine gegen mich persönlich gerichtete Spitze zu geben, aber es gelang mir, ihn umzustimmen durch beifälliges Aufnehmen seiner politischen Vorträge und durch den Hinweis darauf, daß mein ganzes Kapital nicht hinreiche, ein Paar Schuhe zu kaufen, geschweige denn eine Schuhfabrik.

Neben Hannes sitzt sein Freund, ein großer, breitschulteriger Oberländer, der selten den Mund aufmacht, um ein Wort zu sprechen, aber Unglaubliches leistet, wenn er ihn aufmacht, um den Löffel hineinzuführen. Sein ganzes Sinnen ist darauf gerichtet, Material herbeizuschaffen zur Stillung seines endlosen Hungers. Weil er das in der Küche besser kann als irgendwo sonst, hat er sich hierher versetzen lassen, er fühlt sich nicht wohl in der verpesteten Luft. Die anderen haben Respekt vor ihm und lassen ihn in Ruhe, nachdem er einmal im Zorn die zwei Hauptstänker, den Schorsch und den Scheelen, gepackt und in den mit schmutzigem Wasser gefüllten Riesenbottich geworfen hat.

Der Schorsch ist eine Illustration zu Lombrosos Theorie vom geborenen Verbrecher; Vater Säufer, Mutter Hure. Mit zehn Jahren stand er zum erstenmal vor dem Strafrichter wegen Diebstahls. Er kam in eine Erziehungsanstalt, wo er hungerte, stahl, geprügelt wurde, entlief, wieder eingefangen und noch mehr verprügelt wurde, bis er reif war für seinen eigentlichen Beruf als Einbrecher. Ein sonderbarer Mensch, aus dem man nicht so recht klug wurde. Er hatte eine merkwürdig nüchterne und sachliche Art, die häßlichsten Erlebnisse zu erzählen, ganz als ob er von einem gleichgültigen Dritten spräche, wobei er eine Gemeinheit der Gesinnung an den Tag legte, wie man sie nur bei dem abgefeimtesten Bösewicht erwartet. Er haßte die Menschen, und wo er einem schaden konnte, tat er's. Aber seiner Mutter setzte er, als sie im Straßengraben verkommen war, aus gestohlenem Geld ein schönes Grabmal. Er war verheiratet mit einer viel jüngeren und, wie er sagte, sehr reizenden Frau, für die er eine leidenschaftliche Liebe zu empfinden vorgab; indessen saß er jetzt wegen Kuppelei: er hatte einen guten Freund mit nach Hause gebracht, sie hatten sich zu dritt hingesetzt und auf Kosten des Gastes so viel getrunken, bis er besinnungslos unterm Tisch lag, worauf der Freund mit der jungen Frau zu Bett ging. So schilderte er die Begebenheit, wollte zu Unrecht verurteilt worden sein. Nun erfuhr er im Zuchthaus, daß der gute Freund sich als sein Stellvertreter in seiner Wohnung eingenistet habe und ein Schlemmerleben führe von dem Geld, das die Frau verdiente – mittels ihrer Reize. Darob ergrimmte der Schorsch und schwur Rache. Nicht etwa dem guten Freund, dessen Handlungsweise er ganz in der Ordnung fand, sondern dem pflichtvergessenen Weibe. Unter den furchtbarsten Verwünschungen drohte er immer wieder, sie zu erwürgen. Die anderen suchten ihm die Othello-Gelüste auszureden, und besonders der Scheele erklärte es für den Gipfel des Unsinns, ein Hühnchen, das so nette goldene Eier lege, abzumurksen wegen einer Bagatelle, die mit einer saftigen Tracht Prügel viel besser erledigt sei.

Der Scheele war Zuhälter von Profession und demnach eine Autorität in diesen Fragen. Einen häßlicheren Menschen hätte man lange suchen können. Wenn er das eine der beiden Augen, die tief unter zottigen Brauen lagen, auf mich richtete, während das andere seitwärts in die Ecke schielte, überlief mich ein Schauder. Aus dem scheußlichen Froschmaul kam nie etwas anderes heraus als Unflat.

Welch ein Gegensatz zwischen diesem Auswurf der Menschheit und dem bleichen Jüngling, der da allein auf seiner Bank sitzt und die schwermütigen Augen auf das Messer gesenkt hält, mit dem er langsam eine Kartoffel nach der anderen schält. Kaum zwanzig Jahre hat er und sitzt im Zuchthaus wegen Diebstahls in wiederholtem Rückfall. Kurze Zeit nach seiner Einlieferung mußte man ihn aus der Zelle heraustun, weil er Selbstmordversuche machte, und ein böser Genius hat ihn hinuntergeführt in diese Unterwelt. Einer von denen aus der oberen Küche, schon zum drittenmal bestraft wegen Sittlichkeitsverbrechens, hat eine verhängnisvolle Freundschaft mit ihm geschlossen und richtet ihn körperlich und seelisch zugrunde.

Man rekelt sich auf den Bänken, in den Mittagsstunden ist der Arbeitseifer gering. Verbrechen werden besprochen, Zoten gerissen. Schwül ist die Luft in dem niedrigen Raum. Auf dem Tisch liegt die schwarze Katze und schnurrt. Da erscheint der Schneiderschänzer lachend, er bringt eine ergötzliche Geschichte mit. »Denkt euch, der alte Schlemihl, der Michel, der in der letzten Zeit so häufig vertretungsweise die Aufsicht hat in der Küche, der bringt gestern seine Litewka in die Schneiderei zum Flicken. Der Zwölfer, der sie machen soll, übrigens ein guter Freund vom Michel, wundert sich, daß die Taschen so voller Fettflecken sind. Ehe er noch mit der Arbeit angefangen hat, kommt der Michel zu ihm auf die Zelle mit einem Stück Gummistoff, das er, weiß der Kuckuck wo, geklaut hat. Was soll's mit dem Gummi? Damit will er seine Taschen gefüttert haben. Warum? Wenn er wieder Fleisch oder Fett aus der Küche mit nach Hause nimmt ... Ihr versteht schon. Dieser alte Spitzbube!« Wieherndes Gelächter. Na, der soll noch einmal den Mund aufmachen, wenn er hier unten Dienst tut. Es wird verabredet, wenn der Michel das nächste Mal wieder da ist, wird man ein Gespräch anfangen über die verschiedenen Stoffe, mit denen Taschen gefüttert werden; dann weiß er Bescheid und wird sich danach richten.

Ein anderer Schänzer kommt und berichtet Einzelheiten über die große Prügelei, die heute morgen in seinem Stockwerk stattgefunden hat. Da liegt nämlich ein Lebenslänglicher, der sich schon seit langem beim Personal mißliebig gemacht hat durch sein aufgeregtes, freches Wesen, und dem sie gerne schon was am Zeug geflickt hätten, wenn der erforderliche Anlaß dagewesen wäre. Früher, als der Geheimrat noch lebte, hätte man den Anlaß einfach vom Zaun gebrochen, aber der gegenwärtige Direktor ist dem Prügeln abhold und läßt in jedem Falle eine strenge Untersuchung anstellen darüber, ob wirklich eine Gewalttätigkeit von seiten des Gefangenen vorausgegangen ist. Man muß also vorsichtig sein. Aber man hat den Burschen »auf der Latt«; früher oder später wird er kriegen, was ihm zukommt. Nun hat der Lebenslängliche einen Mordszorn gegen den Hausarzt, von dem er sich vernachlässigt glaubt, und als der Herr Doktor an diesem Morgen in Begleitung seines Adjutanten, des ersten Krankenaufsehers, die Runde macht und die Tür der Zelle aufschließt, empfängt ihn der Erbitterte in wenig liebenswürdiger Weise und fordert ihn auf, sich zum Teufel zu scheren. Das tat der Herr Doktor nicht, sondern wollte ihn zurechtweisen, aber da fand er sich schon hinausgeschoben und die Tür ihm vor der Nase zugeschlagen. Wäre dies dem alten Herrn Medizinalrat passiert, der hätte ruhig seinen Gang fortgesetzt, die Ungebührlichkeit wäre durch eine Hausstrafe geahndet worden, und die Sache wäre erledigt gewesen. Aber der Herr Doktor ist ein junger Mann, Neuling im Gefängnisdienst, er kann sich eine solche Behandlung nicht gefallen lassen und fordert seinen Adjutanten auf, die erlittene Unbill zu rächen. Tapfer dringt der Aufseher in die Höhle des Löwen, retiriert aber schleunigst, als ihm ein Eßnapf an den Kopf geflogen kommt, und ruft um Hilfe. Verstärkungen rücken an mit Gummiknüppeln, und viele Hunde sind des Hasen Tod. Mehr tot als lebendig wird der Verprügelte in die Tobzelle geschafft, wo er noch einmal einen Abschiedssegen empfängt und dann liegen bleibt. Sein Wutgebrüll erst und später sein Schmerzgebrüll erfüllen das ganze Haus.

Solche Auftritte versetzen die meisten Gefangenen in eine unglaubliche Erregung. Sie fühlen sich mitgeprügelt. Selbst solche, die keineswegs zartbesaitet sind, und die draußen schon bei mancher Rauferei mitgewirkt haben, empören sich dagegen. Der Schorsch ist ganz kreideweiß geworden vor Wut und schwört zähneknirschend, der Aufseher, der zuerst Hand an ihn lege, könne sein Testament machen, den schlage er tot am ersten Tage nach seiner Entlassung, und wenn er dafür aufs Schafott müsse. Die anderen stimmen ihm bei, mit Ausnahme des Kapo, der behauptet, daß der Geprügelte selber schuld sei. Ein Sturm der Entrüstung bricht los, und wenig fehlt, so wäre ihm die Ketzerei handgreiflich ausgetrieben worden.

Unter den Schänzern, die sich unterdessen noch eingefunden haben, fällt einer auf, ein vierschrötiger Mensch mit gerötetem Gesicht, der auf der Bank Platz nimmt mit der Miene eines von seiner Bedeutung durchdrungenen großen Mannes. Er wird von den anderen Waschklammer genannt und ist die rechte Hand des Kammeraufsehers. Mit souveräner Willkür besorgt er die Verteilung der Wäsche- und Kleidungsstücke, kleidet die Zugänge ein und die Abgänge, ist fast jede Woche mehrere Tage außerhalb der Anstalt tätig bei den Aufsehern und Beamten, genießt von der Gefangenenkost überhaupt nichts, da ihm Besseres in Fülle zu Gebote steht, liest die neuesten Zeitungen und raucht nur echte Zigaretten (keine im Hause selber von Dilettantenhand aus Tütenpapier und minderwertigem Tabak angefertigte, sondern veritable Batscharis, die Geld gekostet haben), kurz, er ist ein großer Mann, dessen Stellung nicht zu erschüttern ist. Hat er nicht eben jetzt wieder einen Sturm überdauert, der so manchen anderen entwurzelte? Der sogar einem alten Aufseher von dreißig Dienstjahren den Hals brach? Der Aufseher hatte Unterschleife gemacht mit Hilfe seines Schänzers, der ein Busenfreund der Waschklammer war. Jahrelang ging alles gut, bis zuletzt Zwietracht entstand zwischen den Genossen und der Schänzer den Verräter machte. Der Aufseher wurde entlassen, Untersuchungen angestellt, die noch andere zu Falle brachten, auch die Waschklammer geriet in Gefahr, aber mächtige Gönner deckten ihn mit ihren selber nicht ganz blanken Schilden, und als der Sturm vorüber war, stand er stärker da als je. Mit neidischer Bewunderung sahen seine Mitgefangenen zu ihm empor und umschwänzelten ihn, wie kleine Köter eine dänische Dogge. Niemand wagte mehr so leicht ein Widerwort, wenn die Waschklammer in eine politische oder sonstige Diskussion eingriff und im Tone der Autorität seine Meinung darlegte, so blödsinnig dieselbe auch sein mochte. Eine Schwäche hatte der große Mann, wie ja auch andere große Männer vor ihm ihre Schwäche gehabt; behauptet doch Goethe, daß die größten Menschen immer mit ihrem Jahrhundert durch eine Schwäche zusammenhängen. Aber es war eine liebenswürdige Schwäche, die diesen Heros mit seinem Jahrhundert verband. Ein auf den ersten Blick schwer verständlicher Stolz kitzelte ihn, daß er die ihm sonst eigene würdevolle Zurückhaltung bisweilen aufgab und sich in geschwollenen Reden erging – worüber? Etwa über die hervorragenden geistigen Qualitäten, die ihn so hoch herausgehoben hatten aus der profanen Herde? Darüber verlor er kein Wort. Oder über den sicheren Herzenstakt, mit dem er jedem das Seine zu geben verstand, dem ihm Mißliebigen geflicktes und verwaschenes Zeug, den Dienstwilligen neue Hosen oder Hemden? Auch nicht. Das, was ihm Stoff und Grund zu behaglichem und vielleicht etwas übertriebenem Selbstlob gab, war die außerordentliche Leistungsfähigkeit, die er in seinem Zivilberuf entwickelte: er schaffte uff Meebel, wie er sagte, d. h. er war Möbeltransporteur. Wie er da bei dem Umzug des Präsidenten X einen Schrank auf den Buckel genommen, den zwei seiner Mitarbeiter, die auch nicht von schlechten Eltern waren, kaum zu rücken vermocht hatten, und besagten Schrank im Triumph die Treppe hinuntergetragen, angestaunt von sämtlichen Weibervölkern des Hauses, einschließlich der Frau Präsidentin, die ihm als Zeichen ihrer Hochachtung eine Flasche Wein vorsetzen ließ und sich herablassend mit ihm unterhielt – davon konnte er nicht satt werden zu erzählen. Und wehe denjenigen unter seinen Zuhörern, die es gewagt hätten, einen Zweifel laut werden zu lassen hinsichtlich des Gewichtes, den dieser Schrank gehabt hatte.

Heute ist der starke Mann in besonders guter Laune und gibt eine Neuigkeit zum besten, die er eben in der Zeitung gelesen. Eine Amnestie ist unterwegs. Die schon so lange erwartete, schon so oft als nahe bevorstehend angekündigte, immer wieder kurz vor dem Eintreffen entgleiste Amnestie. Sofort beginnt eine lebhafte Erörterung. Darf man's diesmal glauben? Gewiß, versichert mir einer der Schänzer, er hat es auch schon gehört von einem der Beamten, den er nicht nennen will; vierzig Prozent der Strafe kriegt jeder geschenkt. Freudiges Erstaunen. Vierzig Prozent ist nicht übel. Und die Lebenslänglichen? Die werden mit fünfzehn Jahren begnadigt. Alle Augen richten sich auf mich. »Haben Sie's gehört, Herr Doktor?« ruft der Hannes, »da kommen Sie jetzt auch raus, das freut mich. Wissen Sie was, Sie gehen mit mir nach Stuttgart, ich mache Sie mit meinem Bruder bekannt, solche Leute wie Sie kann man brauchen in der Partei.« – »Lieber Hannes,« entgegnete ich, »das wäre ja sehr schön, aber ich glaube nicht an die Amnestie.« Die Waschklammer tut beleidigt. Er habe es doch in der Zeitung gelesen, die Sache sei im Reichstag verhandelt worden. Ich schüttelte den Kopf. Da zieht er mich hinaus in den Gang und gibt mir das Blatt zu lesen. Es steht etwas drin von einer Debatte, betreffend die Amnestierung politischer Verbrecher. Erwartungsvoll schauen mich alle an, wie wir zurückkommen. Also ist es wieder mal nichts?

»Ja, ja,« meint der Schorsch, »hab's mir gleich gedacht. Sie lassen uns sitzen und hungern. Die Roten taugen auch nichts. Vor der Revolution haben sie uns das Blaue vom Himmel versprochen, und jetzt, wo sie in der Macht sind, treiben sie's kein Haar anders als die anderen vor ihnen. Es wird überhaupt nie anders.«

»Oho, wer sagt, daß es nie anders wird?« ereifert sich der Hannes. »Wenn wir mal ans Ruder kommen, wird's ganz sicher anders. Wir machen alle Gefängnisse auf.«

»Glaubt kein Mensch,« sagt die Waschklammer. »Wo wollt ihr denn hin mit den Spitzbuben? Ihr könnt sie doch nicht frei herumlaufen lassen.«

Hannes besinnt sich ein Weilchen und erklärt dann, man werde schon noch einen Ausweg finden, aber so viel stehe fest, daß zunächst einmal alle Gefangenen, die von den bisherigen Regierungen eingesperrt worden seien, in Freiheit gesetzt werden müßten, denn sie seien alle zu Unrecht verurteilt. Sobald alsdann die neue Ordnung eingerichtet sei, nicht wie die alte auf der Grundlage der brutalen Gewalt und der sozialen Ungerechtigkeit, sondern in brüderlicher Liebe und mit gleichem Recht für alle, werde ein neuer Geist über die Menschen kommen, so daß man Staatsanwälte, Richter und Zuchthäuser abschaffen könne. Niemand habe mehr nötig zu stehlen.

Dieser Optimismus wird von niemand geteilt. Das kann man auf allen Gesichtern lesen. Der Schorsch spricht ihnen allen aus der Seele, wenn er bemerkt, daß es mit dem Stehlen eine eigene Sache sei. Man stehle nicht bloß, weil man's nötig habe. Und wie es denn mit den anderen Verbrechen sein solle. Den Sittlichkeitsverbrechen z. B. und dem Mord. Nein, ohne Zuchthäuser gehe es nie und nimmer. Aber menschenwürdige Zustände könnten in den Zuchthäusern eingeführt werden. Das dürfe man verlangen, und man habe von der neuen Regierung erwartet, daß sie in dieser Beziehung etwas tue. Ja, prost die Mahlzeit, nichts habe sie getan. Oder sei das etwas gewesen, daß man die Scheuklappen abgeschnitten habe?

Hier wirft einer ein, es sei doch jetzt viel besser geworden mit den Entlassungen auf Wohlverhalten. Früher habe man als Rückfälliger gar keine Aussicht gehabt, vor Ablauf der Strafzeit herauszukommen, heute dagegen könne jeder damit rechnen, einen Teil seiner Strafe geschenkt zu bekommen. In seinem Stockwerk liege einer, schon mehrmals vorbestraft, dem sie während des Krieges wegen Raubes zwölf Jahre aufgebrummt hätten. Natürlich viel zu viel, aber man wisse ja, wie's im Kriege zuging. Die Hälfte von den zwölf Jahren habe der Mann jetzt geschenkt bekommen dank den Bemühungen des katholischen Pfarrers, der sogar für ihn zum Justizminister und zu den einflußreichsten Abgeordneten gegangen sei. So etwas sei doch früher ganz undenkbar gewesen. Sechs Jahre geschenkt!

»Blech!« versetzte der Schorsch, »geschenkt? Du willst doch nicht behaupten, daß er die sechs Jahre nicht abzusitzen braucht? Wenn nicht diesmal, dann das nächste Mal.«

»Ja, natürlich, wenn er sich wieder was zuschulden kommen läßt ...«

»Du Heuochs! Zuschulden kommen läßt! Was soll er denn sonst machen? Von seinen Renten leben?«

»Er kann doch arbeiten. Der Pfarrer hat ihm eine Stelle verschafft.«

»Schwatz' keinen Mist. Auf so einer Stelle hält's keiner lang aus. Niemand will sich als Zuchthäusler über die Achseln ansehen lassen und vom Arbeitgeber ausnützen, der noch wunders meint, was er für ein gutes Werk tue, wenn er die Hälfte des üblichen Lohnes zahlt. Danke. Und läuft man weg, so schnappen sie einen und stecken einen wieder ein. Da fang' ich doch lieber gleich wieder an zu stehlen. Mir wollten sie auch ein paar Monate schenken. Verzichte. Mache meinen Knast ab, kann dann gehen, wohin ich will. Wenn sie einem die paar Monate wirklich schenken würden, ein für allemal, ohne Bedingung, das ließe ich mir gefallen. Aber der Staat schenkt nichts. Was er mit der einen Hand gibt, das nimmt er mit der anderen. Und da soll man dem Direktor und dem Pfarrer noch einen süßen Schmus vormachen, damit sie das Gesuch befürworten. Wessen Gesuche befürworten sie denn? Die der größten Lumpen und Heuchler. Und dann gehen die Gesuche an die Staatsanwaltschaft und an das Gericht, und die Herren entscheiden, wie's ihnen paßt und wie sie gerade gelaunt sind. Da ist in Freiburg ein Staatsanwalt, der sagt zu jedem Gesuch Ja und Amen; in Pforzheim der klappt alles ab. Der schreibt ein Jahr Bewährungsfrist vor, ein anderer zehn. Nein, geht mir weg mit dem Kram, es ist keine Gerechtigkeit dabei.«

Einer von denen aus der oberen Küche hat sich inzwischen der Versammlung beigesellt und die Rede des Schorsch mitangehört. Es ist ein Elsässer, der nach den Bestimmungen des Friedensvertrages schon lange hätte ausgeliefert werden müssen, aber alle Schritte, die er bisher getan, sind vergeblich gewesen, das Ministerium findet immer wieder einen Vorwand, ihn noch festzuhalten, was seine Erbitterung nachgerade bis zum äußersten gesteigert hat. »Gerechtigkeit,« ruft er höhnisch aus, »möcht' wissen, wo die in Deutschland zu finden ist. Sie handeln ganz nach Willkür, die Bureaukraten, nach dem Kriege wie vor dem Kriege.« – »Ist's denn in Frankreich besser?« fragt einer. – »Das will ich meinen. Jedenfalls mag ich lieber zwei Jahre in einer französischen Strafanstalt sitzen als ein Jahr in einer deutschen.« – Dawider meint der Kapo, es sei doch eine bekannte Tatsache, daß bei uns mehr Ordnung herrsche als irgendwo in der Welt. – »Eine schöne Ordnung,« spottet der Elsässer. »Ja, nach außen verstehen sie's ausgezeichnet, den Schein der Ordnung vorzutäuschen, während in Wirklichkeit alles drunter und drüber geht. Wie bei uns hier im Haus. Da scheint alles tadellos zu funktionieren, die Maschine läuft wie geschmiert, eine Musteranstalt im Musterländchen – und doch wissen wir Eingeweihte genau, wie faul es ist im Staate Dänemark. Da haben sie heute morgen wieder die Farce mit dem Aufsichtsratsessen gehabt. Die Herren kommen ins Haus, um sich von der Güte des Essens zu überzeugen. Der Tag ist natürlich vorher bekannt. Na, daß an dem Tag nicht schlecht gekocht wird, ist klar. Bei der Gelegenheit wird mit dem Fett und den Zutaten nicht gespart. Der Tisch wird gedeckt wie in einem Restaurant, und die Herren setzen sich und essen und staunen über die vortreffliche Zubereitung der Speisen. War da heute wieder so ein vollgefressener Spießbürger, der allen Ernstes Bedenken äußerte wegen der Verschwendung, die bei uns getrieben würde; wenn die freie Bevölkerung draußen wüßte, wie gut im Zuchthaus gegessen wird, so gäbe es Revolution. Ich hätte den Dickwanst gern mal mit der Nase in die Kraut- und Rübengerichte stoßen mögen, die wir gestern und vorgestern gehabt haben; nein, mit Haut und Haaren in den großen Kessel hineingeworfen gehört so ein Rindviech. Und nachher machen sie einen Bericht ans Ministerium: alles in schönster Ordnung. Na, der Tisch war ja ganz wunderbar hergerichtet, der Straßenwart hat ihnen sogar einen Veilchenstrauß gestiftet.« – Alles lachte. – »Weshalb gerade Veilchen?« wandte sich der Elsässer an mich, »das war wohl ironisch gemeint? Wir blühen ja hier auch im Verborgenen.« – »Nicht doch,« versetzte ich, »solche Hintergedanken lagen mir fern. Habe nur einen erhaltenen Auftrag ausgeführt. Es gab nichts anderes draußen als Veilchen. Haben sie denn das Wohlgefallen der Gäste erregt?« – »Seien Sie zufrieden, der Vornehmste hat sie höchst eigenhändig an seine oberbürgermeisterliche Nase gehoben und sich an dem feinen Duft ergötzt. Hätte er gewußt, von wem sie waren, so hätte er sie als Andenken mitgenommen.«

»Du hast doch eine freche Gosch,« sagte die Waschklammer zu dem Elsässer, »man muß sich wundern, daß du sie dir nicht schon öfter verbrannt hast. Was war das vor ein paar Tagen wieder für eine Geschichte, die du mit dem Inspektor hattest?«

»Der kann mir den Buckel hinaufsteigen. Natürlich hatte mich mal jemand wieder bei ihm verkauft. Von dem Fleisch, das für die Gefangenen bestimmt ist, nimmt der Küchenmeister einen Teil weg und verbessert damit das Personalessen. Natürlich mit Wissen und Billigung des Inspektors. Aber oben durften sie natürlich davon nichts wissen. Nun kommt der Verwalter neulich gerade dazu, wie der Koch den Braten fertig macht, und fragt ihn, was das für Fleisch sei. Die Bangbüx will nicht mit der Sprache heraus. Eh bien, da war denn ich so frei. Resultat Nr. 1: Der Inspektor und der Küchenmeister bekommen einen Schnaps, und zwar nicht zu knapp. Resultat Nr. 2: Irgendeine edle Seele hinterbringt es dem Inspektor, wer die Katze aus dem Sack gelassen hat, er stellt mich und will mir Vorwürfe machen. Ich bin ihm die Antwort nicht schuldig geblieben. Und ich habe ihm gesagt, wenn er oder der Küchenmeister mich jetzt drücken oder unter irgendeinem Vorwand auf die Zelle werfen wollen, so kann ich mit noch interessanteren Enthüllungen aufwarten. Er ist ganz klein geworden, und die beiden sind so höflich gegen mich, wie ich's nur wünschen kann. Das fehlte mir gerade noch, daß ich mich von diesen Ehrenmännern und Hütern der Ordnung schikanieren ließe. Weiß ganz genau, daß ihnen jedes Wort, das ich hier unten spreche, verraten wird. Meinetwegen. Der Lump tut mir leid, der ihnen den Spion macht, und wenn ich herauskriege, wer es ist, schlage ich ihm eine in die Fresse, daß ihm Hören und Schwatzen vergeht.«

Jeder der Anwesenden beeilt sich, ihm recht zu geben, um dadurch den Verdacht von sich abzulenken. Der Elsässer wendet sich geringschätzig ab und geht seiner Wege. Sobald er fort ist, wird er durchgehechelt. Sie lassen kein gutes Haar an dem »Wackes«. Ins Gesicht wagt ihn niemand so zu nennen, nachdem er sich die Anrede einmal handgreiflich verbeten hat, aber dafür entschädigen sie sich, indem sie hinter seinem Rücken nur so schwelgen in dem beschimpfenden Wort.

Inzwischen sind die Siestastunden verstrichen, es geht auf drei, die Stunde des Rapports, und nach dem Rapport ist's da unten nicht mehr geheuer. Die Versammlung löst sich also auf, es bleibt niemand da als die sechs Küchenarbeiter. Die anderen gehen ihren Geschäften nach.

Die Obliegenheit des Straßenwarts ist jetzt, vorn rechts und links der Einfahrt, aber innerhalb der Mauern, zu kehren. Der rechte Vorplatz liegt unter den Fenstern der Torstube, in der die Besucher warten, bis sie in das Besuchszimmer geführt werden. Auf einen Besucher kommen mindestens drei Besucherinnen. Die Frauen und Mütter der Gefangenen. Ängstlich und verstört sieht man sie hineingehen, weinend kommen sie heraus. Viel Armut und Elend. Hier und da stolziert auch eine aufgeputzte und geschminkte Sünderin die Treppe hinauf und wirft den Gefangenen, die ihr begegnen, kokette Blicke zu. Das Fenster des Besuchszimmers geht auf den linken Vorplatz. Eines Nachmittags sehe ich eine sehr hübsche junge Frau hereintänzeln, hochmodern gekleidet, mit ihren dreisten schwarzen Augen herausfordernd um sich blickend. Der Aufseher, der ihr das Tor aufgeschlossen hat, schaut ihr nach, ich tue desgleichen. Während ich den linken Vorplatz kehre, höre ich plötzlich im Besuchszimmer Stimmen sehr laut werden, ein Stuhl wird gerückt, und dann – ein klatschender Schlag, der nichts anderes bedeuten kann als eine Ohrfeige. Noch einer. Gleich danach kommt die Schöne die Treppe heruntergeschlichen, begleitet von dem schmunzelnden Aufseher, der den Besuch abgehalten hat, sie wiegt die Hüften nicht mehr, und die Augen sind voll Tränen, beide Wangen hochgerötet. Als ihr aber der Aufseher zum Abschied einige Worte des Trostes mitgibt – Stürme kämen in jeder Ehe vor, und auf Regen folge Sonnenschein – stampft sie zornig das elegant chauffierte Füßchen auf und beteuert, daß sie diesen wüsten Menschen nie wieder besuchen wird. Einige Tage später traf ich den wüsten Menschen im Holzschuppen und machte ihm Vorhaltungen, daß er seine Eheliebste so schlecht behandelt habe. Er war noch ganz aufgebracht über das »Mensch«. Sie habe in Ludwigshafen eine Stelle angenommen auf einem französischen Bureau, und die feinen Kleider seien von einem Offizier bezahlt, der seine Frau mit nach Paris genommen habe. Das wisse er alles durch einen guten Freund. Und nun sei das Mensch so unverschämt, ihm unter die Augen zu gehen mit den Beweisen ihrer Untreue, und lüge ihm auch noch vor, das Geld ehrlich verdient zu haben. Wenn es nicht gerade ein französischer Offizier wäre, hätte er sich's noch gefallen lassen, denn engherzig sei er nicht und kenne die Welt und die Weiber, aber das sei ihm denn doch zu stark. – »Sind Sie denn ein so großer Patriot, daß Sie dem Franzosen Ihre hübsche Frau nicht gönnen?« – »Ach was, Patriot. Ich pfeife drauf. Aber diese Schangels sind doch alle syphilitisch bis auf die Knochen. In einem halben Jahr komme ich heim, und ich habe ihr gesagt, wenn sie was abgekriegt hat, schlage ich ihr alle Knochen im Leibe entzwei und jage sie zum Teufel, so gern ich sie habe. Denn sie ist keine üble Frau, nur hat sie diese verdammte Sucht nach feinen Kleidern, die ich ihr natürlich jetzt, wo ich im Zuchthaus sitze, nicht mehr kaufen kann. Was habe ich nicht schon alles für gefährliche Sachen riskiert, um sie zufriedenstellen zu können. Ich für meine Person habe nicht viel Bedürfnisse und brauchte nicht zu stehlen. Alles für sie. Drum sollte sie mir das nicht antun.«

Ein andermal wurde ich gerade beim Vorbeigehen an der Tür des Besuchszimmers Zeuge eines zärtlichen Abschieds, den eine mit kostbaren Pelzen behangene Dame von einem Gefangenen nahm, der mir als erstklassiger Hochstapler bezeichnet worden war. »Gedulde dich, Schatz, es werden auch wieder bessere Tage kommen«, sagte er zu ihr, und sie antwortete mit der Miene einer Penelope: »Ich warte auf dich, und wenn es zwanzig Jahre dauert.« Als sie an mir vorbeirauschte, war ich in eine Wolke von Wohlgerüchen gehüllt. Sie kam aus Berlin, die Lady, um ihren »Bräutigam« zu besuchen. Hat ihm auch heimlicherweise eine bedeutende Geldsumme zugesteckt, mit Hilfe derer er sich lange Zeit hindurch das Leben im Zuchthaus zu verschönern vermochte, nachdem er einen Aufseher ausfindig gemacht, der ihm gegen gute Provision die gewünschten Genußmittel hereinbrachte. Vor der Revolution waren die Besuche solcher »Bräute« gar nicht gestattet, aber der neue demokratische Geist ist, scheint's, nicht so sittenstreng.

Die Besuche hielt gewöhnlich der Kammeraufseher ab. Er war beliebt in dieser Eigenschaft, da er fünf gerade sein ließ und den Besuchern freundlich entgegenkam. Besonders gegen das schöne Geschlecht konnte er nicht strenge sein und schaute wohl mal zum Fenster hinaus, wenn ein liebendes Paar sich in den Armen lag. Die Schranke, die früher den Gefangenen von dem Besucher getrennt hatte, war längst gefallen; man saß jetzt an einem Tisch einander gegenüber oder auch nebeneinander.

Als Kammeraufseher war dieser Mann der Vorgesetzte der Waschklammer, und zwischen den beiden bestand ein Verhältnis, das mich schon früh auf den Gedanken brachte, hier sei etwas nicht in Ordnung. Ich hatte allmählich eine sehr feine Witterung bekommen für dergleichen und brauchte den Verkehr zwischen einem Aufseher und seinem Schänzer nicht lange zu beobachten, dann wußte ich Bescheid. Später war mir einmal als Straßenwart ein Taugenichts beigegeben, der mit der Waschklammer eng befreundet war und sich öfters an Unternehmungen desselben beteiligte. Dieser konnte den Mund nicht halten, rühmte sich mir gegenüber der Schlauheit, mit der sie ihre Spitzbübereien auszuführen wußten. Niemand ist ja leichter zu bestehlen als der Fiskus, der es auch am besten vertragen kann, da er einen unmenschlich großen Geldbeutel hat. Jahrelang ging das Treiben munter fort, der Schänzer wurde nach Verbüßung des größeren Teiles seiner Strafe in Anbetracht seiner mustergültigen Führung auf Wohlverhalten entlassen, sein Nachfolger wurde nicht warm auf dem Posten, dessen Nachfolger auch nicht, man hatte den Eindruck, daß der Aufseher von seinen früheren Wegen abgekommen war und jetzt die Finger sauber hielt. Da traf ihn, spät, aber mit furchtbarer Wucht, die Nemesis.

Der Vorsteher der Kanzlei des Direktors, ein Oberjustizsekretär, und sein Gehilfe wurden verhaftet. Ein entlassener Gefangenes hatte Verrat geübt. Die alte Geschichte: Unterschleife. Wieder einmal erschien der Untersuchungsrichter im Haus, wieder einmal fuhr ein panischer Schrecken den Missetätern ins Gebein. Würde es gelingen, das Unheil zu lokalisieren?

Ich wurde bisweilen als Hilfsarbeiter auf der Kammer beschäftigt, und es traf sich, daß ich einige Tage, nachdem der Blitzstrahl eingeschlagen hatte, mit dem Aufseher im Zimmer allein war. Der Unglückliche saß ganz gebrochen an seinem Schreibtisch und stierte vor sich hin. Von Zeit zu Zeit entfuhr ihm ein Stöhnen. Am nächsten Tage sollte er verhört werden. Ich sprach ihm Mut zu und mahnte ihn, das Gesicht zu wahren. Er sagte nichts, sondern sah mich an wie ein waidwundes Tier. Mechanisch verrichtete er an dem Tage seine Geschäfte, machte dann noch zum letztenmal Nachtdienst, und am Morgen ging er heim und schoß sich eine Kugel in den Kopf.

»Wir wissen nicht, was ihn dazu veranlaßt hat, sich das Leben zu nehmen« – sagte der Pfarrer an seinem Grabe. Mag sein, daß er es nicht wußte. Aber die Amtsgenossen des Toten, die da standen und wohl mancherlei Gedanken nachhingen, wußten es.

Und die Untersuchung? Sie ergab nichts Belastendes gegen den Selbstmörder. Sonderbar. Man mußte also wohl annehmen, daß er in einem Anfall von geistiger Umnachtung zu der Pistole gegriffen hatte. Die zwei Bureaubeamten wurden zu ein paar Monaten Gefängnis verurteilt. Das war alles. Viel Lärm um nichts.


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