Gerhart Hauptmann
Die Jungfern vom Bischofsberg
Gerhart Hauptmann

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Erster Akt

Ein Gemach auf dem Bischofsberge, einem altertümlichen Landhause, in Weinbergen und Gärten an der Saale gelegen. Die Hinterwand zeigt in einer tiefen Nische der dicken Mauer ein breites Fenster mit Bleifassungen. Durch das Fenster, das offensteht, erblickt man Türme und Dächer einer alten Stadt am jenseitigen Talabhange. Es ist Naumburg. Die Nische enthält zu beiden Seiten altes Gestühl, auf stufenartiger Erhöhung aus demselben Sandstein, der den Fußboden bildet; dazwischen steht ein Spinnrad. Die Decke des Zimmers ist gewölbt. Aus ihrer Mitte herab hängt ein schöner Hängeleuchter aus Messing, mit Lichtern, über einem großen, runden und schweren Eichentisch. Mit einem schwarzen, goldgesäumten Samt bedeckt, trägt dieser Tisch einige alte silberne Gefäße und einen vergoldeten, gebuckelten Pokal. Die Wand links schmückt ein alter Kamin. Zu seinen beiden Seiten sehr alte, nachgedunkelte Bilder, Bischöfe im Ornat darstellend. Die Wand gegenüber zeigt einen mächtigen Renaissanceschrank. Kleine Rundpforten sind hinter dem Kamin und rechts vor dem Schrank.

Es ist gegen Mittag eines Tages Anfang Oktober.

Auf zwei hochlehnigen Stühlen einander gegenüber sitzen der alte Herr Ruschewey im ländlichen Hausanzug und ein fremder ältlicher Herr, der Hut, Regenschirm und Überzieher auf dem Schoße liegen hat. Ruschewey ist gebräunt, bärtig, frisch und jovial. Der Herr, von nicht sehr einnehmendem Äußeren, bebrillt und in Gummischuhen, hat den Typus des Stubengelehrten.

Ruschewey. Ja, ja! Erlauben Sie mir, daß ich mir mittlerweile meine Pfeife anstecke?

Der Herr. Oh, ich habe nichts zu erlauben, Herr Ruschewey. Ich bin nur gekommen in aller Bescheidenheit . . . ich wollte mich nur in aller Bescheidenheit nach dem Befinden der jungen Damen untertänigst erkundigen, denen, wie ich zu meinem Schmerze gelesen habe, das unerbittliche Fatum Mutter und Vater so früh entrissen hat. Geht es den jungen Damen einigermaßen zufriedenstellend, wenn ich fragen darf? Natürlich den Umständen angemessen?

Ruschewey. Jawohl, ja! Es geht meinen Nichten recht leidlich.

Der Herr. Ja, ja, es war ein recht schwerer Schlag. So schnell nacheinander Mutter und Vater. –

Ruschewey. Jawohl, ja! Das heißt: In welchem Blatt steht denn das? Meine arme Schwägerin, die ja allerdings wirklich zu gut für diese Erde gewesen ist, hat unser himmlischer Vater nämlich bereits vor fünfzehn Jahren zu sich genommen. Volle vierzehn Jahre hat Bruder Bertold sie überlebt. Ich fürchtete damals, er würde es nicht sechs Monate aushalten. Wo haben Sie eigentlich meinen Bruder kennengelernt?

Der Herr. Seltsamerweise in einem Antiquitätenladen zu Amsterdam. Ich kann mich noch recht genau erinnern. Es war in einer recht wenig für die Anknüpfung gesellschaftlicher Beziehungen geeigneten Gegend der Judenstadt. Aber Herr Ruschewey, wie er mir sagte, kam schon zum dritten Male, und zwar einer alten Geige wegen, die der jüdische Antiquar besaß.

Ruschewey (erhebt sich und öffnet den Schrank). Er hat sie bekommen, die alte Geige; hier ist sie, wenn es Sie interessiert. (Er nimmt einen geschlossenen Geigenkasten aus dem Schrank und stellt ihn auf den Tisch.) Aber das ist schon sehr lange her, daß Bertold diese Geige gekauft hat.

Der Herr. Im Kriegsjahre einundsiebzig war's. Ihr Herr Bruder war ein sehr lustiger Herr und brachte den Juden oft zum Lachen; doch einig wurden sie lange nicht.

Ruschewey. Ich weiß, es lag ihm sehr viel daran. Er hatte sich nämlich in den Kopf gesetzt, daß diese Geige dieselbe wäre, die vor sehr vielen Jahrzehnten einmal meinem seligen Vater gestohlen wurde. Unser seliger Vater war Organist, und zwar drüben am alten Naumburger Dome; der hatte wieder das Instrument irgendwo, wer weiß, in der Sakristei oder Glockenstube oder sonstigem Heiligtume für Motten, Schaben und Würmer im Dome, und zwar in einzelnen Stücken, gefunden. (Er hat den Kasten geöffnet, die Seidentücher behutsam vom Geigenkörper zurückgeschlagen.) Nur um's Himmels willen, daß Lux nicht kommt; sonst nimmt sie den Onkel bei den Ohren.

Der Herr. Gewiß gehört es der jungen Dame.

Ruschewey. Gewiß gehört's ihr, und zwar mit Recht: denn der andere Grund, weshalb er die Geige ankaufte, war, daß Lux als sechs- oder siebenjähriges kleines Ding immer ein Liedchen sang, das die Worte enthielt: »Eine kleine Geige möcht' ich haben.« Sie hat auch seitdem recht wacker den Bogen führen gelernt.

Der Herr. Das Fräulein Lux ist die wievielte?

Ruschewey. Das Nestküken. Übrigens flügge genug!

Der Herr. Darf ich mir nun die Frage erlauben, wenn es nicht unbescheiden ist: Wird man die Damen, und wäre es für einen noch so kurzen köstlichen Augenblick, zu Gesicht bekommen?

Ruschewey. Ich glaube nicht.

Der Herr. Auch nicht, wenn man in der Lage ist, ihnen dies und das aus Persönlichem von der Begegnung mit ihrem Herrn Vater zu berichten?

Ruschewey. Weiß der Deubel, die Mädels sind scheuer als Holztauben.

Der Herr. Ja, das hat man mir schon im Gasthause drüben in Naumburg gesagt, als ich mich nach der Besitzung erkundigte. Ich muß gestehen, es tut mir leid. – Ich hoffe, Sie nehmen es, wie es gemeint ist, wenn ich Ihnen mitteile – wir sind ja unter uns Männern, nicht? –, daß ich wohlsituiert, nicht ohne private Mittel, Junggeselle und überdies ordentlicher Professor für klassische Philologie in Dorpat bin. Sie nehmen es mir gewiß nicht übel?

Ruschewey. Alle Achtung! Wie käme ich denn dazu!

Der Herr. Alle Achtung. Besonders, wenn man alles, wie ich als Kind armer Leute, durch eisernen, rastlosen Fleiß sich mühsam errungen hat. Ja. – Also: – »Wenn Sie Professor sind« – richtig! sagte der arme Herr Ruschewey damals zu mir in Amsterdam, als wir so stillvergnügt miteinander die portugiesische Synagoge betrachteten –, »wenn Sie Professor sind, kommen Sie zu mir! Ich hab' eine hübsche Fasanerie«, setzte er noch mit Humor hinzu. »Sie wird Ihnen möglicherweise Spaß machen.« – Den Augenblick habe ich leider verpaßt; denn als ich Professor geworden war . . .

Ruschewey. Wenn es Ihnen recht ist, Herr Professor, so gehen wir jetzt in den Garten hinaus, und ich lasse Sie gleich durch das untere Pförtchen. Sie gehen doch oben beträchtlich um.

Der Herr. Ich bin Ihnen äußerst verbunden dafür. – Das heißt, ehe ich gehe, noch ein Wort. – Ich habe die weite Reise gemacht . . . ich bin auch nicht mehr der Allerjüngste . . . Würde es vollkommen nutzlos sein . . . wir sind unter uns, unter Ehrenmännern! . . . mir schwebte, ich sage es frei heraus, die ältere von den Damen vor: ich benötige jemand gesetzteren Alters! . . . würde es nun ganz nutzlos sein, wenn ich fernerhin Zeit und Mühe dransetzte . . .

Ruschewey. Vollkommen nutzlos, ganz unbedingt.

Man hört flüchtige Rufe und plötzlich frisches, glockenartiges Gelächter von Mädchenstimmen.

Der Herr (hat sich erhoben und eine Verbeugung gemacht). Verzeihen Sie gütigst, wenn ich gestört habe. – Es ist ein beschwerlicher Weg hierherauf.

Ruschewey. Auf runterzu geht es bedeutend leichter.

Er öffnet das Pförtchen, läßt den Herrn vorantreten und geht mit ihm ab.

Ludowike Ruschewey, ein schlankes fünfzehnjähriges Mädchen mit kleinem Kopf, kommt leichtfüßig durch die Tür neben dem Kamin. Als sie die Geige auf dem Tisch bemerkt, erschrickt sie und entrüstet sich dann.

Ludowike. Was bedeutet denn das? Wer hat denn, gelinde gesagt, die Kühnheit besessen und hat meine Violine herausgeholt? (Sie nimmt das Instrument heraus, betrachtet es und legt es zurück. Nun kommt durch die gleiche Tür wie sie Adelheid herein. Ludowike ruft ihr entgegen.) Hast du meine Geige in Händen gehabt?

Adelheid (die ein gereiftes und schönes Mädchen ist, mit ausdrucksvollem Gesicht und fast südlichem Temperament und Feuer, antwortet leichthin). Aber, Dummchen, wie kommst du darauf? Tritt übrigens mal hinter den Vorhang. Onkel lotst wieder mal einen hinaus. (Sie späht, hinter dem Vorhang versteckt, durchs Fenster.)

Ludowike (stellt sich sogleich neben die Schwester). O Gott, wie aus dem Beinhaus entsprungen! Ein Gesicht wie'n alter Schweinslederband!

Adelheid. Beinah wie'n Bruder von Ewald Nast; oder find'st du den hübscher?

Ludowike (sich schüttelnd). Brrr, Adelheid, bitte, verschone mich! (Sie begibt sich wieder an ihre Geige, schließt den Kasten und stellt ihn in den Schrank.)

Adelheid. Willst du nicht gleich etwas üben, mein Liebchen?

Ludowike (eine priesterlich segnende Gebärde flüchtig nachahmend.) Du auserwählete Jungfrau: nein!

Adelheid. Ja, mein liebes Kind, warum denn nicht? Du hast noch ein hübsches Weilchen zu warten.

Ludowike. Offen gesagt, eure Errungenschaften und Aussichten blenden mich eigentlich nicht; wie wirst du heißen? Nicht mal Frau von Kranz, bloß Frau Kranz wirst du heißen! Ruschewey klingt doch zehnmal so gut, und wir haben außerdem einen Stammbaum. Ganz hübsch sah zum Beispiel der Rittmeister aus, als die Leutnants neulich zu Pferde herauskamen! – Aber Agathe ist doch blind! die sieht doch die schönsten Beine nicht. Bleibt also ihr Pädagoge Ewald: eh ich den nähme, würde ich Nähterin.

Adelheid (drollig betroffen). Seh' einer bloß dies Küken an! – Ich werde dir nochmals Konfekt mitbringen.

Ludowike. Jetzt sage mal ehrlich, Adelheid: was soll ich eigentlich davon haben, daß du dich zum Beispiel nächstens verheiratest? Na ja; auf der Hochzeit werde ich tanzen! Aber nachher, gleich, da verliert man dich doch! Oder sieh mal Agathe an . . . früher war sie gesellig und heiter – seit sie verlobt ist, ist sie meistens verstört und menschenscheu.

Adelheid. Ist sie denn überhaupt verlobt?

Ludowike. Ja, würde denn Ewald sie sonst so martern? Das müßt ihr doch sehen, er martert sie doch! Er macht sie doch reinwegs krank und schwermütig. Was gehen mich denn eure Bräutigams an, wenn sie einem Geschwister abspenstig machen! Ihr tut einem einfach ganz schauderhaft leid: ihr tut ja doch keinen Atemzug, den sie euch nicht genehmigt haben! Und früher, da wart ihr frei wie der Wind.

Adelheid (knicksend). Au contraire! Erst jetzt ist man frei geworden.

Die Tür neben dem Schrank wird hinter dem Rücken der Mädchen vorsichtig geöffnet, und ein Mann mit zerlaufenen Schuhen, geflickten Sachen, Knotenstock und verwegenem Kalabreser tritt ein. Er hat eine grobe Ledertasche umgehängt. Sein ziegenbockartiges Gesicht ist mit Sommersprossen bedeckt, übrigens nicht uninteressant. Haupt- und Barthaar rötlich. Das Alter des Vagabunden kann etwa fünfunddreißig Jahre betragen.

Der Vagabund. Ich möchte mir eine Frage erlauben.

Adelheid (fährt erschrocken herum). Um Gottes willen! Was wollen Sie denn?

Ludowike ist nach der Klingelschnur gelaufen und hat sie heftig gezogen.

Der Vagabund. Bei Gott, meine Damen, ich will weiter nischt. Ich mechte mir bloß die Frage erlauben: Wo geht denn der Weg nach Merseburg?

Adelheid. Wie sind Sie denn hier hereingekommen?

Der Vagabund. Auf Ehre, das weiß ich alleene nich! Erschtlich bin ich durch Gestrippe gestiegen, dann bin ich durch einen Weinberg runtergekomm'n, dann auf einen breiten Gartenweg, dann in eine scheene Eintrittshalle, dann durch einen scheenen Speisesaal, dann über ein kleines Treppchen rauf, und nu mechte ich gerne in meine Heimat.

Adelheid und Ludowike blicken bald den seltsamen Eindringling, bald einander an und brechen schließlich in herzhaftes Lachen aus.

Ludowike. Wo ist Ihre Heimat eigentlich? Doch nicht etwa vielleicht unsere Speisekammer!

Der Vagabund. Nein. Usingen ist mein Heimatland.

Adelheid. Hast du den Namen schon jemals gehört, Lux?

Ludowike. Non, mon enfant.

Der Vagabund. Ce n'est rien que Silésie, mesdames.

Adelheid. Sie sprechen Französisch?

Der Vagabund. C'est ça. Ich bin ein Jahr lang in Algier gewesen: ich war nämlich Fremdenlegionär! Dann hab' ich mich aber kleene gemacht.

Ludowike (ruft durchs Fenster hinunter). Da ist Otto! Otto, komm doch mal rauf! Wir haben Besuch aus Algier bekommen.

Der Vagabund. Ich kann Ihn'n meine Papiere zeigen. Uff Parole d'honneur; ich beschwindle Ihn'n nich. (Er kramt in seiner Tasche herum, die er ohne Umstände auf den Tisch legt.)

Durch die Tür an der Kaminwand tritt der siebzehnjährige Otto Kranz, ein Bruder von Adelheids Bräutigam. Er trägt sich idealisch, mit Schnallenschuhen, fliegenden Krawattenenden und langem Haar.

Ludowike (übermütig). Erlauben die Herren, daß ich vorstelle: Herr Otto Kranz, sculpteur de talent de Munic, und . . .?

Der Vagabund. Ich bin ein geborener Klemt! (Nach gravitätischer Verbeugung.) Und nu darf ich vielleicht zur Sache kommen. Das ist doch hier nämlich ein altes Haus. Das hab' ich nämlich von weitem gesehen, wie das mit dem hohen Dache so hoch aus a Linden und aus a Kastanien und aus a Nußbäumen rausgucken tutt, daß das hier a alter Kasten sein muß. Und solche Geniste, die sein was für mich: von Beruf bin ich nämlich Kammerjäger.

Otto (ohne weiteres laut). Wie hat sich der Kerl denn hier eingeschlichen?

Der Vagabund. Kerl? I nee, weeß Kneppchen. Da irren Sie sich! Ich geh' Ihn'n meinem Gewerbe nach, wie ein Jagdhund, Sie, wie ein richtiger Finder. Und da find' ich ooch stets was und täusche mich nich.

Otto. Ihr Gewerbe dürfte das Schnorren sein! – Kommen Sie mit! – Ich werde ihn raussetzen.

Der Vagabund. Und Ratten und Mäuse hätten Se nich? Und Kreuzottern keene in Ihrem Weinberg? Und Schlüffel nich? Und o Schwaben nich? Kee Ungeziefer im ganzen Hause? O keene schwarzen Husaren, mesdames?

Otto. Es ist bloß ein Hund hier, der Schweizer heißt! Ein ziemlich bissiger Bernhardiner.

Der Vagabund. De Schweizer sein gude Suldaten. Jawohl! – Also nischt nich fer ungutt! C'est ça, mesdames. (Er geht, von Otto eskortiert; an der Tür wendet er sich nochmals und blinzelt pfiffig nach den vergoldeten Gefäßen hin, die den Tisch schmücken.) Scheene Goldschmiedearbeit hab'n Se da stehn! Da lacht einem alten Schnapphahn das Herze! (Gefolgt von Otto, ab.)

Adelheid (ironisch). Otto ist heut gar nicht bei Humor. Ich dachte, der Mensch müßte ihm doch Spaß machen.

Ludowike. Ich hab' ihn beim »Arbeiten« aufgestört. Er zeichnete oder schrieb Gedichte. – Macht dein Bräutigam denn auch Gedichte?

Adelheid (ironisch). Leider nein! Otto hält sich für das Genie der Familie!

Ludowike. Dann hätte ich doch Otto genommen.

Adelheid. Das Kind?

Ludowike, im Begriff davonzueilen, trifft in der Tür auf Otto und Sabine.

Sabine. Habt ihr gesehen? Der wollte mich! Wie steh' ich da: wieder ein neuer Antrag! Schon vier Anträge hat Onkelchen mir verpfuscht! Nächstens werd' ich ihm mal gründlich das Ohrläppchen kneipen! (Heiterkeit.) Wißt ihr nicht, wo Agathe ist? – Otto, hat sie dir nicht heut morgen gesessen?

Otto. Ja. Ich habe bis etwa vor einer halben Stunde unten im Winzerhaus modelliert; dann plötzlich, ich weiß nicht, kam der Briefträger, und da stand sie plötzlich auf und verschwand.

Sabine. Ich habe sie mindestens eine halbe Stunde lang im Garten gesucht.

Adelheid. Gib Geld, Sabine, es sind wieder Sendungen.

Sabine. Du, deine Ausstattung macht uns bankerott.

Adelheid. Dann erben wir wieder von Großmama.

Ludowike. Möglicherweise ist Ewald gekommen, und sie muß ihm wieder irgendeinen albernen Verschönerungsvereins-Jahresbericht oder sonst was ins reine schreiben. Oder Vermögenssachen von Tante Emilie, die er doch ganz in den Klauen hat.

Sabine. Pfui, Lux, wer wird von Klauen reden! Vor zwölf kommt er übrigens nicht heraus; denn bis elf Uhr dauert sein Unterricht. (Halblaut zu Adelheid.) Ich muß dir mal etwas leise sagen.

Otto. O bitte, laut, ich störe euch nicht. (Er geht ab.)

Sabine. Otto! Warum denn? Bleib doch gefälligst.

Adelheid (neugierig). Laß ihn doch ruhig. Das schadet ihm nichts. – Was gibt's denn?

Sabine. Nichts, als daß Dr. Grünwald im Schwarzen Roß zu Naumburg ist mit seinem alten Freund Kozakiewicz.

Ludowike (die sich neugierig herangeschlichen hat.) – Wer?

Sabine. Papperlapapp, du Kiekindiewelt!

Adelheid (in höchstem Erstaunen). Aber nein, Sabine, das glaube ich dir nicht.

Sabine. Ja nun, das wird die Sache nicht ändern. Erkundige dich doch mal beim Onkel darum. (Sie kniet, schließt ein Schrankfach auf und kramt darin.)

Adelheid (händeringend, in einer Art humoristischer Verzweiflung). Aber, Mädels, um Gottes und Christi willen: was wird denn jetzt bloß Agathe tun?

Ludowike. Was ist denn das nun für eine Geschichte?

Adelheid (zu Sabine mit Bezug auf Agathe). Weiß sie es schon? Ich denke doch nicht. Wenigstens läßt sie sich nichts merken.

Sabine. I, da muß eben wieder Onkelchen einspringen. Die Sache ist eben doch abgetan.

Ludowike. Leutchen, wenn ihr so weiter in Rätseln sprecht, dann bin ich ja eigentlich überflüssig.

Sabine (lustig). Das bist du auch. Immer marsch, fort mit dir.

Ludowike. Gerade nicht! Ich bin alt genug! Und wenn ihr wollt meine Schwestern sein, so habt ihr vor mir auch keine Geheimnisse.

Adelheid. Sabine, das glaub' ich dir nimmermehr: das ist wieder einer deiner Scherze. Der ist ja doch in Amerika, wer weiß wo, untergetaucht und verschollen.

Sabine. Na, und jetzt ist er eben zurück und sitzt fuchsmunter im Roß zu Naumburg.

Ludowike. Wenn ihr denkt, daß ich die Geschichte nicht weiß, so seid ihr doch recht sehr schiefgewickelt.

Sabine. Dummchen, was für 'ne Geschichte denn?

Ludowike. Warum war denn Agathe immer so schwermütig? Weil sie keinen Brief mehr von ihm bekam!

Sabine (leichthin). Von wem denn?

Ludowike. Na, von dem Amerikaner.

Sabine. Du hast was läuten hören, mein Kind.

Ludowike. Und dann hat sie aus Wut oder was weiß ich dem Schulmeister ihre Seele verkauft.

Sabine. Pst, liebe Lux: sprich keine Torheiten! Im Grunde geht uns das alles nichts an, und man muß jedem sein Seelenheil selbst überlassen. Du bist übrigens tatsächlich alt genug, und's ist besser – meinst du nicht auch, Adelheid? –, du weißt, wie die Sachen wirklich sind! Du kannst dann vielleicht Taktlosigkeiten vermeiden, statt daß du aus Unwissenheit welche begehst. Agathens Empfindlichkeit ist ja fast sprichwörtlich.

Adelheid. Also wirklich? Grünwald ist drüben in Naumburg?

Sabine. Er hat bei Onkelchen angefragt, ob sein Besuch uns genehm sein würde.

Adelheid. Und wenn er mit Ewald zusammentrifft!

Sabine. Nun was? Es sind doch gebildete Menschen.

Ludowike. Ich verstehe die Sache noch immer nicht.

Sabine. So, nun zeige dich mal der Sache gewachsen; Grünwald ist der gewesene Marinearzt, von dem du sicher schon oft gehört hast. Papa jedenfalls sprach öfters von ihm. Zwischen ihm und Agathe hat etwas geschwebt. Sie lernten sich kennen auf Sylt im Seebad. In einem Sommer, du weißt es ja doch, waren Papa, ich und Agathe in Westerland.

Adelheid. Vorsicht, daß uns Agathe nicht hört.

Sabine. Oder Ewald, er muß jeden Augenblick kommen.

Ludowike. Sie waren also ganz richtig verlobt?

Sabine. Verlobt und auch nicht.

Ludowike. Wie geht denn das?

Adelheid. Eigentlich waren sie versprochen, und andererseits waren sie auch wieder frei.

Sabine (indem alle drei die Köpfe immer geheimnisvoller zusammenstecken). Liebchen, hast du nicht manchmal bemerkt, daß Agathe gegen den seligen Papa einen gewissen Groll in der Seele trägt?

Ludowike. Du weißt ja, ich wurde sogar mal heftig! Papas Andenken lass' ich mir einmal nicht antasten.

Sabine. Agathe tut das im Grunde auch nicht. Aber Papa hat damals zu Grünwald gesagt, er solle sich noch zwei, drei Jahre herumtummeln und dann werde es Zeit zu der Frage sein, die er ihm jetzt nicht beantworten könnte.

Ludowike. O weh, lieber Papa, da ging' ich durch!

Adelheid. Und jetzt kannst du dir wohl auch einen Begriff machen, was Agathe inzwischen gelitten hat. Briefe hatte Papa verboten. Mündlich hatten die beiden abgemacht: ein Lebenszeichen nach Verlauf jedes Jahres!

Sabine. Er sollte schreiben!

Adelheid. Er schrieb aber nicht. Der Termin kam heran, und er blieb verschollen. Dann starb Papa, und es rührte sich nichts. Dann kam ihre Krankheit und Ewalds Werbungen und Tante Emiliens Apparat . . .

Sabine. Und nun wieder ist Grünwald auf einmal da und, wer weiß, erscheint vielleicht auf der Bildfläche.

Adelheid. – Sabine, du hast doch wohl Spaß gemacht.

Sabine (achselzuckend). Mit solchen Sachen ist nicht zu spaßen! Denkt, was ihr wollt, bloß verschnappt euch nicht.

Oberlehrer Dr. Ewald Nast tritt ein. Er trägt Gehrock, Zylinder und schwarze Krawatte, sehr blankes, aber plumpes Schuhwerk. Die Kleider, von einem Provinzschneider gemacht, sind lange getragen, aber gut gehalten. Nast hat einen Sommerüberzieher überm linken Arm, in der gleichen Hand einen Schirm, in der rechten den Zylinder, im Munde einen Zigarrenstummel.

Nast (laut und selbstbewußt auftretend). Guten Morgen, ihr Mädchen, ein prachtvoller Tag! – Ich komme vom Zahnarzt direktement! einen Backenzahn, drei scheußliche Wurzeln! mich gehalten wie Mucius Scaevola! Nur muß ich noch meinen Stummel ausrauchen. Tabak bekanntlich desinfiziert. (Scherzhaft zu Ludowike.) Nicht wahr, meine Gnädige?

Ludowike. Und stinkt auch bekanntlich.

Nast. Das kommt immer auf die Zigarre an.

Ludowike. Die Ihrige kostet ja wohl sechs Pfennige.

Nast. Cousin und Cousine: ich erbitte das Du. Ich zweifle nicht, daß es bessere gibt! Nun, man muß sich nach seiner Decke strecken. Wie geht's unsrer lieben Agathe, gut?

Sabine. Ich habe sie heute noch kaum gesprochen.

Nast. Nun, ich werde gleich selbst zum Rechten sehn! Je mehr ich mich in die Sache hineindenke, je mehr macht mir die kommende Hochzeit Spaß. – Die Schüler hatten heut Klassenarbeit, und während ich auf dem Katheder saß, da hab' ich mir etwas ausgesonnen, was dich, liebe Adelheid, freuen wird. Ich meine an deinem Ehrenabend.

Adelheid. Ich lasse mich überraschen, nur zu!

Nast. Ist dein kleiner Schwager eigentlich anstellig?

Adelheid. Inwiefern, Ewald, soll er denn anstellig sein?

Nast. Erstlich brauche ich jemand, der mir mein kleines Versspiel ins reine bringt . . .

Ludowike. Ihre Verse abschreiben? Das tut Otto nicht. Dazu ist er zu stolz. Er macht selber welche.

Nast. Oh! Messer, Gabel, Schere, Licht ist für kleine Kinder nicht. Doch immerhin – lassen wir ihm das Vergnügen, ein bißchen Herzen und Schmerzen zu reimen, wenn nur niemand dabei beschädigt wird; auch macht mir Agathe schließlich die Reinschrift, doch hätte ich etwas anderes für ihn.

Sabine. Besprich es doch mit ihm selber, Ewald.

Nast. Nur nicht in Adelheids Gegenwart.

Adelheid. Ich muß sowieso zu den Weißnähterinnen. Ich habe drei Nähterinnen im Haus. Wenn ich Otto sehe, will ich ihn reinschicken.

Nast. Vielleicht, daß er doch die Gnade hat! (Adelheid ab.) Sonst nehme ich einen meiner Quartaner. – Übrigens: Euren Gärtner solltet ihr abschaffen.

Sabine. Warum?

Nast. Weil er dreist und untüchtig ist. Ich hatte eben mit ihm beinah ein Renkontre.

Sabine. Onkel hält ziemliche Stücke auf ihn.

Nast. Laissez aller: das ist Onkels Grundsatz. Ich sage euch: schafft diesen Gärtner ab! Und ihr werdet es tun, trotz des guten Onkels und seiner strafwürdigen Bonhomie.

Sabine. Was hat's denn gegeben mit dem Gärtner?

Nast. Ich muß mich ein bißchen mit Reden in acht nehmen. (Er faßt nach der Backe.) Er benimmt sich gegen mich flegelhaft, und zwar bei jeder Gelegenheit. Und dann begeht der Mensch gradezu Tollheiten.

Sabine. Wieso?

Nast. Ich nenne es eine Tollheit, Sabine, wenn er einen Burschen hier bei sich hat – ich meine in eurem Garten beschäftigt –, ein Subjekt, das mehr als verdächtig ist! Einen Kerl, der am gestrigen Nachmittag bereits unser Naumburg unsicher machte, bis er schließlich auch meine zwei Treppen erstieg, wo ich ihm aber gehörig den Text geigte. Mir sagte der Mensch, er sei Scharfrichterknecht; – und hier läßt ihn der Gärtner Maulwürfe wegfangen.

Sabine. Ach, es sind ja doch Männer im Haus, guter Ewald.

Nast. Wenn ihr töricht sein wollt, ich dulde es nicht. Entweder der Onkel setzt ihn raus, oder ich werde die Polizei verständigen. Am besten, der Gärtner fliegt gleich mit; denn er betrügt euch, wenn ihr die Augen wegwendet.

Sabine. Papa machte immer einen bestimmten Abstrich auf Betrug.

Nast. Das konnte Papa, ihr dürft das nicht. Das hieße ja unverantwortlich wirtschaften! Man wirft doch das Geld nicht zum Fenster hinaus.

Ludowike (indem sie, sich räkelnd, hinausgeht). Wenn man welches hat, warum soll man's nicht rauswerfen. (Ab.)

Nast. Oh! oh! oh! oh! Der Tausend noch mal! An Lux ist viel gesündigt worden! Es rächt sich, wo eine strenge und konsequente Erziehung gebricht!

Sabine. Aber, Ewald, das sind doch nur harmlose Unarten.

Nast. Ihr glaubt es mir nicht! Ihr glaubt es mir nicht. Ihr laßt dem Kinde sträflich viel Freiheit. Darin hat Tante Emilie vollkommen recht. Eines Tages, sag' ich euch, muß es sich rächen.

Sabine. Hu, hu! Das klingt aber fürchterlich!

Nast. Ihr glaubt, ihr seid niemand verantwortlich, weil ihr unabhängig hier oben lebt. Ihr seid für das Freie und Ungebundene; aber wenn ihr manchmal zu hören bekämt, was drüben in Naumburg von euch gesagt wird, dann würdet ihr sehn, daß die Welt nicht schläft und daß niemand so unabhängig ist, um sich auch nur im geringsten Punkt ungestraft gegen sie zu versündigen.

Sabine. Ei! ei! ei! ei! Was bedeutet denn das?

Nast. Liebste Muhme, wir wollen das Kriegsbeil nicht ausgraben. Ich hoffe, du mißverstehst mich nicht. Meine brave Agathe denkt ganz wie ich; und ich sehe den Tag in nicht weiter Ferne, wo auch du, eigentlich der Verstand der Familie, auf die mittlere Linie der Lebensführung zurückkommen wirst. (Otto tritt ein.) Jetzt wollen wir uns den Präliminarien froher Stunden widmen. – Sage doch mal, du junger Adonis von sechzehn Lenzen! Ich hätte eine Sache für dich. – Du wirst ja bleich: erschrick nur nicht. Du sollst ja nicht mensa deklinieren! Es handelt sich nur um einen Scherz.

Otto. Wäre ich dabei unbedingt notwendig?

Nast. Niemand, mein Sohn, ist unbedingt notwendig. Also hör mal, was ich eigentlich will. Du weißt, was Scherz ist.

Otto. Ich hoffe doch.

Nast. Ich auch. Also werden wir uns bald einigen. – Ich habe nämlich ein Festspiel verfaßt, und in diesem Festspiel sind nur zwei Rollen, und die dritte . . .

Sabine. Ich denke, es sind bloß zwei?

Nast. Und die dritte, junger Freund, sollst du darstellen. »Peter Squentz« von Gryphius kennst du nicht . . . ich will lieber etwas weiter ausholen. Dieses Haus hier hat früher zum Dom gehört. Eigentümerin war das Domkapitel, und Domherren haben es früher bewohnt, Bischof Throta sogar, Kirchenfürsten mitunter, und das Wappen, das sich am Kamin noch vorfindet, trägt einen Palmesel, Stab und Bischofshut. Es handelt sich aber nur um den Palmesel.

Sabine. Soll Otto den Palmesel etwa darstellen?

Nast. Die dritte, sehr lustige Rolle ist stumm in der Tat und wäre allerdings quasi der Palmesel.

Sabine stutzt einen Augenblick und bricht dann in helles Gelächter aus. Nast seinerseits stutzt zunächst ebenfalls, und zwar über das Gelächter, von dem fortgerissen er, allerdings etwas gezwungen, schließlich mitlacht.

Otto (verbeißt sichtlich den Ärger über die Verletzung seines Selbstgefühls und sagt dann ruhig). Das Fach des Clowns, Herr Oberlehrer, liegt mir nicht. Aber da ich Bildhauer bin, würde ich mich gern anheischig machen, einen Palmesel nach dem Leben, sehr porträtähnlich, zu modellieren. Wenn gebrüllt werden soll, macht das ein Hausknecht vielleicht.

Nast. Ah, aha! Ist man der jugendlichen Überhebung und Eitelkeit doch wieder einmal zu nahe getreten. Es gibt heute keine Jugend mehr.

Otto. Das liegt dann vielleicht an ihren Erziehern.

Nast. Lassen wir das! Keine Kontroversen! Es steht dir nicht! Und mir würde es nun schon gar nicht geziemen, mit dir um ernsthafte Fragen zu streiten. Das Mißverhältnis wäre zu kraß.

Otto. Weshalb duzen Sie mich denn eigentlich?

Nast. Mein Freund, Ihnen fehlt die Naivität. Denken Sie an die Fastnachtsspiele! Denke doch an den Meister Hans Sachs! Denke doch an die alte Tierfabel, an den Weber Zettel im »Sommernachtstraum«! Einen Esel naturgetreu darzustellen, braucht einer durchaus kein Langohr zu sein.

Sabine. Liebe Festgenossen in spe, entzweit euch nicht. Es empfiehlt sich, bei gutem Humor zu bleiben; denn ein guter Humor ist ja doch der Zweck.

Nast. Dieser Dummstolz, der keinen Spaß versteht, Gespreiztheit! Unreife mit Prätentionen! Was mir peinlicher wäre, wüßte ich nicht.

Sabine (legt den Arm um Otto). Komm, Otto, den Herrn Vetter lassen wir auspoltern. Er hat heute, scheint's, seinen reizbaren Tag. Die Schuljungen haben ihn wohl geärgert.

Nast (mit arroganter Heiterkeit). O nein, schöne Muhme, da irrst du dich. Ein Schuljungenstreich geniert keinen Weisen. So was stört meine Götterlaune nicht. (Sabine mit Otto ab.)

Agathe, ein schöngewachsenes, etwas bleichsüchtiges, üppiges Mädchen, tritt durch die Tür an der Schrankseite. Das hellblonde Haar umrahmt, schlicht gescheitelt, das ovale, großäugige, süße Gesicht, das einen Zug von Schwermut hat. Die Bewegungen Agathens sind weich und geräuschlos. Ihr Gang rhythmisch und wie schwebend. Sie hüllt sich, wärmebedürftig, in ein Spitzentuch.

Agathe. Guten Morgen, Ewald.

Nast. Da bist du ja! – Um Gottes willen, wie siehst du denn aus?

Agathe (an sich hinuntersehend). Wie? ist etwa wieder ein Saum gerissen?

Nast. Ist dir nicht wohl, mein gutes Kind?

Agathe. Weshalb sollte mir denn nicht wohl sein, Vetter?

Nast. Vetter? Was ist das für ein Wort?

Agathe. Es ist doch ein Wort, das dir auch zukommt, Ewald.

Nast. Nun, Liebe, ich verzichte darauf. Dafür will ich dich auch nicht Cousine nennen. – Aber sag mir nur endlich, was mit dir ist!

Agathe. Wieso? – Ich weiß dir darauf nicht zu antworten. –

Nast. Du hast geweint!

Agathe. Ich habe durchaus nicht geweint, lieber Ewald. Und wenn . . . warum sollte ich schließlich nicht?

Nast. – Du siehst, ich fasse mir an den Kopf! Ich komme noch gar nicht zu mir selber! Was ist denn auf einmal mit dir passiert?

Agathe. Nichts. Gar nichts, Ewald. Nicht das geringste. Ich bin eben mit Onkel Gustav spaziert . . .

Nast. Und was habt ihr da miteinander gesprochen?

Agathe. Nichts! Sicherlich nichts, was dich interessiert.

Nast. So?! Und du glaubst, so lass' ich mich abspeisen?

Agathe. Ach, Ewald, bitte! Du peinigst mich. Du mußt mir ein wenig Ruhe lassen.

Nast. – Wann hätte ich deine Ruhe gestört? – Willst du mich jetzt nicht sehen, Agathe, so sage es nur. – Du hast Anspruch auf jegliche Rücksichtnahme, als Patient und als Rekonvaleszent.

Agathe (geht heftig umher). Ich bin nicht mehr leidend! So laß doch nur das! Weshalb mußt du es mir denn täglich vorhalten? Ich bin so wie jeder andere Mensch und verlange durchaus keine größere Rücksicht.

Nast. Der alte Irrtum, die alte Not! Wenn dir freilich mein Rat irgend etwas gilt und die Zukunft, der wir entgegeneilen – ich kann nicht anders! es tut mir leid –, so laß uns, ich bitte dich wieder darum, doch endlich mit festen Entschlüssen hervortreten! Dieser Zustand martert uns beide nur.

Agathe. – Nun auf einmal wiederum diese Wendung.

Nast. Jawohl, mit vollem Bewußtsein, Kind. – Ich kann warten, ich bin nicht ungeduldig, auch an deinem Charakter zweifle ich nicht. Auch daß eure Verhältnisse glänzende sind, ist ein Umstand, der mich nicht weiter beeinflußt. Ich bin genügsam und habe mein Auskommen. Nein! Aber wir sind in der Leute Mund . . . und ich weiß eigentlich nicht, worauf wir noch warten. – Oder, Agathe, treibst du dein Spiel mit mir?

Agathe. Wie kannst du bloß so etwas denken, Ewald!

Nast. Nun gut, ich denke es eigentlich nicht. Ja, das Gegenteil ist mir durchaus Gewißheit. Vorwärts! Zögern wir also nicht! – Du schweigst. – Es ist immer das gleiche Schweigen, das du mir, sooft ich bis jetzt auf diese Sache gekommen bin, wie eine Mauer entgegenstellst. Ich kann mir dieses Schweigen nicht ausdeuten.

Agathe (nach einigem Stillschweigen). Ewald, du brauchst eine Frau, die tüchtig . . . jedenfalls anders ist! Was willst du mit jemand, wie ich bin, anfangen, der so mit sich selber uneins ist, so untüchtig und so verkehrt erzogen. Du kannst mir glauben, du kennst mich nicht.

Nast. Du leidest an einer gewissen Pusillanimität: an sonst nichts! Das ist meine Sache; darauf lasse ich es ankommen. Hast du nur einige Neigung zu mir, so wollen wir uns schon darüber hinwegsetzen. Also, beste Agathe, – (er faßt ihre Hand) – entschließe dich!

Agathe (bewegt und mit Überwindung). Nun, Ewald, in einer Zeit, wo sich wirklich keine Menschenseele auf Erden um mich gekümmert hat, wo ich körperlich und auch geistig völlig daniederlag, hast du allein unter allen Menschen dich um mich gekümmert! Du allein nahmst dich meiner an. Gut also: ich bleibe dir also nichts schuldig. – Du nimmst mich selbst ja als Ausgleich an. Also sei es! Das übrige mußt du verantworten: nämlich, wenn es zu deinem Guten nicht ist. – Jetzt aber . . . um eines ersuch' ich dich noch . . . es ist jemand . . . Dr. Grünwald ist wieder aufgetaucht . . . ich habe dir niemals was angedeutet . . . möglicherweise hast du doch etwas munkeln gehört . . . er darf unter keiner Bedingung heraufkommen! Jedenfalls werde ich ihn unter keiner Bedingung wiedersehen. – Und davor mußt du mich schützen, Ewald, daß ich diesen Entschluß etwa brechen muß.

Nast. Wie? Was? – Du kennst mich; ich werde alles veranlassen.


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