Gerhart Hauptmann
Die Jungfern vom Bischofsberg
Gerhart Hauptmann

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Dritter Akt

Das gleiche Zimmer wie im zweiten Akt, am folgenden Tage. Nachmittag. Kozakiewicz sitzt am Flügel. Ludowike steht mit der Geige vor dem Notenpult.

Kozakiewicz. Nun, das haben wir wirklich sehr schön gemacht. Diese alte Geige gibt einen Ton her, der unbeschreiblich ist. Sie strahlt! Manchmal habe ich die Empfindung gehabt von etwas schwarzstrahlend Warmem, manchmal von etwas goldfeurig Weichem. Und Ihr Spiel, meine Gnädige . . . ja, wieviel, wenn von Ton die Rede ist, wieviel des Verdienstes kommt eigentlich wohl dem Instrument und wieviel dem Spieler zu? Sie müssen einer des andern würdig sein! Und das, mein gnädigstes Fräulein Lux – ich mache Ihnen mein Kompliment! –, ist hier in vollkommener Weise der Fall.

Ludowike. Wenn Großpapa drüben im Dom auf der Geige gespielt hat, das soll immer ein Fest gewesen sein. Sie trägt den Ton ungeheuer weit; ganz wunderbar soll es noch im entferntesten Teile der großen Kirche geklungen haben. Heute noch lebt drüben in Naumburg ein alter entfernter Verwandter von uns, ein Pastor emeritus. Über neunzig Jahr ist er alt und hat drei seiner Nachfolger jetzt schon überlebt. Der weint, wenn er von den Zeiten spricht, wo unser Großvater noch diese Geige gespielt hat.

Kozakiewicz. Ist es dieselbe ganz gewiß?

Ludowike. Freilich. Ein Stück ist eingesetzt hier oben am Hals, und eine zweite Ausbesserung, die noch von Stradivarius selber herrühren soll, ist hier, wie Sie sehen, auf dem Rücken. Papa hat selbst etwas Geige gespielt und das Instrument sofort bei dem Antiquar wiedererkannt.

Kozakiewicz. Diese romantische Geigendiebstahlsgeschichte könnte wirklich von E. T. A. Hoffmann sein. Eine Geige hat an und für sich etwas Mystisches: eine alte Schachtel, mit singenden Schafsdärmen überspannt, die eine so unbegreiflich göttliche Seele im Busen hat. Aber nun dieses edle Familienstück: Ihr Großvater hat sie bereits wie eine Tochter geliebt – er hat ihr auch wirklich in der Zertrümmerung wieder das Leben geschenkt –, wie eine Tochter vermißt und gesucht! Und endlich wird sie vom Sohn dieses Mannes zum zweiten Male aus dem Grab einer Rumpelkammer zu Amsterdam ans Licht gebracht.

Ludowike. Großvater schon hat der Geige wegen Reisen gemacht und später Papa. Sie wollten den Einbrechern auf die Spur kommen. Auf jedem Tanzboden horchten sie auf, ob sie nicht die bekannte Stimme vernähmen. Papa sagte immer, das »Schwesterchen« sei über den Thüringer Wald gereist, den Main hinunter an Frankfurt vorbei über Köln die Pfaffengasse hinunter und schließlich fort übers Meer in die Neue Welt, auf den großen Kirchhof für alte Geigen.

Kozakiewicz. Es war aber dennoch anders bestimmt. Es stand im Buche des Schicksals geschrieben, daß zwei wahren Schwestern das Los einer herrlichen Wiedervereinigung beschieden sei.

Ludowike. Ja, sie und ich, wir verstehen einander, und ich gebe sie auch nicht wieder her.

Kozakiewicz. Nun, wer sie Ihnen jetzt wegnehmen wollte, der würde, mit jenen ersten Räubern verglichen, ein zehnmal so großer Verbrecher sein.

Ludowike. Oh, Tante Emilie spielt oft darauf an, daß wir die Geige verkaufen sollten.

Kozakiewicz. Die Dame, die heute hier zum Besuch ist?

Ludowike. Gewiß.

Kozakiewicz. Es ist wirklich die Schwester Ihres Herrn Vaters?

Ludowike. Die richtige Schwester.

Kozakiewicz. Das wundert mich.

Ludowike. Sie haben sich auch nie verstanden im Leben; aber rechte Geschwister sind sie doch.

Kozakiewicz. Wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, über diese Dame ein Wort zu äußern: Ihr Herr Vater und sie verstanden sich nicht; nun, das Gegenteil würde mich sehr verwundern. Anders ist es mit Ihrem Herrn Onkel, der wirklich von dem gleichen Geiste wie Ihr verstorbener Herr Vater ist. Mit Bezug auf die Geige sagte er mir: in den alten Domen sei öfters ein messingner oder vergoldeter Pelikan als Symbol der Kirche unweit des Tabernakels aufgestellt, weil dieser Vogel dem Mythus nach sich selber die Brust mit dem Schnabel aufhackt, um seine Jungen mit dem Blut seines eigenen Leibes zu nähren, wie die Kirche vorgibt zu tun. Habe der Vater nun oben die Geige gespielt und sie, die Brüder Bertold und Gustav, saßen unten im Schiff, so hätten sie oft zueinander gesagt: Der Pelikan singt! So wäre es ihnen vorgekommen. Diesen Pelikan hat wohl die alte protestantische Dame dort drinnen – (er zeigt auf die Tür rechts) – niemals singen gehört?

Ludowike. Nein, das, glaub' ich, sind ihr nur alles Überspanntheiten.

Kozakiewicz. Wenn man Sie, Fräulein Lux, mit Ihrem jugendlich hübschen, frisch gebackenen Schwager herumhüpfen sieht, so möchte man gar nicht den Ernst vermuten, der in Ihnen ist.

Ludowike. Ich bin doch nicht ernst! Ich möchte den ganzen Tag herumhüpfen.

Kozakiewicz. Und ich möchte dabei – wie sagt man – immer ein Mäuschen sein.

Ludowike. Wenn mich nicht jemand festhält, tanze ich, bis mir das Herz stillesteht.

Kozakiewicz. Nun, möge Ihr Herz noch eine blumige Bahn durch Jahrzehnte allegro con amore seine süße und göttliche Pflicht erfüllen!

Ludowike. Und das Ihrige auch.

Kozakiewicz. Oh! seine Pflichten sind weder süß noch göttlich, und es setzt wohl heut oder morgen aus. Lachen Sie! Lachen Sie, schönstes Kind! Sie sollen mich ganz von Herzen auslachen, am liebsten ganz aus der Welt hinaus. Larifari, was soll uns das! (Er spielt einige wilde Takte einer Mazurka.) Wenn Sie gern tanzen, tanzen Sie! Ich werde Ihnen auf polnisch Musik machen! (Er spielt mit Meisterschaft die Mazurka op. 24 Nr. 4 von Chopin.)

Von der Terrasse herein kommt Grünwald. Er hat einen leichten Sommerüberzieher überm Arm und ein spanisches Rohr als Stock. Behutsam, um nicht zu stören, ist er stehengeblieben. Er hat zugehört und beobachtet, wie Ludowike unwillkürlich in den Rhythmus der Mazurka verfallen ist und improvisierte Tanzbewegungen andeutet.

Kozakiewicz (noch während des Spiels zu Ludowike). Bravo! Ganz herrlich! Ganz ausgezeichnet! Sie tanzen mit allergrößtem Talent.

Grünwald (klatscht leicht in die Hände, dabei ziemlich ernst dreinschauend, nachdem Kozakiewicz sein Spiel beendet hat). Wirklich, Sie tanzen ganz ausgezeichnet.

Ludowike. Für Zuschauer lange nicht gut genug.

Kozakiewicz. Tanzt man denn jemals für sich allein?

Ludowike. Das tut man zuweilen, warum denn nicht? Oft steige ich auf den Wäscheboden hinauf und tanze für mich eine Viertelstunde. Eigentlich darf ich es ja wegen des Trauerjahrs immer noch nicht. Aber Sie werden es ja nicht petzen.

Grünwald. Ganz unerwartet war dieser Genuß.

Kozakiewicz. Das sagt er mit einer Grabesmiene, – (Ludowike lacht) – als ob er bittere Latwerge geschluckt hätte und nun seiner Überzeugung Ausdruck verliehe, sie sei eine gute Medizin.

Grünwald. Warum sagst du nicht gleich Pfeilgift, Freund?

Kozakiewicz. Oh, was aus diesem kühnen Paladine geworden ist, der dreizehn Monate lang mit den wilden Bakairi gejagt und, gelbe Federn hinterm Ohr, in elliptischen Hütten gewohnt hat. Und jetzt erschreckt ihn ein fallendes Blatt. – Hast du denn wieder im Heidekraut gelegen und Verse gemacht?

Grünwald. Dem widerspricht schon mein weißer Anzug, scherzhafter Freund.

Kozakiewicz. Er stammt nämlich von dem alten Minnesänger Grünewald und leidet an atavistischen Zufällen.

Man hört in der Ferne den Klang eines hurtig geläuteten kleinen Glöckchens.

Ludowike (die sofort aufmerksam geworden ist). Das Glöckchen! Ich muß gleich zu Otto hinauf! Wir haben uns in der Kapelle verabredet. (Sie läuft schnell ab.)

Kozakiewicz. Da gaukelt sie hin, wie ein Schmetterling.

Stillschweigen. Kozakiewicz variiert kurz die Melodie von »Ach, wie ist's möglich dann«. Grünwald nimmt lässig Platz.

Grünwald. Ja, was will man nun eigentlich wieder hier?!  Kozakiewicz nimmt die Finger von den Tasten und lacht.) Mensch, lache um Gottes willen jetzt nicht! Mach dir deutlich, wie mir zumute ist, und bezeige mir dann ein bißchen Verständnis!

Kozakiewicz. Von ganzem Herzen, mein Junge, gewiß.

Grünwald. Nun sage selbst, worauf wartet man noch? Diese schrecklichen, peinvollen Demütigungen! Man steht, wo man überflüssig ist! Man wartet, wo keine Hand sich auftut, wie ein Bettler, der stumpf und lästig ist.

Kozakiewicz. Das kann man doch ganz so schroff nicht hinstellen.

Grünwald. Wenn man noch einen Funken von Anstand hätte, einen Funken von Anstand und Ehrgefühl, so würde man hier nicht so klettenhaft festsitzen, trotzdem alles aus und entschieden ist. Statt dessen kommt man tagtäglich herauf. Man verstopft sich die Ohren; man versteht keine Andeutung! Systematisch dickfellig macht man sich! Man schleicht! Man erschrickt, wenn ein Fenster klirrt! Ein blaues seidenes Umschlagetuch raubt einem, wo es nur flüchtig auftaucht, sogleich den Verstand. Ich muß fort! Ich halte das nicht mehr aus!

Kozakiewicz. Gut. Reisen wir ab.

Grünwald (bestürzt und gequält). Mensch, das kann ich ja nicht. (Er drückt die Stirn in die Hände.)

Kozakiewicz (nach einigem Stillschweigen). Ja, dann bleibt uns nur übrig, hier auszuhalten.

Grünwald. Nun sage selbst, worauf wartet man noch? Ich habe die Sache im Herzen gehabt . . . ich habe die Sache im Herzen getragen . . . so heilig! ich habe nicht dran gerührt! Nun also: sie hat die Geschichte vergessen! Sie weiß nichts davon! Sie erinnert sich nicht.

Kozakiewicz. Hast du sie schon gesprochen?

Grünwald. Gewiß.

Kozakiewicz. Hast du sie schon unter vier Augen gesprochen?

Grünwald. Wie käm' ich dazu! Sie kennt mich ja nicht. Sie vermeidet es ja, mich nur anzublicken. Ich bin ja für sie nichts weiter als Luft! Und außerdem, wenn ich irgendwo auftauche . . . kaum zwei, drei Minuten, so ist sie fort.

Kozakiewicz. Ich gebe zu, daß dein Fall, lieber Junge, einigermaßen kritisch ist . . .

Grünwald (aufbrausend). Nein! Nein! Nein! Nein! Ich mag jetzt nicht fort! Ewig verdammt und verflucht will ich sein!

Kozakiewicz. Fluchen ist besser als Flennen, Freund.

Grünwald. Ich beiße mich fest wie ein Industrieritter! Ich setze mich in das Gebälk wie ein Schwamm! Ich weiche nicht eher von diesem Fleck, bis kein Tropfen Wein mehr im Keller ist und man mich auf einem Karren verstaut und wie einen Holzgötzen vor die Tür setzt!

Kozakiewicz. Dazu werden sie sich vorderhand kaum entschließen.

Grünwald. Ach, Junge, sie ist ja so schön geworden!!! – Ich schlag' ihn ja nieder im Augenblick! Ich zerschmeiß' ja dem Kerl alle Knochen im Leibe! (Er sitzt in zitternder Erregung, seiner kaum Herr.)

Kozakiewicz. Ich gratuliere dir ganz aufrichtig zu dieser beneidenswerten Leidenschaft. Du warst damals auf Sylt nicht halb so im Feuer.

Grünwald (springt auf). Leb wohl, Kozakiewicz, ich reise ab.

Kozakiewicz. W–a–s?

Grünwald. Soll ich mit dieser Drahtpuppe wettlaufen? Diesem Monstrum in Oberlehrergestalt? Diesem sterilen, mumifizierten, prognathen, eingepökelten Tertiäraffen? Der bloße Gedanke macht mich wahnsinnig! Ekelt ihr denn vor diesem dressierten Pudel nicht? – Mensch, welcher Satan hat mich auf diesen Gedanken gebracht, daß ich in dieses verzopfte, verpfuschte, verhunzte Europa zurückkrieche, wie unter die Peitsche ein Hund? Konnte ich mir denn drüben nicht Negerweiber ins Haus nehmen und kranke Portugiesen zu Tode kurieren?

Kozakiewicz. Mann, bist du von allen Teufeln besessen?

Grünwald. Statt dessen traut man auf Backfischschwüre!

Kozakiewicz. Mein Junge, geschworen hat sie wohl nicht. Wenigstens wie du mir damals die Sache vorstelltest. Und jetzt komm zur Besinnung! Restituiere dich! – Du hast dich ja geradezu auf eine furchtbar krankhafte Weise verändert! Danke Gott, daß hier gerade kein Irrenarzt in der Nähe ist! – Deine Sache steht kritisch. Nicht hoffnungslos. Freilich so, wie du jetzt bist, erzielst du nichts. Da mußt du dich wieder vollständig umkrempeln.

Grünwald. Oh, was habe ich nicht schon aus mir gemacht.

Kozakiewicz. Einen Menschen, der unliebenswürdig ist! Einen ungeselligen, bösen Menschen, der den Feinden den Sieg gar nicht schwierig macht.

Grünwald. Ich bedaure, das Heucheln verstehe ich nicht.

Kozakiewicz. Schade, dann mußt du es unbedingt lernen; denn anders erreichst du dein Ziel eben nicht. Du bist hier nicht ohne Bundesgenossen, die dir heimlicherweise gewogen sind. Ich habe es der Kleinen abgemerkt. Auch der ältesten Schwester einigermaßen. Und dem Onkel liest man es vom Gesicht . . .

Sabine kommt eilig, geht auf den Schreibtisch zu, schließt Fächer auf und sucht nach etwas.

Sabine. Laßt euch nicht stören, meine Herrschaften. Ich habe nur etwas verlegt, wie es scheint, und kann es leider nicht wiederfinden. – Der ganze Tag ist mir schon vergällt! – Wie sagt man bei solcher Gelegenheit? Der Teufel hält seinen Schwanz darüber.

Kozakiewicz. Was ist es denn, wenn man fragen darf?

Sabine. Ein kleines Kreuzchen aus Elfenbein. Eine alte schöne romanische Arbeit. Papa hatte es einmal in Aachen gekauft und mir aus besonderer Freundlichkeit am Konfirmationstage eingehändigt: wenn es weg wäre, würde ich unglücklich sein! – Nein, hier ist es auch nicht! – Adieu, meine Herren! Gehen Sie nicht zum Krocket in den Garten?  Agathe kommt von der Terrasse herein. Sabine zu Agathe, die sie sogleich bemerkt.) Tante Emilie wartet auf dich. – Übrigens sag mal: ich suche mein Konfirmationskreuzchen! Hast du es nicht zu Gesicht gekriegt?

Agathe. Lux hat es zuletzt gehabt. Sie wollte es, glaube ich, Otto zeigen.

Sabine. Otto? Das Kreuzchen? Was heißt denn das?

Agathe. Vielleicht interessiert's ihn: er bildhauert doch.

Sabine. Da muß ich doch gleich mal nach Otto sehen.

Kozakiewicz (mit der merklichen Absicht, Agathe und Grünwald allein zu lassen). Mein gnädiges Fräulein, ich schließe mich an. Ihr kleiner Schwager ist manchmal köstlich! (Er und Sabine mit Gelächter über die Terrasse ab.)

Agathe (mit einer gewissen Hilflosigkeit). Sabine, noch einen Augenblick . . .!

Grünwald hat sich, sobald Agathe eingetreten ist, mit Ehrerbietung erhoben. Sein Gesicht hat sich tief verfärbt. Jetzt geht er mit einem Entschluß auf sie zu, begegnet einem kalten, abweisenden Blick, bleibt stehen, erwidert ihn mit Festigkeit und beugt alsdann demütig den Nacken.

Agathe. Was verschafft mir die Ehre, Herr Doktor? –

Grünwald. Ich kann nicht mehr! Ich wünsche aus Ihrem Munde mein Urteil zu hören – so oder so!

Agathe. – Ich begreife Sie nicht . . .!

Grünwald. Ich begreife mich selbst nicht, Fräulein Agathe! Aber ich möchte Sie bitten, die Zeit meiner schrecklichen Marter abzukürzen durch ein Wort.

Agathe. Ich martere Sie nicht und kann Ihre Marter auch also nicht abkürzen. Ich verstehe Sie nicht.

Grünwald. Doch Sie haben mich früher einmal verstanden.

Agathe. Ja, was früher einmal gewesen ist, weiß ich nicht.

Grünwald. Es scheint! Aber dürfte ich wohl versuchen, es Ihnen zurückzurufen?

Agathe. Nein! Denn ich habe genug mit meinem bißchen gegenwärtiger Existenz zu tun.

Grünwald. Sie sind also demnach nicht ganz zufrieden mit Ihrer gegenwärtigen Existenz?

Agathe. O doch! Sogar sehr! Wer sagt Ihnen das?

Grünwald. Ich hatte es aus der Äußerung, die Sie soeben taten, leider irrtümlicherweise geschlossen.

Agathe. Da irren Sie sich.

Grünwald. Es scheint so zu sein.

Agathe. Ich bedaure. Ich werde Sie jetzt allein lassen müssen. Ich . . .

Grünwald. O ja. Sie lassen mich sehr allein.

Agathe. Der eine gestern, der andre heut. Ein jeder kommt an die Reihe, Herr Doktor. Das ist der natürliche Lauf der Welt.

Grünwald. Mir scheint es vielmehr furchtbar unnatürlich.

Agathe (achselzuckend). Wir ändern den Lauf der Welt aber nicht.

Grünwald. Fräulein Agathe, bevor Sie gehen, bevor die Gelegenheit verfliegt, die vielleicht niemals wiederkommt, darf ich etwas zu meiner Entschuldigung sagen.

Agathe. Sie bedürfen keiner Entschuldigung.

Grünwald. Vielleicht nicht, und doch möchte ich mich entschuldigen.

Agathe. Herr Doktor, solche Gespräche quälen uns nur; sie helfen uns nicht! Wir wollen sie kurz und bündig abbrechen.

Grünwald. Das sagen Sie nicht im Hinblick auf mich. Ich will keine Redensarten machen. Ich . . . schon Ihre bloße Gegenwart! . . . ich muß mich noch einmal vor Ihnen aussprechen.

Agathe. Herr Doktor, man lebt auch ohne das! Man bildet sich freilich manchmal ein – wenn einsame Stunden kein Ende nehmen – und man alles so in sich selber verzehrt . . . wenn das und jenes Schlimme passiert: Todesfälle, Gram und dergleichen! Hoffen und Harren monatelang, wo man törichterweise Vertrauen gehabt hat! Aber schließlich: man kämpft es durch, und es geht.

Grünwald. Ihr Herr Vater hatte zu mir gesagt: Was können Sie meiner Tochter bieten?

Agathe. Ich hatte das nicht zu Ihnen gesagt. Doch lassen wir das, was Papa gesagt hat. Papa ist begraben und alles das! und das Tote läßt sich nicht wieder aufwecken.

Grünwald. Ihr Papa hatte meinen Stolz berührt.

Agathe. Nun, Herr Doktor, der meine ist auch gedemütigt. Bedenken Sie, was eine Stunde Warten heißt. Mein Vater starb: das war mir sehr schmerzlich; doch die Zeit war da, und die Bahn war frei! Und man hätte beinahe im Schmerze gejauchzt! – Nun was? Man stand verschmäht und getäuscht und hörte es um sich tuscheln und kichern.

Grünwald (vertritt der Flüchtenden den Weg). Agathe, noch einen Augenblick. Mit leeren Händen konnt' ich nicht kommen.

Agathe. Nun, und was haben Sie jetzt für mich in der Hand?

Grünwald. Allerdings, so wenig wie damals, nichts.

Agathe. Wir haben beide ins Leere gegriffen! (Sie geht schnell ab und läßt ihn stehen.)

Grünwald starrt die Tür an, durch die Agathe verschwunden ist. Er kann nicht widerstehen: er muß die Klinke küssen, die sie berührt hat.

Kozakiewicz (kommt vorsichtig wieder von der Terrasse). Es ist nicht sehr taktvoll, mein guter Junge. Aber du schreibst es meiner Freundschaft zugute, wenn ich dich frage, wie es steht.

Grünwald. Mensch, es ist etwas über mich hingeflogen, ich weiß nicht was! – Trotzdem ich traurig sein müßte.

Kozakiewicz. Nun also, mein Lieber, dann sei vergnügt!

Grünwald. Das geht allerdings nicht! Das wäre verfrüht! Jedenfalls war ich vollkommen wahnsinnig, als ich dieses Geschöpf verließ! Wer einen solchen köstlichen Schatz aus den Augen läßt, der ist einfach nicht wert, ihn zu besitzen.

Kozakiewicz. Ihr seid also jedenfalls im Kontakt.

Grünwald. Junge, ich könnte auf meinen Händen dreimal herum im Zimmer laufen! Hier, meine Ohren haben den Klang ihrer Stimme in sich gesaugt! Wir haben uns Auge in Auge geschaut! Ich habe in ihren den Trotz, den Vorwurf, die Bitterkeit, die Träne und noch etwas anderes wiedergesehen, was vielleicht noch nicht erloschen ist.

Kozakiewicz. Ein glückliches deutsches Sprichwort sagt: »Wer Feuers bedarf, suche es in der Asche.«

Grünwald. Was nun? Was nun? Was nun? Was nun?

Kozakiewicz. Mein Lieber, du siehst mir aus, als könntest du jetzt mit Glück deine Tonart wechseln.

Grünwald. Eigentlich hast du aufrichtig recht. Mir ist, als müßt' ich jetzt augenblicklich und unverzüglich die ganze zünftige Wissenschaft, die ganze zünftige Klerisei, sämtliche Oberlehrer der ganzen Welt zum Kampfe auf Leben und Tod herausfordern. Aber heiter, sage ich dir, mit Genuß! Hab' ich nicht irgendein ganz besondres Steckenpferd?

Kozakiewicz. Du bist ein verbohrter Idealist und kannst alle zwei Stunden ein anderes reiten.

Auf der Terrasse sind erschienen: Nast, Sabine, Ludowike, Herr Ruschewey und Otto. Otto und Sabine betreten zuerst das Zimmer.

Sabine. Also, du weißt, wo das Kreuzchen ist?

Otto(hochrot und erregt). Ich verspreche dir hier auf Ehrenwort, du sollst dein Kreuzchen wiederhaben, wenn du drei Tage lang niemand, aber auch niemand, danach fragst.

Ludowike(hinzutretend). Um Gottes willen sei still, Sabine!

Sabine. Was habt ihr denn wieder für Dummheiten vor?

Ludowike hält Sabine leidenschaftlich den Mund zu, da soeben Nast mit den andern das Zimmer betritt.

Nast. Es ist durchaus notwendig, sage ich euch, daß die Vorführung einen würdigen, ernsten Charakter hat.

Ludowike. Im Gegenteil: einen heiteren.

Nast. Ich werde mich nicht beirren lassen, wenn auch die Jugend in ihrer Unbedachtsamkeit andrer Meinung ist. Ich bin auch aus diesem Grunde bereits von meinem früheren Plan mit dem Palmesel abgekommen.

Ludowike. Sollen wir flennen am Polterabend?

Nast. Nein. Das werden wir nicht, mein Kind: denn ein Polterabend wird gar nicht stattfinden!

Ludowike. Warum nicht? Das wird sich erst finden, Herr Nast. (Leise zu Otto.) Er ist nur so dreist, weil Tante hier ist.

Otto (laut.) Darüber entscheidet ihr doch allein?!

Nast. Da bist du durchaus im Irrtum, Otto. In solchen Fragen der guten Sitte entscheidet der kategorische Imperativ. – Morgen bereits kommt der Konsistorialrat! Unter den übrigen Gästen werden vier oder fünf von einem streng kirchlichen Geiste sein: die kann man unmöglich vor den Kopf stoßen! Sabine, du gibst mir sicherlich recht?

Sabine. Der Leute wegen vielleicht, wie du sagst. Sonst würde ich mir keine Skrupel machen, am Polterabend im Sinne Papas recht vergnügt zu sein.

Nast. Damit würdest du aber furchtbar anstoßen; denn der Abend träfe ja fast auf den Todestag.

Ludowike. Onkel, was hat Papa noch kaum zwei Stunden vor seinem Tode gesagt, als er uns in den Weinberg geschickt hatte?

Ruschewey. Er wollte wohl Trauben haben, was?

Ludowike. Und wir sollten die Terzerole losknallen. Was hat er denn da beim Champagner zu dir gesagt?

Ruschewey. »Fröhlich gelebt und selig gestorben!« Aber laßt mich mit diesen Geschichten in Ruh'! Fragt Tante Emilie; ich bin nicht mehr maßgebend. Ich habe inzwischen mein Fett gekriegt.

Ludowike. Demnach wird wohl auch Tanzen verboten sein?

Nast. Kann jemand in diesem ganzen Kreis über die einzig mögliche Antwort im Zweifel sein?

Grünwald. Gewisse Völker trauern in Weiß und tanzen.

Ludowike. Dann trügen Sie also Trauer, Herr Doktor . . .?!

Kozakiewicz. Oh, um wie weniges tiefer liegen die Toten als wir.

Nast. Was Sie damit auszudrücken belieben, verstehe ich nicht.

Kozakiewicz. Es ist auch nur ahnungsweise verständlich.

Nast. Jedenfalls ändert es nichts an der Tatsache, daß wir die Würde dieses Hauses unter jeder Bedingung zu wahren gehalten sind.

Kozakiewicz. Und das werden Sie also tun, Herr Oberlehrer, indem Sie zur Feier des Polterabends eine Tragödie verfassen!?

Nast. Wer behauptet das? In der Tat habe ich etwas aufgeschrieben, und natürlich etwas im klassischen Geist; aber . . .

Kozakiewicz. Traurig, meinen Sie, wäre es nicht?

Nast (irritiert). Wieso? Was heißt das? Ernst! nicht traurig.

Grünwald. Dann brauchen die Damen die Hoffnung auf einen heiteren Tag vielleicht noch nicht aufzugeben.

Nast. Ich kann über diese Bemerkung hinwegsehen, denn ich glaube den Boden zu kennen, auf dem sie gewachsen ist.

Kozakiewicz. Bravo! Es ist nur Poetenneid. Er selber besteigt oft den Pegasus . . .

Nast. Das könnt' ich nur guten Reitern anraten.

Kozakiewicz. Oh, wir haben drei Dichter in unserem Kreis, der alte Dionysos regt sich im Weinberg.

Nast. Wo wäre der dritte? Ich sehe ihn nicht.

Kozakiewicz. Wir könnten sogleich ein Turnier veranstalten. Es käme darauf an, wer am festesten sitzt.

Nast. Ihr Humor, meine Herren, berührt mich nicht. Mein Vater war Gymnasialdirektor, in der Sonne Homers bin ich großgewachsen. Ich lese meinen Horaz im Schlaf. Im Metrischen und Prosodischen finde ich so leicht meinen Meister nicht, und ich brauche ja schließlich nur noch hinzuzusetzen, daß der selige Minckwitz mein Lehrer gewesen ist.

Otto. Ein Gedichtband des alten Minckwitz soll doch mal in die Pleiße gefallen sein.

Nast. Pardon?

Otto. Davon kam doch in Leipzig das große Fischsterben.

Nast. Fliege nicht eher, mein Sohn, als bis dir die Federn gewachsen sind! Du wärest ein Früchtchen für den Karzer! (Alle, Nast ausgenommen, lachen herzlich.)

Grünwald (anscheinend mit Freiheit). Spricht es eigentlich sehr für unser modernes Erziehungssystem, daß zwischen Lehrern und Schülern, und überhaupt jungen Leuten, meist eine natürliche Feindschaft besteht?

Kozakiewicz. Nein, eigentlich nicht.

Grünwald. Und besonders wird mir das immer recht unverständlich, wenn ich, wie eben, behaupten höre, daß die Sonne Homers in die Gymnasien scheint.

Nast. Wollen Sie Kontroversen vom Zaun brechen? Mir kann es gleich sein; ich bin bereit.

Sabine. Lux, nun wird es spannend; komm!

Grünwald (unbeirrt, nicht schroff, eher übermütig). Mir tun die Deutschen eigentlich leid mit ihrem verknöcherten sogenannten Gymnasial-Erziehungswesen. Das humanistische Schulhaus spottet seiner selbst schon von außen. Man begreift nicht, daß es die sonderbare, nüchterne Termite in diesen Bauten ist, die vorgibt, das Schöne zu bewahren und zu verteidigen.

Nast. Für Phantastik sind wir allerdings nicht. Damit hätten Sie etwas sehr Wahres gesprochen. Was die übrigen Monstrositäten betrifft, so erspare ich mir die Erwiderung. Die deutsche Schule ist musterhaft! Musterhaft, sage ich: das ist eine Tatsache. Und wer etwas anderes behaupten wollte, verfiele, in Konsequenz seiner Torheit, ganz einfach dem Fluche der Lächerlichkeit.

Grünwald. Ich fürchte vielmehr einen anderen Fluch! Es ist der Fluch der zahllosen Korrektionshäuser, die man höhere Schulen nennt: dieser Fluch zehrt am nationalen Stolz, an der nationalen Kraft, Schönheit und Heiterkeit. Dieser Fluch zehrt am nationalen Charakter! Es ist nicht wahr, daß die Form der alten Gymnasien mit ihren Bädern, Säulengängen, Palästren und Gärten undurchführbar ist! Die Schule darf froh, heiter und überschäumend von Glück und von Leben sein! Sie muß widerhallen von heiligem Saitenspiel, frohem Tanz und Gesang.

Nast. Nun, so tanzt doch und singt, meine guten Mädchen! Das wird ja ein reizender Kehraus sein! In der Palästra gingen die Jünglinge nackt! Sollen wir vielleicht auch nackt gehen? Diese Herren hier haben seltsame Ansichten! Und diese Ansichten werden mit einer Art Selbstberauschung geltend gemacht! An großen Worten berauscht man sich, wie es eigentlich nur den ersten Semestern erlaubt ist. Man gerät in die Marquis-Posa-Ekstase. Man deklamiert in die Welt hinaus! – Ich habe mit alledem nichts zu tun! Was sollten mir auch solche Überspanntheiten! Ich stehe ganz schlicht auf meinem Beruf, und es mag sich am Ende wohl noch herausstellen, wer dem Vaterland bessere Dienste leistet: der Unbehauste, der Abenteurer oder einer, der still und ernst im heimischen Kreise unentwegt seine Pflichten tut.

Grünwald. Wenn ich jemals das Glück haben sollte, Vater eines gesunden, wohlgebildeten Jungen zu sein . . . (Alle, außer Nast, brechen in herzliches Lachen aus.)

Ruschewey. Doktorchen, Doktorchen, nicht so hitzig!

Grünwald. Ich sage nochmals: Wenn ich jemals diese wahrhafte Freude erleben sollte, so würde ich, was an mir liegt, dafür sorgen, daß er weder eine schiefe große Zehe bekommt noch ein schiefes Maul, noch mit dem rechten Auge die Pfennige in der linken Westentasche zählt, noch im Dunkeln sich besser und wohler fühlt als im Tageslicht, noch daß er sich beim Geradeaufrichten das Rückgrat lädiert. Ich will dafür sorgen, daß er auf eine Weise lachen lernt, daß davon alle Vogelscheuchen auf den Kathedern das Schlottern kriegen und mit einem Kopfsprung in die verdienten Katakomben hinabfahren. (Ab.)

Wieder stimmen alle, außer Nast, in ein herzhaftes Gelächter ein. In diesem Augenblick kommt Tante Emilie, ein kleines, unansehnliches, vertrocknetes Frauchen in Kapotthut und Umschlagetuch, durch die Tür rechts. Sofort bricht das Lachen ab, und es entsteht eine allgemeine Pause der Betretenheit.

Tante Emilie. Hoffentlich habe ich nicht gestört!

Nast. Nein, liebe Tante. Diese Störung kann uns allen, fast ohne Ausnahme, nur höchst willkommen sein.

Tante Emilie. Mein lieber Ewald, errege dich nicht.

Ruschewey. Nein. Darum bitte ich ebenfalls. Man kann doch verschiedener Meinung sein, und jeder kann seine Meinung vertreten; und man braucht deshalb lange noch nicht zum Duell schreiten.

Tante Emilie. Duell. Guter Gustav, was heißt denn das?

Ludowike und Otto platzen angesichts des blassen Schrecks, der die Tante ergriffen hat, heraus und laufen davon über die Terrasse.

Nast. Nein, beste Tante, du kennst meine Grundsätze; mißverstehe nur ja den Onkel nicht! Und auch meine Erregung mußt du nicht falsch deuten: ich befinde mich kühl bis ans Herz hinan.

Tante Emilie. Sabine, ich sehe dich immer an, und ich frage mich immer nach deinen Gedanken.

Sabine. Ja, meine Gedanken verrat' ich nicht.

Kozakiewicz (tritt vor die Tante, macht eine Verbeugung). Gnädige Frau! – (Er entfernt sich.)

Sabine. Wenn du fortgehst, geliebtes Tantchen, so schneide ich schnell noch Weintrauben ab, und ich warte unten am Tor mit dem Körbchen.

Tante Emilie. Gustav, bemüh dich nur auch nicht weiter um mich; Agathchen wird mich hinunterbegleiten.

Sabine entfernt sich zuerst; danach Ruschewey mit phlegmatischem Achselzucken.

Nast. Torpid! total torpid ist der Onkel. Und was mich anbelangt . . . es ist meine Schuld . . . wer heißt mich, daß ich mich überhaupt auf solche unerquicklichen Kämpfe einlasse! Erste Familien rissen sich förmlich um mich! Die höchst distinguierte Witwe aus Ulm! . . . bemittelte Damen aus allen Schichten! Offne Türen . . . ein Mann wie ich . . . überall! . . .

Tante Emilie. Waldchen, Waldchen, beruhige dich! Agathe wird so verblendet nicht sein und wird einen Menschen von deiner Bedeutung dem ersten besten Landfahrer aufopfern.

Nast. Du hast mich hineingetrieben, nun hilf! Ich rühre nun keinen Finger weiter. (Er eilt ab in den Garten.)

Agathe kommt, einen großen Strohhut mit Bändern am Arm.

Tante Emilie. Da bist du ja endlich, mein armes Täubchen! Nun, gehen wir also; ich bin bereit. – Ich hatte mich recht danach gesehnt, euch alle noch mal zu sehn und zu sprechen: denn wer weiß wie lange, dann seid ihr in alle Winde verstreut.

Agathe. Ach, Tantchen, ich denke nicht gern daran. Es ist, als würde man heimatlos, wenn man diese Scholle mal aufgeben müßte.

Tante Emilie (mit erlogener Scherzhaftigkeit). Und doch wolltest du selbst in die Fremde gehn, wie du mir mal in deiner Krankheit gestanden hast. (Agathe zerpflückt eine Rose, die sie aus einem Stengelglase genommen hat.) Wie fühlst du dich denn gesundheitlich?

Agathe. Ich bin so gesund wie der Fisch im Wasser.

Tante Emilie. Dazu siehst du mir noch nicht frisch genug aus.

Agathe. Für sein Aussehen, Tantchen, kann einer nicht.

Tante Emilie. Nun, mir ist der Brautstand auch nicht bekommen! Und vor acht Wochen lagst du noch in der Klinik! Dann bloß vierzehn Tage Thüringer Wald und seitdem immer Gäste und häusliche Aufregungen; das ist ein bißchen viel.

Agathe. Allerdings.

Tante Emilie. Wie wäre denn das, mein gutes Kind: es ist ja freilich sehr einfach bei mir; aber wenn ich dir nun, wie es in deiner Krankheit war, das idyllische Giebelzimmer einräumte – du hast es doch, wie du sagst, sehr geliebt! – und du umgingst diesen ganzen Trubel und lebtest mit mir in meinem Gehäuse!?

Agathe (mit schreckhafter Entschlossenheit). O nein, gutes Tantchen, das kann ich nicht!

Tante Emilie. Wie du willst, aber eigentlich tut es mir leid. – Warum geht es denn nicht?

Agathe. Aus manchen Gründen. Und sieh mal, mir schnürt sich was um die Brust, bei allem, was mich an meine Krankheit erinnert.

Tante Emilie. Ich kann dir das Zimmerchen unten einrichten, wo du nur zwei Schritt in das Gärtchen hast.

Agathe. Ich tu' es auch Adelheid nicht an.

Tante Emilie. Liebes Kindchen, ich rede offen zu dir: Ewald nimmt eine Stellung ein. Die Verhältnisse haben sich so gestaltet, daß seine Beziehungen zum Bischofsberg drüben ein öffentliches Geheimnis sind. Ewald lebt unter seinen Kollegen. Nun wohnen seit einigen Tagen zwei junge Leute drüben im Roß, die halbe Nächte beim Weine versitzen! es heißt, daß der Champagner in Strömen fließt! Sie wandern täglich hinaus zu euch! Tatsache ist, man munkelt bereits! Ändert sich nun dieser Zustand nicht, so kann es, vielleicht ohne Absicht, geschehen, daß man Ewald auf seinem sauer erworbenen Platz, in seinem Berufs- und Heimatkreise, lächerlich macht. Und so wirst du ihm, wie ich dich kenne, Agathe, seine Aufopferung unmöglich danken.

Agathe. Gewiß nicht. Aber das kann ich nicht. Ich . . .

Tante Emilie. Sehen wir meinetwegen von dem augenblicklichen Ortswechsel einmal ab. Deine Rücksichten zwar verstehe ich nicht: denn wer hat sich von deinen Geschwistern um dich gekümmert, solange du krank gewesen bist! – Der Zustand, in dem du damals warst! Die Unzuverlässigkeit dieses Grünwald, die dein Leiden zum größten Teil mit verursacht hat! Ewalds zartes und taktvolles Eintreten – täglich hat er dir Blumen und Bücher gebracht! – Deine Wiedergenesung! Dein Entschluß! Das alles müßte dir doch die Kraft eingeben – und nicht nur die Kraft, den Stolz obendrein! –, nun in deinem Verhalten nicht mehr zu schwanken und in deiner Zurückweisung fest zu sein.

Agathe (leise). Das bin ich ja doch, gute Tante Emilie.

Tante Emilie. Was will dieser Mensch noch in eurem Haus?! – Im Grunde glaub' ich ja fest an dich. Bleib hier. Es ist gut. Begleite mich nicht! Ewald hat keine Ahnung, daß ich etwa mit dir sprechen wollte. Ich weiß, er würde mich bitter ausschelten.

Sie geht ab. Agathe blickt ihr nach und nickt ihr, anscheinend freundlich, zum Abschiede zu. Alsdann wendet sie sich, und man gewahrt am Zucken ihrer Mundwinkel, daß sie mit einer inneren Bewegung ringt. So tritt sie vor das Bild ihrer Mutter und blickt zu ihm hinauf, still weinend, das Taschentuch zusammengeballt an den Mund pressend.

Nun kommt aus der Tür rechts Ludowike.

Ludowike. Agathe, du bist alleine hier?

Agathe. Jawohl, und ich bin auch am liebsten allein.

Ludowike bemerkt Agathens Ergriffenheit, wird davon angesteckt und ergreift ihre Hand.

Ludowike. Schütte mir doch mal dein Herz aus, Agathe!

(Agathe fängt an leise zu weinen; Ludowike am Tisch ebenfalls.)

Adelheid (kommt hereingestürzt). Hurra, Kinder! In fünfzehn Minuten kommt mein Schatz! (Sie stutzt, betrachtet die in Rührung Aufgelösten, wird selbst gerührt, fährt Agathen über den Scheitel und sagt.) Ach, gutes, geliebtes Menschenkind, was machst du dir so viel unnötige Herzschmerzen! (Worauf Agathe heftiger schluchzt, Adelheid, mit fortgerissen, ebenfalls, indem sie sich, die Schwester an sich drückend, auf dem gleichen Stuhl niederläßt. Sabine kommt mit einem Korb Weintrauben.)

Sabine. Ist Tante schon fort? – Ihr seid wohl nicht recht bei Troste, ihr Kinder! – Aber, liebe Agathe, beruhige dich doch! Es ist ja im Grunde noch gar nichts verloren.

Agathe (schluchzend). Es ist ja gar nichts! . . . Mir ist ja nichts.

Sabine (weinend). Du hast ja noch alles in der Hand. Du . . . (Sie umarmt Agathe, und alle drei schluchzen zusammen.)

Agathe. Schickt . . . schickt doch die beiden Fremden fort!

Sabine. Es wird sich ja alles von selber ausgleichen.

Herr Ruschewey tritt ein, eine Moselweinflasche unterm Arm, ein Glas und eine Zeitung in der Hand.

Ruschewey. Gott sei Dank! Die Stimme des Herrn ist verstummt! Das böse Gewissen ist außerhalb. Ich habe das Tor ins Schloß fallen sehen! (Er sieht die Weinenden.) Nanu?! – Was ist das denn für eine Bescherung? Kinder! Die Saale tritt ja aus! Schwerebrett nich noch mal, wir kriegen ja Hochwasser! (Die Gerührten stieben nach allen Seiten auseinander, so daß Ruschewey allein im Zimmer ist.)


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