Gerhart Hauptmann
Im Wirbel der Berufung
Gerhart Hauptmann

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Drittes Buch

Das warme Sommerwetter hielt an. Nachdem die Ophelia-Frage durch Erasmus gelöst worden war, konnte die Arrangierprobe stattfinden, und man trat aus dem Bereiche der Vorbereitungsarbeiten in das der eigentlich künstlerischen. Sosehr Erasmus auch aus verschiedenen Gründen sich gegen die Anteilnahme des Hofes an den Proben, besonders in diesen Anfangsstadien, erklärt hatte, konnte er doch nicht hindern, daß bald dieses, bald jenes Mitglied der Hofgesellschaft den Kopf hereinsteckte. So hatte sich eines Tages Prinzessin Mafalda, eine ältere Base des Fürsten, im Dunkel einer Proszeniumsloge bemerklich gemacht. Als Erasmus, seinen Augen nicht trauend, eine graue Meerkatze, ein schlankes und edles langschwänziges Tier, sowohl auf der Brüstung als in den Vorhängen sein Spiel treiben sah, erzählte man ihm von Mafaldas zoologischer Leidenschaft. In ihrem kleinen Privatpalais war sie von allerhand Tieren umgeben. Von einem Dutzend Bologneser Hündchen abgesehen, waren es Zibetkatzen, Meerschweinchen, Affen und Halbaffen, ja ihre Tierliebe ging so weit, daß sie sich einen Orang-Utan aus Filz hatte anfertigen lassen.

Man erzählte von ihr eine mutige Tat vermöge der Macht, die sie, so hieß es, über Tiere ausübte. Der Kapitalhirsch Sultan im Wildgatter, der den Hirschkühen seines Harems so viel wie sie ihm Ehre machte, hatte sich einmal in eine Menschin, will sagen eine Magd, verliebt, die innerhalb der Umzäunung Gras mähte. Seine Zudringlichkeiten steigerten sich, und sie mußte sich über das Gatter zurückziehen. Sultan aber war in der Brunft. Es gelang ihm, wenn auch mit Müh und Not, ebenfalls über das Gatter hinwegzukommen. Mit seltsam wackelndem Kopf kam er in langsamem Trab ihr nach. Sie schritt zwar aus, aber fühlte, sie dürfe nicht rennen, falls er sich nicht in Galopp setzen sollte. Immerhin kam er ihr näher und näher, so daß sie schließlich den Entschluß faßte, Schutz zu suchen, und zwar hinter einer der stärksten Eichen im Park. Flucht und Verfolgung drehten sich um den glücklicherweise sehr umfangreichen Eichenstamm, als Prinzessin Mafalda vom Fenster aus den gefährlichen Vorgang bemerkte. Sie erschien sogleich, die Reitpeitsche in der einen, Zucker in der andern Hand, so furchtlos den Haremsgewaltigen angehend. Ein Schlag auf die Schnute mit der Reitpeitsche machte ihn aufmerksam. Er gedachte des Zuckers, den die Dame alltäglich für ihn bereit hatte, und vergaß seine Liebesleidenschaft. Die Magd war fort, als er zur Besinnung kam, und mit Zucker und Reitpeitsche ließ sich Sultan ganz gemütlich ins Gatter zurückführen.

Prinzessin Mafalda galt als überaus klug – sie beherrschte die europäischen Hauptsprachen –, belesen bis zur Gelehrsamkeit und in bemerkenswertem Maße kunstsinnig.

Prinzessin Mafalda störte nicht, um so mehr aber Oberhofmeister Bourtier, dessen amusische Gegenwart Erasmus ein ständiger Ärger war und den Gedanken nahelegte, es müsse im Schlosse recht wenig für ihn zu tun geben. Es fehlte diesem Hofmanne keine von jenen Eigenschaften, die auf die meisten Eindruck machen. Er trug sich, was selbstverständlich ist, mit ausgesuchter Sauberkeit – morgens erschien er meist mit grauem Zylinder und grauem Rock, grauen Gamaschen und grauen Handschuhen. Zwar, sein gescheiteltes Haar war semmelblond, seine Augen wässerig-hell und nichtssagend, aber er war ein großgewachsener stattlicher Mann und hatte, mit seinem Monokel im Auge, was Eigendünkel und Hochmut betraf, in Granitz gewiß nicht seinesgleichen.

Was einen Menschen dieser Art mit dem Theater verbindet, ist klar und war im gegebenen Fall auf der Hand liegend. Noch klangen Erasmus jene Worte im Ohr, die Bourtier während der Teestunde Syrowatkys gesprochen hatte: »Ah, da ist auch die Perle im Golde unsres Theaters, zugleich die schönste Blume der fürstlichen Orangerie am Zirkusplatz, Mademoiselle Irina Bell.« Sooft aber der fade Geselle den Zuschauerraum betrat und Erasmus an diese Worte dachte, mußte er sich am Regiepult festhalten, um die Eifersucht niederzuringen, die ihm fast die Besinnung nahm und ihn zu nicht wiedergutzumachenden heftigen Ausfällen gegen den Eindringling fortreißen wollte.

Zwar erklärte Irina, sie mache sich nichts aus ihm. Sie lehnte ihn ab mit den despektierlichsten Ausdrücken; andrerseits aber, und zwar nach ihrem eigenen Bekenntnis, war sie in puncto puncti hemmungslos. Auch wußte man, Bourtier besuchte sie öfter zur Teestunde, wobei allerdings, wie es hieß, ihre Mutter zugegen war. Erasmus konnte, nun einmal in Liebe zu dieser kleinen Magdalene entbrannt, keinen Frieden finden, sooft ihm der Oberhofmeister leibhaftig oder im Geiste vor Augen stand.

Eines Tages hatte sich auch Prinzessin Ditta eingefunden. Erasmus bemerkte sie von der Bühne aus. Er fühlte genau, daß seine Worte und seine Bewegungen von dem blonden Apoll mit gespanntester Aufmerksamkeit verfolgt wurden. Das beengte ihn nicht, es beflügelte ihn. Überhaupt waren diese Vormittagsproben, in die das Licht und die Wärme des Sommers, der Duft und Vogelgesang des Parkes eindrangen, im Anfang ein reiner Genuß für alle Beteiligten. Sie entfalteten sich in heiterster Ungezwungenheit. Die unbeschäftigten Darsteller warteten ohne Ungeduld, in fröhliche Shakespeare- und Hamlet-Debatten verwickelt, unter den grünen Wipfeln im Garten des »Felsenkellers«, die Beschäftigten einigten sich, die Rolle oder das Buch in der Hand, währenddessen auf der Bühne freundschaftlich mit dem jungen Regisseur. Die Stellungen wurden festgelegt, gewisse Bewegungen vorgeschrieben und ausgeführt, hie und da eine Szene angedeutet, wohl auch, wie unter der Macht einer plötzlichen Eingebung, über Erwarten gut gespielt.

Der Garten des »Felsenkellers« erlebte zweifellos seine große Zeit. Die dort unwillkürlich in den Zwischenakten und nach der Probe sich ergebende Geselligkeit muß als einer der glücklichsten Zufälle betrachtet werden. Durch Kandidat Luckner und seine Greifswalder Studiosen waren die geistigen Horizonte des Schauspielerkreises erweitert worden. Adalbert Luckner selbst war ein begeisterungsfähiger junger Mensch, der Schiller verehrte und für eine Art Marquis Posa gelten konnte. Fast tägliche Gäste waren sowohl der Maler, Freiherr von Cramm, als Doktor Ollantag. Einmal, zu allgemeiner Freude, hatte sogar der Fürst, von Prinzessin Ditta begleitet, geruht, seinen Rollstuhl zwischen die Tafelrunden des Dauerfrühschoppens stoßen zu lassen, was Adalbert Luckner Gelegenheit gab, seine glänzende Sprachgewandtheit zu offenbaren. Von Georgi und anderen heimlich veranlaßt, feierte er den Fürsten als Menschenfreund und großen Mäzen und tat das in freier Rede so hinreißend, daß eine jähe Begeisterung aller, inbegriffen den Fürsten, den jungen Erasmus fast nicht mehr sah und die echte Offenbarung des Genies nicht in ihm, sondern in Adalbert Luckner erkennen wollte.

Es bleibt ungewiß, ob in diesem Vorgang der Keim für ein späteres unangenehmes Ereignis enthalten gewesen ist, das Erasmus beinahe von seiner Höhe gestürzt hätte. Unbedingt aber war es Wasser auf die Mühle einer leider immer noch vorhandenen heimlichen Gegnerschaft. Sie wurde von dem mißvergnügten Laertes geführt, der sich nur scheinbar unterworfen hatte und mit zur Schau getragener Teilnahmlosigkeit den Text seiner Rolle herunterleierte. Ob dem Kandidaten Adalbert Luckner sein Erfolg zu Kopf gestiegen war? Jedenfalls war sein Betragen von da an weniger zurückhaltend. Er breitete sich über allerlei allgemeinliterarische und Theaterfragen aus, mitunter auch während der Probe im Parkett und einmal so laut, daß ihn Erasmus energisch zur Ruhe verweisen mußte. Auch was seine Rolle betraf, den Rosenkranz, gab es bereits während der ersten Probe zwischen Luckner und Gotter Unstimmigkeiten. Der gut gewachsene, von sich selbst überzeugte junge Germanist gedachte die Rolle, die sein brillantes Gedächtnis textlich vollkommen innehatte, fertig aus dem Ärmel zu schütteln. Es gibt auch einen so gearteten Schauspielertyp, der dem Regisseur meistens weit größere Mühe macht als jener, der den Text auf der Probe erst kennenlernt. Es kostet unendliche Mühe, das eigensinnige, eitle und selbstische Zeug von der beschmierten Tafel zu tilgen, bis man die dem Ganzen angemessenen Farben und Linien daraufsetzen kann. Erasmus, mit dem Instinkte des Bühnenmannes, erkannte sogleich diese Zwangslage. Sein an der Arbeit entzündetes Temperament zögerte nicht einen Augenblick, die nötige Operation gründlich und schnell durchzuführen. Die Verblüffung, ja Bestürzung des Kandidaten war grenzenlos, da er ebendiese Verblüffung und Bestürzung, in die er Erasmus zu versetzen gedacht hatte, bei ihm nicht in Erscheinung treten sah und statt dessen mit einer kalten Dusche bedacht wurde:

»Sachte, sachte, Herr Kandidat! Sie sind nämlich nicht allein auf der Bühne. Wäre das Stück eine komplizierte Maschine, wie es eine komplizierte Dichtung ist, so müßten Sie sich als ein Rad unter Rädern empfinden. Wir inkarnieren hier sozusagen eine sehr verwickelte Phantasmagorie. Sie realisiert sich nach und nach, aus ein und derselben Grundfläche wachsend, in allen Teilen gleichmäßig. Oder, werden beim Bau eines Hauses die Fundamente gelegt, so kann man unmöglich darin schon treppauf, treppab laufen oder im zweiten Stock Tee trinken. Außer der Bauführer ist verrückt, sonst wird er gewiß nicht Hausmädchen engagieren, um die Türklinken putzen zu lassen.«

Luckner starrte ihn an: »Ich verstehe Sie nicht.«

»Sie gebärden sich fertig, Herr Luckner, und, glauben Sie mir, existieren noch nicht. Sie erhalten Ihr Leben sowohl als den ihm zugemessenen Lebensraum erst durch die Ökonomie des Ganzen. Erst in Gegenwart der Königin Gertrud und des Königs Claudius, in Gegenwart Hamlets und der anderen Gestalten fängt Ihr Puls räumlich und zeitlich richtig zu schlagen an. Vor allen Dingen sind Sie eine Einheit mit Güldenstern und können gewiß ohne ihn nicht das kleinste Wort äußern.«

Mochte nun Adalbert Luckner durch die Worte des Spielleiters überzeugt sein oder nicht, jedenfalls war er verletzt, ja beleidigt und schloß sich mehr und mehr dem Kreise der Mißvergnügten an.

Eine ernsthafte Störung erlitt indessen die schöne Gesamtunternehmung durch diese und ähnliche Zufälle nicht. Sie nahmen ihr nicht den Charakter einer sommerlich-herrlichen Lustbarkeit.

Erasmussens innere Zustände kannte man nicht: im Umkreis des Theaters, in der Hingabe an seine Aufgabe pulsierte auch durch ihn die allgemeine sommerlich-festliche Fröhlichkeit. Nicht einmal der wachsende Ehrgeiz Adalbert Luckners konnte ihm mehr als die Haut ritzen: als dieser nämlich unter großem Zulauf im »Fürstenhof« einen von Rektor Trautvetter als glänzend bezeichneten Vortrag über Hamlet hielt. Unvorbereitet, mit einer verblüffenden Verve, berichtete Ollantag, aber freilich auch mit einer Häufung aller gelehrten Gemeinplätze, die über das Werk im Schwange sind.

 

Wenn auch mehr als früher im »Fürstenhof« und Hotel Bellevue gefrühstückt wurde, war das Idyll in der Gärtnerei doch nicht abgebrochen. In der Jelängerjelieber-Laube gab sich Erasmus noch immer, während der warmen Nächte, seinen Vigilien hin, die zuweilen von Armin Jetro, auch gelegentlich von der Gärtnerswitwe geteilt, von dem Knaben Walter unterbrochen wurden.

Jetro war mit der Rolle des Horatio betraut worden. Hatte er die schauspielerische Eignung dazu? Oder hatte eine Regung Erasmus bewogen, seinen eigenen Horatio in den Hamlets zu verwandeln? Wenn sich die Ergebenheit Jetros, die ihn mit Erasmus verband, auf Hamlet, den Dänen, übertrug, so stand seine Eignung in dieser Beziehung außer Zweifel. Sonst durfte mit Recht dies und jenes dawider bemerkt werden.

Drei oder vier Kandidaten, darunter Luckner, hätten gern diese Rolle gespielt, und Jetro wurde nicht wenig bewitzelt, zumal sein Äußeres billige Angriffspunkte bot.

»Eigentlich bin ich nur halb zufrieden«, sagte er eines Abends in der Laube zu seinem angebeteten Regisseur. »Was gekommen ist, hab' ich vorausgesehen, es mußte so werden, wenn man erst einmal, wie ich, hinter Ihr Wesen gedrungen ist. Immerhin sind die Menschen stumpfsinnig. Und so werde ich das Erreichte nicht niedrig anschlagen. Aber ganz zufrieden, liebes Doktorchen, bin ich nicht.

Bevor die Sache ins Rollen kam, habe ich über das heut Verwirklichte nicht hinausgedacht. Das, worin dieser Götterspaß gipfeln müßte, sah ich damals noch nicht.

Wir haben einen gewissen Syrowatky, der den Hamlet spielt. Ich sehe, wie Sie die Hamlet-Gestalt in ihn hineinzaubern. Sie schlagen glühende Stempel, die Sie im eigenen Feuer erhitzt haben, in ihn hinein. Warum geben Sie sich dieser mühsamen Arbeit hin, die eine Gliederpuppe ja doch nicht beleben kann. Sie selber müssen den Hamlet spielen! denn Sie sind es in jedem Zug.«

»Niemals, Jetro! Behalten Sie diesen Gedanken für sich! Schweigen Sie! Machen Sie mich nicht unglücklich!

Wäre ich Hamlet ohne seine Lage und Aufgabe, weshalb sollte ich eine ganz unhamletische, rohe Willenskraft anwenden, um mich noch einmal zu dem zu machen, was ich schon bin!«

In diesem Satze witterte Jetro eine Herabsetzung der Schauspielkunst und wandte sich recht entschieden dagegen. Der junge Gotter aber war bei diesem Diktum nur seinem Affekt gefolgt und keineswegs jenem Intellekt, der ihn wieder und wieder zwang, die Kunst des Schauspielers zu durchdenken.

Am kleinen Fürstenhofe zu Granitz wurde Erasmus glorifiziert und verwöhnt. Das lange zurückgestellte Bedürfnis, etwas Jugendlich-Neues zu bestaunen und zu bewundern, fand in ihm seinen Gegenstand. Im Theater vollzog sich, cum grano salis gesprochen, in ihm ein genialer Werdeprozeß: er wuchs gleichsam über sich hinaus. Im Verstecke des Gärtnerhäuschens dagegen fand sein immer vorhandener Hang zur quietistischen Einsamkeit wie nirgend bisher Befriedigung. Das Auge der Gärtnerswitwe, die mütterliche Pflege, die sie ihm zuteil werden ließ, die schwesterliche von Fräulein Pauline, dazu überall die Luft still-friedlicher Resignation, waren ihm bis zur Erschlaffung wohltätig. Es bedurfte immer neuer Anreize, um Erasmus aus dem Glück der Entspannung herauszutreiben, aus der Umhegung einer beinahe kindhaften Verantwortungslosigkeit.

Das Geheimnis von Doktor Ollantag, bei seinem Besuch nur berührt, war von dem jungen Sommergast in diesem Zustand belassen worden. Es fand in dem gedämpften Wesen von Mutter und Tochter seinen Niederschlag, dann freilich auch in dem Totenkult, den Walter in Gedanken und Taten noch immer ausübte. Die Befürchtungen für das Gemüt des Knaben teilte indessen Erasmus nicht. Er fühlte heraus, daß es weniger Trauer um den Vater war als irgendein spielerisches Element, verbunden mit dem Geltungsbedürfnis einer mystischen Anlage.

Frau Herbst und Pauline sprachen nicht gerade im Flüsterton, aber alles an ihrem Gehaben war doch so, als ob man einen noch unbegrabenen Toten im Hause habe. Zum Ausdruck kam der Tochter gegenüber bei der Mutter immer wieder eine gewisse Scheu, wie Erasmus allmählich herausfühlte, wogegen die Tochter die Mutter manchmal mit einem kalten und vorwurfsvollen Auge anblickte. Saß die Mutter gedankenvoll, so konnte es hin und wieder vorkommen, daß Pauline den Arm um sie legte und ihr tröstend die Wange strich.

Nicht nur Menschen, auch Geister scheinen umhegter Räume, irdischer Wohnungen zu bedürfen. Es wird von alten Gemäuern erzählt, die wegen der darin hausenden Gespenster unbewohnbar sein sollen. Im allgemeinen nimmt man die Berichte von solchem nächtlichen Spuk als Märchenerzählung hin. Sie haben aber doch irgendwelche Erfahrungsgrundlagen. Der Verstorbene im Gärtnerhause belastete durch sein nur geistiges Dasein die Atmosphäre nicht, er teilte ihr nur, wie gesagt, eine Dämpfung mit, die sich auf die Bewohner übertrug, zu denen er selbst, auch als Geist, noch immer gehörte. Die Beschäftigung und Arbeit am »Hamlet« gab Erasmus für diesen Zustand eine gewisse Empfänglichkeit. Man weiß, daß ein wieder und wieder erscheinender Geist, der von Prinz Hamlets ermordetem Vater in das Werk verflochten ist. Unabsichtlich-absichtlich wurde manchmal in der Vorstellungswelt des jungen Spielleiters das gegenwärtige Wesen des Obergärtners mit dem geharnischten Geiste des alten Königs eins, und er sah gleichsam beide zweieinig schaurig greifbar vor sich hintreten.

 

Es kann eine rätselhafte Wollust darin liegen, den geharnischten Geist des alten Königs Hamlet darzustellen. Um den Schauspielern einen Anhalt zu bieten, hatte es Erasmus jüngst auf der Bühne getan. Gehoben durch den Gedanken, zugleich auch vorübergehend eins mit Shakespeare zu sein, der als Darsteller dieser Rolle eine besondere Berühmtheit erlangt hatte, trat er auf fast schmerzliche Weise aus sich heraus, um in der Wesenheit des Gespenstes aufzugehen. Ein fahles Traumlicht ergoß sich, die Tageshelle verdunkelnd, um ihn, er fühlte die erstickende Gruft hinter sich und eine schwere Kette am Fuß, die ihn daran fesselte. Dabei empfand er Frost, Moder und Verwesungsduft.

Dieses Geisterwesen durfte nicht allzusehr überhandnehmen, wie Erasmus sich gestand. An sich war ja das Gärtnerhaus für die Erweckung des chthonischen Teiles der letzten Endes unfaßbaren Dichtung der beste Nährboden. Dem Drang der Gesichte standzuhalten, forderte jedoch eine im Irdischen gut und gesund begründete Wesenheit.

Was aber aus der Dichtung und dem Wesen des Neuschöpfers sich in eins verband, war das Fließende. In seinen grüblerischen Nachgesichten fühlte Erasmus die Gefahr der Grenzenlosigkeit. Manchmal übermannte sie ihn, und er konnte sich kaum in die Enge seiner Aufgabe und seiner sonstigen irdischen Begebenheiten zurückfinden.

In solchen Zuständen schien ihm das ganze Haus beseelt zu sein. Eine deutliche, wenn auch stumme Sprache ging von den schwankenden Dielen, den Tapeten, den Fensterkreuzen und ‑brettern, kurz von allem und allem aus. Und eines Nachts, als die Grübeleien des Dichters dadurch unterbrochen wurden, daß fast der ganze, von Sprüngen reich durchzogene Deckenbewurf, Lärm und Staub verbreitend, herniederbrach, erschrak er tief und glaubte im ersten Augenblick, das Opfer eines bösen Kobolds geworden zu sein.

Natürlich hatte der Zwischenfall eine Weile von sich reden gemacht. Aber das Zimmer war schnell repariert worden. Für Erasmus indessen schloß sich ein zweites Erlebnis an, das ihn veranlaßte, bis zur Wiederherstellung des Giebelgemachs, also einige Tage, am Zirkusplatz im Hotel Bellevue zu nächtigen.

 

Das Parterrezimmer nämlich der Gärtnerei, in das man sein Bett gebracht hatte, ließ ihn etwas erleben, das ihm immer unerklärlich blieb. Kaum hatte er sich folgenden Abends nach der Stuck- und Gipskatastrophe dort niedergelegt, als er von schweren Ängsten, kaltem Schweiß, Herzklopfen und dergleichen heimgesucht wurde. Der freundliche Raum war leer, und doch fühlte Erasmus sich nicht allein. Irgend etwas war gegenwärtig. Er schämte sich vor den Gärtnersleuten, vor allen, mit denen er in Beziehung stand, er hätte sonst, wie gehetzt, die Flucht ergriffen. Minuten krochen marternd dahin, und quälende Viertelstunden, die einander ablösten, rissen ihn wie einen Verbrecher wach oder erstickten ihn fast unter höllischen Träumen. Immer war das von Entsetzen beseelte Zimmer eine Wirklichkeit, bis der erste Schimmer des Tages kam und den sich mit gleichsam zerbrochenen Gliedern ins Freie schleppenden Erasmus der nächtlichen Tortur entzog.

Der Vorfall war eine Unbegreiflichkeit. In der Voraussicht, daß niemand ihn anders als auf banale Weise erklären würde, und um die Familie Herbst nicht zu ängstigen, schwieg er davon. Ihm aber war eine Offenbarung geworden. Er wußte, er brauchte nur wieder in diesem Zimmer nächtigen, um der dämonischen Ballung darin, die ihm das Blut aus den Adern gesogen hatte, abermals preisgegeben zu sein. Als Grund, warum er einige Tage im »Bellevue« nächtigte, wurde die allzu dumpfe und feuchte Luft des ebenerdigen Raumes angeführt und daß es darin zu viel Ohrwürmer gäbe.

Erasmus schlief die folgende Nacht im Hotel wie in Abrahams Schoß.

Als er in sein Giebelzimmer zurückkehrte, bemerkte er im Wesen der Gärtnerswitwe eine Veränderung. Etwas Unausgesprochenes lag zwischen ihr und ihm. Sie blickte ihn an, als ob sie nun erst in ihm einen Mitwisser hätte. Ob sie wußte, was er erlebt hatte? Um so unverbrüchlicher hielt er sein Stillschweigen.

Je heller das Licht, je tiefer der Schatten. Da Meditationen über das Leben bei Erasmus, außer im Schlaf, nicht abrissen, drängte auch dieser Satz sich immer wieder ihm auf. Je höher sozusagen die Frühlingswogen des Werdens in blauer Helle emporschlugen, um so belasteter, um so tiefer an Tiefgang lief sein Schiff, um so umfangreicher wurde der Raum und somit die Dunkelheit unter der Wasserlinie. Und wenn er manchmal, bei einer Kerze, in echte Hamlet-Gedanken vertieft, mitternachts im Zimmer saß, schien ihm alles und alles gebärende Dunkelheit. Das Auge, sagte er sich, lebt von der Dunkelheit. Das Getast lebt von der Dunkelheit. Die Phantasie lebt von der Dunkelheit, der Gedanke lebt von der Dunkelheit. Und so lebt unsere gesamte Weltanschauung von der Dunkelheit.

Auch das Gedicht, dieser »Hamlet«, ist eine Nachtgeburt. Hamlet trägt einen schwarzen Mantel. Es ist die Größe und heilige Eigenart des Werks, daß es gleichsam, von Fledermäusen und Nachtvögeln umflogen, Fetzen von schwarzen Grabtüchern als Zeichen seiner Herkunft um sich trägt und fähig ist, das unbewölkte und klare Sonnenlicht, soweit seine eigene Strahlung reicht, in fahles Halblicht zu verwandeln.

Die tiefsten Offenbarungen, die Erasmus auf diesem Gebiete wurden, besaßen keine Mitteilbarkeit. Manches aber, was im Halblicht dieses Bereiches stand, wurde gelegentlich in Gesprächen mit Frau Gertrud Herbst erörtert.

 

Es war nicht wenig, was da der Betrachtung anheimgegeben ward: nämlich so ziemlich alles, was in der oberen Welt des Lichtes das tätige Leben ausmachte. Mütterlicher Spürsinn der Gärtnerswitwe ruhte nicht, blieb es auch ungewiß, ob sie den gleichen Spürsinn bei ihrem seltsamen Gaste wünschte oder voraussetzte. »Das Theater ist ein gefährlicher Boden«, sagte sie, »und hat irgendwie eine narkotisch verändernde Atmosphäre. Ein bürgerlicher Mensch, wenn er sich nicht beizeiten aus dem Staube macht, ist in Gefahr, dem bürgerlichen Tode anheimzufallen. Es ist etwas Schlimmes, wie Sie wissen: bürgerlicher Tod. Ein entfernter Verwandter von mir, der, glaub' ich, einen Wechsel gefälscht hatte, war ihm verfallen. So schlimm ist es nun freilich nicht! Wer seine Tochter jedoch zur Bühne gehen läßt, gibt sie auf. Wenn der Sohn eines Bürgerhauses den Weg geht, gilt er als verloren.

Das aber ist wohl das Schlimmste nicht, sondern die inneren, wahren Gefahren: das hauptsächlich in Sachen der Liebe außerhalb jeder Moral Stehende und die damit immer wieder doch verheerend entzündbare Leidenschaft. Wie mancher, wie manche hat sich in diesem Wirrwarr den Tod gegeben.«

»Aber«, fragte Erasmus, »wollten Sie nicht einmal selber, wie mir Pauline sagte, als junges Mädchen zum Theater gehen, Frau Herbst?«

»Was liegt an mir, um mich ist's nicht schade«, erwiderte sie. »Wäre ich diesen Weg gegangen, niemand hätte einen Verlust davon gehabt, es wäre wahrscheinlich gar nicht bemerkt worden. – Aber, denken Sie an, Herr Doktor: ich zittre für einen Mann wie Sie.«

Erasmus lachte. In der Tat, sein Zustand war krisenhaft. Doch man mußte hindurch, es gab kein Zurückweichen. Ebensowenig wie bei einem Soldaten, der vor sich den Feind, hinter sich aber entschlossene Kameraden hat, die bereit sind, den Fliehenden niederzuschießen.

Da sagte Frau Herbst: »Sie haben von Frau und Kindern erzählt. Sie haben Eignung für die Familie. Sie lieben die Mutter Ihrer Kinder und haben nach allem, was Sie mir selbst erzählt haben, Grund dazu.«

»Nun ja, weshalb aber sagen Sie das?«

»Weil dies einzig mögliche, wahre, stille Glück durch das, wohinein Sie hier geraten sind, gefährdet ist. Herr Erasmus, Sie müssen sich dessen bewußt werden.«

»Sie unterschätzen mich, liebe Frau Herbst. Mag kommen, was will: eher kann ein Erdbeben Europa einschlucken, als eine Trennung zwischen mir und den Meinen stattfinden kann.«

Das höre sie gern, erklärte Frau Herbst, aber dergleichen persönliche Überzeugungen böten im Leben noch keine Gewähr. Besonders, wenn man als ein außergewöhnlicher, noch sehr junger Mann auch andern Frauen als der eigenen ins Auge falle. Und wenn nun gar hochstehende Charaktervolle und niedrigstehende Pikant-Raffinierte sich mit dem Apfel, der Schlange und einem wohltrauenden Adam zu schaffen machen.

Erasmus erklärte, sie täusche sich sehr. Er habe, ausgenommen einen Fall, nie bei Frauen Erfolg gehabt. Er habe das überall merken können, schon auf der Universität, wenn er irgendwo bei einer Lustbarkeit gemeinsam mit seinen Freunden erschien.

Nun, meinte sie plötzlich, es sei der Beweis einer Anteilnahme und Wahrhaftigkeit, wie sie dergleichen kaum je gefühlt habe, wenn sie ihm rate, noch in dieser Stunde auf und davon zu gehn.

Hierauf konnte Erasmus natürlich nur mit dem ganzen Ernst seines Wesens antworten.

»Ich schätze«, begann er, »Ihre Teilnahme und Ihre Wahrhaftigkeit, Frau Herbst.« Damit ergriff er ihre Hand, um allem weiteren die verletzende Spitze zu nehmen. »Meine Mutter hat in ihrer Besorgnis um mich immer ähnlich wie Sie gedacht. Ich sollte ein kleiner Beamter werden und mich mit meinem sicheren Gehalt einrichten. Auch Handelsgärtnerei schlug sie mir vor oder eine kleine Landwirtschaft. Blumenzüchten, den eigenen Kohl essen, selbstgebackenes Landbrot verzehren und eigene Milch und Butter dazu. Ach, liebe Frau Herbst! Wenn sich die Gefahren, die Leiden und die allgemeinen Übel des Lebens nur durch eigne Gartenkultur, Landbrot, Milch und Butter in Schach halten ließen! Entschuldigen Sie, aber es haben sich kleine Beamte, Gärtner und Bäuerchen auf ihren Dachböden in Menge aufgehängt.«

Frau Herbst wurde bleich. Lange sah sie Erasmus an, sah ihm mit festem Blick ins Auge und entfernte sich dann wie jemand, der durch eine natürlich gegebene Antwort in einem fremden, ganz anderen Sinne betroffen ist.

 

Die sichere Art, mit der Erasmus die Bedenken der Witwe widerlegte, kam keineswegs aus einer inneren Sicherheit. In die neue Epoche, die ihn eigentlich überrumpelt hatte, war er noch nicht voll hineingewachsen. Die gärenden Zustände einer Ehe und seines inneren Werdens waren betäubt, solange die äußeren, neuen vorherrschten. In der Stille indessen brachen sie auf.

Er hatte sich vorläufig noch in der Hand. Weder schwer zu zerreißende Schlingen noch gar unlösliche Knoten waren vorhanden. Aber trieb er nicht unaufhaltsam, und vielfach absichtlich blind, grotesken Verwicklungen zu, die sein bisheriges, schließlich doch einfaches Seelenleben in zerstörender Art und Weise komplizieren mußten? Drei weibliche Gestalten rangen heut bereits um seine Wesenheit. Die eine, bisher in vollem Besitz, ruhend in einer vermeintlich lebenslangen Gegenseitigkeit, wurde von zwei andern bedrängt, von denen wiederum jede für sich das ihr Gehörende ganz verlangte. Heut war es noch so, daß Erasmus das alte Besitzrecht Kittys verteidigte. Er fühlte, es hieß sich selber retten, machte man sie zur Siegerin. Was bedeutete am Ende Leidenschaft? Am ehesten ist sie einem verzehrenden Brande zu vergleichen. Brände sind niederreißend, nicht aufbauend: ich müßte auf einer Brandstätte aufbauen, wenn mich das große Schadenfeuer am Leben ließe und ich mit der Kraft zur entschiedenen Wahl auch die Kraft zum Aufbau des neuen Lebens mit einer neuen Gefährtin behalten hätte. Nicht der Zufall, gelegentliche Entfaltungen, überraschende Erbschaften oder gar das große Los hatten Bedeutung in des jungen Doktors Lebensplan. Er gedachte, sein Dasein anders und eigensinnig zu gestalten. Zwar wußte er, daß der Architekt mitsamt seinem Bau tausendfältig gefährdet ist, und so war er bereit, abzustürzen, von einem Gewölbe erdrückt zu werden, mit einer Diele einzubrechen, Blitz- und Brandschaden zu erleiden, aber nicht bereit, die Idee eines intimen Lebensaufbaues preiszugeben.

 

Bei allem Instinkt für sein Geschäft hatte Erasmus noch nicht Erfahrung genug mit Schauspielern und wie man mit ihnen umgehen muß. Er glaubte vor Mißverständnissen sicher zu sein, wenn er nur den eigenen, reinen und persönlichen Enthusiasmus für die Sache voraussetzte. Was ihn im Werke aufgehen ließ, entstammte dem hohen Begriff, den er von der Kunst hatte, einem Begriff, der nur auf dem Boden ungewöhnlicher Bildung und Anlage wachsen kann. Erasmus lobte und rügte laut. Er hätte das eine laut, das andere unhörbar tun sollen. »Um Gottes willen, Herr Syrowatky, der edle Dänenprinz ist kein Marktschreier!« hieß es da, worauf Syrowatky etwa prompt zur Antwort gab: »Ich hoffe, Herr Doktor, das ist Ihnen nicht jetzt erst zu Bewußtsein gekommen. Ich möchte wünschen, alle sprächen so deutlich und schlicht wie ich. Brüllerei hat mir bis jetzt beim Theater noch niemand vorgeworfen.«

Wie seinerzeit Adalbert Luckner, war so ziemlich jeder Schauspieler mit einer fixen Idee seiner Rolle auf die Probe gekommen und hatte die gleiche Enttäuschung erlebt. Jetro, der in das heimliche Getriebe hinter den Kulissen ungehinderten Einblick hatte, konnte eine wachsende Opposition gegen den Freund feststellen, die merkbar in Sabotage ausartete. Direktor Georgi als König Claudius hielt sich zwar äußerlich frei davon, nahm sogar seinen Platz scheinbar neben Erasmus ein, aber die Art, wie er Syrowatky und seine Mitglieder heruntermachte, entbehrte der Ehrlichkeit.

Schwer zu sagen, was alles in Erasmus plötzlich zum Durchbruch kam, als er mitten in einer Szene das Regiepult und das Theater verließ und selbst durch Jetro zur Rückkehr nicht bewogen werden konnte. Wirkte der Rat von Frau Herbst in ihm nach? Fühlte er einen letzten unabhängigen Augenblick, bevor ihm die Wirrungen über den Kopf wuchsen? Hatte ihn Kleinmut übermannt, und verzweifelte er an seiner Aufgabe? Oder wich er einfach wieder einmal vor dem Leben an sich zurück?

Im Theater brach die Revolte los, nachdem es Erasmus verlassen hatte. »So geht es nicht weiter!« sagte der mit Busennadel, Fingerringen und Armband geschmückte Hamlet-Darsteller. Es waren eben die Worte, die Erasmus ihm gegenüber mehrmals gebraucht hatte. »So geht es nicht weiter!« wiederholte er, »ich kann mich zu einer Blamage nicht hergeben, der Ihr Theater, lieber Direktor Georgi, unrettbar entgegentreibt.«

»Sie haben ja die Sache eingebrockt«, lachte Georgi. »Diese Erfindung von Ihnen, Jetro und Doktor Ollantag, dieser sogenannte Dichter und Regisseur hat ja schon dadurch den Beweis geliefert, nichts vom Theater zu verstehen, daß er Ihnen den Hamlet überantwortet hat.«

»Das ist eine Bosheit, die ich nicht verdiene und die auf Sie zurückfällt, Direktor. Sie haben mir selbst mehrmals aus dem Parkett Beifall geklatscht.«

»Ironisch, nur ironisch, mein Freund.«

»Ich kenne Sie besser! Es war nicht ironisch. Im Gegenteil haben Sie gegen eine unberechtigte Rüge, die ich von dem Grünschnabel einstecken mußte, protestiert!«

»Sie irren«, sagte hierauf der Direktor, »man muß diesem Grünschnabel zugestehen, daß er in bezug auf Ihren Hamlet zur Einsicht gekommen ist.«

»Hölle und Teufel!« schrie plötzlich Laertes-Sündermann. »Ich mache bei diesem Betrieb nicht mehr mit! Ich bin kein Kastrat, ich bin kein Eunuch. Soll mich auch niemand dazu machen. Da, da! Diese entmannte Rolle, dieser Laertes! Da liegt sie, und da gehört sie hin!«

Die Papierrolle war von ihm auf die Erde geschleudert worden, und er trampelte mit grotesken Sprüngen darauf herum.

Direktor Georgi rieb sich die Hände.

»Bravo! Ich habe immer gesagt, es ist an Ihnen ein Tänzer verlorengegangen.«

Leopold Miller, genannt Vater Miller, der Komiker, der den greisenhaften Polonius spielte, trat mit Biedermannsmiene an den Souffleurkasten. Er sprach zu dem – nicht vorhandenen – Publikum in den Sperrsitzen, das Direktor Georgi vertrat:

»Erinnern Sie sich, verehrter Chef, wie ich von Anfang an zu diesem überschätzten Auchdichter und Auchregisseur gestanden und wie ich mich ohne Scheu selbst ihm ins Gesicht geäußert habe. Man muß vom Theater etwas verstehen, wenn man sich auf diesem schlüpfrigen Boden die Sporen verdienen will. Junge Menschen kranken an Größenwahn. Gut, aber damit mag er zu Haus bleiben. Verbessert doch Shakespeare und lest es zu Hause euren Kühen vor, aber stellt euch nicht auf den Markt mit eurem Unsinn, fordert nicht dreist und gottesfürchtig die Empörung aller vernünftigen Leute heraus! Nun also«, so schloß er, »die Beule ist aufgegangen.«

Ein Wink von Direktor Georgi und ein wegwerfendes Kopfschütteln, das etwa heißen konnte: viel Lärm um nichts! ließen Miller achselzuckend zurücktreten.

Auch die Studenten und jüngeren Mitglieder fanden nun plötzlich an Erasmus allerlei auszusetzen. Er behandle einen von oben herab, er habe Herrn Miller das und das gesagt, was die Studenten geärgert habe, denn sie hätten den Respekt vor dem großen Künstler vermißt. Endlich ergriff auch Adalbert Luckner das Wort, um Erasmus wegen der Dusche anzuklagen, mit der er schon auf der ersten Probe deprimiert wurde.

Baron Cramm, der ebenfalls in den Sperrsitzen saß, machte immer nur größere Augen, ein erstarrtes, halb erstauntes, halb belustigtes Lächeln im Angesicht.

Die Revolte steigerte ihre Heftigkeit, und es ward der Beschluß gefaßt, Herrn Gotter die Gefolgschaft zu kündigen. In diesem Beschluß bestärkte man sich, als Bourtier, der für jede Art von Skandal eine Nase hatte, unvermutet erschien und erklärte, er werde dem Fürsten die Sache vortragen.

 

Warum habe ich das getan? fragte sich Erasmus, als er eine halbe Stunde später nach einer kleinen Wanderung im Hotel Bellevue seine Mittagssuppe löffelte. Nun ja, es war kein Zug in der Sache, kein eigentlicher Wind in den Segeln, es herrschte etwas wie eine Kalme, eine Windstille.

Wo liegt aber für dies alles die Ursache? Liegt sie in Widerständen, oder ist es ein mangelnder Antrieb, eine frühe Ermüdung in mir? Hat wiederum jene Trägheit, jene Abneigung vor der Verwirklichung, jene Entillusionierung die Oberhand, die mir alles schal erscheinen läßt, außer ein innerliches Leben, ein Leben der Meditation?

Wahrscheinlich fühlte der junge Zauderer den gegebenen Augenblick, an dem noch das Ausbiegen möglich war. Er benutzte dann einfach die letzte Gelegenheit abzutreten.

Ich brauchte, sagte er zu sich selbst, nicht verfrüht nach Hause zurückkehren, die Zeit meiner stillen Besinnung abbrechen. Ich möchte einen entlegenen Waldwinkel im Schwarzwald oder Harz aufsuchen, um dort vielleicht einen besseren Ersatz für die Gärtnerei zu finden, die nicht gehalten hat, was sie versprach.

Der Kellner hatte noch nicht den Braten gebracht, als Armin Jetro den Saal betrat. Er war von Erasmus zum Essen geladen.

Während er seine Suppe nachholte, erging er sich nach seiner Gewohnheit in allgemeinen Ausfällen der Lustigkeit. Als er sich nach dem Braten den Mund gewischt und einige Gläser Wein gestürzt hatte, kam er auf die Sache zurück, die unausgesprochen ihn und Erasmus im Banne hielt.

»Man kann verstehen, was Sie getan haben, lieber Doktor. Dergleichen kommt gelegentlich beim Theater vor. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich, sagt man da. Tragisch nehmen Sie hoffentlich diese Sache nicht, und ebensowenig werde ich Ihren Rücktritt ernst nehmen.«

»Ich will Ihnen etwas sagen, Jetro: von Tragik kann Gott sei Dank zunächst nicht die Rede sein, zum mindesten nicht in dieser Gipfelung. Sonst aber lauert die Tragik, wie das Grundwasser, überall in der Erde. Der Rollstuhl ist Tragik, wenn der Fürst auch heiter ist. Ein chthonischer Dunst hüllt die liebliche Gärtnerei und das Gärtnerhaus. Meine Frau weilt am Krankenbett oder Sterbebett ihrer Schwester. Heute abend haben sich Kumuluswolken höher und höher am heißen Sommerhimmel aufgebaut. Und so fort, und so fort. – Ich glaube, ich muß nach Hause reisen.«

»Sie haben hier etwas angefangen, Sie werden es nicht so einfach hinwerfen.«

»Es gibt Fälle, die zwingend sind und einer Entschuldigung nicht bedürfen.«

»Wenn irgend etwas Ihre Anwesenheit zu Hause notwendig macht, reisen Sie hin, und kommen Sie wieder.«

»Wenn ich erst einmal bei meiner Frau und den Kindern bin, werde ich mich wohl kaum wieder losreißen.«

»Bringen Sie Frau und Kinder mit.«

»Das ginge vielleicht. Aber glauben Sie mir: meine Frau paßt ganz und gar nicht in diese Umgebung. Sie hat eine rührende Liebe zur Kunst, aber, wie sie meint, nicht die geringste Anlage dazu. Wenn sie also von einem Kunstwerk tief ergriffen wird, so endet das meist mit Niedergeschlagenheit, da sie die vermeintliche eigene Unfähigkeit damit vergleicht.«

»Ich würde das Eisen, an dem Sie schmieden, nicht aus dem Feuer lassen«, betonte Jetro.

»Das Eisen ist leider kalt, lieber Freund. Ich habe mit kaltem Feuer geschmiedet, und selbst das kalte Feuer ist aus.«

»Wenn Sie in diesem Augenblick die Kapitänsbrücke verlassen, bester Doktor«, sagte Jetro, »so haben Sie – ich darf es Ihnen nicht vorenthalten – in Granitz schlecht abgeschnitten. Daß einem die Geduld einmal reißt, mag sein, aber man darf den zerrissenen Faden nicht liegen lassen, man muß ihn wieder zusammenknüpfen.

Ihre schöne und begreifliche Geste nämlich hat das Zeichen gegeben zu einer Theaterrevolution. Der Oberhofmeister Bourtier, der mehr ein Freund von Irina als von Ihnen ist, soll den Fürsten im Namen der Schauspieler bitten, die Inszenierung des ›Hamlet‹ aus Ihrer Hand zu nehmen und Direktor Georgi zurückzugeben, Direktor Georgi, der ja überhaupt sozusagen der angestammte Leiter des Theaters sei.«

»Da fällt mir die Gabel aus der Linken!« sagte Erasmus. Er hatte in einer Art bestürzten Humors die Gabel freiwillig fallen lassen. Dann kam ihn – bei ihm ein ungewöhnlicher Fall – ein überwältigend herzliches Lachen an. »Das Drama greift um sich«, sagte er. »Das Tempelfeuer zündet den Leuten die Strohdächer an.« Er schloß: »Da bin ich aber nun recht neugierig.«

Es war Erasmus durchaus nicht ernst mit der Abreise. Er fühlte das jetzt, wenn er jemals darüber im Zweifel gewesen war. Und ganz besonders, als Jetro ihn ahnungslos mit Erwähnung des Namens Bourtier aufbrachte. Indem ihm das Blut zu Kopfe stieg, überkam ihn zugleich ein Ingrimm der Entschlossenheit, zumindest vor einem Bourtier nie und nimmermehr auszureißen.

Fast unwillkürlich fragte Erasmus: »Wissen Sie, wie sich Irina verhält?«

»Daß sie gegen Sie sein sollte, kann ich nicht annehmen. Sie haben sie ja so ziemlich gegen die Stimmen aller mit der Ophelia-Rolle betraut. Aber man kann für niemand gutsagen. Sich gegen die Kollegenschaft im ganzen stemmen ist am Ende von ihr zuviel verlangt. Außerdem ist sie von Bourtier abhängig, der, wie alle Welt weiß, bereits eine Menge Rechnungen für sie beglichen hat.«

Die öffentlichen Erörterungen über den Zweikampf zeigten Erasmus stets als Duellgegner. Die Paukereien auf den studentischen Fechtböden bedeuteten ihm einen Rückstand des Mittelalters. Faustrecht, Blutrache und dergleichen erachtete er als eines höheren Menschen unwürdig. In diesem Augenblick aber stieg elementar eine wilde Entschlossenheit in ihm auf, die ihm selbst eine neue Erfahrung war und ihm zum ersten Male eine Lage deutlich machte, vor der die Humanitätsphrase wie Spreu im Winde verflog.

Die Welt mag so groß sein wie sie will, erklärte eine Stimme in ihm, aber sie ist zu klein für Bourtier und dich. Einer von uns beiden muß ihre Tür von außen zumachen.

Es ist möglich, daß der hochfahrende Einfaltspinsel mich für nichtsatisfaktionsfähig erklären wird, dann werde ich ihn, wo ich ihn treffe, im Theater oder auf der Straße, ohrfeigen . . .

Mit völliger Ruhe sagte Erasmus: »Seltsam, lieber Jetro. Ein Mensch mag mit Menschen und Dingen um sich her im Laufe des Abenteuers, das man Leben nennt, noch so viele Überraschungen erfahren haben, die größten erlebt er an sich selbst.«

Jetro wußte nicht gleich, worauf er diese Bemerkung beziehen sollte. Es schien ihm schließlich, Erasmus nehme an, Irinas undankbarer Verrat sei eine Tatsache. »Um Gottes willen, ich weiß von nichts!« betonte er. »Ich betrachte nur ganz banal das Menschenmögliche.«

Der junge Gotter kämpfte mit einer schwarzen Woge der Eifersucht, die ganz Granitz und alles, was darin war, außer Irina und Bourtier, in sich verschlang. Perlen standen auf seiner Stirn, und Jetro sah seine Hände zittern.

Hatte er nicht am Ende allein um ihretwillen sich in den ganzen Handel verwickeln lassen, um ihr, mit Rede und Gegenrede, Auge in Auge körperlich nahe zu sein, ihre Bewegungen zu lenken, zu formen und zu genießen? Und beides auf einem Gebiete des künstlich-künstlerischen Scheins, das ihm zu alledem eine Berechtigung gab, ohne ihn irgend menschlich zu binden? Man soll aber nicht mit dem Feuer spielen. Erasmus erkannte zu seinem Schrecken zugleich diesen Grundsatz in seiner Richtigkeit und die Flamme, in der er loderte.

So lagen die Dinge, als der Oberkellner, bedeutsam lächelnd, im Flüsterton Irina meldete und die kleine entzückende Schauspielerin, mit den ihr eigenen kurzen Schrittchen, am Eingang des Saales sichtbar ward.

Was in Erasmus vorging, kennt jeder Liebende. Wie nie gewesen, verschwunden war das gnadenlose Nachtgesicht und Frühling an seine Stelle getreten. Nicht nur für zwei, die Welt hatte plötzlich für Millionen und aber Millionen Menschen Raum, und es sang überall: Seid umschlungen, Millionen!

»Warum laufen Sie fort? Sie sind sehr bös!« so lauteten die ersten Worte, welche die junge Madonna sprach. »Im Theater ist Rebellion. Direktor Georgi reibt sich die Hände. Das allgemeine Lirumlarum ist: es war ja vorauszusehen, hab' ich's nicht gleich gesagt! Nun gut, was schadet's, was liegt daran. Soll sich der Erich Sündermann wie ein Aff' betragen, der Kandidat Luckner Volksreden halten, Elisa und Lena auf mich mit gekrallten Fingern losfahren, weil ich die Ophelia spielen tu'. Und nun gar Syrowatky, das Dromedar! Sie sind alle zusammen keine sechs Groschen wert, und es hat auch für keine sechs Groschen Bedeutung. Aber versteht sich: Sie dürfen nicht fortlaufen!

Man hat sich den Dummkopf vorgespannt, den Bourtier, er soll die Sache dem Fürsten vortragen: sie legen die Arbeit nieder, behaupten sie, wenn nicht der richtige ›Hamlet‹ gespielt und die Regie dem Direktor Georgi übertragen wird. Sie werden gehörig beim Fürsten anlaufen. Denn, nämlich, Cramm und Doktor Ollantag haben die Sache schon vorher dem Fürsten beigebracht. Er soll sich königlich amüsiert haben. Und Sie haben ja auch sonst eine starke Partei. Die Prinzessin, die Ditta, hat ja auch was zu sagen. Sie werden ja wissen, ob sie verliebt in Sie ist oder nicht. Mag sie verliebt sein, mir ist das gleichgültig. Hauptsache ist: lassen Sie uns nicht im Stich! Im Grund hat ja alles Spaß an der Sache.«

Wohl hatte Erasmus zugehört, aber sein Blick war von dem süßen Antlitz der Sprechenden bis zur Vergessenheit hingenommen. Während er allerdings aufpaßte, was sie sprach, war er weit entrückt mit ihr, fern allen Höfen, Theatern und Menschen, in irgendeiner insularen Einsamkeit.

Und nun ganz gegen seine bessere Überzeugung sagte Erasmus: »Und trotzdem muß ich die Sache hinwerfen.«

»So!? Wirklich!?« sagte die Kleine merkbar verwirrt. »Sie sind aber gut!« fügte sie bitter hinzu. Sie hatte durchaus den Faden verloren.

»Essen Sie mit uns, Irina, trinken Sie Wein!« sagte Jetro. »Kommt Zeit, kommt Rat. Die Sache wird sich schon wieder einrenken.«

»Gewiß muß ich essen! Glauben Sie, daß ich nicht hungrig bin? Vier Stunden Probe, dann das Geschimpf und Geschrei, nachdem einen der Regisseur schutzlos zurückgelassen hat!?«

»Ist man auch über Sie hergefallen?«

»Natürlich! Denken Sie etwa nicht? Zuletzt noch hat sich diese Maschine, dieses Asthma, diese Pepi Rößler, eine Sache geleistet. Sie kommt auf die Bühne, steckt ein Bonbon in den Mund, dreht sich einmal um sich selbst, sagt: ›Seit wann führen kleine Jungens Regie, spielen kleine Mädels die Ophelia?!‹ und begibt sich tänzelnd wieder hinaus.«

Heut verlangt sie zu essen, dachte Erasmus, bisher hat sie alle meine Einladungen abgelehnt.

Mit einem Male fand er sie rührend. Irgendwie bot sie ihm plötzlich ein mitleiderregendes Bild der Hilflosigkeit. Wer mochte diese Frau sein, die sich ihre Mutter nannte? Sie hatte wahrscheinlich keine gekannt. Wie kam es, daß sie ihm plötzlich eine Irrende, Verlassene, den Stürmen des Lebens und allen Unbilden Preisgegebene war, eine wortlos Schutzflehende, Verlorene, die auf eine starke, rettende Hand Anspruch erhob?

Ihm ging durch den Sinn:

Wo willst du denn hin ohne mich, Seele?
Wohin rufst du, wenn nicht nach mir, kleine Kehle?

Die Alten sahen die Psyche unter dem Bilde des Schmetterlings, und so auch Erasmus, indem es in ihm lautlos redete:

Du sollst dich nicht verirren,
nicht dir dein Köpfchen zerschwirren!

Nicht ohne gelinden Schauder erkannte Erasmus den Sinn ihres Erscheinens und die Schicksalsbedeutung der Stunde. Ich gehöre zu dir! war das unzweifelhaft klare, wenn auch stumme Bekenntnis der kleinen Unmündigen: Nimm mich, behalt mich, laß mich nicht mehr von dir, mache mit mir und aus mir, was du willst! Sei mein Vormund, mein Vater, mein Lehrer, mein Sklavenhalter, mein Herr, mein Geliebter!

Die Unabweisbarkeit dieser Erkenntnis zeigte dem jungen Dichter, wohin er unmerklich geraten war und daß es von hier in die Unschuldsgründe der Vergangenheit ein Zurückweichen nicht mehr gab: es versuchen, es unternehmen, in diesem Augenblick nein sagen, war das Gegenteil von aufrechter Männlichkeit. Und er hörte die eherne Stimme aus der Apokalypse im vornhinein als Antwort im Ohr: Gewogen, gewogen, zu leicht befunden! Also, dachte Erasmus, kann ich nicht anders, als die Aufgaben des Geschickes als menschlich unabweisbar hinnehmen. Wo steht es geschrieben, daß man den allenthalben zudringenden menschlichen Ansprüchen solche kampflose, egoistische Bequemlichkeit entgegensetzen soll?

Kann man solches Vertrauen täuschen? Ist mir diese kleine Irina nicht im Augenblick näher als irgend jemand in der Welt? Sind wir nicht enger verwandt im Augenblick als geschwisterlich? Ist da nicht eine drängende Blutsverwandtschaft, die ihr Blut zu einem Herzschlag mit mir vermischen will? Sind wir nicht schon jetzt beinahe eins geworden im brennenden Kern des Schöpfungsmysteriums, das nur diese, die Schöpfung, und keinen Einzelanspruch im Sinne hat?

Während Meditationen dieser und ähnlicher Art im Geiste des jungen Erdenfremdlings nicht abrissen, zeigte er sich äußerlich beinahe im banalen Sinne aufgeregt.

Syrowatky war ihm die Null, die ein Armband trägt; Luckner, der akademische Musterjüngling, gegebener Aspirant für einen Preis oder ein Stipendium; Sündermann ein Tenor ohne Stimme; Leopold Miller ein verunglückter Weißbierwirt. Gegen die Damen etwas zu sagen, verbot er sich. Wenn die Instrumente eines Orchesters gut geleitet zusammenwirken, wird Musik daraus; wenn solche Theatermitglieder wie diese ungeleitet zusammenwirken, ein Gassenradau.

Es war gut, daß diese Art Rückwirkung, die den Sprechenden von keiner außergewöhnlichen Seite zeigte, durch den lustigen Eintritt des Maler-Barons und des Doktor Ollantag unterbunden wurde.

»Die Residenz steht auf Stützen«, sagte händereibend, mit aufgeblähten Nasenflügeln und launigem Ernst, der Baron. – »Ja, ja, so ist es«, ergänzte Doktor Ollantag, »in Granitz ist Revolution. ›Die Zeit ist aus den Fugen‹, sagt der Dänenprinz.«

Der Oberkellner machte den Vorschlag, die Herrschaften möchten sich in das anstoßende Zimmer verfügen, wo sie durchaus ungestört wären; er habe den Eindruck, daß noch eine Reihe weiterer Gäste zu erwarten sei.

Dem Ansinnen wurde stattgegeben.

»Schauen Sie doch zum Fenster hinaus!« sagte Cramm. »Die Primaner und Sekundaner mit ihren grünen Mützen bilden Gruppen vor dem Pädagogium. Die Nachricht von der Revolte im Theater hat bereits alle Schichten der Bevölkerung in Wallung gebracht. Ich nehme an, der abgeklärte Geist des Rektors und Schulgewaltigen Trautvetter wird das Geschehene als ein gesundes Symptom betrachten und seinen Primanern in diesem Sinne ausdeuten.«

»Um über die Hauptsache keinen Zweifel zu lassen«, sagte Ollantag, »der Hof steht geschlossen auf Ihrer Seite.« Cramm setzte hinzu: »Und Bourtier hat eine Abfuhr erhalten, die sich gewaschen hat.

Es sind eine Menge Einzelheiten bekannt geworden aus der improvisierten Komödie, die von den Mitgliedern ohne Gage gespielt wurde. Ein Mal übers andre Mal hat sich der Fürst belustigt wie seit langem nicht und mit beiden flachen Händen die Knie geschlagen. ›Schweigen Sie, schweigen Sie‹, sagte er zum Rentmeister, der zufällig im Theater war, ›schweigen Sie, denn ich muß mich vom Lachen ausruhen.‹

›Großartig dieser Laertes, dieser Sündermann‹, hat der Fürst gesagt. ›Doktor Gotter erklärt: Laertes, der ehemalige Kammerjunker und werdende Kammerherr, erregt keinen Aufstand wider den König, der seines Vaters und sein immergnädiger Herr und besonderer Gönner ist. Aber was tut Sündermann? Sündermann muß seinen Aufstand haben! Wenn er ihn schon im Stück sich verkneifen muß, so brennt er ihn in natura ab und läßt Doktor Gotter selbst in die Luft fliegen.‹

Ich hatte einen neuen Lacherfolg bei dem Fürsten«, berichtete Cramm, »als ich ihn fragte, ob man die Hydranten öffnen, die freiwillige Feuerwehr mit der neuen Spritze alarmieren solle.«

»Wie verhält sich eigentlich Kandidat Luckner?« fragte Jetro.

»Ich glaube«, sagte der Maler, »als er vom Rathaus kam, war er klüger als vorher, nämlich ehe er ins Rathaus kam. Er war drauf und dran, gegebenenfalls im Namen seiner Kommilitonen gegen das Regime Gotter Protest einzulegen. Man hörte ihn vielerlei daherreden von zu respektierendem studentischen Ehrgefühl und Verantwortung, als er Georgi aufs Schloß begleitete.

Aber dann kam Georgi wie ein begossener Pudel heraus, man erblickte Bourtier, wie er, mit unverkennbarer Wut, im Park davonwandelnd, Blätter von niedrigen Zweigen schlug.«

»Lupus in fabula«, sagte Jetro.

Heiter und frei trat Luckner ein.

»Gestatten Sie, daß ich Ihnen mein und meiner Kommilitonen rückhaltloses Vertrauen ausspreche.« Damit trat er gleichsam offiziell an Erasmus heran. »Wir haben die Sache kommen sehen, aber von Anfang an mißbilligt.« Erasmus dankte. Der Mund des Malers wurde auf eine fast unnatürliche Weise breit, Doktor Ollantag rückte die Brille und schmunzelte.

Der kleine Zwischenfall hatte, das war nicht zu leugnen, die etwas müde gewordene Atmosphäre der Residenz belebt.

 

Kaffee, Zigarren, Zigaretten, Liköre wurden herumgereicht, hernach bis zum Rande gefüllte Sektgläser. Alle waren damit zufrieden. Den kleinen Kreis überkam eine gleichsam triumphierende Festlichkeit.

Plötzlich erschien Georgi auf der Bildfläche. Er überschaute die Lage sogleich, und ohne sich einen Augenblick zu besinnen, hatte er mit ausgebreiteten Armen Erasmus erreicht. Brust an Brust mit ihm stehend, sagte er, wohl nicht in der Absicht, sich mit einem Hamlet-Zitat selber zu ironisieren: »Bei diesen beiden Diebszangen hier, ich stehe zu Ihnen, ich bin Ihr Mann.

Eben habe ich mir die ganze Gesellschaft gelangt. Ich hörte sie lärmen im ›Felsenkeller‹, diesen großfressigen Syrowatky immer voran. Ich habe sie ins Theater zitiert und ihnen etwas zu hören gegeben. Diese Burschen machen das, versichere ich Sie, im Laufe der nächsten hundertundachtzehn Jahre nicht zum zweitenmal!« Damit klappten Georgis Arme zusammen, und er preßte Erasmus an die Brust.

Dieser gutgespielte Freundschaftsausbruch des Theatermannes wurde von einem allgemeinen Schmunzeln begleitet.

Nachdem man ihm das erste Glas Champagner gegeben und er es, einem völlig Erschöpften gleich, auf einen Zug geleert hatte, sagte er: »Ganz ohne Folgen kann die Sache nun leider nicht bleiben, wie ich berichten muß. Der Seemann sagt: ›Mann über Bord!‹ Muß ich jemandem in diesem Kreise eine nähere Erklärung geben, etwa wer der Mann ist, der über Bord gegangen ist?«

»Syrowatky natürlich!« scholl es einstimmig.

»Armer Syrowatky!« So kam es in drolligem Tone, aber nicht ohne Beiklang eines echten Bedauerns von Jetros Lippen.

»›Armer Syrowatky?‹ Hören Sie mal!« rief der Direktor. »Erstens ist er nicht arm, sondern ein Verschwender, zweitens ist er einer der dünkelhaftesten Burschen, die mir in meinem ganzen Leben vorgekommen sind. Keinen Funken Talent hat der Mensch und bildet sich ein, Haase, Barnay und Kainz in einer Person vorzustellen. Was hat der Mensch mir nicht mit dem Hamlet in den Ohren gelegen! Syrowatky und Hamlet! Wer da nicht von Anfang an lacht, der könnte mir leid tun. Ich bin es nicht, der den unbegreiflichen Fehler begangen und ihm die Rolle überantwortet hatte. Doktor Gotter hat sie ihm überantwortet. Ich kann Ihnen das nicht ersparen, lieber Doktor, auf das bestimmteste zu erklären, daß diese Fehlbesetzung auf Ihren ausdrücklichen Wunsch zurückzuführen ist. Sie wollten nicht hören. Die Einwände eines alten Theatermannes ließen Sie eben unberücksichtigt. Kein Wort! Ich verarge es Ihnen nicht. Es ist eben immer so mit der Jugend. Man will alles neu machen. Alles wirft man zum alten Eisen, was nicht auf dem eigenen Mist gewachsen ist.«

Diese Metapher des Direktors erregte lebhafte Heiterkeit, sie schien ihm wider Willen entglitten zu sein. Man war neugierig, wie sich Erasmus verantworten würde. Aber Ollantag sprang statt seiner ein. Herr Gotter sei ohne Absicht in diese ganze theatralische Angelegenheit verwickelt worden. Erst im Zusammenhang mit den Hamlet-Plänen Syrowatkys sei ihm die Möglichkeit aufgetaucht, eigene Hamlet-Pläne zu verwirklichen. Ungebeten habe sich dann Syrowatky gleichsam vor seinen Wagen gespannt. Dadurch sei nun auch Doktor Gotter wärmer geworden und habe sich schließlich mit der leidenschaftlichen Begeisterung Syrowatkys assoziiert. Ihn demnach aus dem Spiele zu lassen, ihm die Hamlet-Rolle vorzuenthalten, wäre gleichbedeutend gewesen mit dem Verzicht auf den ganzen Plan.

Die Rede Ollantags wurde durch ein großes Hallo abgeschnitten, in das Jetro, der Direktor und sogar Kandidat Luckner einstimmten. Die dicke Pepi Rößler, welche die Königin spielte, trat herein. Der laute Empfang und das allgemeine Gelächter, das nun alle, auch sie selber, ergriff, veranlaßte sie, einer Sünderin gleich die Arme vor das Gesicht zu schlagen und in tief gebeugter und tief zerknirschter Haltung gleich an der Tür auf einen Sessel zusammenzusinken. Der Lacherfolg verdoppelte sich, und es war natürlich, daß sie ihn nun verzehnfachen wollte. So rutschte sie denn vom Sessel herab, rutschte auf den Knien, mit gefalteten Händen, gegen Erasmus vor, immer mit drolliger, schmollender, bittender Miene die Worte »Pater peccavi! pater peccavi!« wiederholend.

Nachdem Erasmus sie bei den Händen und mit einem ritterlichen Handkuß aufgerichtet hatte, rannten zwei oder drei Herren gleichzeitig nach der Schaumweinflasche, weil sie mit einem strafenden Blick das Vorhandensein des perlenden Weines feststellte und mit einem »Was heißt das? wieso?«, als habe man ihr das schon Getrunkene bösartig vorenthalten, beinahe wütend danach griff.

»Nun, Pepi, sei so gut, sei sanft, sei milde!« sprach der Direktor begütigend, indem er der wohlbeleibten Person auf jede der fleckigen Wangen einen schmatzenden Kuß drückte. »Du kriegst zu trinken, du wirst für deine Reue belohnt. Es wird mehr Freude sein bei den Engeln im Himmel über einen Sünder, der Buße tut, als über neunundneunzig Gerechte.«

»Kinder, Jungens, Leute, Bengels!« sagte sie, nachdem sie gleich mehrere Gläser gestürzt hatte, »bei Kosch wird heute zehnmal soviel Schnaps als gewöhnlich gesoffen. Direktor Doktor Trautvetter liegt vollständig dun, nur immer was von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ lallend, vor der Destille. Der Geist des alten Hamlet geht um. Bei Gott, der Mann hat den Geist gesehen, geharnischt, Kinder, wahrhaftigen Gott. Der Geist und der Kümmel haben ihn umgeworfen. Syrowatky hat sich übrigens sofort als Zahnarzt etabliert, er ist Zahnarzt geworden. Ihr wollt das nicht glauben mit dem Geist? Es gibt nur einen einzigen Menschen in Granitz, den Bourtier, der den Geist nicht gesehen hat.«

Die kleine Zusammenkunft war von vornherein so dionysisch beseelt, daß ihre Schwungkraft unhemmbar in ein Gelage ausarten mußte. Nach und nach fanden sich mit Ausnahme Syrowatkys fast alle Mitglieder des Theaters, selbst die Souffleuse, ein, teils weil sie wie Bienen den Honig witterten, teils weil sie nicht in den Verdacht der Opposition kommen wollten. Unter die bedingungslos Kapitulierenden reihte sich dann auch Laertes, Erich Sündermann. Man hatte sich ja nur mißverstanden, und das sollte von nun an – man lernt sich ja schließlich besser kennen – ausgeschlossen sein. Ich hätte, schoß es Erasmus durch den Kopf, schon früher eine solche Zusammenkunft aller Beteiligten arrangieren sollen. Sie hätte die Gegensätze ausgeglichen, und selbst der Gedanke dieses Sturmes im Wasserglase wäre nicht aufgetaucht. Die Lebenslust der Studenten, die ihrem Präses Luckner geschlossen nachfolgten, ließ eine Erschlaffung des Friedens- und Siegesfestes nicht aufkommen, das man – wenig fehlte dazu – auf der andern Seite nicht minder begeistert feierte. Die leeren Champagnerflaschen vermehrten sich, allerlei Delikatessen wurden herbeigezaubert, der Stimmenlärm drang durch die offenen Fenster über den Zirkusplatz, das Glück des Augenblicks mehrte, das Gedächtnis verminderte sich, und wie sich dann in der Dunkelheit die selig betäubte Gesellschaft vereinzelte und auseinanderkam, war später nur wenigen gegenwärtig.

 

Erasmus fand sich am folgenden Morgen gegen vier Uhr in irgendeinem ländlichen Gasthaus wieder, wo Irina seine Zimmergenossin war. Erst allmählich ging ihm auf, wie er dorthin und in diese Gesellschaft geraten.

Glied um Glied setzte sich die Erinnerung bis zum Anfang der Ereigniskette fort, die mit einem todesähnlichen, kurzen Schlaf geendet hatte.

Es handelte sich zunächst darum, unauffällig nach Granitz zurückzukehren. Das durfte nicht gemeinsam geschehen, es kam vor allem darauf an, Irina unbemerkt in ihr Quartier zu schmuggeln. Daß die Mutter Lärm schlagen werde oder gar schon geschlagen habe, glaubte Irina nicht.

Es war eine Gruppe von sieben oder acht jungen Leuten, die, gereizt durch orgiastische Unternehmungslust, nach Schluß des Gelages gestern eine Landpartie angetreten hatten. Dies war bekannt, Irinas Mutter davon verständigt worden. Einspruch, wenn sich die Tochter etwas dergleichen in den Kopf setzte, gab es, wie sie wußte, nicht.

Lange, da sich verschiedene Pärchen gebildet hatten, hielt die Wandergemeinschaft zwischen den weiten Feldern nicht, so daß sich Irina und Erasmus sehr bald allein fanden. Die helle Nacht, in der nur wenige Sterne hervortraten, an aufreizender Magie dem immerwährenden Tage der Mitternachtssonne verwandt, entrückte die beiden mehr und mehr der Zeit und der Wirklichkeit und ließ sie in einer Art von Verzückung sozusagen unendlich fortwandeln.

Die Ernüchterung war nun da.

Selbstverständlich trat man aus dem Wirtshaus wiederum in die volle Morgenhelligkeit. Überall roch es von den unendlichen erntenahen Roggen- und Weizenfeldern nach werdendem Brot. Nicht der leiseste nächtliche Hauch hatte die Sonnenwärme des Tages abgekühlt.

Da besonders Erasmus die Spur des Geschehens verwischen wollte, klopfte er erst im nächsten Dorf an die Tür eines Bauern an und hatte das Glück, ein Fuhrwerk gestellt zu erhalten. Irina ward in den Wagen gesetzt und nach Granitz abgefertigt. Die Art, in der Erasmus von ihr Abschied zu nehmen vor dem Kutscher für richtig hielt, war unbeholfen, ja lächerlich. Er stellte sich so, als ob die kleine Schauspielerin auf irgendeinem der Rügenschen Herrensitze zum Vortrag von Liedern oder Gedichten engagiert gewesen sei und nun frühzeitig, um einer Theaterprobe willen, in Granitz sein müsse. Er log: wie alle, Graf, Gräfin und Gäste, von dem Vortrag entzückt gewesen wären.

 

Den Augenblick, als ein Gehölz den Wagen seinem Gesichtskreis entzogen hatte, begleitete Erasmus mit einem tiefen Atemzug. Er fand sich allein, und so war er frei und konnte das ganze Ereignis, das hinter ihm lag, als Traum betrachten.

Und wie es nun einmal in der Natur des jungen Menschen begründet war, das Alleinsein brachte ihn zu sich selber, das heißt, es rief seine geistigen Kräfte auf, setzte ihn in Besitz alles dessen, was ihn zum Herrn über sich und das Leben machen konnte, sofern überhaupt die Bewältigung seiner Krise menschenmöglich war.

Wie hatte das alles kommen können? Wenn man Klarheit darüber gewinnen könnte, so würde das auch die Erlösung von allen peinlichen, schmerzlichen, Gegenwart und Zukunft in Frage ziehenden, furchtbaren Folgen sein.

Gestern bin ich, so dachte Erasmus, ohne davon zu wissen, in einen unhörbaren Sturm geraten. Er hat mich betäubt und in diesem Zustand über einen unsichtbaren Grenzstrom geweht. Ich finde mich nun auf dem andern Ufer, in einem Jenseits, das nun mein Diesseits ist, während ich auf dem Diesseits von einst mein ganzes bisheriges Leben, nie wieder erreichbar, zurücklasse.

Wie wird dies eigentlich möglich, daß zwei einander fremde Menschen plötzlich schrankenlos verbunden sind? Waren wir eigentlich zurechnungsfähig? Oder was gab uns plötzlich diese blinde Entschlossenheit?

Ja, gedankenlos, mit blinder Gedankenlosigkeit, ohne auch nur einen Blick nach rückwärts zu tun, packte ich, dachte Erasmus, die Gegenwart. Es gab kein Gestern, es gab kein Morgen. Nun aber: das Morgen ist wieder da, und so macht sich auch wieder das Gestern und Vorgestern geltend. So oder so, hilflos vom Sturm hinübergeweht oder sinnlosen Willens in blindem Sprung hinübergelangt: der Schritt ist getan, ein Schritt von der Art derer, die man auf keine Weise zurückmachen kann.

Aber im Augenblick habe ich doch wenigstens wieder einen gewissen Grad von Freiheit erlangt. Ungeschehen ist nichts zu machen, aber man könnte die Folgen abdrosseln. Ich hätte zum Beispiel ein Telegramm erhalten und wäre, wie man etwa gegen Mittag des heutigen Tages erfahren würde, Knall und Fall abgereist. In Granitz würde man höchstens sagen: ob es nun mit dem Telegramm seine Richtigkeit hat oder nicht, man muß den jungen Doktor verstehen. Er hat eben doch die erlittene Kränkung nicht zu verwinden vermocht und die Folgerungen gezogen.

Erasmus sann weiter, des Weges nicht achtend, vor sich hin, wieder und wieder seiner Gewohnheit gemäß mit der Linken das Haar aus der Stirn streichend. Wie lange bin ich eigentlich schon in Granitz? Drei Wochen wollte ich von Hause fortbleiben, es muß ein Monat vergangen sein.

Wie beseligend ließ sich alles an nach dem Einzug in die Gärtnerei! Die Verborgenheit und das Schweigen schienen sich wie ein weicher, mütterlicher Mantel um mich zu schlagen: Gewähr für ein gelindes Wachen, einen ruhigen Schlummer und damit Genesung der überreizten Wesenheit.

Ohne zu ahnen, was sich daraus entwickeln könnte, ging man im versteckten Frieden der Jelängerjelieber-Laube mit dem kleinen Hamlet-Büchlein um. Die verwandte Gefühlswelt des Dänenprinzen konnte sich sehr wohl in die sommerliche Elegie und süße Weltentfremdung auflösen. Seit langem wieder zum ersten Male genoß man die Wonne, nicht andern zu dienen, nicht andern anzugehören, sondern sich selbst zu dienen, sein eigener Besitz zu sein.

Was wurde nun aus alledem?

Grauen würde Kitty augenblicklich getötet haben, wenn sie mit Augen gesehen hätte, was im Kornfeld geschah, als seine Ähren über mir und Irina zusammenschlugen.

War es nicht übrigens Wahnsinn, was wir gewagt hatten?

Der Knoten ihres Haares zerbarst, die lichtbraunen Strähnen peitschten umher. Kaum unterschieden sie sich von dem Lager aus niedergedrückten Weizenhalmen.

Wenn man uns hier gefunden hätte?

Ich hatte die Schultern des Mädchens entblößt. Über die eine von ihnen, die rechte, hinweg sah ich Laufkäfer, prächtig goldgrün schillernde Goldschmiede. Sie fraßen mit grausamer Gier an einem sich windenden Regenwurm. Falter in großer Menge, Kohlweißlinge, sammelten sich verräterisch über uns. Das Herz in Irinas Brust schien sich befreien zu wollen, so wild, so unregelmäßig, so dumpf, erschreckt und empört pochte es. Wie, wenn es brach? wenn das zarte Geschöpf dem Übermaß der Erregung nicht standhalten konnte? und mir plötzlich tot in den Armen hinge? Und welcher Aufruhr zugleich in der eigenen Brust! Die Gier des Raubtiers, seine scheue Hungerraserei, verbunden mit der Angst, entdeckt zu werden.

Und drang nicht eine überweltliche Eiseskälte auf mich ein, als das gewaltsam erschlossene Mysterium sich mehr schrecklich als lustvoll enthüllt hatte?

Kann es im Leben noch eine Trennung für Menschen geben, die einmal so verbunden gewesen sind? Und hier liegt der Verrat an Kitty beschlossen.

Erasmus schrak auf: Ohne Widerrede, ich werde abreisen.

Wir hörten Stimmen, sprach es in Erasmus fort, es war ein schrecklich ernüchternder Augenblick. Dann krochen wir fort auf allen vieren. Krochen und krochen auf allen vieren fort. Hätte das Kitty, der Fürst, Georgi, Frau Herbst, womöglich Syrowatky gesehen, niemals würde ich mich von dem unauslöschlichen Gelächter der Verachtung erholt haben.

Es hätte dann keiner Lungenblutung oder ähnlicher Katastrophe mehr bedurft, meinem Leben ein Ende zu machen und meiner Erniedrigung.

Die Dämmerung hatte zugenommen, Gott sei Dank. Erst nachdem ich zwei-, dreimal wie ein Hase gesichert hatte, tauchten wir auf. Wir schwiegen, nach dem, was geschehen war, oder sprachen Gleichgültiges.

Ein Fischerdorf war in der Ferne zu sehen, das erste Licht wurde angezündet.

Als wir eine Weile daraufzu gewandert waren, hielt ein breiter, noch im Lichte der untergegangenen Sonne flimmernder See, ein Arm des Boddens, uns auf, der hier ins Land reichte. Das Wasser stieg uns kaum bis über das Knie, als wir hineintraten, um das andere Ufer zu erreichen und die ersten Häuser des Dorfes daran.

Wir hatten die Aufgabe unterschätzt. Die spiegelnde Blendung erzeugte uns Schwindel, als wir eine kleine halbe Stunde gewatet waren und erst mitten im See standen. Er war zu kleinen stehenden Wellchen aufgerauht. Wenn wir schwach würden, hätten wir selbst in diesem seichten Wasser ertrinken können, da es einem sitzenden Menschen doch wohl bis über den Kopf reichte.

Nun, wir sind glücklich hinübergelangt.

»Wenn Sie vorliebnehmen wollen«, sagte eine stille und gütige Krämersfrau, die wir über den Ladentisch hinweg nach einem Wirtshaus fragten, »wenn Sie vorliebnehmen wollen, so kann ich Ihnen gern dienen mit einem einfachen Abendbrot.«

Erasmus dachte und träumte fort: diese Frau war recht mütterlich. Witwe und irgendwie Frau Herbst ähnlich, schien sie Gefallen an uns zu finden.

Wir stellten uns, als ob wir noch am gleichen Abend nach Granitz zurückwollten.

Die Ernte habe begonnen, sagte sie, und es sei mehr als fraglich, ob man einen Wagen auftreiben würde. Aber schließlich, im Notfall, könnten wir hier über Nacht bleiben.

Die gute Stube, ein kleiner Salon mit Hängelampe und Plüschsofa, wurde uns eingeräumt. Familienbildchen schmückten die Wände.

Von Minute zu Minute steigerte sich in uns das Gefühl der Geborgenheit. War es nicht wirklich wie im Märchen? Wir saßen still aneinandergedrückt auf dem Plüschsofa, während die Witwe in der kleinen Küche mit Kasserollen herumhantierte.

Lautlos trat sie nach einem Weilchen ein.

Bald strahlte das entzündete Licht der hängenden Petroleumlampe blendend von dem weißen Damast zurück, der nun den Tisch schmückte. Zwei Gedecke mit je zwei blauen Fayencetellern, schweren Silberlöffeln und Silberbesteck wurden aufgelegt. Wie ein freundlicher Schatten ein- und ausgehend, brachte die Witwe allerlei unerwartete Dinge herein: Sardellen, Sardinen, Anchovis, Kieler Sprotten und andere Räucherwaren, einen großen Block Butter, westfälischen Schinken und frisches Brot. Sie entschuldigte sich, daß sie dann nur noch eine Fleischbrühe bieten könnte und außer ein paar Spiegeleiern mit Salat ein gebratenes Huhn. Dabei vervollständigte sie die Tafel mit mehreren Gläsern eingemachter Früchte, die sie selbst konserviert hatte. Es könne, betonte sie immer wieder, hier leider nicht wie in der Großstadt sein, wo man alles zur Hand habe. Wir aßen und tranken mit Appetit. Mich erfreute ein spanischer Wein, der, noch von dem alten Kapitän und Gatten unsrer Wirtin heimgebracht, im Keller gestanden hatte. Ein gewisser, fast dämonisch fester Entschluß und die Protektion geheimer Mächte, die hier obzuwalten schienen, überließen mich nun ganz dem Augenblick und nahmen selbst den großen, dunklen, erstaunten Augen Kittys, die ich dann und wann, im Geist, auf mir ruhen fühlte, ihre verwirrende Kraft.

 

Die Witwe führte uns schließlich in ein enges, niedriges, nach Sauberkeit duftendes Schlafzimmer. »Es ist leider nur dies eine vorhanden«, sagte sie, »aber die eine Nacht muß es gehen. Ich habe ein Paravent zwischen die Betten gestellt.«

Was dieser Frau Wirtin im Sinne lag, als sie uns eines so königlichen Entgegenkommens für würdig hielt, weiß ich nicht. Ihr zerknittertes Gesicht, mit dem wohlgeordneten weißen Scheitel darüber, wurde nur hie und da vom Zucken eines der feinen Nasenflügel belebt oder von einer Bewegung der Mundwinkel, aus der man, wenn man schnell genug war, den Schatten eines flüchtigen Lächelns erhaschen konnte.

Sie hatte uns, Irina und mich, wie sie erzählte, als sie von ungefähr einen Blick durchs Fenster tat, im Bodden bemerkt und zuerst ihren Augen nicht getraut. Sie wollte einen Fischer veranlassen, uns mit dem Boote entgegenzurudern, stand aber schließlich davon ab und behielt uns jedenfalls scharf im Auge.

Eine gute Nacht, die sie uns wünschte, klingt mir noch immer im Ohr. Sie ging, die Tür verschloß sich von innen, und wir standen, Irina und ich, unauffindbar versteckt im Mysterium. Ich löste Irina die vollen Haare.

Um drei Uhr morgens sangen bereits die Lerchen in den Feldern zu unserm Leidwesen das Tagelied. Wie Stiche drangen die Töne quälend auf uns ein. Bald hörten wir dann den leise und gleichsam mitleidig klopfenden Finger der Kapitänswitwe, die den Auftrag, zu wecken, erhalten und seinem Sinn nach verstanden hatte. Wir wurden getrennt, aus einer Einheit wieder zur Zweiheit gemacht. Unbarmherzig drängte der Tag uns auseinander. Wie einer Fremden, einem Kameraden, half ich der kleinen Schauspielerin beim Anziehen väterlich. Aber wir ließen es uns von der Witwe nicht ausreden, durch den morgendlich flimmernden Bodden zurückzuwaten. Ehe wir ihn verließen, nahmen wir noch ein Morgenbad. Es scheint, daß der Begriff der Reinheit nachts und tags verschiedenen Inhalt hat. Mit einer ganz anderen Wollust als der hinter uns liegenden nächtlichen, einem Gefühl der Reinigung und der Läuterung, verwühlten wir uns in die klaren und frischen Fluten.

Soll ich nun wünschen, alles dies möchte nicht geschehen sein?

 

Erasmus wanderte stundenlang. Es war, als ob er, ziellos schreitend, dennoch ein ganz bestimmtes Ziel erreichen wollte. Es verhielt sich so: nur war es kein äußeres, sondern ein inneres Ziel. Er wollte der unerhörten Wendung in seinem Leben im Geiste Herr werden.

Nie hatte Erasmus außer seiner geliebten Frau, der Mutter seiner Kinder, ein Weib erkannt. Trotz seines sonst eigenwilligen Denkens war er in diesem Punkte altmodisch. Dadurch war zwischen Kitty und ihm allenthalben kristallklar-durchsichtige Luft, eine reine Atmosphäre, ohne die gesundes Atmen beider Seelen nicht zu denken war.

So oder so, man mußte sich abfinden.

Ausflüchte, Kopfschütteln, Selbstvorwürfe, Winseleien, Pinseleien und Feigheiten waren hier nicht angebracht. Kluges Abwarten, energisches Handeln mußten den Knoten glücklich lösen.

Erasmus stand still. Er fühlte, daß ihm alles Blut aus dem Antlitz gewichen war. Dann hielt er das Taschentuch an den Mund und fand die gefürchtete rosige Färbung. Seltsames Dasein! Überall lauerten Feinde. Nun, ein Blutsturz würde schließlich auch eine Lösung sein.

Ohne auf Zeit und Ort zu achten, stand er plötzlich in einer Fähre und bald danach am Ufer einer Insel, die in Feldern, Büschen und Hainen von Urwaldbäumen grünte. Es ist sehr heiß, dachte er bei sich, sehr viele Insekten, Bienen, Hummeln und Schmetterlinge sind unterwegs. Sehr viele Blüten sind aufgeschlossen: Disteln, Steinbrech, Salbei, Arnika, Pechnelken und roter Klee. Viel Mohn flammt im Getreide. Ein Gesumm und Gebrause ist in der Luft. Man sucht den Schatten, er bietet sich unter den Wipfeln der alten Eichen, in die sich schlangenhaft-armdick Efeu hineinwindet.

Erasmus hatte die Insel durchquert. Am andern Ufer, angesichts der blendenden See, ließ er sich in den Sand fallen. Über ihm zitterte in der heißen Luft mit ungezählten Blüten ein wilder Rosenbusch. Oberflächliche Träumereien führten den nahezu Erschöpften zurück in die Kammer der Kapitänswitwe. Wie eine Kulthandlung, dachte er, war diese Nacht. Heute bin ich der Eingeweihte.

Dann schlief er ein und lag wie ein Toter stundenlang.

 

Er wußte nicht sogleich, wo er sich befand und wie er an diesen Ort gekommen war, als er aufwachte. Die Schatten gewaltiger Buchen, die hier an den Strand traten, lagen auf ihm, was den spätnachmittäglichen Stand der Sonne anzeigte. Endlich aber besann er sich. Und plötzlich stieg die gestrige Hamlet-Probe, das Gelage im Hotel, der Eintritt Irinas in den Speisesaal und das ganze folgende Abenteuer in ihm auf, diese eigentlich unbegreifliche Überrumpelung, die ihn jetzt anwiderte. Ihm war so übel, als ob er einen vergifteten Brocken geschluckt hätte.

Als er sich den Sand von den Kleidern putzte, rutschte ihm etwas aus der Gegend des Westenausschnittes in den Schoß. Es war ein seltsam gefalztes, kleines Papier, das man im Handteller bergen konnte. Was er darin zu seinem Staunen entdeckte, war eine kleine Locke aschblonden Haars, dabei die Worte: »Der Schlaf ist heilig! Für Dich in Deiner nächsten Nähe geflochten.«

 


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