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Vergeblich sah man sich nach Erasmus um, als er die Probe geschlossen hatte. Er fühlte, daß er ohne Abschied von irgendwem die Flucht ergreifen müsse, wenn er nicht seine Haltung verlieren sollte. Die Gärtnerei war ihm jetzt kein Hafen mehr. Auch verwarf er den Gedanken einer vertraulichen Aussprache, etwa mit Jetro, beim Mittagstisch. Er beschloß vielmehr, den Rest des Sommertages allein zu sein und Begegnungen durch eine Wanderung auszuschließen.
Er fühlte sich wohler, als er nur noch leise bewegte Wogen von Halmen um sich sah. Allein und in solcher Umgebung war höchstens ebendiese Umgebung und man selbst noch eine Wirklichkeit, und es lag im eigenen Belieben, das ganze vergangene Leben als Traum anzusprechen.
Er gelangte so in ein kleines Fischerdorf am Strande des Greifswalder Boddens und wurde hier von einem jungen Menschen in Feldgrau erst angesehen und dann begrüßt. Als Erasmus langsamer ging, um nachzudenken, wer der Grüßende sein könnte, sprach ihn dieser mit den Worten an: »Du bist doch Erasmus Gotter? Kennst du mich nicht?«
Es dauerte lange, bevor in der Seele des Angeredeten die Gestalt jenes Jünglings auftauchte, mit dem er ein Berliner Wintersemester hindurch auf studentischem Fuße verkehrt hatte. Weniger die drei bis vier Jahre, die seitdem verflossen waren, als die Geschehnisse, die dazwischen lagen, hatten sein Bild dem Gesichtskreis Gotters so weit entrückt. Endlich aber erkannte er ihn und wußte auch seinen Namen.
Obgleich Erasmus das Geduztwerden wie das Dusagen im Verkehr mit dem ihm fast fremd gewordenen einstigen Kommilitonen unnatürlich war, gelang es ihm doch, sich hineinzufinden. Es schien ihm sogar nach kurzer Zeit, als ob ihm nichts Besseres als diese Begegnung hätte widerfahren können, durch die er in eine längst versunkene Lebensepoche zurückversetzt und so dem Vorstellungskreise seiner verwickelten Gegenwart entrückt wurde.
Der junge Reimann war Leutnant bei der Wasserpolizei, welche Fischerei und Schiffahrt des Regierungsbezirkes zu beaufsichtigen hatte. Um den Proviant etwas aufzufrischen, wie er sagte, hatte er sich an Land setzen lassen. Ein Matrose erwartete ihn im Ruderboot. Draußen – er zeigte es seinem Freunde – lag sein kleines, graues Kontrolldampferchen.
Reimann war eine schlichte Natur, ein gerader, pflichttreuer Mensch, der den Umgang mit Erasmus gesucht hatte, obgleich dessen Art, undurchsichtig und schwer zu umreißen, der seinen eigentlich zuwider war. Gotter fühlte sehr bald, daß sich die einstige Neigung Reimanns zu ihm in alter Stärke erhalten hatte. Worauf sie sich gründe, hätte er nicht zu sagen gewußt, da er ihn in das chaotische Hoffen und Wollen in seinem Innern nicht eingeweiht hatte. »Ich habe mich nie gefragt«, sagte Reimann, »was aus dir geworden ist, aber wenn ich eine Zeitung aufschlug, hoffte ich immer, von dir zu lesen.«
»Oh«, sagte Erasmus, »in die Öffentlichkeit mich hineinzudrängen, habe ich keine Neigung gehabt.« Und er stellte dem einstigen Freunde seine Lage obenhin und mit ein paar einfachen Strichen dar, die von seinen wirklichen Schicksalen nichts verrieten.
»Ich bin verheiratet, habe Kinder«, sagte er, »ich leide nicht Not, war ein bißchen herunter und habe mir das kleine Granitz für eine dreiwöchige Erholungszeit ausgesucht, die nun beinah vorüber ist.«
»Ich weiß ja nicht, was du vorhast«, sagte Leutnant Reimann nach einiger Zeit, »aber es wäre doch eigentlich schade, wenn wir den glücklichen Zufall unserer Begegnung nicht ein bißchen ausnützen könnten. Du bist doch übrigens ein ziemlicher Bücherwurm, sage doch mal, wie das zu erklären ist: seit Jahren habe ich wohl hie und da an dich gedacht. Aber heut morgen, gerade heut morgen, fielen mir alle unsere durchzechten Berliner Nächte ein. Gerade heut morgen. Ist das nicht merkwürdig?
So ist es. Erklären kann man es nicht. Mein alter Pastor Schidewitz spräche natürlich sofort von göttlicher Vorsehung! – Wenn ich wüßte, ob du frei bist und Lust hättest, so möchte ich dir einen etwas verwegenen Vorschlag machen. Schließlich und endlich, du brauchst ja nur nein zu sagen. Komm mit mir aufs Schiff und fahre mit uns nach der Greifswalder Oie hinüber und von dort nach Saßnitz hinauf. Oder wenn du zurück nach Granitz mußt, können wir dich in Lauterbach ausbooten.«
Wenig später saß Erasmus an Deck des kleinen Regierungsdampfers, der gegen die mit der Fußspitze zu erreichende Wasserfläche nur durch ein Tau gesichert war, das durch die Öhre auseinanderstehender, graugestrichener Eisenstangen lief. Das ganze Schiffchen war grau gestrichen. Seine Besatzung betrug drei Mann, Leutnant Reimann inbegriffen. »Mach's dir bequem«, sagte er zu Erasmus, und dieser, der bereits auf einem der hängemattenartig konstruierten Liegestühle lag, den ein Matrose gebracht und zurechtgerichtet, war einem Dämmerzustand verfallen, sobald ihn der Freund allein gelassen.
Sein Aussehen gefiel Reimann nicht. Er sagte zu sich: vielleicht weiß er es nicht, aber er ist ein Phthisiker. Wer weiß, was er hat! Wer weiß, was ihn auf dem Magen drückt! Und als er durch eine Lücke das bleiche Antlitz des mit geschlossenen Augen Träumenden sah, konnte er sich davon kaum losreißen, weil er durch einen nie gesehenen Ausdruck tiefen Grames gebannt wurde. Als es ihm eine Viertelstunde später schien, der Freund sei eingeschlafen, nahm er die kleine, regenbogenfarbene Seidendecke, in die er sich nachts zu wickeln pflegte, und deckte sie leise und vorsichtig über ihn.
Sollte Erasmus nicht übermüdet sein, nach Wochen, Tagen und Stunden, in denen Tun sowohl als Erleiden an die Kraft seines Körpers und seiner Seele die schwersten Anforderungen stellte? Im halbwachen Hinschlummern, das ihm so wohltätig war, sah er irgendwie eine gnädige Fügung darin, gerade jetzt dem Freunde begegnet und von ihm, nicht unähnlich einem Schiffbrüchigen, an Bord genommen worden zu sein. Der Puls der Maschine, das leise Schüttern und Zittern des Schiffskörpers, das rhythmische Rauschen des von den Schraubenflügeln gequirlten Wassers lullten ihn ein, und wenn er die Augen schläfrig öffnete, sah er in den unendlichen Glanz des Himmels und des Wassers, der ihn umgab. So losch er aus und wachte erst auf, als das Schiffchen unter dem Steilufer der Greifswalder Oie Anker warf. Er hatte vier Stunden tief geschlafen.
Die Jugendfreunde stiegen an Land. Von einem stark verwahrlosten Guts- und Gasthäuschen aus wurde die kleine, trostlose Insel abgeschritten. Auf der Wiese liefen einige Pferdchen umher, grasten einige magere Kühe, die man angepflöckt hatte. Der Gutshof litt im äußersten Grade an Verwahrlosung. Die verfallenen Unterkünfte für das Vieh waren zur Hälfte von durchjauchtem Dung angefüllt. Der Pächter des Gutes, das den anbaufähigen Grund und Boden der Insel umfaßte, besaß weder Arbeitskräfte noch Kapital für seine Bewirtschaftung. Leutnant Reimann hatte mit ihm zu unterhandeln, im Auftrag der Regierung, die Eigentümerin der Insel war.
Der Tag war heiß. Der wolkenlose Himmel lag in jenem milchigen Dunst, der, obgleich er die Sonne verschleiert, das Auge quält. Die Luft stand still, der nahende Abend versprach keine Abkühlung. Einem vergessenen und zerbröckelnden Torso gleich lag das Eiland im unbewegten Brackwasser. Die kleinen Buchten der Ostküste hauchten übelriechende Dünste aus. Es ist hier die Gegend, wo die Mündung der Oder ihr Süßwasser mit dem salzarmen Wasser der Ostsee vermischt und ihre Sinkstoffe ablagert. Das Wasser ist seicht, und wenig unter dem Wasserspiegel herrscht eine üppige Vegetation. Es werden nicht viele Jahrhunderte nötig sein, wie die unterwühlte Ostküste des Inselchens zeigt, bis die Greifswalder Oie zerbröckelt und ihr Moränenschutt, Geschiebelehm mit Granitblöcken, unter der Oberfläche des Wassers verschwunden ist. Hier ist dann vielleicht aber nur noch eine weite, üppige Sumpfebene und später dann trockene Wiesen und Ackerland, wenn die Verlandung sich vollendet.
Die Freunde unterhielten sich über diesen Gegenstand, während sie durch die stockende Schwüle dahinschritten. Sie erreichten einen vom Winde verkrüppelten und zerzausten, kleinen, verwilderten Wald, dessen wüstes Durcheinander den harten Kampf mit den Mächten verriet, gegen die er sich durchsetzen mußte. Der Grund war von mannshohen Nesseln und anderem Unkraut bedeckt, von verfilztem Gestrüpp, durch das sich hartes und rissiges Wurzelwerk hinschlängelte. In dem Bestehen dieser vereinsamten, wüsten, arg mitgenommenen Vegetation drückte sich Not, Schmerz, stumpfsinniger Trotz, ja Verzweiflung aus. Nicht in den Augen Reimanns vielleicht, um so mehr aber in denen des jungen Erasmus, dessen Wesen das Wahrgenommene in Verbindung mit einem allgemeinen furchtbaren Schicksal empfand, durch das er von seinem kleinen besonderen gleichsam befreit wurde.
Erasmus hatte nach einem Zauberschlaf seine Seele dem Leben wieder geöffnet und war damit zeitlich und räumlich dem Zustande weit, weit entrückt, der ihn vor dem Einschlafen umgeben hatte. Er fragte sich, welcher von beiden Zuständen seinen letzten Wünschen mehr entsprach. Er entschied: der naturnahe, einfache, jetzige. Eine Flucht brachte ihn seinerzeit in das Granitzer Gärtnerhaus, wo er Frieden zu finden hoffte, eine zweite Flucht dann hierher, weil er das Gesuchte in Granitz nicht gefunden hatte. Wenn man diese Insel auf neunundneunzig Jahre pachten, einige schlichte, saubere Wohn- und Wirtschaftsbauten darauf errichten und ihren Lehmboden mit Fleiß und Sachkenntnis landwirtschaftlich ausnützen könnte, so hätte man, dachte Erasmus, vielleicht den einzigen Lebensberuf gefunden, durch den gesunde Kräfte aufgerufen und ein wahres männliches Dasein gewährleistet würde. Man hätte dann besonders mit dem Eigenleben gewisser Hirngespinste aufgeräumt, mit der Welt leerer Einbildungen, durch die einem das Mark aus den Knochen gesogen wird.
Plötzlich dachte er: Wie, wenn ich nun krank würde?! Wenn ich mich in eines der kleinen Zimmerchen des Gutshauses legte, das ja zugleich ein kleines Gasthaus für Sommerbesucher ist? Das wäre dann eine erlösende force majeure, und ich brauchte nicht in den Granitzer Strudel zurückzukehren. So sehnte er tatsächlich eine Krankheit herbei, als das einzige Mittel, das ihn aus der zunehmenden Wirrnis sowohl der kleinen Residenz als seines Inneren befreien konnte. Das Eiland symbolisierte ihm eine Art von wohligem Tod, in dem seine Lebensmüdigkeit sich möglicherweise ausruhen konnte. Ob er wohl die Kraft aufbringen würde, in einen unnatürlichen Wirkungskreis zurückzukehren, dessen er mit einemmal sozusagen nach Kern und Schale überdrüssig war? Er hatte ja, was das Granitzer Theater und alles, was damit zusammenhing, betraf, nicht zum ersten Male solche Anfälle. Das, was ihn an Bühne und Bühnenwesen angezogen und entzückt hatte, stieß ihn während ihrer Dauer ab. Irgendwie erregte ihm dann dieses ganze Scheinwesen eine Art Angst, verbunden mit Übelkeit, so daß er kalten Schweiß von der Stirn wischen mußte. Hunde, die man berührt hat, schütteln sich. Erasmus hätte gern in dem Bade, das er vor dem Abendessen mit Reimann vom Schiff aus nahm, seinen eingebildeten Hamlet mit seinem eingebildeten Schicksal abgespült, im Wasser der Ostsee die Erinnerungen an den in eingebildeten Gefühlen und Kämpfen schwelgenden Kreis von eitlen Halbnarren, als die er die Schauspieler jetzt empfand, zurückgelassen: was ihm aber durchaus nicht gelang.
Gesetzt den Fall, er würde wirklich krank – sein Puls ging schnell, seinem Gesamtbefinden nach konnte er recht wohl erhöhte Temperatur haben! – und Georgi mußte seinen Hamlet allein herausbringen, das Inselchen war nicht aus der Welt und konnte sowohl von Kitty als auch von Irina und schließlich auch der Prinzessin mit ebenso leichter Mühe, wie er sie gehabt hatte, erreicht werden. Was für Szenen konnten sich dann an seinem Krankenlager abspielen! Während er mit Reimann zu Abend aß, suchte er immer wieder vergeblich innerlich zu entscheiden, welche von den drei Frauen ihm die unentbehrliche sei, bis das kleine Mahl mit Hilfe einiger Flaschen Wein und dank der Umgebung, in der es abgehalten wurde, ihn aus dem Bereich der Kleinkümmernisse in eine losgelöstere Sphäre des Daseins hob.
Der an sich bei dieser Jahreszeit nie ganz verdunkelte nördliche Himmel war überdies durch den Mond erhellt, so daß ein normales Auge ohne Mühe zu lesen vermocht hätte. Bei solchem magischen Zwielicht saßen die Freunde an einem Tischchen einander gegenüber, kaum erhoben über die Wasserfläche. Reimann war sehr aufgeräumt. Man konnte ihm ansehen, daß der Zufall dieser Begegnung ihm eine große Freude bedeutete. Erasmus gestand sich, er habe nicht gewußt, eine wie starke und herzliche Neigung der junge Mensch ihm entgegenbrachte. Jetzt schien es ihm fast wie ein Wunder, daß dieser Horatio ihm in einem Augenblick schwerster Verwirrung zugeführt worden war: ja, er, nicht Jetro, war sein Horatio, und damit hatte sich Erasmus wieder mit dem dämonischen Scheinwesen Hamlet identifiziert.
Diese Verwandlung, wie eine Art Maske, samt der Horatio-Fiktion machte Erasmus möglich, vor dem Jugendfreunde nach und nach sein Herz auszuschütten. Es war bisher nur in Briefen an Tante Mathilde geschehen, aber eben nur, soweit es in Briefen und einem alten, klugen Fräulein gegenüber möglich ist.
»Du kannst dir kaum denken, Reimann«, sagte er, »wie unwirklich und wie seltsam unverständlich mir mein Leben geworden ist. Da drüben in Granitz, wo ich mich für einige Wochen, um mich selber wiederzufinden, von aller Welt, sogar von Frau und Kindern, fernzuhalten gedachte, bin ich mir selbst entfremdet worden. Ich komme mir vor wie ein Hampelmann. Mit andern Worten: ich habe die Verfügung über die Bewegung meiner Arme und Beine nicht mehr. Auch mein Geist ist gleichsam in eine fremde Maschinerie hineingeraten. Ich muß laufen und springen, wenn ich stehen will, ich bin angepflöckt, wenn ich fliehen will. Ich muß mich begönnern lassen, wo ich eine Gunst nie und nimmer suchen werde. Bei dieser Gelegenheit ist freilich auch manches in meinem Wesen mir selbst zum ersten Male erkennbar geworden: eine in Geld und Ehre umzusetzende Fähigkeit hat sich aus mir herausgestellt. Ich kann etwas. Ich vermag etwas, das ich niemals gelernt habe.
Anderen, die sich mit viel Fleiß und Erfahrung darum bemüht haben, bin ich überlegen darin. Aber eigentlich widert mich die Sache dermaßen an, als ob ich sie in einem früheren Dasein schon bis zum Überdruß ausgeübt hätte. Erfolge auf diesem Gebiete erfreuen mich nicht, sie erzeugen mir eher Traurigkeit. So ist es bei der Hamlet-Tragödie. Soweit ich sie ganz ernst nehme, schlägt sie mich so in Bann, daß ich von dem Lebensekel Hamlets in den Wunsch nach Selbstvernichtung getrieben werde. Ich fürchte den Ehrgeiz, der seit einigen Wochen sich bei mir gemeldet hat und vielleicht schon unausrottbar in mir geworden ist. Dabei fürchte ich seine Folgen mit einer an Feigheit grenzenden Befangenheit, auch wenn sie in großen Erfolgen gipfeln sollten. Ich wünsche unbeachtet zu bleiben. Was ich will und ersehne, ist ein Leben in Verborgenheit. Das Leben ist Schmerz. Schmerz und Leben ist ein und dasselbe. Nervenkraft ist molekulare Störung, die sich von einem Nervenende zum andern fortsetzt. Das Leben beruht auf Reizen. Reiz oder Verletzung oder Verwundung ist einerlei: weshalb das Leben auf Verwundung beruht, und Verwundung ist wiederum Schmerz. Hat man schwere Krankheiten durchgemacht, so weiß man davon zu singen. Jeder Eßreiz ist einem widerlich. Man schließt die Augen, die Netzhaut kann dem Lichte nicht standhalten. Der laute Ton verwundet das Ohr. Ein Volkslied wird mit süßer Stimme gesungen – der Kranke wehrt ab und bricht in Wein- oder Schreikrämpfe aus.«
Reimann lachte. Er sagte, es sei ein Fehler, so viel zu grübeln. »Du grübelst zuviel, das habe ich immer und immer gesagt.
Ich denke, man muß das Leben hinnehmen«, fuhr er fort. »Was mich betrifft, so darf ich sagen, das, was ich davon erwartet habe, deckt sich so ziemlich mit dem, was es gehalten hat. Ich fürchte mich vor dem Leben nicht, wobei allerdings mein Vorteil ist, daß ich keine großen Rosinen im Sack habe. Mit jemand, in dem es gärt und rumort wie in dir, vergleiche ich mich natürlich nicht.
Vielleicht hast du irgendeinen großen Beruf, irgendeine große Aufgabe, die dich einmal belasten wird und die sich heut schon dunkel ankündet. Da herrscht eine gewisse Uferlosigkeit, während ich mich in dem mir überall angenehmen Gedanken der vorgezeichneten Pflicht sicher und wohl fühle.«
»Ich beneide dich«, sagte Erasmus. »Ehrlich und in einem guten Sinne beneide ich dich. Ich bin manchmal ein einziges Übelbefinden. Dabei hätte ich das, was mir drüben an dem kleinen Fürstenhof geschieht, als Glück zu buchen. Es ist eigentlich eine Häufung von Glück, die mir, gleich einem Gewölk, die Sonne verdüstert. Sie belädt mich zudem mit einer vielfachen Last, die ich, wie Hans im Glück den Mühlstein, gern in dem nächstbesten Brunnen ersäufen möchte. Dieses mein vielfaches Glück ist ebenso vielfach klettenhaft. Es gibt mir Wind unter die Flügel, trotzdem kann ich nicht fliegen, ebensowenig wie eine Fliege, die in einem Honigtopf versunken ist und sich nun aus dem Blütenzucker, so gut es geht, herauskrabbelt.«
Und nachdem Erasmus sich versichert hatte, er spreche in des Freundes Seele wie in ein Grab, begann er von seiner Frau, alsdann von Irina Bell und schließlich von der Prinzessin zu reden. Es tat ihm wohl, daß Reimann das Ganze gar nicht besorgt, sondern eher heiter zu nehmen schien. Nun ja, wenn Erasmus am kommenden Morgen oder Nachmittag in Stralsund zu seiner Frau stoßen müßte, dann käme es schließlich nur darauf an, den Eiertanz des Lebens mit Humor und Geschick auszuführen. Der außenstehende und in diesem Augenblicke sehr glückliche Reimann schloß: »Mir ist leider niemals so etwas passiert, mir würde die Sache riesigen Spaß machen.
Wir sind noch jung«, fing er wieder an, »man muß in der Jugend alles mitnehmen.«
Die gute Laune des Jugendfreundes benutzte Erasmus wie einen Korkgürtel, der ihm wenigstens jetzt ein gut Teil der herniederziehenden Schwere nahm. »Die Sache in Granitz«, sagte er, »hat schließlich auch eine gute Seite. Veni, creator spiritus! Ich weiß nicht, Reimann, ob dir bekannt ist, wie Goethe das Genie definiert. Er nennt keinen Menschen ein Genie. In den Teich von Bethesda fuhr, nach der Bibel, von Zeit zu Zeit ein Engel hernieder. Die Kranken wurden gesund, wenn sie mit dem Engel zugleich, und während das Wasser noch bewegt von ihm war, in den See hineinstiegen. Der Mensch, der von dem Besuche des Genius begnadet wird, gleicht sozusagen einem solchen Bethesda-Teich. Nur vorübergehend steigt der Genius in ihn hernieder. Aber während dieser Zeit ist eben der Teich lebhaft und feurig bewegt. Wenn es durch einen Cherub geschieht, der in unsereinen herniederfährt, so bringt er vier Gesichter mit: Mensch, Adler, Löwe und Stier. Dann ist das Gefäß vielleicht zu schwach, den mächtigen Dämon zu beherbergen. Es fließt über oder zerbricht. Oder es ist ein gefallener Engel Luzifers, ein Schlangendämon, der drei Flügelpaare hat: dann reißt er einen vielleicht über Himmel und Erde mit sich fort. Man ringt nach Luft und vergißt das Atmen. Veni, Creator Spiritus! Es ist in der Tat eine Art Besessenheit in mich gekommen. In aller Demut nehme ich diese Berufung und Begnadung auf. Daemo, vis animae divinae. Das kleine Granitzer Sommertheater als Rahmen ändert an der Größe der Sache nichts. Für mich ist sie groß. Ich mag zerspringen.
Der Mensch, vom Genius beansprucht, ist sein Instrument. Das erkennt man am deutlichsten in der Musik. Ich bin nur ein schwächliches Instrument. Ich bekenne in aller Demut: ich erwarte mit geradezu qualvoller Spannung den Augenblick, wann der Gott wieder aus mir weichen wird. Ich möchte nicht immerfort sozusagen mit Kiel, Rippen und Wanten beben, wie ein von den dämonischen Kräften des Dampfes vorwärtsgejagtes Schiff. Ich sehne mich nach dem einfach Menschlichen, nach dem menschlich Einfachen, nach dem Beruhen im Eigenen, nach Betrachtergelassenheit und gesunder kindlicher Daseinsgenügsamkeit. Aber der Abgrundsengel will mich nicht loslassen.
Die ganze Sache ist Zauberei!«, mit diesen Worten hatte Erasmus einen längeren Vortrag über den »Hamlet« eingeleitet. »Ich unterliege einer Zauberei. Ich werde wie Hamlet in etwas Ungewolltes hineingezogen. Das Ungewollte hat den Charakter der Unabwendbarkeit. Das ist bei Hamlet die eigene Mutter, deren heiligen Körper ein in seinen Augen geiler, schmutziger Schuft entehrt, der, wie eine Stimme vom Jenseits ihm in die Seele haucht, noch dazu der Mörder seines Vaters ist. Vor welche unabwendbaren Scheußlichkeiten sieht sich dieser dem Ideale der Reinheit hingegebene Mensch und Prinz gestellt! Und er, dessen hoher Gedanke war, seine Freiheit zu einem Leben in Freiheit zu gebrauchen, sieht sich unwiderruflich auch um diese Freiheit geprellt. Der Zwang zur Rache, der Zwang zum Verbrechen wird einem Verzweifelten auferlegt, wodurch das Schmutzige ein für allemal die Reinheit unmöglich macht, die schwärzeste Schuld sich an Stelle der Unschuld setzt. Denn mit dem Morde eines Vater-Bruders behaftet, womöglich mit der Schuld am Tode der eigenen Mutter dazu, läßt sich die Seele, was auch immer die Schreckenstat zu rechtfertigen vermag, nie mehr reinwaschen. Vor Mord, vor Blut, vor Schuld, vor dieser ganzen blutriechenden, blutrichterlichen, rohen und schlachterhaften Aufgabe, die er wittert und vor der er selbst, wie das Tier in der Nähe des Schlachthauses, bebt, schreckt Hamlet schon in der ersten Szene des Dramas zurück. Er verbirgt, was er ahnt, weiß und fühlt, und versucht in der Stille auszubrechen. Aber zu seinem Verderben bewilligt der Aigisthos des Stückes den nachgesuchten Urlaub seines Prinzen Orestes-Hamlet nicht. Der Prinz will sich retten vor seiner Aufgabe. Er will sich verstecken in Wittenberg.
Hier wird durch die blind-folgsamen Hände des Ehebrechers in Hörigkeit gegen die königliche Ehebrecherin, verstärkt durch die zärtlichen, blind-tastenden Hände der Mutterliebe, das Verhängnis ein für allemal losgebunden. Nun dauert es nur noch kurze Zeit, bis Hamlet nicht mehr Herr seiner Entschlüsse ist. Indem sich der Ermordete vor ihm und in ihm materialisiert, materialisiert sich das stattgehabte Verbrechen. Von nun an gibt es kein Ausbrechen mehr, kein wittenbergisches Versteck, ja nicht einmal mehr ein Wegblicken.
Aber Hamlet ist kein Orest, er ist mehr als Orest, obgleich die Atmosphäre, in der er lebt, dem ›Totenopfer‹ von Aischylos, diesem Drama der Blutrache, innig verwandt ist.
Wahnsinn, der hell die Haare sträubt,
in Träumen Zukunft offenbart, im Schlafe Wut
aushaucht, erhob um Mitternacht im Hause
lauten Klageruf der Angst
und kam ins Fraungemach grauenschwer hereingestürzt –
das ist die Atmosphäre, und zwar in der Nacht des Schauspiels im Schauspiel, des aufgeschobenen Mordes an König Claudius und des Besuches, den Hamlet im Schlafgemach seiner Mutter abstattet. Oder wenn es heißt:
Voll Unmut schaun die drunten im Grabe
zürnend ihre Mörder an.
Und:
O Kind, des Abgeschiednen Geist bewältigt niemals
zermalmenden Feuers Zahn.
Das ist wiederum diese Atmosphäre, und zwar, soweit sie den zürnenden Heros, König Hamlets Geist, umgibt und seine Erscheinung auf der Terrasse. Und wenn es heißt:
Die Toten morden, sag' ich euch, den Lebenden –
so trifft das wiederum zu bei diesem Geist. Und ferner:
Auf festem Grund ruht Dikes Stamm,
das Richtbeil schärft ihr die Schmiedin Aisa;
und alten Mordes Greuelschuld
sühnend, führt den Sohn zuletzt
ins Haus zurück die hohe, stets wache Straferinnys.
So zurückgeführt aus Wittenberg, steht Hamlet im Palaste seines Vaters – dem von dessen Mörder usurpierten – im schwarzen, langen Trauermantel düster warnend da, erdrückt fast von seiner nur erst geahnten Aufgabe. Und Hamlet hat in Horatio, wie Orest, seinen Pylades.
Hamlet aber ist mehr als Orest, wie gesagt. Und was er eigentlich ist, in seiner Eigenart und Neuart ist, das wird noch manchen im Bewußtsein seiner selbst sein Schicksal lebenden Menschen beschäftigen. Möchten die Psychologen die Hand von ihm lassen, Leute, die klassifizieren und summarisch von außen sehen. Es wäre bitter, eine der höchsten Leidensgestalten jugendlichen Lebens, eine der allerwürdigsten und heiligsten, in der Zelle einer Nervenanstalt oder in einem Krankenjournal wiederzufinden. Hamlet hält sich für zu gut, um ein willenloses, gemeines Rachewerkzeug zu sein. Er liebte seine Einmaligkeit. Lieber, als Schaden an seiner Seele zu nehmen, wollte er einen Augenblick lang auf die Befriedigung seines Rachedurstes verzichten, ja sich sogar seiner Pflicht entziehen, der er den Wert seines Lebens opfern sollte.«
Erasmus brach ab und entschuldigte sich mit seiner Hamlet-Monomanie, weil er den Freund langweile. Der gab zur Antwort: »Oh, bitte, ich wüßte nicht, was ich lieber hörte! Denke doch, wie eintönig und geistlos mein dienstliches Dasein ist. Wenn du mir die Ehre erweisen willst, betrachte mich ruhig weiter als deinen Horatio oder Pylades.«
Es käme nur darauf an, hatte Reimann gesagt, wenn Erasmus seine Frau in Stralsund abfange, den Eiertanz des Lebens mit Humor und Grazie zu tanzen. Dieser gute Rat hatte leider seine Kraft vollständig eingebüßt, als der junge Gatte, auf dem Bahnsteig hin und her schreitend, die Einfahrt des Zuges erwartete, der ihm seine Frau bringen sollte. Auch der Korkgürtel des heiteren Leichtsinns, den ihm der Freund zugeworfen, hielt nicht mehr: ein Ertrinkender rang mit den Wellen.
Wie hatte er in den Jahren der Verlobungszeit nach leider unumgänglichen Trennungsperioden der Geliebten zitternd entgegengeharrt! Mögliche und unmögliche Hindernisse wurden ausgedacht und, in der Angst, das Überglück doch noch einzubüßen, fast zum wirklichen Geschehnis aufgebauscht. Heute würde ihm eine Last von der Seele gefallen sein, wenn keine Kitty dem Zuge entstiege und etwa ein Telegramm mit der Nachricht käme, daß sie durch irgend etwas, sagen wir Sorge um die Kinder, an der Reise verhindert worden sei.
Er war zu bestürzt, als er die telegraphische Meldung ihres Kommens in Händen hielt. Sonst hätte er Kitty sofort auf gleichem telegraphischen Wege von der Reise abraten müssen. Freilich war sie bereits unterwegs, die Depesche von Leipzig datiert, wo sie Verwandte hatte, und deren Adressen, wie überhaupt Adressen, im Kopfe zu behalten, war Erasmussens Sache nicht.
Übrigens würde ein solches Durchkreuzen von Kittys Wünschen ein Wagnis gewesen sein. Sie war ja doch voller Zuversicht und wollte dem jungen Gatten einen neuen, frohen, gesundeten Menschen entgegenbringen. Seine Abwehr in diesem Augenblick würde sie in eine Krise geworfen haben.
Aber ihr Kommen war geradezu verhängnisvoll! Oder es mußte vor der Gefahrzone bewahrt werden. Gab es eine schwerere Aufgabe, wenn sie nicht überhaupt unlösbar war?
Nun wird Kitty bald aus dem Kupee steigen, grübelte es in Erasmus fort. Sie wird schwarz gekleidet sein, denn sie hat eine Schwester durch den Tod verloren. Sie wird erwarten, daß ich, wie in den Zeiten vor der Trennung, mit der Welt unserer familiären Freuden, Sorgen und Nöte verwachsen bin. Den Raum dieser Welt hat aber nun eine ganz andere okkupiert oder meinetwegen usurpiert, und es wird meinem quälenden Aufwand an Täuschungsversuchen schwerlich gelingen, ihr das zu verschleiern. Wäre sie in acht Tagen gekommen, wenn der ganze Hamlet-Spuk Vergangenheit ist, sie hätte vielleicht einen völlig entlasteten, völlig geheilten Menschen zurückgeführt.
Gut, daß in Granitz heute nur eine Beleuchtungsprobe ist! Baron Cramm besorgt diesen Teil der Arbeit ohne mich. Ich werde mit Kitty ein Gasthaus hierorts aufsuchen. Es wird keine sehr erquickliche Sache sein, ist jedoch unumgänglich notwendig. Könnte ich Kitty hier diese Nacht allein im Hotel lassen? Lange dachte Erasmus nach, aber eine mögliche Ausflucht, dies zu rechtfertigen, gab es nicht. Du fürchtest dich also, mit deiner Frau zusammen im selben Zimmer zu sein? gestand er sich.
Die Lage des jungen Menschen war in diesem Augenblick kläglich. Seine Gedanken führten ihn an die Grenze der Erbärmlichkeit. Er schämte sich geradezu seiner Frau. Man wird lächeln, ja kichern, dachte er, wenn ich mit ihr in Granitz auftrete. Eine Lösung ganz anderer Art als die tragische könnte eintreten, wenn Irina und wenn die Prinzessin mit spöttischen Mundwinkeln registrierten, daß ich, von einem berechtigten weiblichen Nutznießer meiner Person begleitet, unter Aufsicht bin. Ich hätte dann gar nicht mehr nötig, mir über die Art, wie ich mich aus ihren Schlingen löse, Gedanken zu machen, denn höchstwahrscheinlich wäre ich ihnen fortan nur noch lächerlich. Dazu käme der boshafte Hohn des Oberhofmeisters, der mir den letzten Wind aus den Segeln nähme, bis mir am Ende nichts übrigbliebe, als über einen völligen Wetterumschlag am Fürstenhofe dankend zu quittieren und mit einem Laufpaß und meiner Frau kläglich abzuziehen.
Kittys Gegenwart unterbrach in der Tat jede Entwicklung. Das Drama »Hamlet« war nun allerdings, einer Uhr ähnlich, so weit aufgezogen, daß es von selbst ablaufen konnte. Aber die lebendigen Beziehungen und Verknüpfungen schicksalhafter Art wurden durch einen jähen Schnitt getrennt und waren damit wohl dem Tode verfallen. Diese fremde Frau, die außerhalb des Granitzer Wirbels stand, hatte wahrscheinlich die Kraft, alle elektrischen Ströme, musikalischen Wellen und seelisch zündenden Fluiden durch eine Art von Erstickungsfeld abzufangen, das Laut und Echo verstummen machte.
Nicht ganz ohne ein gewisses beruhigtes Staunen fühlte Erasmus, dem großen Erlebnis von Granitz gegenüber, das ihn doch so auf- und umwühlte, eine tragikfreie Ernüchterung. Dies bewirkte allein schon Kittys Annäherung. Er wurde von ihrer Sphäre angezogen. Gleichsam mit gelähmten Flügeln war er aus den Bereichen gesteigerten Lebens, aus dem Feueräther der Kunst, aus der immerwährenden Festivitas der Bühne auf den harten Boden des Alltags zurückgesunken. Konnte er, da in diesem Zustande die Rettung aus allen Wirrungen lag, damit nicht zufrieden sein? Nein, durchaus nicht. Er war nicht zufrieden. Und wenn er darin verbrennen mußte: er sehnte sich in das Fegefeuer zurück!
Und Kitty paßte, wie Erasmus wußte, in den wie eine Art Frühlingssturm aufgekommenen geselligen Zustand der kleinen Fürstenresidenz durchaus nicht hinein. Sie war darin ein bleierner Fremdkörper. Aus allen diesen Gründen: was sollte geschehen? Es mußte gelingen, sie heimzuschicken.
Durch solche Erwägungen durchaus berechtigter, sehr vernünftiger Art wurde Erasmus auch zu der Überzeugung gebracht, daß diese Lösung die einzige sei, durch die man Katastrophen vermeiden und die drohenden Wirrnisse einem friedlichen Ende zuführen könne. Das Wohl Kittys, seiner Kinder und seiner Ehe verlangte sie. Er brauchte sein schlechtes Gewissen nicht aufzubieten, Angst vor seiner Verwicklung mit der Prinzessin sprach hier nicht mit, ebensowenig der Durst seiner Leidenschaft, den er, solange Kitty in Granitz war, vielleicht nicht mehr löschen konnte. Nein, hier wurde ganz einfach dem guten Rat des gesunden Menschenverstandes Folge geleistet und das getan, was das einzig Rettende und Richtige war.
Diese und andere Erwägungen hatten das Wesen des Grüblers mehr und mehr nach innen gekehrt, so daß er erst wieder zu sich kam, als er sich leise von rückwärts berührt fühlte. Schnell fuhr er herum und erkannte die, welche zu erwarten war.