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»Wissen Sie etwas über ›Josses‹?« fragte mich ein mir bekannter Kuriositätenhändler. – »Josses?« – »Ja, Götzenbilder, japanische Götzenbilder–Josses.« – »Einiges«, antwortete ich, »aber eigentlich sehr wenig.« – »Nun, kommen Sie mit mir und sehen Sie sich meine Sammlung an. Ich sammle nun schon zwanzig Jahre Josses und habe einige, die es wohl verdienen, betrachtet zu werden – sie sind aber nicht verkäuflich – außer natürlich für das Britische Museum.«
Ich folgte ihm durch das Bric-a-brac seines Ladens über einen gepflasterten Hof in ein ungewöhnlich ausgedehntes Go-down. Ein Name, mit dem man in den Hafenstädten des fernen Ostens feuerfeste Lagerräume bezeichnet. Das Wort Go-down stammt aus dem malaiischen »Gâdong«. Wie alle Go-downs, war es finster: nur mit Mühe konnte ich einen Stiegenaufgang unterscheiden, der in die Dunkelheit hinaufragte. Beim Treppenabsatz blieb er stehen und sagte: »Geben Sie acht, Sie werden gleich besser sehen, ich habe diese Räume eigens für die Josses gebaut, aber nun reichen sie gar nicht mehr aus, sie sind alle im zweiten Stock. Steigen Sie behutsam hinauf, die Treppe ist schlecht.«
Ich stieg empor, erreichte eine halbdunkle Halle unter einem sehr hohen Dach und fand mich von Angesicht zu Angesicht den Göttern gegenüber.
In dieser Dämmerung des großen Go-down war das Schauspiel mehr als phantastisch: es war gespenstisch. Arhats, Buddhas und Bodhisatwas, und Bilder und Gestalten aus einer noch älteren Götterwelt füllten den ganzen schattenhaften düstern Raum. Nicht nach Hierarchien geordnet, wie in einem Tempel, sondern wahllos zusammengewürfelt, wie in einer plötzlichen Panik. In dem Gewirr zahlloser Köpfe, zerbrochener Aureolen und drohend emporgehobener Finger oder im Gebet gefalteter Hände, einem gleißenden Durcheinander von verstaubtem Gold, auf das durch die spinnwebbedeckten Luftluken ein trübes Licht fiel, konnte ich anfänglich nichts unterscheiden. Aber als ich mich an das Dunkel ein wenig gewöhnt hatte, begann ich allmählich die verschiedenen Persönlichkeiten zu erkennen. Ich sah Kwannons in verschiedenen Gestalten; Jizos mit vielen verschiedenen Namen; Shakas Jakushis, die Buddhas und ihre Schüler. Sie waren sehr alt und nicht von ausgesprochen japanischem Gepräge, auch trugen sie keine Zeichen eines bestimmten Ortes oder einer bestimmten Zeit. Es waren Exemplare aus Korea, China, Indien, Schätze, die aus der Zeit der Blüte der buddhistischen Missionäre herübergebracht worden waren. Manche ruhten auf Lotosblumen – der Lotosblume der »irdischen Geburt« –, andere ritten auf Leoparden, Tigern, Löwen oder mystischen Ungeheuern, die den Blitz und den Tod versinnbildlichten. Eines, dreiköpfig und vielarmig, düster und imposant, schien sich förmlich durch das Dämmer zu bewegen, wie es auf seinem Thron von einer Phalanx von Elefanten getragen wurde. Ich sah einen von Flammen umloderten Fudo und eine Maya-Fujin auf ihrem himmlischen Pfau. In seltsam anachronistischer Mischung mit diesen buddhistischen Visionen sah man bewaffnete Daymios und chinesische Schriftgelehrte. Da waren kolossale, bis an die Decke reichende Gestalten des Zorns, die Donnerkeile schwangen: die Devakönige, wie Personifikationen der Kraft des Orkans; die Ni-Os, die Hüter der längst verschwundenen Tempeltore. Da waren auch üppige Formen von Frauengestalten: die leichte Anmut ihrer Glieder umschlossen Lotoskelche, und die Biegsamkeit ihrer Finger, die die Zahl der Guten Gesetze aufzählten, war nach Idealen geformt, die wahrscheinlich in irgendeiner verklungenen Zeit von dem Reiz einer indischen Tänzerin inspiriert worden waren. An der nackten Ziegelwand darüber konnte ich Gestalten untergeordneter Art wahrnehmen: Dämonen, mit Augen, die durch die Nacht funkelten wie die Augen einer schwarzen Katze, und Gestalten halb Vogel, halb Mensch, mit Flügeln und Schnäbeln wie Adler – die Tengus der japanischen Volksphantasie.
»Nun?« sagte der Kuriositätenhändler mit einem Schmunzeln der Befriedigung über mein unverhohlenes Erstaunen.
»Es ist eine ausgezeichnete Sammlung,« erwiderte ich.
Da legte er die Hand auf meine Schulter und schrie mir triumphierend ins Ohr: »Kostet mich fünfzigtausend Dollars!«
Aber die Bilder selbst sagten mir, um wieviel mehr für sie in längst vergessenen frommen Mühen entrichtet worden war – trotz der Wohlfeilheit der künstlerischen Arbeit im Orient. Auch erzählten sie mir von den Millionen Pilgern, deren Füße die Treppen gehöhlt hatten, die zu ihren Schreinen hinaufführten, von den nun toten Müttern, die kleine: Kinderkleidchen vor ihren Altären aufzuhängen pflegten, von den Generationen von Kindern, die man lehrte Gebete an sie zu richten, von den zahllosen Kümmernissen und Hoffnungen, die man ihnen anvertraute. Die Erinnerung jahrhundertelanger Anbetung war ihnen ins Exil gefolgt; ein dünner süßer Weihrauchduft durchschwebte den öden, verlassenen Raum ...
»Wie würden Sie diese Gestalt nennen?« fragte die Stimme des Kuriositätenhändlers; »man sagt mir, es ist das beste Stück der Sammlung.« Er wies auf eine Figur, die auf einem dreifachen goldenen Lotos ruhte – Avalokiteswara: sie, »die auf den Klang der Gebete herniederblickt ... bei ihrem Namen glätten sich die Wogen von Sturm und Haß, vor ihrem Namen erstickt das Feuer, beim Klang ihres Namens entschwinden Dämonen, kraft ihres Namens kann man im Räume aufrechtstehen, gleich der Sonne ...« Die Anmut ihrer Glieder, die Zärtlichkeit ihres Lächelns stammen aus den Träumen des indischen Paradieses.
»Es ist eine Kwannon,« sagte ich, »und zwar eine sehr schöne.«
»Ich werde auch einen sehr schönen Preis für sie verlangen,« sagte er mit schlauem Augenzwinkern. »Sie kostet mich genug, obgleich ich im allgemeinen die Sachen wohlfeil erstehe. Es gibt nur wenig Käufer dafür, und sie müssen heimlich gekauft werden; nun, das ist ja eben der Vorteil.«
»Sehen Sie doch jenen Joß drüben in der Ecke, den großen, schwarzen Mann; wer, glauben Sie, ist das?«
»Emmei Jizō,« antwortete ich, »Jizō, der den Menschen langes Leben schenkt. Er muß sehr alt sein.« »Nun?«, sagte er, mich wieder auf die Schulter klopfend, »der Mann, von dem ich dieses Stück erstand, kam ins Gefängnis, weil er es mir verkauft hatte.« Er brach in ein herzhaftes Lachen aus; ob in der Erinnerung an seine eigene Schlauheit bei der Transaktion oder über die klägliche Einfalt des Verkäufers, war mir nicht klar.
Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Sie wollten es dann wieder haben und boten mir mehr dafür, als ich gezahlt hatte, aber ich ließ nicht locker. Ich weiß nicht genau Bescheid über Josses, aber so viel weiß ich, daß sie sehr viel wert sind. Im ganzen Lande gibt es kein solches Exemplar wie dieses. Das Britische Museum wird sicherlich froh sein, es zu bekommen.«
»Wann beabsichtigen Sie es dem Britischen Museum anzubieten?« fragte ich.
»Nun,« sagte er, »ich möchte zuerst eine Ausstellung arrangieren, in London kann man durch eine solche Ausstellung eine schöne Summe zusammenbringen – denn so etwas haben die Londoner wahrhaftig noch nie zu sehen bekommen. Faßt man die Sache vernünftig an, so kann man bei einem derartigen Unternehmen von der Geistlichkeit sehr gefördert werden: »Heidnische Götzen aus Japan!« Es unterstützt die Missionsarbeiten ... Wie gefällt Ihnen das Baby?«
Ich blickte auf das goldfarbene Bild eines nackten Kindes – ein Händchen wies hinauf, das andere hinab – es stellte den neugebornen Buddha dar. »Lichtstrahlend entstieg er dem Schoße, gleich der Sonne, wenn sie im Osten aufgeht ... Aufrecht stehend machte er sieben bedächtige Schritte, und die Spuren seiner Füße auf dem Boden blieben leuchtend wie sieben Sterne. Und er sprach mit vernehmlicher Stimme die Worte: »Meine Geburt ist eine Buddha-Geburt, für mich gibt es keine Wiedergeburt, nur dieses letzte Mal werde ich geboren, zum Segen und Heil aller auf Erden und im Himmel.«
»Das ist, was man einen Tanjo-Shaka nennt,« sagte ich, »es sieht wie Bronze aus.«
»Es ist auch Bronze,« sagte er, mit dem Finger daran pochend, um das Metall tönen zu lassen. »Die Bronze allein ist mehr wert, als ich dafür gezahlt habe.«
Ich betrachtete die vier Devas, deren Köpfe beinahe das Dach berührten und dachte an die Geschichte ihres Erscheinens, wie sie die Mahavagga berichtet: »In einer schönen Nacht betraten die vier großen Könige den heiligen Hain, indem sie den ganzen Raum mit Licht erfüllten; und nachdem sie sich ehrfürchtig vor dem Gebenedeiten geneigt hatten, standen sie in den vier Richtungen wie vier Feuersäulen.«
»Wie haben Sie es nur ermöglicht, die vier Figuren heraufzubringen?« fragte ich.
»O, sie sind eben hinaufgehißt worden – wir haben einen Aufzug. Die eigentliche Schwierigkeit war der Eisenbahntransport: es war ihre erste Eisenbahnfahrt ... aber sehen Sie sich mal die an, die werden der Clou der Ausstellung sein!«
Ich blickte in die angegebene Richtung und sah zwei Holzfiguren von ungefähr drei Fuß Höhe.
»Warum glauben Sie, daß gerade diese Sensation machen werden?« fragte ich unschuldig.
»Sehen Sie denn nicht, wer sie sind? Sie stammen aus der Zeit der Verfolgungen – es sind japanische Teufel, die auf das Kreuz treten.«
Es waren nur kleine Tempelhüter, aber ihre Füße ruhten auf kreuzförmigen Unterlagen.
»Hat Ihnen denn jemand gesagt, dies seien Teufel, die auf das Kreuz treten?« wagte ich zu fragen.
»Was sollten sie sonst tun?« antwortete er ausweichend. »Betrachten Sie doch die Kreuze unter ihren Füßen.«
»Aber sie sind doch keine Teufel,« beharrte ich, »die Kreuze wurden unter ihre Füße gelegt, um sie im Gleichgewicht zu erhalten.«
Er schwieg, aber er sah enttäuscht aus; und er tat mir ein wenig leid. » Teufel, die auf das Kreuz treten«, als eine Ausstellungsnummer von »Josses aus Japan« in irgendeiner Londoner Affiche angekündigt, das hätte Zugkraft gehabt!
»Dies hier ist weit wunderbarer,« sagte ich, auf eine schöne Gruppe deutend, »Maya mit dem Kinde Buddha, das nach der Überlieferung aus ihrer Seite entsprossen ist. Schmerzlos war der Bodhisatwa aus ihrer rechten Seite geboren. Es war der achte Tag des vierten Monats.«
»Das ist auch aus Bronze,« sagte er, und klopfte mit dem Finger darauf. »Bronze-Josses fangen an, selten zu werden. Wir pflegten sie zum Preise von altem Metall aufzukaufen und wieder loszuschlagen. Ich wünschte, ich hätte einige von ihnen behalten. Sie hätten damals die Bronzen sehen sollen, die von den Tempeln herkamen. Glocken, Vasen, Josses! Das war die Zeit, wo wir versuchten, den Daibutsu in Kamakura zu kaufen.«
»Als alte Bronze?« fragte ich.
»Ja, wir berechneten das Gewicht des Metalls und bildeten ein Syndikat. Das erste Angebot war dreißigtausend, wir hätten einen großen Profit erzielen können, denn das Ding enthält einen beträchtlichen Wert an Gold und Silber. Die Priester wollten es verkaufen, aber das Volk gab es nicht zu.«
»Es ist eines der Wunder der Welt,« sagte ich; »hätten Sie es wirklich übers Herz gebracht, es zu zerstückeln und einzuschmelzen?«
»Gewiß, warum nicht? Was sollte sonst damit geschehen? Das drüben sieht genau so aus wie die Jungfrau Maria, nicht wahr?« Er deutete auf das vergoldete Bildnis einer weiblichen Gestalt, die ein Kind an ihre Brust drückte.
»Ja,« sagte ich, »aber es ist eine Kishibōjin, die Göttin, die die kleinen Kinder liebt.«
»Die Leute sprechen von Götzenanbetung,« fuhr er sinnend fort; »in römisch-katholischen Kirchen habe ich viele Bilder gesehen, die diesen gleichen ... Mir scheint, die Religionen in der ganzen Welt sind so ziemlich gleich.«
»Darin mögen Sie recht haben,« sagte ich.
»Nun ja, die Geschichte von Buddha ist wie die Geschichte von Jesus, nicht wahr?«
»Gewissermaßen,« stimmte ich zu.
»Nur wurde er nicht gekreuzigt.«
Ich antwortete nicht, und meine Gedanken schweiften zu dem Texte: »In der ganzen Welt ist nicht ein Fleckchen Erde von der Größe eines Senfkorns, wo er nicht seinen Leib dahingegeben hätte um der lebenden Wesen willen.« Ich begriff plötzlich, daß dies vollkommen wahr sei. Denn der Gott des tieferen Buddhismus ist nicht Gautama noch irgendein Tathâgata, sondern ganz einfach das Göttliche im Menschen. Alle sind wir Schmetterlingspuppen, die die Unendlichkeit einschließen: jeder von uns birgt eine Buddhaseele, und die Millionen sind nur eins. In ihren ewigen Träumen der Illusion trägt die ganze Menschheit den latenten Keim eines Buddha in sich; und des Meisters Lächeln wird die Welt wieder schön machen, wenn die Selbstsucht einmal ausgestorben ist. Jedes edle Opfer bringt die Stunde seiner Wiederkunft näher; und wer vermag zu bezweifeln – bedenkt man die Myriaden von Zeitaltern der Menschheit –, daß selbst jetzt kein Fleckchen auf Erden vorhanden ist, wo nicht schon ein Leben um der Pflicht und Liebe willen freudig dahingegeben worden wäre?
Wieder fühlte ich die Hand des Kuriositätenhändlers auf meiner Schulter ruhen.
»Jedenfalls,« rief er in munterem Tone, »wird man sie doch im Britischen Museum zu schätzen wissen – was?«
»Ja, ich hoffe. Verdienen würden sie es schon,« bestätigte ich.
Dann stellte ich sie mir in irgendeinem Saale jener gewaltigen Nekropolis der toten Götter vor, von grüngelbem Nebel umwebt, den Raum mit vergessenen ägyptischen und babylonischen Gottheiten teilend, in dem Getöse des Londoner Straßenlärmes leise erschauernd ... Und all das zu welchem Ende? Vielleicht einen zweiten Alma Tadema anzuregen, die Schönheit einer entschwundenen Zivilisation im Bilde darzustellen; vielleicht um zur Illustration eines englischen buddhistischen Diktionärs beizutragen; vielleicht um einen zukünftigen Laureatus zu einer so überraschenden Metapher zu inspirieren wie Tennysons Bild von dem »gesalbten und gelockten assyrischen Stier« (oiled and curled Assyrian bull).
Sicherlich werden sie nicht vergebens dort bewahrt werden. Die Denker einer weniger konventionellen und selbstsüchtigen Zeit werden uns aufs neue Ehrfurcht vor ihnen lehren. Jedes vom menschlichen Glauben geschaffene Idol bleibt die Schale einer ewigen göttlichen Wahrheit, ja die Schale selbst kann geheimnisvolle Kraft haben. Die reine Klarheit, die leidenschaftslose Zärtlichkeit dieser Buddhagesichter vermag noch jetzt dem Abendland Seelenfrieden zu bringen, das in seinen zur Konvention herabgesunkenen Religionen keine Befriedigung mehr findet und des Kommens eines neuen Heilands entgegenharrt, der da verkünden wird:
» Ich habe dieselbe Liebe für Hoch wie für Nieder, für den Sittlichen wie für den Unsittlichen, für den Verderbten wie für den Tugendhaften, für jene, die Irrlehren anhängen, wie für jene, deren Glaube gut und wahr ist.«