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Angenehmes Leben und großartige Geschenke.

Die Sonne schien und es war Sommertag, ein schöner Sommertag zu Anfang Juli, als Jenny ihre neue Stelle antrat, denn es war der Frau Hauptmann Granbom gelungen, sie noch vom März bis nach Johannis über die zwei Jahre hinaus zu behalten.

Alles war dem Antritt ihrer ersten Stelle so unähnlich wie möglich. Erstlich war Jenny nun viel ruhiger über »Mama und die Kleinen«. Sie hatte die Freude gehabt, sie nun beim Stellenwechsel in der Stadt besuchen zu können. Allerdings war Mama in den zwei Jahren recht grau und gebeugt geworden, aber sie war ruhig und resigniert und fand Freude und Trost in ihrer Pflichterfüllung und der Arbeit mit dem beschwerlichen »Haushalt für Schulknaben«.

Und »die kleinen Geschwister« waren große, stattliche Menschen geworden. Karl, für dessen Schulbesuch man in den letzten Jahren auf Elgarås alles erspart hatte, was sich ersparen ließ, hatte im Frühlinge seine Maturitätsprüfung glücklich bestanden. Die weiße Studentenmütze glänzte nun über den großen, treuherzigen, blauen Augen, die denen Jennys immer ähnlicher wurden, und mit einem stutzerhaften Anstrich zupfte der junge Herr stets und mit Vorliebe an seinem nur ganz nahebei sichtbaren, braunen Diminutivschnurrbarte. Er hatte keine Aussicht, seine Studien fortsetzen zu können. Doch dies bereitete ihm gerade keinen Kummer, denn an brennender Begier hatte er nie gelitten und nun hatte ein allmächtiger städtischer Matador, dessen Gunst er gewonnen, ihm das Versprechen gegeben, ihm zum Herbst Anstellung an der städtischen Filiale der Reichsbank zu verschaffen. Anfänglich nur gegen geringes Gehalt, aber er würde doch sein eigenes Brot essen und das an Mamas Tische, was ihm das Liebste von allem war.

Emmys Flachshaar hatte sich in cendré verwandelt und ihre schwankende, ungefügige Backfischgestalt in eine schlanke, prächtige Mädchenfigur; das bleiche Gesichtchen war rosig und fast hübsch, in den beiden bedeutungsvollen Jahren von 15 bis 17 hatte sich die Puppe in einen Schmetterling verwandelt. Sie hatte notdürftig Buchführung und gut Handarbeit machen gelernt. Ihre Anlagen und ihre Neigung wendeten sich deutlich dem letzteren zu, und sie hatte nun auch schon eine Stelle in dem einzigen Tapisseriegeschäft angenommen, bediente die Kunden und nähte mit brennendem Eifer, wenn es keine Kunden zu bedienen gab. Eine bescheidene Stelle! Dreißig Kronen monatlich! Nun ja, es geht, da Mama ja doch für die Schulknaben kocht, und das kleine Feldbett mit der abgenutzten, geflickten Decke für die Tochter ja doch stets in seiner Ecke steht.

Jenny versprach ihr, etwas zu ihrer Kleidung beizutragen. Jenny sollte ja nun jährlich 300 Kronen, freie Station und großartige Geschenke haben.

Diesmal flossen auch keine Thränen beim Abschiede auf dem Bahnhofe, als Jennys kurze Ferien zu Ende waren und sie nach ihrem neuen Wirkungskreise fuhr. Nein, es gab frohe Blicke, trostreiche Worte und eine große Tüte mit Konfekt und Kuchen. Und als der Zug aus der Bahnhofshalle fuhr, nickte Mama so aufmunternd und Emmy eilte einige Schritt mit und rief ein letztes Lebewohl, wobei ihre junge, liebliche Gestalt von den gierigen Augen einiger hoffnungsvoller Probenreiter fast verschlungen wurden. Karl aber stand dort, groß, männlich und stattlich, und schwang seine weiße Mütze, so lange Schwester Jenny ihn noch sehen konnte. Und das Beste von allem! Der große Bahnhof Elfstad, wo sich drei Linien kreuzten und wo die große Fabrik lag, bei der Ingenieur Rünkrans zugleich als Disponent und technischer Direktor angestellt war, lag nur zwei Stunden von Brackstad, wo Mama und die Kleinen wohnten.

Schneller als Jenny es sich gedacht hatte, erreichte der Zug Elfstad, wo die Passagiere nach Malmö, Kristiania, Japan, Otaheiti und der ganzen Welt überhaupt umsteigen mußten, denn die Bahnlinie Brackstad-Elfstad ging nicht weiter.

Es war abends halb zehn.

Niemand holte sie ab und niemand kannte sie hier, wenn nicht vielleicht nach der Photographie, die die Assessorin ihr abgefordert hatte, um sie ihrem Bruder »zur geneigten Besichtigung« zu schicken. Mit ein wenig zögernden Schritten und fragendem Gesicht trat Jenny mit der Hutschachtel und dem Regenschirm in der Hand in das Stationsgebäude.

»Sind Sie vielleicht das Fräulein, das zu Ingenieur Rünkrans, Villa Framnäs will?« fragte ein Assistent mit artigem Gruße.

»Ja.«

»Dann, bitte! Draußen steht die Framnäser Equipage. Frau Rünkrans telephonierte eben und bat mich, nach dem Fräulein zu sehen. Nur fünf Minuten zu fahren. Oh, ich bitte! Mein Name ist Åsendal, und meine Mütze kennzeichnet mich; hoffe, später noch oft das Vergnügen zu haben. Ergebenster Diener! Ja, es ist der Wagen dort.«

Ja, der Wagen war elegant genug, und die Pferde ebenfalls, aber Jenny hätte sich mehr gefreut, wenn ihre künftige Herrin ihr mit einem »Ah, Sie sind es! Willkommen, willkommen! Ja, nun gehen wir das kleine Ende zusammen zu Fuß,« auf dem Perron freundlich die Hand gedrückt hätte.

So würde es zugehen, hatte sie gedacht und sich lange überlegt, was sie darauf antworten müsse, sich auch vorgenommen, gleich einen wirklich guten Eindruck zu machen, aber als nun der Wagen auf eine Landzunge im See einfuhr und vor einer feinen Villa hielt, aus deren Garten Lärm und Lachen erscholl und auf deren Veranda nur ein Stubenmädchen mit frischgeglätteter Schürze stand, das beim Knicksen die Fremde forschend betrachtete, da wurde aus all den guten Vorsätzen nur ein tonloses: »Guten Abend!«

Einige Minuten später stand Jenny in ihrem eigenen Zimmer, in dem einen Turme der Villa. Ein reizendes Zimmer mit einer unbeschreiblich herrlichen Aussicht über die auch noch nach Sonnenuntergang lachenden Inselchen und Buchten des Sees. Durch das offene Fenster drang Lachen, Schreien und Gesang.

»Haben die Herrschaften heute Abend Gesellschaft?« fragte sie, als das Mädchen mit den Sachen heraufkam.

»Nein, das sind nur einige Herren, die den Herrn Ingenieur gelegentlich besuchen.«

»Dann kann ich nun vielleicht Frau Rünkrans begrüßen?«

»Ja, sie bat gerade, das Fräulein möchte so gut sein, hinunterzukommen, sobald Fräulein fertig wäre.«

Jenny sah das Mädchen forschend an. Sie war außerordentlich höflich, durchaus korrekt, knickste artig und antwortete schnell, doch in ihrem Ton und noch mehr in dem Ausdrucke ihres hübschen Gesichtes lag etwas, das Jenny nicht gefiel.

Dann schritt jene voran und führte Jenny durch die hübschen, fein möblierten Zimmer des ersten Stockes, bis sie sich schließlich vor einer Flügelthür umwandte und mit einem Lächeln auf den vollen, roten Lippen noch einmal knickste.

Drinnen war also die künftige Herrin.

Im Zimmer war kein Licht angezündet und die Uhr ging auf zehn. Jenny konnte nur die Conturen einer langen, mageren, blonden Dame sehen, die in einem Lehnstuhle am Fenster saß und sie mit einer eigentümlichen Stimme, kindlich, wehmütig, schrill, halbschluchzend und fast lallend zugleich, begrüßte: »Willkommen, Fräulein Högfeldt! Entschuldigen Sie, daß ich Sie so empfange, aber das Aufstehen macht mir so viel Schmerzen und ich kann kaum noch gehen. Ich bin sehr schwächlich. Sie sehen selbst, wie sehr ich Ihrer bedarf. Eigentlich kann ich kaum auf sein, aber Emil will es.«

»Es wäre mir unendlich lieb, Frau Rünkrans, wenn ich Ihnen eine wirkliche Hilfe sein, Ihnen nützen und das Hauswesen einigermaßen Ihren Wünschen entsprechend leiten könnte, bis Sie selbst wieder so gesund sind, daß Sie demselben vorstehen können.«

»Liebes Fräulein, ich werde nie wieder gesund. Doch ach ... Es thut mir leid, Ihnen nun nicht einmal so viel Ruhe lassen zu können, daß Sie sich ausruhen, da Sie doch kaum abgelegt haben ... aber die Herren sollen nun essen ... um das Essen selbst ängstige ich mich nicht, das besorgt die Köchin, wenn Sie aber ein Auge auf die Tafel werfen wollten ... Emil will ... und unser früheres Fräulein mußte Montag abreisen ... daß es nicht mit dem Servieren hapert ... der liebe Emil ist so eigen ...«

Sie lallte fast wie ein Kind, und Jenny empfand ein stechendes Schmerzgefühl in der Brust, als sie in den Eßsaal ging. Dort konnte sie freilich nichts mehr ausrichten und sich kaum noch rechtzeitig zurückziehen, ehe die munteren Herren aus dem Garten hereinstürmten und über den Butterbrotstisch herfielen. Emils »Anforderungen« an einen vergnügten Abend schienen indessen, nach allem zu urteilen, schon so gründlich erfüllt worden zu sein, daß weder er noch einer der Übrigen imstande war, das Souper strenge zu kritisieren.

»Der Ga–a–anze geht – singt hopp valleralla ...« klang es aus nun ziemlich heiseren Kehlen zu der Begleitung einiger Gläser und Teller, die auf den Fußboden gestoßen wurden. Jenny zitterte geradezu und ganz verlegen im Anrichtezimmer. Es war ja an und für sich nichts dabei, aber sie war an so etwas nicht gewöhnt und fühlte, daß sie bis an die Haarwurzeln rot war, daß die Dienstmädchen sie neugierig anblickten und die Jungfer leise lachte. Dann erschollen schwere Tritte in der Thür.

»Wo ist das Pils ... oh wen habe ich? Jaso, es ist ja wahr, das Fräulein sollte heute Abend kommen. Laura ließ Sie doch abholen? Aber Sie sehen ja ganz erschreckt aus. Nur hübsch ruhig, kleine ... Eule! Wir werden Sie nicht auffre–he–essen, wenn wir nur etwas anderes für unsere Zähne bekommen.« Jenny sah ihn nur mit Augen an, die sich mit jeder Sekunde zu erweitern schienen, und dieser Blick wirkte. Ingenieur Rünkrans richtete sich auf und versuchte sich, so gut es ging, von den Banden des Rausches zu befreien. Er fuhr in einem ganz anderen Tone fort:

»Verzeihen Sie, Fräulein! Ich wollte Sie eigentlich ein wenig anders in unserm Hause willkommen heißen. Doch nun sind Sie jedenfalls müde und der Ruhe bedürftig. Dies hier können die Mädchen recht gut allein besorgen.«

Jenny neigte schweigend das Haupt und der Ingenieur ging, murmelnd:

»Mehr Pilsener Bier, Lisette!«

Eine Stunde darauf waren die Gäste fort, und Jenny hatte die halbgeleerten Punsch- und Cognacflaschen aus dem Garten holen lassen, setzte sie nun in einen Wandschrank im Saale, in dem, wie sie sah, ähnliche Dinge standen, und schloß zu.

»Bestes Fräulein, das pflegen wir zu besorgen,« erklärte Lisette.

»So?« sagte Jenny und steckte den Schlüssel in die Tasche. Mitternacht war schon vorüber, als Jenny endlich in ihr Zimmer trat. Trotz der lauen Sommernacht überlief sie ein Frösteln und ihr Gesicht war leichenblaß, als sie nun am offenen Fenster stand und ihr reiches, glänzendes Haar auflöste. Sie begriff selbst nicht, was ihr war; eigentlich war ja garnichts vorgefallen, doch still, was war das? Auf der Bank gerade unter ihrem Fenster flüsterte und rührte es sich.

Sie beugte sich vor.

Drunten auf der Bank saßen der Ingenieur und Lisette in vertraulichem Gespräche; er hatte den Arm um sie gelegt ... Jenny stieg das Blut in die Wangen, und ihre Hand zitterte, als sie das Fenster schloß und die Gardinen zuzog.

Jetzt verstand sie, warum die Atmosphäre ihr vom ersten Moment an, da sie den Fuß in dieses Haus gesetzt hatte, so drückend erschienen war. In den langen Jahren, wo sie über den Tag nachgesonnen hatte, an dem sie in die Welt hinaus und fremdes Brot essen müßte, hatte sie, wie sie glaubte, ihre Stellung nach allen Seiten hin erwogen. Gegen große Anforderungen, gegen übertriebene Ansprüche hatte sie sich im voraus mit Tüchtigkeit und Geduld zu waffnen versucht. Gegen Hochmut und Geringschätzung dagegen, daß sie möglicherweise wie ein besseres Dienstmädchen behandelt werden könnte, hatte sie in Gedanken ihre ganze Kraft aufgeboten, demütig zu erscheinen, wenn auch ihr Blut vor verletztem Stolze aufwallen sollte. Gegen Launenhaftigkeit, Ungerechtigkeit und harte Worte hatte sie sich gerüstet. Aber gegen die verpestete Luft, deren Vorhandensein an diesem häuslichen Herde sie immer deutlicher ahnte, fühlte sie sich schutzlos und zu Boden gedrückt, und sie schämte sich, als hätte sie selbst etwas Böses begangen und kroch in ihrem Bette zusammen, als müßte sie sich vor Geißelhieben schützen.

Ihre körperliche Ermüdung und die erhitzte Phantasie jagten die Gedanken in wilder Fahrt durch das erschreckte Köpfchen auf dem weißen Kissen. Zuletzt kam ein anderer Gedanke, ruhiger, sanfter und mit ihm eine Erinnerung aus der Kinderzeit. Das Gebet, das Abendgebet! Ja sie pflegte es auch nun nicht ganz zu unterlassen, nun, da sie ein großes Mädchen geworden war, aber oft waren Wochen vergangen, Wochen voller Müdigkeit, Anstrengung und Arbeit, in denen die flinken, tüchtigen Hände sich in der Stille des Abends nicht ernst gefaltet hatten; nun aber näherten sie sich einander an der runden Wange, das reine, warme Herz schlug ruhiger, die Augenlider schlossen sich und sie träumte, daß sie wieder eine kleine Dirne sei und Gewitter, Regen und das Brüllen des großen Stiers sie draußen auf den weitgestreckten Wiesen von Elgarås erschreckten, doch Papa käme, und mit starken Armen sein kleines Mädchen aufhöbe und alles mit einem Male wieder ruhig und gut würde.

Als am Morgen die Sonne durch die Gardinen schien und sie weckte, hatte sie zuerst nur noch eine dunkle Erinnerung von ihrem ersten Auftreten in Framnäs. Sie sprang aus dem Bette, eilte ans Fenster, öffnete es, atmete die frische Morgenluft ein, fühlte sich jung und stark und dachte: »Weshalb sollte ich nun traurig sein?« Dann erinnerte sie sich des rotglühenden Antlitzes ihres Prinzipals, seiner lallenden Rede und der Gruppe auf der Bank; aber ausgeruht und beim Tageslicht, nahm sie alles ruhiger, und als sie gegen neun Uhr mit dem Ingenieur am Frühstückstische zusammentraf und Lisette den Kaffee brachte, stand sie, frisch und anmutig in ihrem einfachen hellen Sommerkleide am Saalfenster und sah ihnen beiden so ruhig ins Gesicht, wie sie mit ihrem offenen guten Blicke jedem begegnete, der eintrat. Es waren nur drei: der Ingenieur, fein, gut gekleidet, artig und in jeder Art gewandt, ein Sohn von vierzehn bis fünfzehn Jahren und ein ein oder zwei Jahre jüngeres Mädchen, die beide sonst in Brackstad zur Schule gingen, jetzt aber in den Ferien zu Hause waren. Die Frau bekäme später in ihrem Zimmer Frühstück, erklärte Lisette.

Man aß unter vollständigem Stillschweigen von drei Seiten. Nur der junge Klaus führte ein großes Wort und berichtete von seinem Fischen und Schwimmen. Doch als die Kinder hinausgegangen waren, trat der Ingenieur auf Jenny zu, ergriff ihre beiden Hände und sah ihr mit einem Lächeln in die Augen, das Jenny unwillkürlich »Dienstmädchenbezaubererlächeln« genannt haben würde, wenn ihr der Ausdruck bekannt gewesen wäre.

Er war eigentlich ein schöner Mann, groß und dunkel, mit regelmäßigen Zügen, doch es lag etwas Schlaffes, Altes in seinem Gesichte und in seiner Haltung, obwohl er nicht mehr als höchstens fünfundvierzig Jahre alt sein konnte.

»Liebste, Sie haben doch wohl nicht einen gar zu unangenehmen Eindruck von Ihrem ersten Abend auf Framnäs bekommen, hoffe ich? Es sieht beinahe aus, Fräulein, als gehörten Sie zu den hochtrabenden Mädchen.«

»Das weiß ich nicht, Herr Ingenieur, hoffe aber, daß Sie in mir stets eine der pflichttreuen finden werden,« stotterte Jenny blutrot und trat hastig einen Schritt zurück. Es war ihr noch nie passiert, daß ein fremder Herr sie »Liebste« und »Mädchen« genannt und ihre beiden Hände so kräftig gefaßt hatte, als gelte es, eine Bauernpolka zu tanzen.

»Das hoffe ich gewiß,« lachte der Ingenieur und ging nach einer ziemlich leichten Verbeugung aus dem Zimmer.

Jenny setzte ein bißchen Frühstück auf ein Präsentierbrett und trug es selbst zu ihrer Herrin. Doch in der Thür fuhr sie beinahe zurück bei dem Anblicke der skelettartigen Gestalt, die dort, nun voll beleuchtet vom Sonnenlichte, im Lehnstuhle saß. Gestern Abend im Dämmerscheine hatte man doch nicht sehen können, daß die arme Frau so hinfällig war. Dies war ja eine wandelnde Leiche, und Jennys Hände zitterten, als sie ihr das Präsentierbrett darbot.

»Wie freundlich von Ihnen, liebes Fräulein! Guten Morgen! Danke! Danke! Wenn Sie doch stets dazu Zeit hätten, damit Lisette es nicht brauchte ... Sie ist ein sehr tüchtiges Mädchen, aber ich mag sie eigentlich nicht gern, obgleich Emil will ... Danke!«

Jenny ordnete das Frühstück auf einem Tische vor dem Lehnstuhle, und das Herz schwoll ihr vor Teilnahme, als sie sah, wie schwach und hilflos die Kranke war. Die Finger zitterten und das herabträufelnde Ei befleckte den feinen Morgenrock, der zahlreiche Spuren von früherem, ähnlichen Mißgeschick trug.

»Verzeihen Sie mir ... aber ... es steht heute gewiß recht schlecht ... darf ich Ihnen nicht helfen?«

Und dann gab sie ihr wie einem Kinde zu essen.

»Danke, liebes, gutes Fräulein. Ich habe nie darum bitten wollen und es hat auch nie jemand dazu Zeit gehabt, denn es darf nichts im Hause versäumt werden. Emil fordert die strengste Ordnung und Pünktlichkeit.«

Sie blickte zufällig auf und sah große Thränen in Jennys Augen glänzen. Mit ihrer welken Hand strich sie liebkosend über Jennys braunes Haar und flüsterte:

»Sie sind sicherlich ein gutes Mädchen und auch gewiß in einem guten, liebevollen Heim aufgewachsen?«

»Ja, Frau Rünkrans.«

»Und Ihre Eltern hielten viel von einander, nicht wahr?«

»Ja, sehr viel.«

Die Kranke seufzte, ihr Kopf sank schlaff gegen die Lehne und sie schloß die Augen. Jenny schlich sich leise mit dem Präsentierbrett hinaus. Obgleich Jenny mit keinem aus dem fast ausschließlich aus Herren bestehenden Umgangskreise der Familie Rünkrans genauer bekannt wurde, so erfuhr sie doch so nebenher die Geschichte dieser Ehe. Sie, ein reiches Mädchen, hatte vom ersten Augenblick an, da sie einander kennen lernten, mit ganzer Seele an ihm gehangen, und sowie er, der nur in materieller Hinsicht vorwärts wollte, was es auch koste, sich zu dem »Geschäfte« entschlossen hatte, kam es zur Heirat. Sie hatte immer einen schwächlichen Körper gehabt, nach der Geburt der Kinder kamen noch besondere Leiden hinzu, und als sie, durch diese körperlich gebrochen, einen Beweis nach dem andern dafür bekam, wie wenig ihr Gatte ihr angehörte, als er Mal auf Mal die Heiligkeit des Hauses durch am eignen Herd eingeleitete sündige Verhältnisse schändete, da machte er sie in wenigen Jahren zu der Ruine, die sie jetzt war, die jeden Augenblick zusammen zu stürzen drohte. Aber doch noch glühte sie von Liebe zu ihm, der ihr Leben verödet hatte, und ihr Höchstes auf dieser Erde, die für sie nur Dornen gehabt hatte, war ihr beständiges: »Emil will ...«

Es währte nicht lange, so fing Jenny an auf Mittel und Wege zu sinnen, wie sie von Framnäs fortkommen könnte. Drinnen bei der Kranken: herzzerreißende Angst und Qual, draußen in den übrigen Räumen des schönen Hauses: diese beklemmende, verpestete Luft, die der Ehebruch hervorbringt und vor welcher das reine Frauengemüt instinktiv zurückbebt, selbst wenn es von den direkten Ausbrüchen nichts hört und sieht. Ingenieur Rünkrans war in Elfstad so verrufen, daß man den Aufenthalt eines jungen weiblichen Wesens ohne frühere oder spätere Zudringlichkeit von seiner Seite für ein Ding der Unmöglichkeit ansah.

Einzig und allein das Mitleid mit der Kranken und der Wunsch, den Ihrigen Unruhe zu ersparen, hielten Jenny noch dort zurück, und sie selbst hatte sich auch durchaus nicht über den Ingenieur zu beklagen.

Aber eines Abends im Herbste, als Jenny noch sehr spät bei einer Arbeit im Salon saß, kam er aus dem Club, den die Herren des Ortes sich im Eisenbahnhotel eingerichtet hatten. Die Salonthür wurde hastig aufgerissen, und da stand er mit geröteten Wangen und Augen wie feurige Kohlen gerade vor der bestürzten Jenny.

»Nein, sieh der gute Geist unseres Hauses ist noch auf und schafft und arbeitet mitten in der Nacht! Ach du teures, herrliches Mädchen, das gerne alles thun will, um Glück zu verbreiten, wenn du nur wüßtest, daß ein einziger Blick ...«

Als er so weit gekommen war, sah er sich allein im Zimmer. Am nächsten Morgen ließ Jenny sagen, daß sie wegen häuslicher Obliegenheiten nicht zum Frühstück kommen könnte, um elf Uhr aber trat sie in das Direktionszimmer, das in den Geschäftsräumen der Fabrik lag, Rünkrans war allein.

»Fräulein Högfeldt! Was verschafft mir die Eh ...?«

Jenny zitterte von Kopf bis zu Fuß, doch ihre Stimme war fest.

»Vielleicht habe ich Unrecht darin, aber ich glaubte, unsere Auseinandersetzung fände am besten hier statt. Übrigens braucht sie auch nicht lang zu werden. Ich überlasse es Ihnen, Herr Ingenieur, den Vorwand zu bestimmen, unter dem ich das Haus verlassen soll.«

Er wurde über und über rot, blickte schnell in das Comptoir und schloß die Thür.

»Jaso, Sie sind mir so böse? Sie wollen ein dummes, übereiltes Wort also nicht verzeihen? Sie sehen doch, Fräulein Högfeldt, welch freudloses Leben ich führe. Sie wissen, wie meine Ehe ist; ist es denn da so sündlich, so unverzeihlich, wenn meine warme Dankbarkeit gegen die, welche –«

»Welchen Grund soll ich Frau Rünkrans für meine Abreise angeben?«

Als er sah, daß das kleine Melodrama gar keine Wirkung hatte, änderte er auf einmal den Ton und Haltung. Mit gedämpfter Stimme fuhr er fort: »Sie sind meiner armen Frau unentbehrlich und auch für die Kinder, wenn sie zu Hause sind, notwendig. Sie dürfen und werden nicht abreisen. Sie können sich doch denken, daß auch ich ein bißchen Ehre im Leibe habe. Wenn ich nun bei meiner Seelenseligkeit schwöre, daß, wenn Sie bleiben, Sie nie aus meinem Munde ein Wort vernehmen werden, das Sie beleidigen könnte. Sie sind ein gutes Mädchen, Fräulein Högfeldt. Denken Sie an sie dort oben ...«

Sie dachte an die arme Kranke und blieb. –

»Bewahre mich Gott, Fräuleinchen, Sie haben sich doch wohl nicht das Wirtschaftsgeld auf dem Comptoir geholt, Kindchen? Lisette sah Sie hingehen. Mit so etwas müssen Sie ihm stets hier oben kommen, dort unten will Emil ... ja, ja, sehen Sie nicht so betrübt aus, liebes Kind ...« sagte Frau Rünkrans, als Jenny zurückkam.

Einige Wochen darauf war Jennys Geburtstag. Rünkransens hatten es auf irgend eine Weise erfahren, und die Frau schenkte ihr eine Menge Kleinigkeiten. Der Ingenieur verhielt sich ganz neutral, bis das Abendessen vorbei war, und er gute Nacht sagte. Da zog er ein kleines Etui aus der Tasche, überreichte es Jenny, ohne ein Wort zu sagen, verbeugte sich und ging.

Das Etui enthielt ein Armband mit einigen funkelnden Steinen und die Visitenkarte des Ingenieurs mit den Worten: »Die Geburtstagsgabe des reuigen Sünders und seine besten Glückwünsche.« Jenny, der zum Danken keine Zeit geblieben war, hielt die Steine gegen das Licht und schüttelte den Kopf. In dieser Nacht fand sie nicht viel Schlaf und am nächsten Morgen bat sie, nach Brackstad fahren zu dürfen. Sie würde mit dem letzten Zuge wiederkommen.

Ehe sie nach Hause ging und Mama begrüßte, eilte sie nach Brackstads einzigem, sehr anspruchslosem Goldschmiedsladen.

»Wollen Sie so gut sein, dieses Armband zu taxieren, Herr Lundqvist?«

»Ja ... hm ... sehr fein ... das ist gewiß ... wollen Sie es verkaufen, Fräulein? Hm ... ja, es ist wohl möglich, daß es mehr gekostet hat, aber ... hm ... sehr schwer verkäuflich ... ich kann nicht mehr als 400 Kronen dafür geben.«

»Danke! es war nicht meine Absicht, es zu verkaufen.«

Jaso, nun kamen die »großartigen« Geschenke.

Dann verlebte Jenny einige schöne Stunden mit der Mutter und den Geschwistern, aber es lag doch eine gewisse Gezwungenheit über der Unterhaltung. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie der Mutter etwas zu verheimlichen.

Am folgenden Morgen stand das kleine Etui auf dem Schreibtische des Ingenieurs, und auf dem schönen Armbande lag ein kleiner Papierstreifen. Er las: »Herr Ingenieur! Wären Ihre Wünsche für meine Zukunft ernst gemeint gewesen, so hätten Sie einem armen Mädchen in meiner Stellung nicht ein solches Geschenk gemacht.«

Der Ingenieur las den kleinen Zettel dreimal, zerriß ihn dann und pfiff. Dann murmelte er: »Eine schneidige Dirne! Eine verflucht schneidige Dirne!«

Von nun an trat er Jenny in einer Weise gegenüber, die sie glauben machte, daß ihre Stellung im Hause vielleicht doch noch einige Zeit haltbar sein könnte, bis ... es konnte ja nicht mehr so lange dauern ... die arme Kranke ihrer nicht mehr bedürfen würde. Jenny war der Armen nun alles geworden. Die eigenen Kinder flohen hastig wieder die düstere Nähe der Mutter, wenn sie ein paarmal täglich zu ihr hineingingen, und der Ingenieur blieb nie eine Sekunde über die fünf Minuten, in denen er sich des Morgens und des Abends erkundigte, wie es ihr gehe, der er in unbegreiflichem Eigensinne nicht einmal die größere Ruhe gönnte, die sie hätte haben können, wenn sie ihr Bett nicht zu verlassen brauchte.

»Du sollst dich herausreißen, meine Liebe. Bleibst du eine Woche liegen, so kommst du nie wieder auf den Stuhl«, war seine stehende Rede.

Plötzlich verbreitete sich, sowohl in Elfstad wie in Brackstad, das Gerücht, daß der Disponent, Ingenieur Rünkrans in der letzten Zeit die Elfstader Nickelfabrik nicht zur vollkommenen Zufriedenheit der Aktionäre leite. Die Arbeit vermehrte sich, aber die Einnahmen sanken, und der Ingenieur schlug beständig neue Anleihen zur »Vergrößerung« und »Verbesserung« vor, die sich zehnfältig bezahlt machen würden, aber nur sehr langsam vorschritten, als das Geld angeschafft war.

Anfangs sagten die Aktionäre, daß der Ingenieur zu »sanguinisch« gewesen sei; später sagten sie etwas viel Häßlicheres, und zuletzt verlangten sie eine Extrarevision, keine der gewöhnlichen, die mit einem Diner auf Framnäs endeten, sondern eine einfache, ernste mit einem Ziffermenschen von auswärts und einem Fachmanne, der weder Freund noch Duzbruder von Herrn Rünkrans war.

Am Abende des Tages, an dem der Ingenieur dies erfahren, war er beim Abendessen fieberhaft erregt, plauderte und scherzte mit den Kindern, und als sie gegangen waren, eilte er plötzlich auf Jenny zu, schlang die Arme um ihren Leib und – küßte sie ...

» Den mußte ich doch noch haben ... schrei nun, du banges Täubchen ...« zischte er und war verschwunden, ehe Jenny sich klar machen konnte, was geschehen war.

Seit mehreren Jahren schon litt Ingenieur Rünkrans an Schlaflosigkeit. So etwas befällt zuweilen die, welche viel zu bedenken haben. Er hatte stets Morphium im Hause. Aber diesen Abend nahm er der Sicherheit halber drei Pulver ein und erwachte nie wieder.

Am nächsten Morgen wurde das ganze Haus durch Lisettes Weinen und Schreien erschreckt. Als sie in dem Zimmer des Ingenieurs hatte einheizen wollen, hatte sie ihn tot gefunden, und machte nun ihrem Schmerze Luft und schrie »einen solchen Herrn fände sie nie wieder.«

»Was auch recht gut ist,« fügte die philosophisch veranlagte Köchin hinzu. Sie, die ihm alles geopfert hatte und von seiner Lieblosigkeit vernichtet worden war, sie verlor bei diesem plötzlichen Schlage beinahe den ganzen Rest ihrer schwachen Geisteskraft. Den einen Moment faßte sie das Geschehene gar nicht, den andern weinte sie und sagte, Emil könne beanspruchen, daß alles geschähe, um ihn wieder ins Leben zurückzurufen, er sei ganz gewiß nur scheintot.

Der Aufsichtsrat hatte schon am nächsten Tage eine besondere Konferenz mit dem Schwager des Abgeschiedenen, Herrn Assessor Klint. Es war eine vollkommen solidarische, honette Aktiengesellschaft von netten, verständigen Leuten. Sobald den Aktionären die Gewißheit gegeben wurde, daß alle Mittel des Toten, wie auch sein ganzer Besitz, ihnen ohne Skandal und Konkurskosten bis auf den letzten Heller zufallen sollten, fiel es ihnen gar nicht ein, vor der Welt auszuposaunen, daß der Beamte, dem sie am meisten Vertrauen geschenkt, sie um beinahe 150 000 Kronen bestohlen habe, wovon die Masse etwas über 30 % decken würde. Das hätte ja nur dem Kredit geschadet.

Nein, der Aufsichtsrat ließ vom Gartenbauverein in Gothenburg einen prachtvollen Kranz kommen, mit der Inschrift: »Für Treue, Eifer und Geschicklichkeit unsern Dank« auf dem einen, und einem schönen Spruche auf dem andern Ende der Schleife, und der erste Revisor und der interimistische Direktor führten den Leichenzug an.

Die Witwe war in ihrem Stuhle ans Saalfenster gerollt worden, und als sie den stattlichen Zug und den blumenbedeckten Sarg zwischen den schneebedeckten Bäumen der Framnäser Allee verschwinden sah, schien in dem armen, müden Hirn einen Augenblick volle Klarheit aufzublitzen. Sie weinte heftig, schlang die dünnen, abgezehrten Arme um Jennys Hals und schluchzte:

»Sehen Sie nur, wie sie ihn ehren, Kind! Aber er hatte auch das Recht, es zu verlangen, mein teurer ... geliebter Emil!«


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