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Liebe

Das Brot war knapp in der Häuslerei, und in den Wochen vor Weihnachten hatten Jöns und seine Familie es nicht so genau nehmen müssen, wenn sie einmal nicht die täglichen drei Mahlzeiten bekamen.

Doch am Heiligabende war es ihnen dennoch gelungen, das auf dem Lande gebräuchliche Weihnachtsessen auch auf ihrem Tische zu haben. Sogar ein Talglicht warf seinen Schein von dem Halse einer zerbrochenen Bierflasche über das arme Heim. Auf dem Fensterbrett stand die heile Base der Bierflasche, eine Branntweinflasche, mit einem Korke statt eines Lichtes im Halse und glänzte so, daß Jöns sich alle halbe Stunde zu ihr begab und sie küßte. Er war wohl von so vielem Lichte geblendet und hielt sie für seine Frau.

Johanna, das einzige von den Kindern des Häuslers, das noch zu Hause war, hatte eben ihr sechzehntes Jahr zurückgelegt und sah sehr gut aus. Sie war nicht schön wie ein sonniger Maitag, sondern wie eine milde, nordische Sommernacht, ihre Augen waren dunkel und tief, und ihr Haar und die Zukunftsaussichten ihres Vaters waren das Schwärzeste, was es in der ganzen Gemeinde gab.

Die ältere Schwester hatte schon mehrere Jahre lang bei einem Bauern in Schonen gedient. Zuerst hatte sie zweimal jährlich nach Hause geschrieben, nun aber schon lange nichts mehr von sich hören lassen. Mutter meinte gerade, sie möchte wohl wissen, wie Brita den heutigen Abend verbrächte, aber Vater ließ ihr nicht Zeit, ihre Vermutungen weiter auszuspinnen, er wollte, daß jetzt gegessen würde.

Da ging die Thür auf und die Besprochene trat über die Schwelle. Es gab keinen so großen Aufstand, wie man es erwarten sollte, wenn Eltern und Kinder sich nach jahrelanger Trennung unvermutet wiedersehen. Doch die Stimme des Mädchens klang ein wenig unsicher, als sie sagte:

»Guten Abend hier drinnen!«

»Gleichfalls guten Abend, Brita! Kommst Du zu Weihnachten nach Hause?«

Das war anders.

Etwas lebhafter wurde es freilich, als Brita alle ihre Tücher und Hüllen abgelegt hatte, und die Mutter sah – daß sie nicht allein kam, daß sie die gewöhnliche Strafe des Weibes für das Vergehen des Mannes unter dem Herzen trug. Da gab es Schelte und Thränen und neue Besuche bei der Branntweinflasche, und dadurch wurde Jöns die ganze Sachlage auch so klar, daß er erklärte:

»Beide Dirnen können wir nicht zu Hause haben; wenn Heiligdreikönig vorbei ist, muß Johanna sich einen Dienst suchen, wenn sie auch nur für Kost dient. Aber nimm Dich in acht, daß Du mir nicht nach Hause kommst wie Deine Schwester. Dann giebt es Prügel, das will ich Dir nur sagen!«

So kam Johanna in die Welt hinaus und brachte es mit der Zeit zum Stubenmädchen auf dem Gutshofe.

*

Dort ging es am Heiligabende anders her: jeder Winkel war gefegt und geputzt; überall herrschte Leben, Bewegung und Freude. Und die Knaben, die in der Stadt das Gymnasium besuchten, waren gekommen und hatten ihren jungen Hauslehrer mitgebracht. Johanna hatte ihn, als sie des Vormittags am Saalfenster die Armleuchter putzte, mit der blauen Studentenmütze auf dem glatten Eise der Seebucht Schlittschuhlaufen sehen. Jetzt war er nach Hause gekommen, und sie sollte ihn nun zum Kaffee bitten.

Er stand am Fenster und trocknete seine Schlittschuhe mit dem Taschentuche ab. Die Pulse schlugen nach der raschen Bewegung ein wenig schneller als gewöhnlich, und die Wangen glühten warm im Scheine der untergehenden Dezembersonne.

Johanna wäre kein Weib gewesen, wenn sie nicht gesehen hätte, daß er schön war.

»Sie möchten so gut sein, Herr Elg, zum Kaffee in den Saal zu kommen.«

»Danke, Kleine!«

... Und während er sich umdrehte, ertappte er einen unruhigen, feuchten Blick in ihren Augen, und sah eine Fülle schwarzer Flechten und eine kleine braune Hand, die sich ein wenig mehr mit der Thürklinke beschäftigte, als zum Öffnen der Thür eigentlich nötig war.

*

Es kam nicht zu einer der gewöhnlichen Verführungsgeschichten mit gebrochenen Schwüren und gebrochenen Herzen und Totengräber und Friedhof und Gewissensbissen, Reue und Buße und was sonst noch alles dazu gehört; aber sie hielten einander lange und fest in den Armen, und es wäre nicht leicht auszurechnen gewesen, wie oft sich ihre Lippen in den wenigen Minuten fanden.

*

Dann sprachen sie nicht mehr mit einander während des ganzen Weihnachtsfestes. Der junge Student war ein guter Junge, der niemals mit voller Ueberlegung etwas that, was sein Verstand und sein Gewissen nicht billigen konnten, und Johanna ging ihm mit dem Instinkte der Unschuld, der die Gefahr ahnt, wenn er sie auch nicht erkennen kann, geflissentlich aus dem Wege.

Er reiste einige Tage darauf ab und hatte sie bald vollständig vergessen.

Ihr Herz war fürs Leben getroffen.

So etwas kommt bei den Frauen bisweilen vor.

*

Doch darum können sie jederzeit, mit dem ungetrübten Bilde des Einzig-Geliebten im Herzen, einem andern Manne vor dem Altare die Hand reichen. Sitte und Brauch und Kirchenrecht erlauben es, irdische Vorteile verlangen es, der Kauf wird regelrecht abgeschlossen und erhält den schönen Namen »christlicher Ehebund«.

Auf diese Weise wurde Johanna »Freibäuerin«. Wäre wohl eine Spur von Vernunft darin gewesen, wenn sie, die arme Dienstmagd nein gesagt hätte, als der reiche Freibauer sich herabließ sie mit einem Antrage zu beehren?!

Und die Zeit ging ihren einförmigen Gang; der Freibauer sammelte immer mehr Geld in seiner Kiste, lebte gut und wurde jedem gerecht, bis er mit der Zeit eine große stattliche Nase mit roter Inschrift im Gesichte und bald darauf einen großen, feinen Leichenstein mit vergoldeter Inschrift auf sein Grab bekam, und so war Johanna Witwe.

Sie war eine barsche, resolute Frau mit einer Schnupftabaksdose und einem Fähnrichsschnurrbärtchen auf der Oberlippe geworden. Kein Mensch wußte, ob sie ein Herz besaß, denn sie ließ es nie sprechen. Sie war streng gerecht, aber nicht gut gegen ihre Umgebung, und die Leute hatten vor ihr mehr Respekt, als irgend einer der männlichen Hofbesitzer es von sich und seinen Leuten sagen konnte.

»Kinderlose Frauen werden immer so«, meinte der Küster.

*

Doch zwei Tage vor Heiligabend hatte eine alte Frau aus einem entfernt liegenden Kirchspiele auf dem Hofe gebettelt und sich in der Küche erwärmt, und seitdem war die Bäuerin wie ausgetauscht. Das war sowohl den Mägden wie den Knechten aufgefallen. Die Bettlerin mußte ihr etwas erzählt haben, was sie ganz aus der Fassung gebracht hatte, und beim Mittagsessen befahl sie dem Oberknecht, sofort das Pferd vor den Schlitten zu spannen. Sie kutschierte selbst und ließ sich von niemand begleiten.

Und so ging es denn vorwärts, fünf und eine halbe Meile weit, bis der Schlitten vor einem tief im alten Finnveden versteckten Pfarrhause hielt.

In dem Hirtenzelte war es düster und unheimlich. Der Todesengel war oft der Armut auf dem Fuße gefolgt und mit ihr über die Schwelle getreten. Gattin, Freunde, blühende Kinder, Hoffnungen auf eine besser dotierte Stelle, alles war verblichen und hinter dem beschränkten Gesichtskreise des armen Heims versunken, und nun lag der alte Pastor selbst auf seinem letzten Lager und rang im Todeskampfe wie Jakob mit seinem Gotte. Für sich selbst begehrte er nichts, aber der Gedanke an ein kleines, neunjähriges Büblein, das Einzige, was ihm von allem, was er hier auf Erden geliebt hatte, geblieben war, lag ihm so schwer auf der Seele, daß er sich versucht fühlte, den Wunsch zu hegen, daß auch dieser Sohn, der die letzte, die einzige Freude seines Alters gewesen war, doch vor ihm dahingegangen sein möchte.

Als Mutter Johanna an sein Bett trat, war ihre erste Frage, ob er sie wieder erkenne.

Nein, er erinnerte sich ihrer nicht.

Konnte er sich denn nicht auf ein Weihnachtsfest besinnen – vor vielen, vielen Jahren, als er noch Hauslehrer war – und auf ein Mädchen, das …. das …. am Heiligabende ein paar Augenblicke auf seinem Zimmer gewesen war?

Ach, der alte Pastor hatte nicht viele »galante Abenteuer« in seinem Leben gehabt! Vielen Männern wäre eine so flüchtige Episode wohl spurlos aus dem Gedächtnisse entschwunden gewesen, er erinnerte sich ihrer und errötete tief.

»Möge Gott es mir verzeihen, und vergeben auch Sie mir, wenn ich damals Ihre junge, unschuldige Seele betrübt habe.«

Nein, das hatte er nicht gethan, sie war stets in Wort und That dieselbe ehrbare Frau gewesen, die nun im steifen Wollenkleide und mit grauem Scheitel an seinem Bette saß. Aber sie »hatte ihn nie vergessen können«, und da sie nun zufällig erfahren hatte, wie es mit ihm stand, war sie an sein Sterbebett geeilt, um ihn zu fragen, ob er noch einen Wunsch habe, den sie ihm erfüllen könnte, »denn er sei doch immerhin …«

Und dann kam die Beichte dieses alten Frauenherzens, eine Beichte von heimlicher, unveränderter inniger Liebe. Die Gefühle brachen wie ein warmer Strom den Damm fünfzigjähriger eisiger Kälte, und fielen wie ein Sommerregen in warmen Thränen auf die runzligen Hände des alten Pastors nieder.

Und er? Er lag still und lauschte erstaunt ihren Worten. Er war ja sein Lebenlang stets arm und bedürftig gewesen, und doch hatte er sich die grenzenlose Verschwendung erlaubt, diesen reichen, für ihn bestimmten Liebesschatz vergraben liegen zu lassen! Wie seltsam!

*

Die Überraschung war daheim auf dem Freihofe nicht gering, als Mutter Johanna am Heiligabende zurückkam und einen Pflegesohn mitbrachte. Noch größer aber wurde das Erstaunen, als man merkte, daß mit dem Kleinen zugleich auch ein Geist des Friedens und der Milde in den Freihof eingezogen war. Die Bäuerin war wie umgewandelt. Die Dienstboten wurden für Versehen freundlich und ernst zurecht gewiesen, die Kinder der Armut fühlten sich am Herde der Freibäuerin heimisch, und wenn sie ihren Pflegesohn ansah, schien ein himmlischer Glanz jede Runzel in den strengen Zügen zu glätten.

Lange würde es wohl nicht mehr dauern, dann war auch er ein breitschulteriger Jüngling mit roten Wangen und der blauen Studentenmütze auf dem Kopfe. Und klopfte sein junges Herz da schneller für ein Mädchen, das ihm zu tief in die lustigen und doch so treuen blauen Augen geschaut hatte, so wollte Mutter Johanna ihnen die Wege ebenen. Nie sollten sie von einander scheiden müssen – das hatte die Freibäuerin sich fest vorgenommen.

Die Nachbarn zerbrachen sich lange den Kopf darüber, was Johanna wohl mit dem alten Pastor weit hinten im andern Distrikte zu thun gehabt hatte, aber der Küster, der ein gescheiter Mann war und stets den Nagel auf den Kopf traf, that einen langen Zug aus seiner Pfeife:

»Es wird gewiß so eine »Jugendliebe«, wie die Leute es nennen, gewesen sein.«


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