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Zweites Buch

Der Vikar von Aagrüt

Aagrüt, im Oktober 1879.

Der Empfang bei dem alten, kränkelnden Lehrer Gottlieb Leber, dessen Schule ich übernehmen soll, war artig. Mir gefällt das von langen, dünnen Locken umspielte Gesicht; es steht Lebensklugheit und Güte darin. Auch die Frau ist von feiner ländlicher Würde und hat gewinnende Züge.

Schon richtete ich mich in Gedanken bei den freundlichen Alten zum Wohnen ein, da sagte mir Leber, daß ich in Rücksicht auf seinen leidenden Zustand mein Quartier beim anderen Lehrer haben werde, Hans Boll, einem jungen Mann, der erst vor kurzem mit einer Tochter von Aagrüt den eigenen Hausstand eingerichtet hat.

So wohne ich bei Hans Boll an der Dorfstraße. Mein Gott, dachte ich beim ersten Eintritt, nun heißt es die Tage mit einem verliebten Paar teilen, das nichts als sich selbst sieht. Ich traf es aber bei den frisch verheirateten Leuten anders. Obgleich Frau Sophie, geborene Lindig, bereits die Anzeichen guter Hoffnung trägt, gehen Boll und sie ohne Freude nebeneinander her, und die hübsche Einrichtung, die sie ihm gebracht hat, sogar die Menge der Blumen, die sie pflegt, vermögen das Heim nicht recht zu erwärmen. Ich verstehe das Benehmen des Paares nicht. Gute Eigenschaften besitzen beide. Boll, ein schmales, bärtiges Männchen, ist von einfacher Veranlagung, trockenem Humor und einer bemerkenswerten natürlichen Umgänglichkeit. Das spürte ich freilich nur auf einem Spaziergang mit ihm. Daheim sitzt er immer hinter der Zeitung, als ob er sie auswendig lernen müßte. Am Abend verläßt er das Haus und kehrt erst um Mitternacht wieder. Aus der schweigsamen Verhaltenheit der Frau, die den Mann ohne Bitte gehen läßt, ohne ein Wort der Liebe empfängt, spüre ich ihren verletzten Herzensstolz.

Was für ein Wurm nagt an dieser jungen Ehe?

Aagrüt, das Dorf, liegt langgestreckt und lieblich am Südhang des Tales und hat sein bäuerliches Wesen bewahrt bis auf die große Spinnerei am Fluß, die den massigen Kirchturm mit seinem Storchennest überragt und das Dorfbild erdrückt. Hinter den Häusern steigt anmutig der Föhrberg empor. An seinem Fuß schlängelt sich die Aa mit kleinen Wellen dem Rheine zu und fällt bei einer Mühle in den Strom. Die Aa ist für das Bild fast unbedeutend, aber der blaugrüne Strom fließt und wallt dicht bei der Mühle aus Waldhügeln hervor, in Waldhügel hinein, und eine wundervolle Stimmung von Einsamkeit und Märchen breitet sich über den Fleck Landschaft. Dort soll auch das schönste Mädchen von Aagrüt wohnen, Berta Zink, doch habe ich sie noch nicht gesehen.

Hinter dem Dorf, das Gehänge des Föhrberges hinan, jauchzt noch die Weinlese. Ich half heute in den Reben meines Vikariatsherrn Gottlieb Leber mit, der bei dem Schulhaus einen eigenen Weinberg besitzt. Er nahm die Gelegenheit wahr, mich einer Reihe Dörfler und Dörflerinnen vorzustellen. Der gebrechliche Mann wird von ihnen wie ein alter Heiliger verehrt. Mir schenkten sie goldgelbe und tiefblaue Trauben die Menge, selbst am Abend noch von den Wagen herab, die sie mit ihrem Erntesegen vor jedes Haus gestellt hatten, und durch das Dorf verbreitete sich ein Duft seliger Herbststimmung.

Wegen der Weinlese, die reichlich ausfällt, hat meine Schultätigkeit noch nicht angefangen; ein paar Tage noch werde ich die unerwarteten Ferien genießen können und mich morgen in Bibliotheksachen nach dem Städtchen Hettenstein wenden.

 

Lehrer Leber ersuchte mich, neben dem Vikariat auch die Besorgung der Jugend- und Volksbibliothek des Dorfes zu übernehmen, die in einem Wandschrank seines Schulzimmers untergebracht ist. Ich durchprüfte sie gestern. Sie ist weder sehr groß, noch gut gewählt, und eine Anzahl Bände sind beschädigt. Ich beriet mich darüber mit meinem Vorgesetzten, und er sagte mir, ich möchte mich in der Angelegenheit mit Buchbinder Spoern in Hettenstein besprechen. Je schneller es geschehen könne, umso lieber, wegen der bevorstehenden Winterbenützung der Bibliothek. So kam ich nach Hettenstein und erlebte unterwegs und dort Besonderes.

Die Landstraße, die durch den Wald führt, vermeidend, schritt ich das Wiesental zwischen den Forsten entlang, durch das die Aa gegen Aagrüt gesummt und geplaudert kommt. Kein Giebel blickt in das Tälchen hernieder, nur alte Eichen und Buchen von mäßig hohem Rand. Sie stehen eben in den bunten Lichtern des Vollherbstes, die Eichen mit verfalbtem, weißlichem Laub, die Buchen mit brennend rotem Blattwerk, und darüber liegt die milde Sonne wie verklärter Abschied des Jahres.

Ich setzte mich auf ein verwittertes und übermoostes Steinbrücklein, das den Fluß in leichtem Bogen überwölbt. Der Feldweg, dem es dient, wies kaum eine Spur, daß hier je ein Mensch gehe. In den alten Radrinnen waren über Sommer die Sämlinge des Waldes gekeimt. Ich ließ den Blick einem Weihenpaare folgen, das mit ausgebreiteten Schwanzgabeln seine Kreise im Blauen über den goldigen Waldkronen zog. Die Vögel, die nur selten einen Flügelschlag taten, näherten sich einander und trennten sich wieder, dann stieß das Männchen in die Tiefe. In einer Waldlichtung mochte es eine Maus entdeckt haben.

Als ich mit den Blicken die Stelle suchte, wo es auf den Boden verschwunden war, erkannte ich, daß die Landschaft doch nicht so menschenleer war, wie ich mir eingebildet hatte.

Am sonnigen Waldrand trat zwischen den weißlichen Buchenstämmen ein dunkel gekleidetes Mädchen hervor, einen leichten Henkelkorb am Arm, überraschenderweise kein Landkind, eher eine städtische Erscheinung.

Sie sah mich nicht, trat an einen großen wilden Rosenstrauch hinan, schnitt sich etliche Zweige brennendroter Hagebutten in den Korb, später von einer Stechpalme Ästchen mit Beeren und pflückte am Abhang die großglockigen, dunkelblauen Spätenzianen.

Unvermerkt kam sie in ihrem Sammeleifer näher zu mir heran, entdeckte mich und fuhr leicht zusammen. Offenbar war ihr meine Anwesenheit in der stillen Gegend eine so lebhafte Überraschung wie mir die ihre. Sie nestelte an dem Korb herum, sie mochte sich besinnen, wie an mir vorbei über das Brücklein kommen.

Als ich sie nun aber näher beobachten konnte, tauchte in mir die Erinnerung auf: Das ist ja Marie Kern, das Ratsschreiberstöchterlein von Hettenstein! Ich ging ihr entgegen: »Gott grüß' Sie, Fräulein Kern. Sie erkennen mich nicht wieder?«

Rasch löste sich in ihren großen Augen die Spannung über meine Anrede. »O doch,« sagte sie freundlich. »Sie sind Herr Tobias Heider. Wie lang ist es her? Drei Jahre. Da kamen Sie mit Ihrem Jugendfreund, unserem Verwandten Heinrich Moos, von seinem Heimatort Oberbruch auf einer Ferienwanderung über Hettenstein und machten uns ein Stündchen Besuch.«

»Um bei Ihren Eltern lateinische Wegzehrung zu genießen,« lachte ich. »Immer eine Wohltat für Seminaristen, deren Wanderlust groß und deren Geldbeutel schmal ist.« Da lachte das Mädchen herzlich mit.

»Warum Sie mir trotz der Kürze Ihres Aufenthaltes im Gedächtnis geblieben sind?« fragte sie. »Heinrich Moos sprach in einem Augenblick, in dem es Ihnen entging, hoffnungsreich von Ihren poetischen Versuchen. Da habe ich Sie immer von der Seite anblicken müssen: Soll nun das ein Dichter sein? Mit meinen Jungmädchenvorstellungen stimmte es nicht; ich suchte irgend etwas von wallenden Locken, Sie aber trugen die kurzgeschorenen Haare wie eine Bürste auf dem Kopf. Was war ich damals noch für ein törichter Backfisch!«

»Aber mit prächtigen Hängezöpfen,« setzte ich hinzu.

Sie faßte sich rasch. »Ich habe übrigens vor ein paar Tagen in unserem Zeitungsblättchen gelesen, daß Sie Vikar in Aagrüt geworden sind. Also: aufs neue willkommen in unserer Gegend, Herr Heider!« Damit gab sie mir freimütig die Hand.

Wir setzten uns auf den Randstein des sonnigen Brückleins, vor sich schüttete sie den Korb aus und ordnete mit feinen Fingern den Inhalt an Zweigen und Blumen. »Mein Vater hat morgen den einundfünfzigsten Geburtstag,« plauderte sie, »da weiß ich, daß ich ihm keine wärmere Freude bereiten kann als mit einem Gruß aus seinem Wald. Aus seinem! Er ist nämlich neben seinem ständigen Amt der Waldschreiber der Bürgergemeinde von Hettenstein. Darum heute mein Spaziergang hier ins Tälchen, das ich übrigens wundergern einmal wieder sehe. Wie Vögel flattern meine Kindererinnerungen darin umher. Es gab Zeiten, in denen ich mit dem Vater jeden Tag durch diese Landschaft ging. Jeder Baum ist mir ein alter Vertrauter, und mit jedem habe ich heute Wiedersehen gefeiert!«

»Waren Sie abwesend, Fräulein Kern?« fragte ich.

»Zwei Jahre in Lausanne,« erwiderte sie, »erst seit kurzem bin ich wieder daheim.«

Lausanne! dachte ich, das erklärt vieles an ihrer gewählten Erscheinung, und ich ließ mir das schöne Mädchen mit den rätselhaft glänzenden Rehaugen und den vollen braunen Zöpfen gefallen. Was aus einem zwar hübschen, doch noch unreifen Backfisch in ein paar Jahren Reizvolles werden kann!

Sie spürte, daß ich heimlich in ihrem Wesen forschte, und sagte mit leiser Schalkheit: »Ich bin noch etwas Lausannoise. Das kommt bald anders. Meine Eltern mögen das Welsche an mir nicht.« Damit erhob sie sich.

Ich erbot mich, ihr den Korb ins Städtchen zu tragen; sie lehnte aber ab: »Das kann ich schon selber.« Wir schritten vom Fluß die Halde empor und durch ein Stück uralten Eichenforstes an die einsame Landstraße, die den Wald durchschneidet. Dabei fiel mir der schöne Gang der Weggenossin auf, das leise Wiegen ihrer Gestalt, das die kräftige Hüfte zur Geltung brachte, das Zusammenspiel natürlicher Einfachheit und heimlicher Eleganz, am meisten aber der große Ernst in dem jugendlich blühenden Gesicht, ein Ernst, der sie selbst, wenn sie lachte, nicht verließ. Sie trug keine Spur von Schmuck oder Zierde, nicht einmal eine Blume auf der Brust, die auf ihre schöne jugendliche Fülle aufmerksam gemacht hätte; mir war, sie wolle die bewußt starke innere Kraft, die von ihr ausging, nicht durch Nebendinge schwächen. Diese Kraft brauchte sich nicht einmal in einem Wort zu bestätigen, die Blicke genügten. Solch ein Mädchen durfte sich schon allein in den Wald hineinwagen! Wo wäre der Wicht, der auch nur mit einem losen Scherz unter dieses Antlitz zu treten wagte! Ist sie bescheiden oder stolz? Ich dachte, sie sei beides zugleich!

Während wir gingen, nahm sie die Erinnerung an meinen Seminargenossen Heinrich Moos wieder auf: »Sie wissen, daß er Lehrer in unserer Nähe ist, drüben über dem Rhein in Kiesberg.«

»Ja,« entgegnete ich, »und ich werde ihn schon morgen besuchen. Darf ich ihm einen Gruß von Ihnen bestellen?«

»Gewiß,« versetzte sie, »wir haben den Jungen immer gern bei uns gesehen.«

Unterdessen hatten wir nun die Landstraße im Walde erreicht und bald auch dessen Rand. Da rief sie: »Die Schön-Eich! Unter ihr rastete ich immer ein Viertelstündchen, ehe ich hinab ins Städtchen schritt.«

Die Schön-Eich ist nicht der knorrigste, dickste Baum seiner Art im Forst, ein paar Jahrhunderte mag es aber doch gebraucht haben, bis sich sein wuchtiger Stamm gebildet hat, der ebenmäßig wie eine Säule über die anderen Waldeswipfel steigt und sich ebenmäßig in eine Krone mächtiger Äste verteilt, ein Bild würdig des Namens, den ihm der Volksmund gegeben hat. Mit seinem Fuß umklammert der Baum ein dickes, schwerverwittertes Sitzbrett, ebenfalls aus Eichenholz, wohl Jahrhunderte alt und wie darein gewachsen.

Da ruhten wir und blickten durch das breit offene Gewölbe des Waldrandes in eine weiche Landschaft voll Stimmung und Frieden.

Vor uns senkte sich die Straße sanften Bogens ins weite Tal, und dort lag, an seinen Weinberg gelehnt, Hettenstein in einer Ruhe, an der die Zeit noch nichts zerstört hat.

Die großen Dächer und steilen Firste sind breit und behäbig unter den schlanken roten Spitzhelm der Kirche geschart, das liebliche Bild ist da und dort durchgrünt von hochragenden, mächtigen Linden. Doch ist das Städtchen nur der Vordergrund und Kern der Landschaft. Im Tal und an seinen Gehängen winkt das Mancherlei der Bauerndörfer, rechtshin auf dem Vorsprung eines Berges eine alte Burg; im Süden hinter den sanften Hügeln ragen höhere, schroffere Kuppen und darüber die Hochalpen, von denen der Lichtraum des ewigen Schnees auf die Heimstätten des Volkes herniederleuchtet.

»Wie habe ich nur zwei Jahre von der Heimat fern bleiben können!« warf Marie Kern in unsere stille Ausschau hinein, während ihr Blick beseligt dem baumgrünen Frieden hingegeben war. »Namentlich aber machte ich mir der Eltern wegen Vorwürfe über meine lange Abwesenheit. Meine Schwester Agnes, an die Sie sich vielleicht erinnern, war nämlich schon nach England verreist, als ich mich ins Welschland wandte, und weilt noch dort. So waren meine Eltern, das letzte Jahr wenigstens, allein. Gewiß, von mir ein Unrecht, daß ich gegen ihren Willen so lange in der französischen Schweiz blieb. Als blutjunges Mädchen aber spürte ich, was es Herrliches um das Lernen ist und wie öd es um einen steht, wenn man nur daheim sitzt und das Töchterchen des Hauses spielt. Gott fügte es, daß ich meinem Bildungsdrang genügen konnte. Der Vater hatte ein paar kurze Sommerwochen Amtsferien, und ich durfte sie mit ihm im Prättigau verbringen. In der gleichen Pension wie wir wohnte Telegrapheninspektor Borel aus Lausanne mit seiner Tochter Alice, und am Ende unserer gemeinsamen Ausflüge und leichten Bergwanderungen ergab sich die Verabredung der beiden Männer, Alice Borel solle, um etwas Deutsch zu lernen, für ein Jahr in unser Haus in Hettenstein eintreten, ich an ihrer Stelle, um mich im Französischen zu vervollkommnen, in die Inspektorsfamilie. So kam ich ins Welschland.«

Von Hettenstein drang das Vieruhrläuten in den Wald herüber. Marie Kern unterbrach sich: »Jetzt wollen wir aber doch ins Städtchen gehen! – Nein, den Korb trage ich selber. Leuten, die uns etwa begegnen, wollen wir zu keinen Bemerkungen Anlaß geben; man spricht schon sonst etwas mehr über mich, als mir lieb ist, – darüber, daß ich Telegraphistin geworden bin!«

»Sie, Telegraphistin? Wie sonderbar!« rief ich im Gehen.

»O, nicht so sehr!« ereiferte sie sich. »Warum uns Mädchen verbieten, daß auch wir einen Beruf erlernen, wenn wir die Befähigung dazu in uns spüren! Ich verlebte in Lausanne einen ungemein anregenden Aufenthalt. Oft begleitete ich Herrn Borel auf seinen Inspektoratsreisen, ließ mich dabei vom Telegraphenwesen fesseln und entschloß mich, selber Telegraphistin zu werden. Ist das merkwürdig? Wir Mädchen haben doch gerade so gelenke Finger wie unsere Herren Kollegen und sind manchmal nicht so träge wie sie. Neben siebzehn jungen Männern habe ich die Reifeprüfung abgelegt, und nicht mit der letzten Note, sondern den siebzehn voran!«

Sie lachte in leisem Übermut in sich hinein. Was für ein merkwürdig Geschöpf, dachte ich. Die Ratsschreiberstochter, die gewiß keinen Broterwerb für sich notwendig hätte, auf den Wegen einer Berufsarbeit! Sie aber sagte: »Es ist mir nicht möglich, daß ich daheim auf einen Mann warte und es mir dabei vielleicht geht, wie es in einem Volkslied heißt: ›Mägdlein spann, Träne rann, niemals kam der Freiersmann.‹« Bei diesem Wort überfiel sie eine stille Heiterkeit, sie beherrschte sich aber gleich wieder. »Nein, Arbeit! Ich bedarf ihrer für meine Selbstachtung. Vielleicht wird meine erste Stelle Ihr Heimatdorf Reifenwerd sein; der schon ältere Telegraphist der Gemeinde, Derrer, ein Jugendfreund meines Vaters, wünscht es. Er kann seine Stelle wegen Gichtknoten in den Händen nicht mehr recht versehen und hat in der Angelegenheit bereits eine Eingabe an die Direktion gerichtet. Mir wäre das Dorf angenehm. Wie hübsch nah liegen doch unsere Heimatorte beisammen, und ich könnte dann und wann meine Eltern besuchen, die sich ohne mich ziemlich verlassen fühlen.«

Damit betraten wir das Städtchen. Marie wies mir den Laden des Buchbinders Spoerri und lud mich ein, auch ihren Eltern Guten Abend zu sagen.

Gleich erkannte ich ihr Haus wieder, die beiden Kugelakazien, die vor seinem Eingang stehen, und den Biedermeierstil, in dem es vor vierzig Jahren gebaut worden sein mag. Es steht, nicht groß, nicht klein, in einem freundlichen Garten, außen und innen ein Schmuckkästchen an Sauberkeit. Die Möbel der Stube sind gediegene Hartholzarbeit, und an der Decke hängt ein Käfig mit einem Kanarienvogel, der während meines Besuches jedesmal zu schlagen anfing, wenn Marie, die in der Küche den Kaffee bereitete, hereintrat.

Ihre Mutter empfing mich lieb. Die stattliche Frau im dunkelgeblümten Kleid verrät in Zügen und Wesen, daß sie aus dem Bauernstand gekommen ist, sie verfügt aber über eine unaufdringliche, sonntägliche Würde, die der amtlichen Stellung ihres Gatten entspricht. Ich glaubte an ihr einen still-schwermütigen Zug zu entdecken.

Während die Tochter in der Küche weilte, seufzte die Ratsschreiberin etwas bitter: »Was haben die Welschen aus meinem Kind gemacht! – Einen Stolzhahn! – Und die sonderbare Einbildung, sie müsse nun ihr Brot mit Telegraphieren verdienen!« Ich betrachtete unterdessen das Bild der älteren Schwester, das über dem Klavier an der Wand hing, einer Schönheit, fast feiner noch als Marie. »Ja, mit der haben wir auch unsere Schmerzen!« fuhr die Mutter fort. »Sie ist gegen unsern Wunsch nach England gegangen, und Gott weiß, wann wir sie wiedersehen!«

Im Wesen der Frau Kern lag neben einer gewissen Herbigkeit etwas so unendlich Liebes, Mütterliches, daß mich ein wundersames Vertrauen zu ihr hinzog vom ersten Augenblick an. Auf das Klavier deutend, fragte ich: »Spielt Fräulein Marie?«

»Kaum,« erwiderte sie. »Seit Agnes verreist ist, hat das Instrument gute Ruhe. Nur hin und wieder kommt ein Nachbar, der junge Doktor Thellung, spielt uns vor und singt dazu mit seinem prächtigen Tenor. Warum Marie dabei nur lässig mittut? Sie hat eine andere Leidenschaft für ihre Erholung und freien Stunden. In ihr Mädchenstübchen schließt sie sich ein und liest Dichter, alte und neue. Was bedeutet aber diese stille Freude uns Eltern gegenüber einem schönen Gesang?«

Der Eintritt des Hausherrn, Ratsschreiber Kern, unterbrach das Gespräch. Auch er begrüßte mich freundlich. Mit der Würde des ländlichen Beamten ist er eine geprägte Gestalt, für seine Jahre fast noch schlank. Das von kurzen Löckchen umrahmte Gesicht trägt den Ausdruck der Frische, Klugheit und des Wohlwollens, in der Unterhaltung aber ist er kurz und knapp. Amtsstil! –

Marie trug das Abendbrot auf und sprach dann ernst und innig ein kurzes Gebet; ich merkte, daß ich mich in einer Familie von unaufdringlicher Frömmigkeit befand, einer Gläubigkeit, die ihre tiefste Wurzel in der leisen Schwermut der Mutter haben mag.

Rasch nach dem Imbiß erhob sich der Ratsschreiber. »Sie entschuldigen, Herr Heider, ich habe noch Schriftliches zu erledigen. Plaudern Sie mit den Meinen ruhig weiter; ich bin zu arbeiten gewohnt, auch wenn neben mir gesprochen wird.« Damit schloß er seinen Schreibschrank auf, zog einen Tisch daraus hervor, entfaltete Akten und Mappen und vertiefte sich darein.

»Der Vater hat neben der eigentlichen Ratsschreiberei so viel mit dem Mündelwesen zu tun, fast alle Vormundschaften des Städtchens liegen in seiner Hand!« sagte die Tochter.

Mich aber mahnte die einbrechende Herbstdämmerung zum Aufbruch. Die Familie lud mich artig ein, gelegentlich wieder bei ihr vorzusprechen. Marie gab mir das Geleit zur Gartentür, und mit einem Händedruck sagte sie: »Also viel Glück, Herr Heider, auf Ihre Tage in Aagrüt!«

Auf dem weiten einsamen Weg durch den Wald hatte ich Zeit genug, mir das ungewöhnliche Bild des Mädchens zurechtzulegen: Ratsschreiberstochter – neunzehnjährige Dame von Welt – aus freiem Antrieb Telegraphistin – Freundin alter und neuer Dichtung, – lautere Herzensfrömmigkeit – und über allem der Ernst und die Güte einer echt weiblichen Seele!

Was braucht aber ein Lehrvikar so tief über ein Ratsschreiberstöchterlein nachzudenken, besonders wenn er noch im Schatten der Manon Lafayette in Paris steht, von der er allerdings annehmen muß, daß sie ihm für immer verloren ist! Ich will nun überhaupt, solange ich nur Vikar und Verweser bin, von Mädchen nichts wissen. Das Lied der Lafayette soll sanft in mir verklingen. Vielleicht kommt mir später, wenn ich fest angestellter Lehrer bin, wieder eine Liebe.

Gestern habe ich meinen Freund Heinrich Moos besucht. Es war eine Wanderung in weichstem Herbstsonnenschein. Ich durchschritt die stattliche holzverschalte Brücke, die über den Rhein ins Städtchen Rhyn hinüberführt. Seine einzige Gasse lenkte mich quer an der Stromhalde empor auf das flache rechte Ufer. Durch eine ansehnliche Feldspreite, Wald links, Wald rechts, sah ich im tiefen Hintergrunde schon die schlanke Kirche von Kiesberg an warmem Rebenhügel.

Unterwegs traf ich keinen Menschen und das Dorf fast leer. Begreiflich! Die Einwohner waren alle draußen in den Weinbergen bei der Lese, ein freudiges Bauernbild. Schon von weitem hörte ich die Lieder und Jauchzer der Winzer und Winzerinnen und sah die Menge der Gestalten und Gruppen, die sich an den sonnigen Hängen bewegten, ihre Zugtiere und Wagen, die den Segen in die Kelter bringen. Und über dem herbstgelben oder rötlich gefärbten Weinberg stand ernst die grünbläuliche Waldhöhe, die das Schweizer Gebiet vom badischen Land scheidet. Vom Kamm grüßen hochragend drei wetterzerzauste Föhren, die letzten Fahnen des Landes!

Meinen Freund traf ich auch erst draußen bei der Lese. Für seinen Kostherrn trug der kräftige, junge Mann schwere Tansen geschnittener Trauben den Rebhügel hinunter, machte aber nach meiner Ankunft Feierabend, stieg mit mir ins Dorf hinab und kleidete sich sonntäglich. Den Nachmittag und Abend verbrachten wir, wie es unter Freunden, die sich etliche Monate nicht gesehen, üblich ist. Wir hielten Einkehr, durchstreiften das Dorf und plauderten von mancherlei: er von seinem jungen Lehrerleben auf dem Lande, ich von meinem Sommer in Paris. In strahlenden Sonnenuntergangsspielen begleitete er mich ins Städtchen hinein. Dabei erzählte ich ihm meine Begegnung mit Marie Kern, und er hörte mir aufmerksam zu.

»Du hast Recht,« sagte er nachdenklich, »über der Familie des Ratsschreibers liegt ein tiefes Leid. Ich habe sie noch anders gekannt: ihn als einen der besten Sänger weit und breit, und auch die Frau als lebensfrohe und wohlgemute Gestalt. Die älteste Tochter nannte man im Städtchen die schöne Agnes, sie war aber nicht nur ein schönes, sondern auch hochbegabtes Wesen, namentlich in Sprachen und Musik. Nun mag es kurz nach dem Besuch gewesen sein, den wir als Seminaristen der Familie abstatteten, da verlobte sie sich mit einem Ingenieur aus St. Jakob, der sich, wie man erzählte, in wenigen Jahren überseeischer Tätigkeit Namen und Vermögen erworben hatte. Was waren mit der Braut die Eltern stolz auf ihren Zeno Abdorf! Mitten im Glück erreichte sie aber ein unterschriftsloser Brief, die Tochter sei einem Abenteurer ins Garn gegangen, und darin waren verschiedene überseeische Konsulate genannt, die die Tatsache bestätigen könnten. Tochter und Eltern hielten das Schreiben für Verleumdung. Im stillen ließ der Ratsschreiber aber doch über Meer Nachforschungen anstellen, und sie endeten in der schrecklichen Erkenntnis, daß der Mann mit dem guten Namen, mit dem einnehmenden Auftreten, mit dem schönen, freien Gehaben nichts weiter als ein Glücksritter war, der draußen in der Welt schon soundsoviele Mädchen und Frauen, namentlich aus guten Kreisen, betrogen hatte.«

»Das war also das Unglück der bisher so sonnigen Ratsschreibersleute,« fuhr mein Freund fort. »Nach der Auflösung der Verlobung duldete es Agnes nicht mehr in der Heimat. Auf gut Glück fuhr sie nach England und ist jetzt Erzieherin in einer gräflichen Familie. Von ihrem Vater glaubte man, er würde die Schmach des Geprellten nicht überleben, dann erholte er sich doch wieder, wurde aber aus dem leutseligen Mann, der er vorher gewesen war, der wortkarge, sich fast überarbeitende Beamte von heute. Und die Mutter? – Ihre Schwermut ging, ohne daß sie sich völlig löste, in eine stille Religiosität über, in die sich auch Marie hineinziehen ließ. Ein gewisser asketischer Zug, der in die Familie kam, trug gewiß zu dem seltsamen Entschluß des Mädchens bei, Telegraphistin zu werden. Es geschah wohl unter der Vorstellung, der Mensch müsse sich für jede kleine Lebensfreude mit der Übernahme einer Pflicht entschuldigen.«

Heinrich Moos und ich waren ins Städtchen getreten und setzten uns zu einem Abschiedstrunk auf die Veranda eines Gasthofes am Rhein. Wundervoll beglänzte der aufgehende Mond den Strom, aber nach der schweren Erzählung meines Freundes kam das Gespräch nicht mehr recht in den Gang, vielleicht war er auch vom Traubentragen ermüdet. Wir versprachen uns jedoch, daß wir wie im Seminar so jetzt treue Freunde bleiben. Die Schicksale der Ratsschreibersfamilie begleiteten mich auf meinem Heimweg.

Die Weinlese von Aagrüt ist vorüber, und ich habe meine Lehrtätigkeit begonnen. Gottlieb Leber führte mich bei seinen Schülern als Stellvertreter ein und erteilte die erste Stunde selber. »Sie müssen mir verzeihen,« sagte er, »daß ich hie und da noch in die Klassen trete, zum Beispiel die Singstunde gestatte ich mir, solange ich noch den Geigenbogen führen kann, selber zu erteilen.«

Mit dieser Erklärung hat mir Leber wahrhaft einen Stein von der Seele genommen. Ich bin nämlich ein völlig unmusikalischer Mensch, kann nicht singen und spiele kein Instrument. Das ist gewiß eine große Lücke in der Begabung eines Lehrers. Das empfand ich schon, als ich mich entschloß, in das Seminar zu treten, und wie viel bittere Stunden hat mir diese Unfähigkeit darin bereitet! Ich nahm aber an, die Ausbildung zum Lehrer sei für mich nur ein Übergang zu Universitätsstudien und zu einem Beruf, der kein musikalisches Können verlange. Meine große Hoffnung ist unter den Tatsachen des Lebens dahingeschwunden. Gewiß brächte mein ziemlich wohlhabender Vater die Mittel für ein paar Jährchen höherer Studien auf. Aber er ist von meinem Entwicklungsgang überhaupt nicht recht befriedigt, und wenn ich mit meinem Herzenswunsche leise bei ihm anklopfe, verweist er mich auf die stattliche Schar jüngerer Geschwister, die mir mit ihren Bildungsansprüchen nachdrängen. Eine Wahrheit, die ich anerkennen muß!

Der Mangel an musikalischer Begabung ist aber einfach eine Wunde in einem Lehrerleben, die sich nie schließen wird. Das dauernde Angewiesensein auf das freundliche Einspringen eines Kollegen bereitet mir, fürchte ich, einen schweren Weg!

Meine drei Klassen bieten kaum ein anderes Bild als sonst eine Dorfschule. In wackeligen Bänken sitzen an die sechzig Schüler im Alter von neun bis zwölf Jahren. Darunter ist ein Schärchen blühender Handwerker- und Bauernkinder mit hellen Augen und frischen Gesichtern. Die meisten Schüler stehen auf mittelmäßiger Stufe, und nach hinten gibt es einen ansehnlichen Schweif blasser und blöder, schlecht besorgter Kinder aus der Spinnereibevölkerung des Dorfes. Auf einem mit Flechten bedeckten Armmädchenkopf sah ich schon am ersten Morgen die Läuse spazieren!

Einsam verlebe ich die Abendstunden neben der vernachlässigten jungen Frau meines Kollegen Boll, der im »Lamm« sitzt. Reichlich bleibt mir die Zeit, mein Tagebuch zu schreiben. Frau Boll und ich können uns nicht viel sein; ihre Gedanken gehen kaum über den Pflichtenkreis einer Hausfrau hinaus. Ihr Ehrgeiz ist auf tadellose Ordnung in der Wohnung gerichtet, und daß wir Männer ihren einfachen, doch schmackhaften Mahlzeiten zusprechen möchten.

Nein, ich begreife meinen jungen Kostgeber nicht, wie er an seinem Weib kalt vorübergehen kann. Sie ist eine hübsche Erscheinung, ihr Wuchs edel, das Gesicht bildsauber, die Augen blau und klar, die vollen Ährenzöpfe sitzen ihr wie eine Krone auf dem Kopf. Mir ist, es ließe sich mit dieser Frau immerhin ein freundliches Leben gestalten, besonders für einen Mann, der so wenig Ansprüche an die Welt erhebt wie Boll. Ich bin sicher: ein gutes Wort von ihm, und die verhärteten Züge seines Weibes würden weichen. Aus ihrem starren Stolz träte das zärtliche Weib hervor. Nie hat sie ihren Mann gebeten, daß er daheim bleibe, nie beklagte sie sich bei mir über seine langweilige Wirtshaushockerei, aber ich sehe an ihr doch immer die Spuren ihres heimlichen Leides. Indessen mag ich dem Urgrund dieses stillen Zwistes nicht nachspüren. –

Als ich diesen Abend wie gewöhnlich mit Frau Boll unter vier Augen beim Abendbrot saß, erlebte ich ein sonderbares Dorfbild. Zwei starke, etwas unbehilfliche und polterige Bauernburschen meldeten sich, rissen die Hüte vom Kopf und erklärten mir, sie besuchten mich als Vorstandsmitglieder der »Knabengesellschaft« Aagrüt und lüden mich zum Beitritt in diese ein. »Der Beitritt kostet zwanzig Franken, damit steht Ihr inner- und außerhalb des Dorfes unter dem Schutz unserer Gesellschaft und habt, wie alle anderen, das Recht des Kiltganges zu den Töchtern der Gemeinde. Was besinnt Ihr Euch? Es ist noch kein junger Lehrer ins Dorf gekommen, er ist zu uns ›Knaben‹ getreten!«

»Ich weiß ja bloß nicht, wie lange ich als Vikar in Aagrüt bleiben kann,« erwiderte ich, von dem Ansinnen etwas betroffen. Was kümmerte mich nach den Tagen von Paris der dörfliche Kiltgang!?

Die Burschen trollten sich, über mein Zaudern etwas verstimmt. Ich wandte mich nun an Frau Boll: »Wie meinen Sie, daß ich mich in dieser Angelegenheit verhalten soll?« Sie erwiderte mit ungewöhnlicher Schärfe: »Fragen Sie meinen Mann.« Früh zog sie sich zurück, und über einem Buch erwartete ich die Heimkehr Bolls.

Gegen Mitternacht schloß er die Haustüre auf, und wir saßen in der Stube noch ein Viertelstündchen. Er lachte herzlich über den Abendbesuch und mein Zögern, der »Knabengesellschaft« beizutreten. »Mein guter Rat,« versetzte er: »du trittst ihr schon morgen bei, sonst läufst du die Gefahr, daß du an einem der nächsten Abende, wenn du dich noch ins Freie wagst, von den Burschen in den Dorfbrunnentrog geworfen und bis zum Geistaufgeben gebadet wirst. Und dabei hast du nur das Gelächter und den Spott auch der Erwachsenen. Ländliche Sitten! Aber was willst du?«

Plötzlich neigte sich Boll zu mir herüber und flüsterte mir ins Ohr: »Über den verfluchten Kiltgang will ich einmal anderswo mit dir ein vertrauliches Wort sprechen, nur nicht in der Wohnung hier. Durch diesen Brauch bin ich wider besseres Wissen und Gewissen zu meiner Frau gekommen und der geworden, der jeden Abend Karten spielt.« Bitter fiel seine Rede!

 

Wenn einmal jemand in dieses Tagebuch blickt, habe ich die Ehre, mich ihm als Mitglied der »Knabengesellschaft« von Aagrüt vorzustellen!

Unsere Bauern haben die Weinernte noch zur rechten Zeit eingebracht, das Wetter hat sich geändert, es regnet und schneit. Dieser Umschlag machte sich heute auch im Zuspruch an die Gemeindebibliothek fühlbar. In meine erste Bibliothekstunde vor ein paar Tagen kam kein Mensch, heute von elf bis zwölf war der Besuch der Bücherei ziemlich rege, insbesondere von seiten der Mädchen des Dorfes, blonden und braunen, schlanken und vollen, schüchternen und kecken. Vielleicht war etwas Neugier dabei, was für ein Lehrvikar nun im Schulhaus walte.

So lernte ich Berta Zink kennen, jenes Mädchen aus der Rheinmühle, von dessen Schönheit man mir schon vorher erzählt hatte. Sie kam in grauer Mütze und grauem Mantel, aber frisch wie der Frühlingsmorgen. Um das reinhäutige, offene Gesicht spielt ihr ein Sonnenschein goldiger Haare, der rote Mund hat noch fast etwas Kindliches, die Nase ist schmal und vornehm, blaudunkle Augen leuchten ihr unter der hellen Stirn. Ihre Schönheit besteht aber nicht einmal in der äußeren Erscheinung, sondern darin, wie sie in Rede und Gebärde von selber findet, was ihr lieblich steht; auch ist ihr Wesen bescheiden und gehalten.

Ich glaube, daß sie ein gescheites Mädchen ist. Sie plauderte über die Bücher, die sie gelesen hatte, und als ich ihr einen Band Berthold Auerbach anbot, wies sie ihn zurück: »Verzeihen Sie, ich mag diesen Schriftsteller nicht besonders. Ich kann mir nämlich seine Bauern nicht mit den unseren zusammenreimen. Sie sprechen so viel über Sonne, Mond und Sterne, Gott und Ewigkeit. Die unseren aber reden nur von ihren Kühen und studieren die Gesetzbücher, wie sie über den Nachbarn einen Vorteil ergattern können. Das werden Sie in Aagrüt selber noch merken, Herr Lehrer!« Rasch und leicht hatte sie das Wort hingeworfen, lachte mit schalkhaften Augen leise auf und ging, den Leihband unter dem Arm.

Ich mag nun keinen Vergleich zwischen Marie Kern und Berta Zink ziehen. Was aber die innere Geistigkeit, den seelischen Gehalt betrifft, steht die Ratsschreiberstochter weit über Berta Zink. Bei mir selber habe ich diese einfach »die blonde Eva« getauft. Wie merkwürdig spielt das Volksleben. Mag auf seinem Acker noch so viel Alltag wachsen, geheimnisvoll wie die Maililie im Wald geht daraus doch wieder etwa eine feine, duftige Blume auf!

Am Abend brachte ich vor der einsamen Frau Boll das Gespräch auf das »Zinklein«, wie das Mädchen aus der Mühle im Dorf genannt wird. Da fuhr aber meine junge Kostgeberin, wie von einer Wespe gestochen, zusammen. Der Haß sprühte in ihren Augen auf. »So, Herr Vikar, Sie sind auch schon vernarrt in unsere Dorfprinzessin. Wenn sie nur einen anderen Vater gehabt hätte! Der ihre aber ist wegen Unterschlagung im Gefängnis gesessen und verbirgt jetzt seine Schande in Amerika. Sprechen Sie doch mit meinem Mann so freundlich von ihr,« spottete sie ärgerlich, »der wird Ihnen Dank wissen. Hätte sich nicht die böse Geschichte ihres Vaters zugetragen, so wäre das Zinklein Frau Boll geworden. Davor hat er sich aber doch geschämt, und sie selber sollte den guten Geschmack besitzen, aus dem Dorf zu gehen. Liebhaber findet sie, wenn sie will, gewiß genug, aber keinen anständigen jungen Mann, der sie heiratet.«

Mir war, ich sähe im Gesicht der Lehrersfrau, die sonst nicht leicht Böses über andere spricht, die blanke Eifersucht, und sie hatte wohl selber das Gefühl, die Zunge sei mit ihr durchgegangen. »Nein,« fuhr sie nach ein paar Augenblicken des Besinnens fort, »ich will weder gegen meinen Mann noch gegen das Zinklein ungerecht sein. Es kommt aber doch von ihr her, daß er jeden Abend im ›Lamm‹ sitzt und mit dem gemeinen Fabrikschreiber Karten spielt. Kennen Sie Zwengg? Er ist der schlechteste Kerl im Dorf, ein lediger Sünder, dem kein Mädchen, nicht einmal die jüngste Jugend an den Spinnstühlen heilig ist. Wäre Ordnung in der Gemeinde, der säße im Zuchthaus. Und mit dem spielt mein Mann die langen Abende.« Erschütterndes Leid zitterte aus der Seele der Frau, die ihre Schmerzen sonst schweigend verbarg.

Unser Abendgespräch hatte mich erregt, aus irgendeiner inneren Unruhe drängte ich noch ins Freie. Erst draußen merkte ich, wie stark es regnete, ging nun ins »Lamm« und nahm mir aus Erbarmen mit meiner Kostgeberin vor, Boll zu früher Heimkehr zu bewegen.

In der kleinen Gesellschaft, die mich begrüßte, war Fabrikschreiber Zwengg der höflichste. Er stand auf und reichte mir die unangenehm weichliche Hand, als kennten wir uns seit Jahr und Tag. Das ist die Art, wie er sich bei jedermann anfreundet, etwas keck und etwas unterwürfig. Nun hatten aber die vier Männer, neben Boll und Zwengg der Wirt und ein Schlossermeister, die Karten wieder ergriffen, und gelangweilt schaute ich ihnen zu, wie sie ihre Trümpfe warfen und ihre Gewinne auf eine Schiefertafel kreideten.

Ich fand keine Gelegenheit, mein Anliegen bei Boll vorzubringen, betrachtete mir aber den Fabrikschreiber, der nach der Angabe der verärgerten Frau der Dorfwolf von Aagrüt sein sollte. Mir schien, daß ihm für diese Rolle doch manches fehle. Wohl war er gerade den Abend beim Friseur gewesen: der kleine Schnurrbart saß ihm mit nadelscharfen Spitzen wagrecht gedreht, und das Haar war ihm sorgfältig in den Glatzenansatz der Stirne gekämmt. Das Gesicht aber ist von schlechter Farbe, der Mund gegenüber Nase und Stirn fast verkümmert, das Gebiß mangelhaft, und blickt man ihm in die unruhigen Augen, so bekommt man den Eindruck eines Tyrannen, aber doch nur eines kleinen, der im Sichducken gewiß gleich bewandert ist wie im Befehlen. Und der sollte den Mädchen so gefährlich sein? –

Da trat gegen elf Uhr unerwartet noch ein später Gast in die Wirtsstube, wie ich aus der Begrüßung merkte, irgendein »Herr Doktor« aus Hettenstein. »Sauwetter!« lachte er, hängte den regentriefenden Schlapphut und Mantel an den Ofen und setzte sich zu uns. Die anderen spielten ruhig weiter. Nur Boll nahm sich einen Augenblick die Mühe, mir den Hereingeschneiten, den ich schon ein paarmal auf den Straßen von Aagrüt gesehen hatte, vorzustellen: »Doktor Hermann Thellung – Lehrvikar Heider!«

»Ach ja,« wandte sich der Gast zu mir, »unsere Ratsschreiberstochter hat mir vor einiger Zeit Ihren Namen genannt!« Ich erinnerte mich, daß ich von ihrer Mutter auch den seinen gehört hatte als den eines begabten Klavierspielers und Sängers, der bei seinen Besuchen der Familie die Stunden mit Liedern würze. Damit kamen wir in eine Unterhaltung.

Was für eine sonderbar und eigenartig geprägte Erscheinung ist dieser Doktor, der in hohen Stiefeln, eine Angelrute in der Hand und eine Fischtruhe ähnlich einer Botanisierbüchse auf dem Rücken, so spät in unseren Kreis getreten war. Er mag gegen die dreißig gehen, eine elastische, kräftige Mannesgestalt; das Gesicht ist in fast klassisch ebenmäßigen Zügen geschnitten, dazu hat er strahlende Blauaugen und einen schönen dunkelblonden Bart. Am meisten fielen mir die blau durchschimmernden Adern an seinen Schläfen auf, überhaupt etwas Vornehmes in seinem Ausdruck. Er erinnerte mich unwillkürlich daran, wie die Thellung schon vom Mittelalter her eine der ersten Familien im Lande gewesen waren, die ihm Künstler, Gelehrte, Prediger und im Vater des Gastes einen sehr bekannten Politiker geschenkt hat.

Nun lag aber im Wesen Thellungs ein Gegensatz zu seiner bedeutenden Erscheinung. Offenbar hielt er auf seine Abstammung nichts. Von seinem Vater, dem Nationalrat, sprach er als dem »Alten«, und als ich ihn fragte, was ihn in der regnerischen Nacht noch nach Aagrüt führe, erwiderte er: »Mir Ledigem wird es daheim oft zu eng und zu dumm! Da halt' ich's am Abend lieber mit den Eulen und Füchsen!« In seiner Rede spürte ich etwas Abweisendes und Spöttisches, etwas, als verachte er die Welt; doch hatte ich das Gefühl, mir selber bringe er etwas inneres Wohlmögen entgegen.

Um Mitternacht gebot der Wirt Feierabend. Vor der Haustüre verabschiedete ich mich von Doktor Thellung und wandte mich zu Hans Boll: »Herrgott, in diesem Regen und in dieser Stockdunkelheit muß der Spätling noch nach Hettenstein laufen.«

Mein Kostgeber lachte: »Der hat Zeit. Das ist ja der unnützeste Landstörzer weit und breit.«

Unwillkürlich mußte ich mitlachen. Ich hörte das Wort »Landstörzer« zum erstenmal und fand etwas unendlich drollig Bezeichnendes für einen Menschen darin, der seine Zeit mit Laufen vertrödelt.

Boll aber sagte zum Gutenacht: »Morgen ist also Schulkapitelsversammlung in Hettenstein. Ich glaube, das Wetter hellt sich, und wir können zu Fuß gehen. Dann will ich dir unterwegs einiges vom Kiltgang erzählen!«

 

Als wir den Weg zum Städtchen antraten, hingen die Wolken noch tief über den von einem leichten Schnee versilberten Wald. Wir gingen zuerst schweigsam, dann fragte Boll unvermittelt: »Hat dich gestern eigentlich meine Frau ins ›Lamm‹ geschickt, damit du mich heimholest? Bei deinem Eintritt vermutete ich es.«

»Nein,« antwortete ich. »Ich finde es aber doch nicht recht, daß du Abend um Abend mit dem geringen Zwengg zusammensitzest, während sie sich daheim in Sehnsucht nach dir verzehrt.«

Sein Gesicht verfinsterte sich; schwer erwiderte er: »Sie ist ein Starrkopf. Nur eine Bitte von ihr, und ich bliebe gewiß daheim. Leicht fiele es mir zwar nicht. Unserer Ehe fehlt die innere Achtung, und im Herzen habe ich eine andere lieber als meine Frau. Mit dieser bin ich nur durch den verfluchten Kiltgang zusammengekommen! Heider, dir muß ich von der Leber weg erzählen, du hast gewiß schon unangenehm genug bemerkt, wie mein Weib und ich zusammen stehen.«

»Meine Liebe«, fuhr er fort, »war und ist eigentlich nur das Zinklein, doch so, daß sie es selber nicht wissen konnte. Wir sprachen nie ein vertrauliches Wort zusammen. Das hat seinen schwerwiegenden Grund im dunkeln Schicksal ihres Vaters. Er war Verwalter der Spar- und Leihkasse Hettenstein, ein leutseliger Mann, der das Vertrauen der gesamten Gegend genoß. Keiner besaß so viele Freunde wie er. Leider zu viele! Er geriet in Bürgschaften hinein, verlor dabei in rascher Folge reichlich Geld, suchte die Verluste mit Börsenspiel wieder einzubringen und vergriff sich darüber an der öffentlichen Kasse. Gewiß hätte sich ein Schlauerer im Augenblick, als die Entdeckung kam, noch zu helfen gewußt. Er aber ließ das Unglück einfach über sich hereinbrechen, fand ein mildes Gericht, milder, als es ihm die vielen Geschädigten wünschten. Als er aber nach ein paar Jahren das Gefängnis verlassen durfte, war er ein gebrochener Mann. Sein Schwiegervater Aufberg in unserer Aagrüter Mühle gab ihm die Mittel zur Reise nach Amerika, und seine Frau, die über dem Unglück schon in den dreißiger Jahren ergraute, zog sich mit dem Töchterlein in die Mühle zurück, in ein Nebengebäude ihres Geburtshauses, das ihr Bruder mit seiner Familie innehält, und lebt dort mit Berteli in kleinen Verhältnissen. Was aus dem Vater geworden ist, weiß ich nicht!«

Ich unterbrach Boll auf unserem Gang durch den Wald mit keinem Wort, und er erzählte weiter: »Wie ich nun vor etlichen Jahren als Lehrer nach Aagrüt geworfen wurde, sah ich das schöne blonde Kind, damals eine Siebzehnjährige, dann und wann, und als sie neunzehn wurde, entdeckte ich in mir die heiße Neigung zu ihr. Die üble Geschichte ihres Vaters machte mich aber stutzig. In der Volkserinnerung war darüber noch kein Gras gewachsen, ich spürte, daß es mir, dem Lehrer, die Gemeinde Aagrüt nie recht verzeihen würde, wenn ich die Tochter eines Gezeichneten als Weib heimführte, und deswegen durfte Berteli nie erfahren, wie es um mich stand.«

Mit einem tiefen Seufzer holte Boll Atem. »In meiner inneren Not,« sagte er, »wandte ich mich an meinen damaligen Freund, meinen jetzigen Schwager, den Baumeister Rudolf Scheubli. Er merkte, wieviel mir das Berteli galt, redete mir aber die Liebe zu ihr aus der Seele. ›Es wäre eine Schande für die ganze Gemeinde,‹ sagte er, ›wenn sie Lehrersfrau werden dürfte; du liefest sogar Gefahr, deswegen von deinem Posten hinweggesprengt zu werden. Dir weiß ich eine bessere Wahl: Anna Lindig, meine künftige Schwägerin! Die Lindig sind doch eine wohlhabende Bauernfamilie und im Dorf angesehen, die Väter und Großväter schon bekleideten in Aagrüt manche ehrenvollen Ämter. Und sprechen wir rein vom Praktischen! Was leistet die Berta Zink? Sie ist gewiß für unsere Mädchen und Frauen eine Schneiderin von Können und Geschmack, sie weiß, wie man Hüte reizend ausstattet, und berät unsere Aagrüterinnen in allem, was sie vor ihrer Welt gefällig macht, vorzüglich. Bringt das ein wesentliches Stück Geld? Ich zweifle! Anna Lindig dagegen! Wenn du die nimmst, brauchst du dich das liebe lange Jahr nicht zu kümmern, woher für dich und die Deinen die Milch kommt; in den elterlichen Weinbergen wächst für deinen Bedarf Gemüse übergenug; es wird kein Stück Vieh geschlachtet, du hast davon vierzehn Tage zu essen, und es braucht von dir keine Bitte: in jedem Winter erhältst du dein ganzes oder halbes Schwein. Kurz, mit der Anna Lindig kannst du deinen Schullehrergehalt auf die Seite legen. Und das ist gewiß beachtenswert.‹« Ein krampfhafter Husten würgte Boll. »Jetzt will ich aber kurz sein,« stieß er hervor, »törichte Dinge erzählt man nicht gern breit. Die Milch, das Gemüse, das Schwein, von denen mir Scheubli sprach, ließen mich ziemlich gleichgültig, nicht aber das Bedürfnis, in eine ehrenhafte Familie hineinzukommen. Ein paarmal begleitete ich ihn zu den Schwestern auf die Kilt. Er und seine Braut zogen sich jedesmal früh von Anna und mir zurück, und nachdem ich etliche Male mit ihr gelichtert hatte, wußte ich, daß ich sie anständigerweise heiraten müsse. In Aagrüt kein besonderer Fall! War's meine Schuld, war's die ihre? Jedenfalls war ihr Begehren größer als das meine. Dann ein unglücklicher Zufall! Die Schwestern verhandelten einmal das Zinklein in einer Art, daß mich die Wut ergriff. Meiner Braut schleuderte ich das Wort zu: ›Berteli hätte ich jetzt noch zehnmal lieber als dich!‹ Da war natürlich Feuer im Dach und ist es geblieben bis heute; doch haben wir uns ehrenhalber geheiratet.«

Wir waren im Wald schon in die Nähe der Schön-Eich gekommen, und von der Geschichte Bolls schweiften meine Gedanken ab zu der reizenden Viertelstunde, die ich mit Marie Kern auf der Bank unter dem Baum verbracht hatte.

Boll hatte aber offenbar das Bedürfnis, mir seine Beichte bis zum Schluß abzulegen. »Wenn ich das Berteli Zink sehe,« sagte er, »dann weiß ich, daß ich meine Mannesfreiheit für ein Linsengericht dahingegeben habe, wie Esau sein Erstgeburtsrecht. Über die Selbstverachtung, daß ich aus ein bißchen Menschenfurcht und wegen übler Nachrede die wahrhaft Geliebte fahren ließ und die Ungeliebte nahm, komme ich nicht hinaus. Glaubst du, ich wäre früher im ›Lamm‹ gesessen und hätte gespielt? Nie! Ich tue es jetzt auch bloß, um die eigene Schmach zu vergessen. – O, diese wundervolle Eiche! Ich wollte, ich hinge in ihrer Krone! Doch nein! Meine Frau trägt von mir ein Kind unter dem Herzen, und für dieses will ich leben!«

Der erbarmungswürdige Mann schwieg, und ich fand nicht gleich das passende Wort für sein Bekenntnis. Ich war davon erschüttert. Niemals hatte ich meinem Freund, den ich immer für einen Trockenbrötler gehalten hatte, die Fähigkeit eines so tiefen Seelenschmerzes zugetraut. Nachdem wir eine Weile schweigend gegangen waren, sagte ich aber doch: »Mein Lieber! Mir ist du habest dir ein Brett vor die Stirne geschnallt; das Benehmen gegen deine Frau ist eine gottlose Ungerechtigkeit. Mag sie getan haben oder tun, was sie will, ich spüre ihre brennende Liebe zu dir. Sie ist mit ihren stolzen Zöpfen und dem bildsauberen Gesicht doch eine der anmutigsten Erscheinungen, die bei uns möglich sind. Wirf einmal die Gedanken an das Zinklein hinweg, bringe ein wenig Glück in die Seele deines Weibes, und du wirst selber ein glücklicher Mann!«

Ich merkte, halb gefiel ihm mein Wort, halb lehnte er es ab. Spöttisch lächelte er: »Woher hast du nur deine große Gescheitheit mit deinen zwanzig Jahren? Indessen ist ein guter Rat den andern wert. Und meinerseits gebe ich dir den: Nimm dich vor den Dorfmädchen in acht, nicht nur vor denen in Aagrüt, sondern überall, wohin du vielleicht einmal in Stelle kommst. Jede hat es, wenn es nicht der Pfarrer sein kann, auf den ledigen Lehrer abgesehen. Gewiß nicht wegen der Höhe der Besoldung, aber weil eine Lehrersfrau doch nicht so schwer arbeiten muß wie eine Bäuerin. Da wird der Junge durch einen Anschickmann auf den Kiltgang gelockt und ist, ehe er's merkt, in der Falle. Ich bin nur einer von manchen, denen es so gegangen ist. Du aber sei der Klügere! Laß dich in keine der gefährlichen Stuben vergaukeln!« Wir hatten unser Ziel erreicht, und im Städtchen deutete mein Weggenosse auf ein ansehnliches Gebäude, an dem in goldenen Buchstaben stand: »Spar- und Leihkasse Hettenstein«. »Das ist das Geburtshaus des Zinkleins,« sagte er tonlos, »da hat ihr Vater seine Dummheiten begangen,« Damit war unser Morgengespräch zu Ende. –

Das erfreulichste an der Kapitelsversammlung war für mich, daß ich dabei auch meinen Heinrich Moos traf, und beim gemeinsamen Mittagsmahl in der »Krone« verabredeten wir, der Ratsschreibersfamilie Guten Tag zu sagen. »Doch meinerseits nur kurz,« fügte er hinzu, »ich habe mich unserem Doppelquartett für eine Übung vergeben!«

Bei unserem Eintritt in das Haus Kern war der Vater schon aufs Amt gegangen, und von Marie erzählte uns die Mutter, sie vertrete nun wirklich seit einiger Zeit den gichtbrüchigen Telegraphisten meines Heimatdorfes. Sie unterhielt sich nun auch sehr lieb mit ihrem jungen Verwandten. Er verabschiedete sich unter Berufung auf seine Gesangübung bald wieder, ich blieb auf ihre Ermunterung hin noch eine Weile allein bei ihr.

Wir plauderten mancherlei, und ich erzählte ihr unter anderem, wie ich in später Abendstunde zu Aagrüt die Bekanntschaft Doktor Hermann Thellungs gemacht habe und wie er mir als »Landstörzer« geschildert worden sei. »Landstörzer!« rief Frau Kern, als erschrecke sie das Wort. Die Hände über dem Rücken gefaltet, lief sie ein paarmal im Zimmer auf und ab und setzte sich wieder zu mir, als ob sie mir ihr besonderes Vertrauen erweisen wolle. Nach einem Augenblick des Besinnens begann sie: »Wer um die Verhältnisse der Familie Thellung weiß, begreift den Jungen in den Seltsamkeiten, die Ihnen als Landstörzerei bezeichnet worden sind. Es handelt sich um einen wehen Kampf zwischen Vater und Sohn. Rechtsanwalt und Nationalrat Doktor Thellung ist gewiß einer der volkstümlichsten Männer weit und breit, niemand bestreitet seine Verdienste um unsere Gegend, um das weite Land, und ob er auch mächtige politische Gegner hat, das Vertrauen der Bauernschaft genießt er in politischen Angelegenheiten sowohl als in ihren Prozeßsachen wie kein anderer. Nur nach seinem Familienleben dürfen Sie nicht fragen. Von seiner ersten Frau, die im Städtchen unendlich verehrt wurde, ließ er sich aus Leidenschaft für eine andere scheiden. Die von ihm verworfene Frau lebt nun in ihrer Heimat, irgendeinem Städtchen an den Bergen. Niemand bei uns mag ihre Nachfolgerin als der Nationalrat selber. Ihre bittersten Feinde sind die drei Stiefkinder, die ihre richtige verstoßene Mutter wie eine Heilige lieben.«

Wieder erhob sich die Ratsschreiberin und ging auf und ab, und wieder stand sie vor mir still. »Der älteste Sohn Max ging wegen dieser Verhältnisse, noch nicht zwanzigjährig, nach Amerika und ist dort mehr oder weniger verschollen, die Tochter wurde Diakonissin in einem Krankenhaus, und Hermann, den Sie also kennen, wäre gern Feinmechaniker, Uhrmacher oder etwas Ähnliches geworden. ›Wer übernimmt denn einmal mein blühendes Rechtsbüro?‹ warf der Alte ein und drängte mit der Gewalt seines Wesens Hermann in juristische Studien hinein. Der Verzwängte wurde nun fast der ewige Student, wenigstens hat er ein paar Jahre mehr als andere an der Universität verbraucht, bis ihm endlich der Doktor geriet.«

Frau Kern setzte sich wieder zu mir. »Der verärgerte Alte zog ihn in den Dienst des eigenen Büros. Da sind nun Auftritte zwischen den beiden an der Tagesordnung. Kaum weiß man, welches der härtere Kopf ist. Man behauptet, der Sohn könnte bei seinen trefflichen Anlagen ein noch tüchtigerer Anwalt sein als der Vater. Aber der Alte gönnt ihm keine Selbständigkeit. Also Streit! Und der Junge läuft davon, fischt wie in seiner Jugendzeit, und weiß Gott, wie viele Gewässer er gepachtet hat. Am Abend setzt er sich ins Wirtshaus, kein Trinker, aber ein Hocker, der dem letzten Gast in den Rücken blicken will. Das ist, warum ihn das Volk einen Kalfakter oder, wie Sie nun melden, einen ›Landstörzer‹ nennt!«

»Dennoch ist etwas Gutes an Hermann Thellung!« fuhr die Ratsschreiberin fort und legte ihre Hand auf die meine. »Wie ich Ihnen erzählte, besucht er uns hin und wieder, und wenn er weiß, daß er uns damit eine Freude bereiten kann, singt er uns ein schönes Lied vor. Wie gewöhnlich, wie gemein er etwa unter den Leuten spricht, – sobald er singt, hat er etwas unendlich Vornehmes an sich, kein Herz bleibt unerschüttert, wenn er das Lied anstimmt: ›Ich komme vom Gebirge her‹ und darin an die Stelle gelangt: ›Ich bin ein Fremdling überall!‹«

Frau Kern lehnte etwas ermüdet und mit halbgeschlossenen Augen in ihren Stuhl zurück. Nur um meine Teilnahme an ihrer Schilderung der Umstände des jungen Mannes zu bezeugen, versetzte ich: »Merkwürdig, Doktor Hermann Thellung ist doch fast dreißig und noch ledig! Wie einfach wäre es für ihn, aus dem unglücklichen Verhältnis mit dem Vater und der Stiefmutter herauszukommen, wenn er sich einen eigenen Haushalt gründete. Die gemeinsame Arbeit auf dem Rechtsbüro des Nationalrates ginge ihm damit leichter.«

Die Ratsschreiberin fuhr bei meiner harmlosen Bemerkung zusammen und sagte wie in heftiger Abwehr meiner Worte: »Hoffentlich wird dieser Sonderling ein alter Lediger und hat keine Pläne. Mein Mann und ich leben nämlich in der Angst, er werfe seine Blicke auf unsere Marie. Nein, so wahr es einen Gott im Himmel gibt: möge dieses Unglück nicht an uns herantreten, wird Marie sich nie mit der unseligen Familie Thellung verbinden! Nein – nein! – Gottlob sagte sie selber in ihrer Frömmigkeit: ›Niemals nähme ich diesen Menschen und Glaubensverächter!‹« – Plötzlich ergriff Frau Kern meine Hände. »Mir ist, ich habe Ihnen zu viel verraten. Verzeihen Sie es dem gequälten Mutterherzen!«

Zwischen uns entstand eine gewisse Stille; ich wollte schon gehen, da bot sie mir noch eine Schale Kaffee an. Während ich ihn schlürfte, sagte ich so gleichgültig, wie mir nur gelingen wollte: »Ich fahre übermorgen, am Samstag, nach Reifenwerd, um den Sonntag bei meinen Eltern zu verbringen. Darf ich wohl dort Ihr Fräulein Tochter auf einen Augenblick begrüßen?«

Einfach antwortete die Frau Ratsschreiberin: »Ich denke, daß sie sich darüber freut!« Die Eindrücke des Tages beschäftigten mich so tief, daß ich nicht mehr weiß, wie ich durch den Wald zurück nach Aagrüt kam.

Da erlebte ich etwas Überraschendes. Hans Boll saß bei meiner Ankunft bereits daheim, las irgendeine Entdeckungsschilderung von Livingstone und ging diesen Abend nicht mehr aus. Wie mag Frau Boll darüber still glücklich gewesen sein!

 

Heute hatte ich in der Schule einen wahren Schrecken. Ich unterrichtete die oberste Klasse. Da sah ich, wie ein Knabe, Werner Schälli, während meines Sprechens vor mir einschlief. Das Haupt sank ihm auf die Bank, er begann zu schnarchen und kam so stark darein, daß die anderen Kinder belustigt zu lachen anfingen. Ich wollte den anscheinend etwas kränklichen Jungen, meinen schwächsten Schüler, wecken und griff ihm, gewiß nicht heftig, in das lange dunkle Haar. Da blieb mir eine ganze Welle davon in der Hand, und auf dem Kopf des Knaben hatte sich eine kahle Stelle gebildet. In meiner Überraschung nahm ich den erwachten Jungen an die Hand und ging mit ihm hinüber in die Wohnung des Lehrers Leber. Dieser zog den Buben liebreich auf die Knie und streichelte ihn – ein rührendes Pestalozzibild!

»Mein Gott, mein Gott, Junge, wie siehst du verwahrlost aus!« Die Zureden des Alten brachten den Knaben endlich zum Sprechen: »Ich habe die ganze Nacht mit der Meisterin bei einer Kuh stehen müssen, die dann am Morgen ein Kälblein geworfen hat.« Er begann zu weinen. Leber und seine Frau entkleideten ihn. Nie habe ich eine so furchtbare Kindergestalt gesehen: gedunsenen Bauch, hervorstehende Rippen, Glieder wie Stecklein. Auf die mitleidigen Fragen der Lehrersleute gestand der Junge, daß er die ganze Woche nie aus den Kleidern komme und nie in einem Bett, sondern draußen beim Vieh im Stalle schlafe.

»Was?« rief Leber in weher Empörung und mit heiserer Stimme. »So wird in Aagrüt ein Verdingknabe behandelt! Welche Schmach für unsere gewissenlosen Behörden! Natürlich liegt es in der Schwäche des Verwahrlosten, daß ihm bei einer leichten Berührung die Haare ausgehen.« Die Frau brachte nun eine große Gelte in die Stube, füllte sie mit warmem Wasser, stellte den zitternden Knaben darein und wusch ihn mit mütterlichen Händen vom Kopf bis zu den Füßen, dann legte ihn das Paar in ein Bett, und unter den Liebkosungen der beiden schlief er ein. Ich ging wieder in meine Klasse, besuchte aber nach dem Unterricht Leber noch einmal. Mit einem Brief an die Armenpflege beschäftigt, saß er wie gebrochen im Lehnstuhl, sein abgezehrtes Gesicht mit den vielen Fältchen erschien mir wie durchsichtig, seine Sprache war nur mehr ein Lispeln, sein Bild das eines langsamen Absterbens.

»Ja, mein lieber Vikar,« lächelte er wehmütig, »was hatte das Wort Volksbildung für mich in meinen jungen Jahren einen wundersamen Klang! Ich glaubte an die inneren Fortschritte der Menschheit. Habe ich aber in meiner langen redlichen Arbeit die Gemeinde Aagrüt um ein Stück Kultur vorwärts gebracht? Leider nein! Der arme Junge von heute ist mir Beweis, und es gibt noch andere. So das Berteli Zink, das etwa ein Buch bei Ihnen holt. Immer war es ein gutherziges Kind, aber wegen des Geldvergehens seines Vaters schon unter der Schuljugend vogelfrei. Die Sorge um die Enkelin hat ihren Großvater, den Müller Aufberg, ins Grab gebracht. Der Gemeinde leistete er viele uneigennützige Dienste und hoffte dadurch die üble Nachrede von Tochter und Großkind abzulenken; als aber stets mit Fingern auf Berteli gewiesen und hinter ihr Worte wie ›Verbrecherkind‹ geflüstert wurden, brach ihm der Gram über die Unchristlichkeit des Volkes das Herz. Nun halte ich, soweit es möglich ist, ein liebevolles Auge über das Mädchen. Möge doch einmal ein ehrenhafter Mann vor sie treten, der ihren Wert erkennt. Es sollte aber ein Fremder sein, damit sie aus unserem häßlichen Dorfe gehen kann, in dem doch kein Vergessen für die Charakterschwäche ihres Vaters ist!«

Gottlieb Leber kam nicht zum Ende seiner wehmütigen Betrachtung. Der Arzt meldete sich, und ich zog mich zurück. Wie mein Vikariatsherr, hatte ich meinen unglücklichen Tag. Immer sah ich das Bild des armen Jungen vor Augen. Es war mir, als hätte ich die Haarsträhne von seinem Schädel noch in der Hand, und selbst der Gedanke, daß ich, morgen nach Reifenwerd fahren und dort wohl auch Marie Kern treffen werde, ist mir kein rechter Trost in meinem tiefen Unbehagen.

 

Vom Samstag bis zum Sonntag abend war ich also in meiner engeren Heimat. Auf dem Bahnhöfchen Aagrüt hatte ich eine Weile auf den Zug zu warten. Da trat Thellung mit Angelrute und Fischbüchse zu mir, und als ich von Reifenwerd sprach, sagte er: »Dort werden Sie selbstverständlich auch Fräulein Kern begegnen. Darf ich Ihnen ein paar Forellen für sie, das heißt für ihre Kostleute, mitgeben und natürlich meine Grüße?« Bei der Frau Stationsvorstand lieh er sich ein Tüchlein und wickelte drei prächtig frische Fische darein. Damit fuhr ich heim.

Die Telegraphistenfamilie, die selten genug Forellen sehen wird, bewies mir ihre Freude über das Geschenk, Marie aber spottete ein wenig: »Der Doktor Überall und Nirgends; wenn er doch nur arbeiten und sich weniger um die Fischerei bekümmern wollte!«

Das Geschenk gefiel jedoch. Der alte Telegraphist übernahm für den Sonntag das Amt, Marie besuchte den Gottesdienst, und nachher fanden wir uns zu einem Spaziergang auf den Stegen und Wegen, über die das Vorspiel meines Lebens gegangen ist, und stiegen an einen der Hügelzüge hinan, die das Tal umkränzen.

Das Wetter war frostig und nur halbsonnig, aber meine Begleiterin, die einen sehr schönen hellgelb und dunkel durchstreiften Iltis trug, so recht Ratsschreiberstöchterlein, entzückte sich an unserem Lauf. Mit leuchtenden Augen und frischgeröteten Wangen sagte sie, halb zu mir gewandt, Gottfried Kellers »Abendlied an die Natur« vor sich her:

»Geliebte, die mit ew'ger Treue
Und ew'ger Jugend mich erquickt,
Du einz'ge Lust, die ohne Reue
Und ohne Nachweh mich entzückt!«

Meine Augen, meine Seele hingen dabei an ihren Zügen. Am stärksten, als ich sie auf dem Rückweg bat, mit mir in meinem Elternhaus rasch Grüßgott zu sagen, und sie schlicht erwiderte: »Gewiß, gern. Ihren Vater kenne ich bereits vom Sehen.« Er stand gerade vor dem Haus und fütterte seinen Flug Tauben, die wie eine weiße Wolke um ihn herumwirbelten.

So rasch und einfach sich nun der Besuch bei den Meinen gestaltete, hinterließ er bei allen Beteiligten einen schönen und tiefen Eindruck. Der Vater begegnete Marie mit einer so gewählten Liebenswürdigkeit und Ritterlichkeit, daß ich dachte: Jetzt übertrifft sich der Alte selbst; du könntest von ihm noch manches für den Umgang mit jungen Damen lernen!

Als ich meiner Freundin das Geleite zu ihren Kostleuten gab, sagte sie: »Was haben Sie doch für einen herrlichen Vater, was für eine liebe, liebe Mutter!«

Beim Mittagstisch im Elternhaus herrschte noch eine gehobene Stimmung über ihren Besuch. Nachdem der Vater schon ausgegangen war, wandte sich die Mutter zu mir: »Tobias, mir hätte keine größere Herzensfreude widerfahren können, als daß du das Vertrauen einer so vornehmen Tochter genießest. Du Glücklicher! trage ihr Sorge, als wär's dein Augapfel, und immer handle so, als stände sie neben dir!« – –

Nein, zu viel über den Sonntag will ich nicht schreiben! Ich kenne mich nicht mehr: ich liebe Marie Kern von ganzem Herzen und ganzer Seele; mir ist, ein Wunder sei an mir geschehen, eines vom Himmel, zugleich aber eines aus der Hölle. Immer drängt sich mir das Gesicht jener Manon Lafayette, die in Paris meine hochgesinnte Freundin war, drohend und eifersüchtig vor das Maries. Was soll mir aber Manon, die für mich ewig Verlorene? Gegenseitig haben wir uns freien Weg ins Leben gegeben, ihr Andenken ist mir heilig, und eher beiße ich mir die Zunge entzwei, als daß ich über meine Helferin in der bittersten Not ein böses Wort sage. Und doch steht die Edle wie ein aus rätselhafter Ferne winkendes Gespenst vor mir, und ich höre sie sprechen: »So wahr du das reine Kind deiner Heimat liebst, räche ich mich an dir!« Wie seltsam! Wenn ich an Marie denke, wollte ich, ich hätte Manon nie gekannt.

Der Teufel treibt mich immer, die beiden miteinander zu vergleichen; dann ist mir, ich müßte die Kongruenz eines Dreiecks mit einem Viereck beweisen. Ich fange an: Die beiden sind ungefähr gleich groß, jede mag, was nicht dem Alltag angehört. Dann bin ich schon fertig. Nein, ein Pariser Straßenkind und ein Hettensteiner Ratsschreiberstöchterlein lassen sich nicht zusammenstellen. Marie möchte ich anbeten: Blume, in der alle Schönheit unserer herben Heimat ans Licht geboren ist, leuchte mir auf meinem Pfad! Wie aber, wenn Marie Kern spräche: »Gern leuchte ich dir, wenn ich deine erste Liebe bin.« Fände ich den traurigen Mut, unter ihrem reinen Gesicht zu antworten: »Ja, du bist es!« Nie, nie! Wie der Engel, der zum Verräter an Gott wurde, müßte ich vor ihren forschenden Augen mit abgewandtem Gesicht bekennen: »Es war einmal Eine in Paris!« ...

Vielleicht ist es ein Glück, daß ich armer, zielloser Lehrvikar mich mit diesen Gedanken gar nicht zu befassen habe!

Ja, ein armer, zielloser Lehrvikar! Das bestätigte mir heute unabsichtlich Boll. Ich erzählte ihm, daß Gottlieb Leber aus Schwäche den Gesang in meinen Klassen nicht mehr weiterführen könne, bat ihn freundlich, für den Alten das kleine Amt zu übernehmen, und er erklärte sich dazu bereit.

Bei dieser Gelegenheit sagte er: »Unserem Leber gebe ich noch einen Monat! Leider hat dann auch deine Stunde in Aagrüt geschlagen oder wird doch spätestens auf Ende Schuljahr im April kommen. Als Freund denke ich, es habe für dich Wert, um die Pläne der Gemeinde zu wissen. Du stehst vor einem Spiel, das schon abgekartet war, ehe du das Dorf betratest. Wenn der alte Leber gestorben ist, wird der Sohn Gottlieb, jetzt in Riedberg, als Lehrer nach Aagrüt berufen. Das ist so sicher wie der Tod. Seine Frau ist die Tochter unseres Gemeindepräsidenten, und die großen Sippen Leber und Lindig werden keinen anderen als Gottlieb junior zur Wahl kommen lassen. Du aber hast vielleicht Verbindungen, und es dient dir wohl, wenn du dich rechtzeitig um eine dir angenehme Stelle bewerben kannst!«

Verbindungen? Nein, nicht einmal in meinem Heimatdorf. Die wachsende Gemeinde schafft zwar auf den Frühling eine neue Lehrstelle, aber mein Vater ist dort zu sehr politischer Parteimann und Führer, als daß er oder ich mir dort einen Posten wünschen. Ich weiß aus meiner Jugend, wie rasch der Sohn zum Ziel für den Haß wird, der dem Vater gilt. Auch in unseren Städten habe ich keine Beziehungen. Nichts bleibt mir übrig, als mich den Launen des Erziehungsamtes bereit zu halten, vor dem ich wegen der im Seminar betätigten dichterischen Neigungen mit dem Ruf eines Querkopfes behaftet bin. In was für ein verlorenes Dorfnest wird mich die Behörde weisen, wenn mein Abschied von Aagrüt gekommen ist?

Heimliche Sorgen um Marie Kern ließen in mir den Wunsch wach werden, daß ich hier, wenn Gottlieb Leber das Zeitliche segnet, weiter wirken könne, zunächst als Verweser, dann als gewählter Lehrer. In der Nähe Maries zu bleiben und dabei die Freundschaft, die uns verbindet, still und sein weiter zu pflegen, darauf baute ich meine Hoffnung. Für uns blutjunge Leute wären etwa zwei Jahre keine zu lange Schweigefrist. Auch sie hat ihren Beruf. Und wie würde es bei ihr und den Ihrigen für meine Pläne sprechen, daß sie neben mir in der Nähe der Eltern leben könnte! Die Ratsschreibersleute haben ja keinen stärkeren Herzenswunsch, als ihre Tochter nahe bei sich zu wissen. Wenn ich aber in Aagrüt mein Bündel schnüren und wandern muß?

 

In quälender Ohnmacht suche ich mit meiner unzeitigen Liebe zu Marie fertig zu werden und begehe darüber Torheiten.

Trotz den wohlgemeinten Warnungen Bolls vor gewissen Dorfbräuchen begleitete ich ein paar Burschen auf ihrem Kiltgang, was sie übrigens wie eine Ehrenbezeugung für sich und für die Mädchen von mir forderten. Ein dummer Streich war es doch!

Meine Führer stellten an ein Bauernhaus, in dem zwei Töchter wohnten, eine Leiter. Wir stiegen, und der vorderste pochte an das dunkle Fenster. »Ja, wer ist draußen?« kam eine Mädchenstimme zurück. Falsche Namen! Mochte die drinnen aus dem Klang erraten, wer ihr und der Schwester Besuch zugedacht hatte. »Wenn es der Vater nicht leiden will!« wehrte sie ab. Der Leitbursche: »Der wird seinerzeit auch gefenstert haben.« Die Unterhaltung dauerte so lange, bis sich die scheinbar Überraschte flüchtig in die Kleider geworfen hatte. Dann ging ein Flämmchen auf, und es öffnete sich das Fenster. Wir durften in die Kammer steigen und mit abgezogenen Schuhen hinab in die Wohnstube. Beim Schein einer Kerze Händedrücke, Geflüster, Gekicher. Und die Schwester erschien nun auch. Wir Burschen setzten uns auf die behaglich erwärmte Ofenbank oder auf den mit Vorhängen umspannten Kachelofen, und die Mädchen prüften, ob ja sämtliche Fensterläden gut geschlossen seien, damit kein Unberufener hereinblicken könne.

Darauf bewirteten sie uns Gäste. Der leichte, säuerliche Landwein floß reichlich. Auf einem Holzbrett duftete der geschnittene Ofenkuchen, aus zinnerner Schüssel winkte ein Berg von Obst, des Aufwartens, Ermunterns und Nötigens war kein Ende, man trank und aß bis zum Überdruß.

Die übrige Unterhaltung war aber umso ärmlicher. Die »Knaben« erzählten die ältesten Witze von Adam und Eva. Der eine sagte ein gereimtes Kalenderstück her, das er schlecht auswendig gelernt hatte, wieder einer gab Gespenstergeschichten zum besten. Je greulicher, desto lieber wurden sie gehört, aus wirklicher oder verstellter Angst rückten die Mädchen näher an die Burschen, die kecksten unter diesen suchten ihnen hinterrücks Nadel und Kamm der Haare oder eine Hafte des Kleides zu lösen, gewandt wehrten sich die Bedrohten, ließen sich aber nach und nach doch etwa einen Übergriff gefallen, und leicht war es zu denken, daß ein Bursche, der, wie mein Freund Boll, allein bei einem Mädchen kilterte, zu weit geriet.

Aus der Kammer über der Stube klopfte es. »Der Vater!« flüsterten die Töchter, mahnten zum Aufbruch, und beim ersten Hahnschrei gingen wir. Andere »Knaben« waren auch noch, von irgendwo herkommend, auf der Dorfstraße, und manche Pläne wurden noch ausgetragen, gute und böse: unter den guten, daß sie für einen bettlägerigen Bauern die Pflege des Viehs übernehmen würden, unter den bösen, wie sie den Fabrikschreiber Zwengg blauschlagen wollten.

Ich schämte mich nachher des Kiltganges. Nein, das ist nichts für mich. Lieber bei den Grisetten von Paris als bei den Dorfmädchen von Aagrüt sitzen. Bei jenen war wenigstens Witz. Vor allem aber denke ich an die schönen Wege mit Marie Kern und spüre es wie eine Verunehrung meiner selbst, daß ich dem Zwang der Burschen, sie zu begleiten, erlegen bin.

 

Nie war unter der Jungmannschaft vom Zinklein die Rede. Gestern traf ich nun zwei der Teilnehmer an unserem blödsinnigen Nachtgang auf der Dorfstraße. Da ging das Berteli fast scheu und schüchtern an uns vorüber und trat ins Schulhaus, wo sie sich hin und wieder nach dem Befinden Gottlieb Lebers erkundigt. Die Burschen sagten: »Wohl ein verdammt hübsches Kind, aber kiltern darf kein ›Knabe‹ von Ehre bei ihr. Sie hat von ihrem Vater her Schmutz an den Schuhen.« Ich für mich dachte: »Wer hat mehr innere Ehre? die jungen Burschen, denen sonst keine Stube für ihre Besuche zu schlecht ist, oder das Mädchen, das seinen Weg stets in Wohlanstand schreitet?« Und ich wagte ein gutes Wort für das Zinklein. Da schauten sie mich mit verwunderten und mißbilligenden Augen an, als sei ich nicht recht bei Trost. Wie empörend hart ist doch manchmal unser Volksleben! Wie tief muß wohl das Berteli unter dem schnöden Benehmen der Jungmannschaft leiden! –

Wieder holte das Zinklein ein Buch aus der Bibliothek, wieder gefiel sie mir mit ihrem pfirsichfrischen Gesicht, ihrem Blondhaar und den fliegenden Sonnenfäden. Was für ein toller Einfall! Ich fragte sie, ob ich einmal in der Rheinmühle an ihr Fenster klopfen dürfe. Der Scherzton, in den ich mein Wort kleiden wollte, gelang mir nicht recht.

Sie errötete, feiner Schalk trat in ihre Züge. »Wenn Sie bei den Dorfburschen nicht in Ungelegenheiten kommen!« versetzte sie zaghaft, doch mit hoffenden Augen. Sie bot mir die Hand. »Kommen Sie, wann Sie wollen, es braucht nicht eine Kiltnacht zu sein. Also auf Wiedersehen, Herr Heider!«

Das Mädchen war kaum aus dem Schulzimmer gegangen, so bereute ich die Frage. Wozu war der Besuch gut, wenn er nur aus innerem Widerspruch gegen die Dorfburschen oder aus Mitleid mit dem Mädchen geschah? Was wird er mir bedeuten, was mir helfen? Von Aagrüt werde ich ja doch wandern müssen und über dem Berteli Zink Marie Kern keinen Augenblick vergessen! Schon in meinem Sprachgefühl, welch ein Unterschied zwischen den beiden! »Berteli« läuft mir leicht aus der Feder, nie aber könnte ich die Ratsschreiberstochter mit dem Wort »Marieli« anführen. Das beruht doch im unbewußten Unterschied der seelischen Einschätzung.

Auf dem Weg vom Schulhaus in unsere Wohnung sprach ich Boll von meiner Verabredung mit dem Zinklein. »Ja, ja,« versetzte er kopfnickend. »Du bist der Glückliche, der als Lediger zu ihr gehen darf. Und sie gehört nicht zu denjenigen, die einen jungen Mann absichtlich in Versuchung führen. Wenn ich von ihr selber nur etwas Nachteiliges wüßte, fände ich meine Ruhe. Immer aber wird in den Urteilen über sie nur der betrügerische Leichtsinn ihres Vaters vorgeschoben.« Ein Herzenston zitterte in der Stimme Bolls, der mir selber wieder zu Herzen ging. –

Doktor Thellung junior aus Hettenstein läuft mit seinen Fischereigeräten jeden Tag durchs Dorf. Wir setzten uns letzthin miteinander ins »Lamm«, und gerne hörte er, daß seine Forellen in Reifenwerd Freude bereitet hätten. Merkwürdigerweise ging der Langehocker früher, als man an ihm gewohnt ist. Die übriggebliebene Gesellschaft zog über den Verschwundenen in allerlei spöttischen Nachreden los, und Doktor Meyer, der Dorfarzt, wandte sich zu mir: »Sie haben sich da einen seltsamen Freund gewählt, Herr Heider. Nicht daß eigentlich etwas Böses von ihm zu sagen wäre. Wenn aber ein so hochintelligenter Mensch seine Zeit wie ein wilder Waldläufer totschlägt, steht es schlecht genug um ihn. Wie sagte mein Großvater? ›Fischefangen und Vögelstellen verdarben schon manchen Junggesellen!‹«

Auf dem Heimweg aber überlegte ich mir: »Doktor Thellung ist ein bildschöner Mann, er hat den Doktortitel, kommt aus einem angesehenen und wohlhabenden Haus und hat vor mir den Vorsprung der reiferen Jahre. Wie, wenn er nun trotz der Unzulänglichkeiten seiner Lebensführung eine heimliche Ecke im Herzen Maries besäße?«

Den Sonntag verbrachte ich bei meinen Eltern. Die Ratsschreiberstochter sah ich dort nicht. Als aber bei meiner Rückfahrt der Zug in Hettenstein hielt, stand sie mit ihren Eltern am Bahnhof, offensichtlich um sich mit dem Gegenzug wieder in ihr Amt zu begeben. Die Umstände gestatteten nur eine kurze Begrüßung, sie war aber herzlich, und ich habe Marie doch wieder in die trauten, lieben Augen und in das schöne, ernste Gesicht geblickt.

 

Gegebene Versprechen muß man halten. Ich machte dem Zinklein meinen Besuch, doch mit schlechtem Gewissen, und ich will nicht viel darüber schreiben.

Nebelduft lag über dem Tal. Als ich das Dorf verließ und zur Aamühle hinunterwanderte, kam der Neunuhrschlag vom kurzen, dicken Kirchturm. Vor dem Häuschen mußte ich nicht warten, keine Leiter anstellen, nicht klopfen. Berta Zink hatte mein Kommen gehört und vielleicht auch meine Schritte erkannt. Ein Licht in der Hand, öffnete sie mir die Türe. Ein zartes, inniges Lächeln schwebte ihr auf den Lippen, sie trug eine von Spitzen durchbrochene Schürze. Ich merkte, daß ich der Erwartete war, und fragte nach ihrer Mutter.

»Ich bin ganz einsam,« erwiderte sie, »die Mutter hält sich schon bald sechs Wochen in Hettenstein auf und schaut nur selten her. Sie pflegt dort eine alte kranke Base, die niemand eigenen hat und nicht mehr aufkommen wird.« Berteli reichte mir noch einmal die Hand. »Also willkommen, Herr Heider!«

Ein paar Möbelstücke und Bilder in der sauberen Stube erinnerten an den früheren Wohlstand der Familie. In einem der Porträte erkannte ich ihren Vater: ein stattlicher Mann mit schön geschnittenem Gesicht. Doch wagte ich nicht recht hinzublicken, ich wollte die Tochter nicht in Verlegenheit bringen. Auf eine Laute deutend, fragte ich: »Spielen Sie?«

»Nein,« erwiderte sie, »die Gitarre ist bloß ein Andenken meiner Mutter! Wenn ich eine freie Stunde habe, lese ich.«

Wir sprachen nun bei einem einfachen Imbiß und einem Korb voll Nüsse, die sie mit einem Hämmerchen knackte und mir darlegte, über Bücher, und dann unterhielten wir uns über die Menschen, auch über Boll. »Er ist so seltsam geworden, seit er verheiratet ist,« sagte Berta bedauernd. »Früher hatte er stets einen freundlichen Gruß für mich, nun aber geht er mir aus dem Weg, und ich bin mir doch keiner Schuld bewußt.« Offenbar wußte das Zinklein nichts von seiner heimlichen Neigung für sie.

»Wenn er nur nicht so häufig mit dem geringen Fabrikschreiber zusammensäße,« versetzte ich arglos.

Sie erblaßte, dann schoß ihr das Blut scharf in die Wangen, doch nur einen Augenblick.

Wir unterhielten uns dann von meinem eigenen Wege. »Ich bin ja nur ein Blatt im Wind,« sagte ich. »Wenn morgen der alte Leber stirbt, kann ich übermorgen wandern. Weiß Gott, wohin mich's schlägt! Doch freue ich mich, aus Aagrüt eine so angenehme Erinnerung mit forttragen zu dürfen wie an diesen Abend mit Ihnen.« Sie lächelte dazu glücklich und überließ mir ohne Widerspruch ihre Hand. »Vielleicht muß auch ich bald von hier fort!« sagte sie träumerisch. »Sie kennen wohl das traurige Schicksal meines Vaters. Nach langem, hartem Kampf geht es ihm nun in Amerika ziemlich gut. Da wünscht er, daß die Mutter und ich zu ihm hinüberkommen; die Mutter aber scheut die Fahrt. Auch mir bereitet seine Einladung Schmerzen. Hier ist meine Heimat! Doch nein – nichts Gutes erlebe ich in Aagrüt! Jedermann verachtet mich wegen eines Unglücks, an dem ich völlig unschuldig bin.« Eine klare Träne rollte ihr die Wange hinab. Sie faßte sich aber rasch. »Wozu von so Schwerem sprechen? Nein! Ich danke Ihnen ja unendlich und freue mich, daß Sie zu mir gekommen sind.«

Wie ein junger Vogel im warmen Nest lag ihre Hand in der meinen, und ich spürte den Flaum frischer Wangen, den Duft blonder Haare und das eigene junge, rote Blut. Aber das Zinklein und ich wechselten kein Wort, das nicht Gott und die Menschen frei hätten hören dürfen.

Die Schwarzwälderuhr der kleinen Stube kündigte in langsamen, klingenden Schlägen Mitternacht, und ich dachte an Aufbruch. Da pochte es leise an einen der festgeschlossenen Fensterläden. Ein heftiges Erschrecken lief über die Züge des Mädchens. Sie erblaßte, fuhr auf, löschte das Licht, und angehaltenen Atems verharrten wir im tiefen Dunkel, doch spürte ich aus der Hand des Zinkleins, wie ihr die Angst durch den Leib rieselte und zitterte. Der draußen ließ nicht ab und pochte in einer Art, als hätte er ein Recht, einzutreten. Sie tappte hinaus in den Flur, und ich wußte, ohne daß sein Name ausgesprochen worden war, daß es sich um eine Zudringlichkeit des Fabrikschreibers Zwengg handelte. Der Gedanke war mir so widerwärtig, daß ich am liebsten die Flucht ergriffen hätte, wenn es nur möglich gewesen wäre, heimlich an ihm vorbeizugehen. Wie kam Zwengg zum Zinklein?

Ich hörte, wie sie ihn unter der Haustüre flehentlich zurückhalten wollte, wie er aber ihrer Abwehr ungeachtet in den Flur drängte, wie er sagte: »Herr Heider und ich sind ja gute Freunde.« Im nächsten Augenblick stand er in der Stube, schlug selber Licht auf die Lampe, bot mir die marklose, unangenehme Hand, setzte sich mit einer Entschuldigung zu mir und begann mit einer biedermännischen Freundlichkeit, als hätten wir das Salz seit Jahr und Tag miteinander gegessen, eine Unterhaltung, an der ich nur unter dem Zwange der Umstände teilnahm.

Das Zinklein lehnte wie geistesabwesend an die Wand und hielt die Wimpern starr gesenkt vor Scham über den unwillkommenen Gast. Da trat er auf sie zu, suchte sie mit ein paar Artigkeiten aufzuhellen und an der Hand zu uns an den Tisch herüberzuziehen. Sie entzog ihm die Hand mit einer Heftigkeit, die ich dem sanften Wesen nie zugetraut hätte, gab ihm mit der kleinen Faust einen Stoß auf die Brust und schrie: »Du Schuft, ich habe dir ja geschrieben, daß ich von dir nichts mehr wissen will!«

»Ich will dich und den Herrn Vikar auch nicht weiter stören,« erwiderte er mit bösem Lächeln im mißfarbenen Gesicht; »ich will dir nur das Strumpfband zurückgeben, das ich dir habe ablösen dürfen.« Er zog den mit Glasperlen gestickten Riemen aus der Tasche und legte ihn vor mir ins Licht: »Nicht wahr, Herr Vikar, ein hoffärtiges Band, zugleich aber ein Beweis, daß Sie nicht als der erste bei unserem artigen Zinklein angeklopft haben.«

Mit einem herzerschütternden Schrei sank das Mädchen vor mir zu Boden und grub ihr Gesicht in beide Hände. Der Jammer schüttelte sie, Zwengg aber hatte für ihr Elend nur ein kühles Lächeln. »Du kannst dich ja jetzt an den Herrn Vikar halten; ich verbiete es dir nicht,« sagte er boshaft. Da fuhr sie vom Boden auf, das Gesicht von Schmerzen verzerrt, und schrie: »Nein, vorher gehe ich in die Aa, und vorher noch will ich dich ins Zuchthaus bringen!«

»Das hat schon manche gesagt,« höhnte er, »und bedenke, jetzt ist das Wasser der Aa etwas kalt. Zuchthaus? Na, du wirst nie erleben, daß ich hinter seine Mauern gehe.«

Überrascht und wie auf den Kopf geschlagen wohnte ich dem häßlichen Vorgang bei. Nun fuhr aber auch ich empor: »Zwengg, was sind Sie für ein Hund? Fort mit Ihnen!«

»Zu Diensten, Herr Vikar,« scherzte er mit gemeiner Höflichkeit, »ich wünsche Ihnen noch gute Unterhaltung mit Berteli!« Damit verließ er wirklich das Haus.

Das Mädchen aber in seiner gebrochenen Ehre saß, das Gesicht in die Ellbogen gewühlt, am Tische. Von Zeit zu Zeit stieg ein jammervoller Schluchzer aus ihrer Brust. »Seit Jahren hat mich der Schuft verfolgt, schon als ich ein Schulmädchen war! Um Gottes willen, warum mußte die Mutter von mir weggehen! Ich wußte, daß er ein schlechter Mensch ist. Er hat sich aber vor mir niedergeworfen und wie ein Bube geweint, keine könne ihm aus seinen bösen Leidenschaften heraushelfen als ich; Gott würde mich segnen, wenn ich mich seiner erbarmte. Und wenn man so ungerecht verachtet ist wie ich, da greift man nach einem Strohhalm von Liebe! Was mir selber geschehen ist, kann ich nicht zurücknehmen, bei Gott im Himmel aber, dafür sorge ich, daß ich sein letztes Opfer bin.«

War, was Berta Zink stöhnte, Selbstgespräch oder ein Bekenntnis zu mir? Vielleicht wußte sie gar nicht mehr, daß ich an ihrer Seite saß. Wozu blieb ich? Bloß aus Furcht, die Vernichtete laufe aus der Stube und hinein in die Aa. Erst gegen Morgen sagte ich: »Armes Kind! Nun muß ich doch gehen.«

»Ja,« hauchte sie und reichte mir, ohne den Kopf zu erheben, tastend die Hand.

»Und du tust dir nichts zuleide?« bat ich, selber von den Erlebnissen der Nacht erschüttert.

Leise und wie von einem folgsamen Kind kam es zurück: »Nein – ich fahre zu meinem Vater nach Amerika!« Das war mein unseliger Besuch beim Zinklein.

 

Da- und dorthin horchte ich im Dorf, ob ich etwas von Berta höre. Keinen Ton. Das Buch, das sie noch aus der Bibliothek besaß, schickte sie mir ohne ein Begleitwort durch die Post zurück.

Was ist aber Zwengg für ein unglaublicher Höllenhund! Ich traf ihn zufällig auf ziemlich einsamem Weg. Auf mich zukommend, bot er mir die Hand, die mir ein Ekel ist. »Nein,« sagte ich und verweigerte ihm die meine. Da setzte er wieder sein schmutziges Lächeln auf: »Wir waren ja vorgestern nacht etwas erregt und heftig. Aber wegen eines Weibervölkleins entzweien wir uns doch nicht! Ich denke, wir bleiben Freunde!« Da konnte ich mich nicht mehr halten: »Nein, ich verachte Sie.« Er gab mir einen unendlich giftigen Blick, der erklärte: »Nun bin ich auch Ihr Feind!« Wie hätte ich ihm aber anders begegnen können?!

Und bereits besitze ich seine Quittung. Ich war gestern abend im »Lamm«. Wir, etliche Männer und Frauen, besprachen die Versorgung armer Schüler mit warmen Winterkleidern. Nachher rief mich noch Boll an seinen Tisch, an dem mit Anderen auch der Fabrikschreiber und Doktor Thellung saßen. Da legte Zwengg plötzlich die Karten weg, begann mit mir eine Unterhaltung über das Zinklein und führte sie in dem Ton, wie wenn er sich bei mir wegen der Störung meines Besuches in der Mühle noch einmal entschuldigen wollte. In Wahrheit war sein Gespräch nur ein böser Vorwand, um das Zinklein und mich dem Verdacht und dem stillen Spott der Gesellschaft preiszugeben. Ich befürchte, ich habe mich dabei hilflos wie ein Kind benommen. Ich fand vor Scham keine Widerrede und sah immer nur das Lächeln, das Thellung in seinem schönen Bart zerdrückte.

Besser als ich betrug sich Boll. Der doch nicht sehr kräftige Mann stand auf, rief Zwengg zu: »Du Laushund! Heider mag sich selber verteidigen; dafür aber, wie du vom Zinklein sprichst, hier meine Antwort.« Damit schlug er dem Schreiber die Faust auf das Schädeldach, daß die Knochen klirrten und Zwengg ein paar Augenblicke wie ohnmächtig dasaß. Tragikomödie: die beiden sprachen nachher von Friedensrichteramt, Ehrverletzungsklagen beim Bezirksgericht, und dann stieß Zwengg sein Glas an dasjenige Bolls: »Wozu Händel? Wir wollen unserer langen Freundschaft gedenken und zum Zeichen des Friedens unser Spiel wieder aufnehmen.« Und merkwürdig: Boll ging darauf ein. Das habe ich an ihm nicht begriffen! Ich aber bin jetzt mit dem Zinklein im Dorfgespräch.

Im übrigen kommen die Tage, gehen und gleichen sich. Ein mächtiger Schneefall hat endgültig Winterstimmung verbreitet, wie weiße Kissen liegt es auf den Dächern, nur noch mit ihren Spitzen schauen die Gartenhäge aus dem Weißen, der Pfadschlitten hat auf beiden Seiten der Straße hohe Wälle aufgeworfen, und dahinter stehen die Häuser wie versunken. Weihnachten bereitet sich vor.

Eine Weihnacht, wie sie im Buche steht: unbegreiflich viel Schnee, die Abende, die Nächte, die Morgen grausam kalt, am Tag aber flutende Sonne!

Ich war daheim in Reifenwerd und sah schon am Vorabend Marie, ja wir kamen im Dämmerabend zu einem gemeinsamen Gang. Sie sah sehr gut aus, unter der Iltismütze strahlte ihr das frische Gesicht in die Winterstarrnis, und wir unterhielten uns vortrefflich. Sie gab mir ein paar Gedichte zurück, die ich ihr gezeigt hatte, und lächelte dazu leise und schelmisch: »Gewiß sind die Strophen landläufig gut, Versfüße und Reime im Blei; leider aber spüre ich darin nichts vom ›Sänger, dessen Ohr gelauscht hat an andrer Welten Tor‹. Das ist aber in der Poesie das Entscheidende, ich will von einem Gedicht einen elektrischen Schlag in der Seele merken. So erlebte ich es letzthin mit englischen Versen:

Life is a sea, where storms must rise,
'Tis folly talks of cloudless skies!

»Ich las das Gedicht am Abend, und in der Nacht konnte ich es auswendig vor mich hin sprechen. Da war ich sicher: Das ist Poesie! Vielleicht bin ich aber selber etwas einseitig in meiner Empfänglichkeit für das Dichterische. Statt der reinen Naturlyrik, die Sie in Ihren Versen entfalten, suche ich gern das Ahnungsreiche, das Balladenhafte, Mystische, die Schicksalsklänge, die Spuren Gottes im Weben und Walten der Welt. Von Ihnen, mit Ihren zwanzig Jahren, darf man diese Töne auch noch nicht erwarten. Wieviel muß ein Mensch, ein Dichter erleben, bis er von sich sprechen darf: ›Mir gab ein Gott, zu sagen, was ich leide!‹ Das ist aber doch wohl erst das tiefeigentliche Dichtergefühl! Mein lieber Freund, ich wünsche Ihnen, daß auch Sie es in Ihrem späteren Leben erfahren dürfen!«

Damit reichte sie mir die Hand. Mir aber war der Metallklang der Stimme, der Ernst und Eifer, mit dem sie in die einfallende Winternacht gesprochen hatte, so zu Herzen gegangen, daß ich nur zu denken vermochte: Und in meiner Heimat lebt ein Wesen, das Poesie aus eigener Kraft so wunderbar auszulegen versteht!

»Woher Ihre Gedanken?« wagte ich sie nach einer Pause zu fragen, und sie erwiderte einfach: »Mir ist es, sie kämen mir angeflogen. Die Wahrheit ist aber doch wohl, daß ich vieles bei Inspektor Borel in Lausanne gelernt habe. In allen Literaturen der Welt und Zeiten bewandert, ließ er mich mit seinen Angehörigen an stillen Abenden vieles lesen, und ich hoffe, daß ich einen Hauch seines Geistes in die Heimat mitnehmen durfte.«

»Und, Fräulein Marie,« forschte ich, »haben Sie sich auch schon je an einem Gedicht versucht?«

»Nie!« wehrte sie ab, »Wo denken Sie hin? Dafür stehen mir die von Gott berufenen Dichter viel zu hoch! Ich bin ihm schon dankbar, daß er mir einiges Gefühl für ihre Schöpfungen gegeben hat. Im Elternhaus zu Hettenstein habe ich ein großes Album liegen. Darein habe ich in eigener Handschrift eingetragen, was mir aus der Literatur besonders gut gefällt. In dieses Buch gewähre ich Ihnen gern einmal Einblick!«

Wir waren vor dem Haus Derrer angekommen. Da sagte sie: »In einer Viertelstunde werden die Weihnachtsglocken läuten. Es ist heiliger Abend. Die Geburt Christi ist doch noch ein größeres Mysterium als alle Dichtungen der Welt; wenn sie nicht mehr wäre – eine Wahrheit! Ich stehe zu Jesus Christus, und Menschen, die ihn leugnen wie etwa unser Nachbar Thellung, sind mir ein Greuel. Hoffentlich, Herr Heider, sind Sie keiner von denen, die mit ihm auf der Bank der Spötter sitzen?«

Es war nicht das letzte Wort, das wir wechselten. Sie fragte: »Haben wir uns zum Heiligen Abend nichts zu schenken, eines dem andern, wenigstens einen Apfel?«

Da zog ich eine schmale Anthologie deutscher Lyrik hervor, die mich schon in Paris begleitet hatte und in der ein paar feine Kreuze meine Lieblingsgedichte andeuteten.

»Nein,« sagte sie, »nichts besitze ich, dieses Geschenk zu erwidern, aber ich will mich besinnen. Morgen vor dem Mittag spreche ich rasch bei Ihren Eltern vor, um ihnen gutes Fest zu wünschen, und dann habe ich vielleicht auch eine Kleinigkeit für Sie!«

»Und bringen mir als Angebinde Ihr Bild?« bat ich.

Der Weihnachtsabend verlief nun im Elternhaus wie üblich. Die jungen Geschwister jubelten um den brennenden Baum, ich aber dachte nur an Marie und träumte in der Nacht von ihr, von ihrer Jugend und Schönheit, und sie erschien mir mit den flammenden Augen wie eine jener Mädchengestalten des alten Märtyrertums, eine von denen, die für ihren Glauben lächelnd in Qualen und Sterben gehen. Dabei ist sie aber doch das Wesen von heute, das ohne äußeren Zwang, aus innerem Pflichtbewußtsein in einem nicht leichten Tagewerk an den Webstuhl der Zeit tritt! Am Weihnachtsmorgen gegen Mittag kehrten der Vater und ich von einem längeren Spaziergang heim. Da stand Marie im dunkeln Feierkleid auf dem Vorplatz des Hauses, den wir mit großen Mühen vom Schnee gereinigt hatten, und fütterte aus ihren Taschen unseren Flug Tauben. Die weißen Vögel umflatterten sie, und fröhlich rief sie uns zu: »Die müssen doch auch wissen, daß es heiliger Tag ist!«

»Wir haben nun das Bild dann und wann: Fräulein Kern unter den Tauben,« sagte der Vater. »Sie verbindet nämlich ihren Weg nach dem Büro gern mit einem Spaziergang hier vorbei, und für die Tauben, die sie schon kennen, hat sie immer etwas Futter mit sich!«

Die Eltern waren sehr erfreut über ihren Besuch. Mir überreichte sie ihr Bild mit der Widmung: »Meine herzlichen Wünsche auf Ihren künftigen Weg.« Leider fand ich es nicht sehr gut; es stammte noch aus ihrer Lausanner Zeit, stellte sie als etwa Siebzehnjährige dar, die noch nicht ganz die vergeistigten Züge der nun fast Zwanzigjährigen besaß, und statt ihrer schönen Zöpfe trug sie darauf irgendeinen welschen Haarwedel.

»Wenn das wirklich Ihr letztes Bild ist,« scherzte ich, »so dürfen Sie schon einmal wieder zum Photographen gehen.«

»Es ist mein letztes,« erwiderte sie. »Ein Mädchen, das sich häufig abbilden läßt, kommt leicht in den Verdacht der Eitelkeit. Vielleicht werde ich mir aber gelegentlich eine neue Aufnahme überlegen.«

Zum Aufbruch gaben ihr meine Eltern das Geleite vors Haus. Da stürmten meine jüngeren Brüder schneebestaubt und jubelnd mit ihren Schlitten heran, und Marie lief gelüstend: »O, schlitteln möchte ich auch wieder einmal! In Lausanne haben wir es über dem Eislauf ganz vernachlässigt. Ich glaube, seit ich Kind war, saß ich nie wieder auf einem Schlitten.«

Ich gab ihr nun das Geleite an ihre Wohnung. Dabei erzählte sie mir, daß sie am Abend zu ihren Eltern fahre, und wir verabredeten, daß wir am zweiten Weihnachtstag miteinander an der Hettensteiner Steige schlitteln wollen.

»Ich fahre also morgen gleich nach Tisch zu Fräulein Kern,« bereitete ich die Eltern vor. Die Mutter nickte zustimmend, und der Vater lachte: »Wenn wir über die Festtage unsere Jungen schon gern um uns haben, wird man in diesem Fall ein Auge zudrücken müssen!«

Als ich nach Hettenstein kam, fanden auch die Ratsschreibersleute Maries und meinen Plan verständig, und das Mädchen und ich verlebten ein paar wunderschöne Stunden.

Wir wandten uns mit unserem leichtgebauten Schlitten, einer »Gaiß«, wie man das Fahrzeug in unserer Gegend nennt, hinaus an die Steige, ein langes Stück Landstraße, das sich durch einen alten Hochwald hinanwindet und in der Höhe wieder auf eine Ebene tritt. Wie herrlich der Tag: klarblauer Himmel, Sonne, Rauhreif, von den schweren Schneelasten niedergebogene Waldeskronen, und die Straße herrlichster Schlittweg, freie Bahn, die nur etwa von ein paar Sonntagsspaziergängern oder von einem klingelnden Pferdeschlitten belebt wurde.

Wir plauderten im Aufstieg mancherlei, doch nur Ernstes, wie es in der Natur Maries liegt. Sie sprach von ihrer Abneigung gegen lautes Vergnügen, davon, daß sie wohl in Hettenstein das einzige Mädchen sei, das aus Grundsatz nie tanzen gelernt habe. »Sie wissen um das Unglück, das meine Schwester betroffen hat, mit ihr die Eltern und mich. Daher bin ich eine ungesellige Natur. Ich beklage aber mein Leben nicht. Das Los meiner Schwester hat mich zum Nachdenken geführt, und Denken empfinde ich als das Schönste in der Welt. Ich verstehe nicht, wie ein Mensch irgend leichtsinnig sein kann. Es gibt so Schweres rings um uns, Schicksale, äußeres und inneres Unglück, Not und Schuld, daß wir uns gegen die dunkeln Hintergründe des Lebens keine Stunde blind stellen sollten. Dieses Gefühl ist auch ein Urton jeder Poesie. Und doch, wie schön ist der heutige Tag!« Sie stieß einen leisen Jauchzer aus.

Wir hatten den Rand der Hochebene erreicht, und bei dem einsamen Gasthaus, das droben steht, wandten wir den Schlitten, der gerade zwei Leuten Sitz bot. Unter meiner Leitung sauste er mit zunehmender Kraft die Straße hinunter. Von selber gab es sich, daß die Gefährtin, die hinter mir saß, aus Furcht, in den scharfen Bogen und Ränken der Bahn abgeworfen zu werden, die Arme um meine Brust schlang, bald leicht, bald ängstlich. Ihr warmer Atem streifte mich, und unsere Wangen berührten sich ein paarmal. Im Tal am Fuß des Berges verlangsamte der Schlitten von selber seinen Lauf, hielt still, und wir schüttelten uns lachend den Schneestaub, der uns die Kleider versilbert hatte, von Leib und Gliedern. Wie standen die strahlenden Augen, die frischgeröteten Wangen Marie gut und die Jugendfreudigkeit, die ihren Lebensernst durchbrach, der Jubel: »O, die herrliche Fahrt!«

Ein paarmal wiederholten wir sie, und das letztemal wünschte meine Begleiterin, der der Mut offenbar gewachsen war, das Fahrzeug selber zu lenken. Sie mag darin als Kind ganz geschickt gewesen sein, der Doppellast und dem glatten Weg aber war sie jetzt nicht gewachsen: in einem Straßenbogen stieß der Schlitten geradeaus, und unten im tiefen Schnee des Waldes lagen wir mitsammen, krabbelten uns daraus hervor und stellten lachend fest, daß keinem ein Schaden geschehen war. Aber doch etwas erschreckt sagte Marie: »Nun leiten Sie wieder!«

Der Sturz in den Schnee blieb nicht das einzige Abenteuer in unserem Tageserlebnis. Als sich die weite Landschaft mit den bläulichen Tönen der Dämmerung erfüllte, über fernen Hügeln der fast volle Mond aufging und in den dunkelblauen Himmel schwebte, wandten wir uns wohlig ermüdet und schweigsam ins Städtchen hinein. Das Gesicht Maries lächelte in madonnenhaftem Glück, und ich neben ihr dachte: Was ist es Schönes um ein so beseeltes Wesen wie sie! Da ertönten scharfe Pfiffe hinter den Hausecken hervor, und plötzlich waren wir von einem Dutzend Jungburschen von Hettenstein umringt, die wenig vertrauenswürdig die Streitlocke in die Stirne gezogen hatten. Als sähen sie Marie nicht, wandten sie sich halb zu mir, halb begannen sie unter sich: »Was will denn der fremde Fötzel im Städtchen? Die Hettensteiner Mädchen gehören doch uns. Schläge soll er haben!« Fäuste ballten sich. Da trat aber Marie den Burschen in leuchtendem Zorn und mit heißen Wangen entgegen: »Ihr seid doch meine Schulkameraden! Schämt euch, daß ihr meinen Gast, zugleich auch den meines Vaters, verunehren wollt!« Ihr Wort machte Eindruck auf die Burschen, einer jedoch maulte zurück: »Ja, ja, aber –«, und meine Lage schien bedenklich. Da tauchte auch schon Doktor Thellung auf, der Überall und Nirgends, und schalt: »Seid nicht so verflucht dumm, ihr Knaben. Kommt jetzt mit mir in den ›Schlüssel‹, ich bezahle euch einen Doppelliter. Den Herrn da aber, der auch mein Freund ist, laßt in Ruhe! Guten Abend, Herr Heider. Ich bin Ihnen Bürge, daß Ihnen in Hettenstein nie ein Haar gekrümmt wird!« –

Marie und ich hatten bei ihren Eltern kaum mehr Zeit, uns von der Bedrohung der Nachtbuben zu erholen. Sie fuhr wieder nach Reifenwerd, ich wanderte mit allerlei Gedanken den Wald hinab nach Aagrüt. Wie als eine Komik empfand ich es, daß ich Doktor Thellung für die Errettung aus einem schmachvollen Augenblick dankbar sein mußte. Mein eigentlicher tiefer Dank aber galt dem Himmel, daß ich mit Marie eine so wundervolle Weihnacht hatte erleben dürfen, und neben anderen Goethischen Jugendgedichten sprach ich im schweigenden Wald die Strophe vor mich hin:

»Fesselt dich die Jugendblüte,
Diese liebliche Gestalt,
Dieser Blick voll Treu und Güte
Mit unendlicher Gewalt?« –

Aber auch eine tiefe Reue sengte mir das Herz: Daß ich beim Zinklein gewesen bin! Wahrhaftig, wer das Vertrauen der vornehmen Marie genießt, hat kein Zinklein nötig!

Das Neujahr verlief nach üblicher Art: ein paar Glückwunschbesuche, reichliche Bewirtung. Heute aber zählen wir schon den 10. Januar. Bis gestern überlegte ich mir umsonst, was ich in mein Tagebuch eintrage. Ich kann doch nicht immer von meiner unzeitigen Liebe zu Marie schreiben. Gestern aber ereignete sich etwas, das mir für mein Buch bemerkenswert erscheint.

Die einsame schwangere Frau Boll war bereits zur Ruhe gegangen, und ich saß noch allein, irgendein dichterisches Buch zur Hand, am warmen Ofen. Da kam Boll aus dem »Lamm« heim, und schon die Erregung, mit der er die Türe aufschloß, verriet mir Besonderes. »Du, Heider, im Schnee draußen steht eine und wünscht dich zu sprechen – das Zinklein! Ich habe dir also meine Botschaft ausgerichtet!«

Ich erschrak: »Was bedeutet denn das?«, warf mich in den Überzieher und trat im nächsten Augenblick auf die Straße. Richtig, das Zinklein! Aber, soweit ich im Halblicht der Nacht erkennen konnte, nicht das Dorfmädchen wie sonst, sondern eine junge Dame in Reisemantel und Hut. »Was ist denn, Berteli?« fragte ich.

Mir die Hand reichend, erwiderte sie: »Nur noch Ihnen Lebewohl sagen möchte ich und Ihnen danken, daß Sie mir die Ehre Ihres Besuches erwiesen haben. In Aagrüt aber ist keine Luft für mich. Schon morgen fahre ich mit der Mutter zu meinem Vater nach Amerika.« Und mit einem so scharf aufblitzenden Haß, wie ich ihn dem lieblichen Mädchen nie zugetraut hätte, versetzte sie: »Einem aber hab' ich's noch gesteckt: Zwengg! Ich habe einen Brief ans Statthalteramt geschrieben, in dem seine Schandtaten an Minderjährigen aufgezählt sind, und der Statthalter ist selber zu mir gekommen und hat mich verhört. Nun aber leben Sie wohl. Schenken Sie mir das gleich liebe Andenken, das ich Ihnen widme!« Damit verschwand die Gestalt in Nacht und Schnee.

In der Stube saß Boll noch am Tisch, voll brennender Neugier. »Deine Angelegenheit mit dem Berteli geht mich ja eigentlich nichts an,« sagte er, »sie bewegt mich aber doch! Gerade wie sie stand Anna Lindig, jetzt meine Frau, draußen in der Nacht, nur war es im Sommer, und erklärte mir, sie gehe von mir guter Hoffnung; ich müsse sie heiraten. Daran habe ich unwillkürlich gedacht, als ich das Zinklein draußen sah. Nun handelt es sich also um einen Abschied, und du wirst nicht schwer daran tragen; noch viele Mütter haben liebe Kinder. Mir geht vielleicht ihre Abreise näher als dir!«

Hatte Frau Boll hinter der Tür gehorcht? Sie streckte plötzlich den Kopf hervor. »Was sprechen Sie, Herr Heider? Das Zinklein fährt nach Amerika? Dann will ich ihr nicht mehr gram sein und segne ihren Weg!«

 

Heute morgen ist hier in Aagrüt Furchtbares geschehen! Fabrikschreiber Zwengg hat Selbstmord begangen! Kurz nach dem Anlaufen der Spinnerei um sechs Uhr in der Frühe, also noch in der Dunkelheit, erschien der Statthalter von Hettenstein mit dem Bezirksarzt, dem Gerichtsschreiber, ein paar anderen Amtsherren und zwei Landjägern in der Fabrik, um eine Untersuchung über die sittlichen Zustände darin zu veranstalten. Zuerst wollte die Kommission den schwer angeschuldigten Zwengg in Sicherheitshaft nehmen. Er aber hatte Wind von dem Erscheinen der Herren erhalten und sich geflüchtet, auf den Estrich, wie Arbeiter und Arbeiterinnen erklärten. Der Dachraum mit seinen vielen Kisten und Vorratsballen wurde nun lange durchsucht, der Schreiber nicht gefunden. Eine Leiter jedoch und ein kleines offenes Fenster führten auf seine Spur. Er hatte sich auf das Dach geschwungen, war im Schnee darüber hinuntergerutscht und hatte sich, zweifellos mit Absicht, über die sechs Stockwerke des Gebäudes hinabgeworfen. Niemand hatte ihn bei dem Sturz gesehen, aber als man die Umgebung der Fabrik absuchte, fand man ein großes Loch im Eis des Kanales und nachher die zerschellte Leiche, von einem Weidenstrunk gehalten.

Die Kunde der schrecklichen Begebenheit lief wie ein Feuer durch die Morgendämmerung des Dorfes; Boll, seine Frau und ich hörten sie schon beim Frühstück. Er wurde dabei totenblaß und wankte zur Schule, wie wenn er krank wäre. Als er gegangen war, jubelte die Frau zu mir: »Das Zinklein ist fort, Zwengg ist tot, ich spüre, meine Tage hellen sich; ich werde eine glückliche Frau. Es gibt einen Gott im Himmel, der unsere Gebete erhört!«

Boll war beim Mittagessen sehr kleinlaut; ich merkte, wie er sich seines bisherigen Partners im Kartenspiel schämte. Erst am Abend fand er die Sprache wieder: »Heider, nenne mich Schuft, wenn ich im Leben je wieder eine Spielkarte berühre!« Seine Frau lächelte vor sich hin und stellte uns ein gedörrtes Schweinezünglein mit Bohnen auf, dazu eine besonders gute Flasche Wein, als begingen wir ein stilles Familienfest. Nun will ich gern das Weitere erleben!

Zwengg wurde heute zu Grabe getragen, ich möchte sagen eingescharrt! Die gesetzlichen Vorschriften wurden zwar erfüllt, Glockengeläute und Abdankung. Aber ein Grabgesang konnte nicht abgehalten werden, weil zu wenig Teilnehmer dafür da waren. Dem Sarg folgten bloß zwei Verwandte, zwei Abgeordnete der Fabrik und ein altes Weib, das keine Beerdigung ausläßt. Die Spinnermädchen kamen am Mittag Arm in Arm von der Fabrik und gingen eine Stunde später als sonst wieder zur Arbeit; hin und zurück sangen sie die losesten Lieder, die sie kennen. Niemand nahm daran Anstoß, das Volk hält den Untergang Zwenggs einfach für ein Gottesurteil und lobt das verschwundene Zinklein dafür, daß sie die Angeberin an dem Fabrikwolf geworden ist.

Wenn sie nun aber jenseits des Meeres das schreckliche Ende des Schreibers erfährt, was wird das an sich weiche Geschöpf empfinden? Mir selber liegt die Geschichte wie ein Stein auf dem Herzen. Mein unschuldiger Besuch bei dem Mädchen und mein Zusammenstoß mit Zwengg sind, wie mir Boll versichert, durch die schweren Begleitumstände Dorfklatsch geworden. Wahrhaftig, dächte ich nicht an Marie Kern, wäre mir der Gedanke, von Aagrüt gehen zu müssen, nicht mehr drückend.

 

Gestern abend ist Gottlieb Leber, mein Vikariatsherr, entschlafen. Ich begleitete Boll diesen Morgen auf dem Beileidsbesuch zu der Witwe. Die ehrwürdige alte Frau empfing uns gefaßt und lieb. Sie sagte: »Ich lese in meinem Gebetbuch von Schmolcke, was die Gattin beim Tod des Gatten zum Ewigen beten soll, denke aber dabei nur an die letzten Worte meines Mannes: ›Über meinen geschlossenen Augen preise Gott, daß er uns ein halbes Jahrhundert in Treue und Segen beisammen gelassen, brave Kinder geschenkt hat und ich als Lehrer meiner Heimatgemeinde in Achtung und Ehren habe dienen dürfen.‹ Bis zum letzten Augenblick klar, ist er ohne Todeskampf dahingegangen, ein Licht, das ruhig verglimmt. Wir beide aber haben die selige Gewißheit, daß es über den Sternen ein Wiedersehen gibt, wohl bald – bald!«

Damit führte uns die Frau, die merkwürdigerweise ihr schwarzdunkles Haar bis ins hohe Alter behalten hat, in die Totenkammer hinter der Stube. Gottlieb Leber lag, zum Gerippe abgezehrt, auf seinem Bett. Mich ergriff der Blick in das Gesicht voll überirdischen Friedens, in dem es fast wie ein Lächeln des Dankes gegen das Schicksal lag. Ein kleiner Strauß Winterblumen ruhte in den spindeldürren, weißen Händen. Unwillkürlich dachte ich: »Versöhnt mit den Menschen, versöhnt mit Gott, so sollten wir einmal alle hingehen können,« und mir fiel das Gebet meiner Großmutter ein:

»Mein Gott, um Jesu Christi Blut
Mach's nur mit meinem Ende gut!«

In den Tagen zwischen dem Tod und der Beerdigung Gottlieb Lebers herrschte in Aagrüt einige Aufregung, daß der verdiente Lehrer das Grab an der Seite des gemeinen Zwengg finden solle. »Der Beste zum Schlechtesten!« So spielt die Welt, und unsere Gesetze erlauben nichts anderes.

Die Bestattung selber war eines der eindrucksvollsten Dorfbilder, die ich je erlebt habe, gesättigt von einem Strom der Heimatpoesie. Auf dem kleinen Friedhof inmitten des Dorfes, der die Kirche umgibt, lag der Schnee so hoch, daß die Grabsteine und Kreuze kaum mehr daraus hervorragten. Ein dunkelsandiger Erdhaufen auf dem Schnee verriet das frisch geschaufelte Grab. Die Erde war durchsät mit hellgelben Sprenkeln: Knochensplittern, Gebeinstücken, Schädelschalen, Kiefern und Zähnen, den Resten früherer Geschlechter. Da die Kirche von Aagrüt, ein festungsähnlicher Bau aus ferner Alemannenzeit und einst der heiligen Veronika gewidmet, als ein tausendjähriges ländliches Gotteshaus gelten kann, mag auch der Friedhof so alt sein, und Gottlieb Leber wird ruhen im Staub seiner Vorfahren aus vielen Jahrhunderten, zwischen Toten, deren Namen vergangen sind, die aber gelebt, geliebt und gelitten hatten, wie wir leben, lieben, leiden, und die so wenig wußten, wie wir es wissen: Wozu auf Erden?

Der Leichenzug die Dorfstraße dahin war ohne jedes Gepränge. Acht alte Männer aus den Behörden, Gestalten wie aus Erz, trugen den einfachen, schwarzen, mit Tannenreisig umkränzten Sarg. Dahinter schritten etliche Mädchen in den landesüblichen feierlichen Schals, barhäuptig, mit schlichtgescheiteltem Haar, und trugen Blumenkränze und Sträuße zu Ehren des Toten, der Jahreszeit entsprechend nicht allzu viele. Ihnen folgten die nächsten Angehörigen des Toten, die Witwe in würdiger Haltung und ihr Sohn Gottlieb, der in Aagrüt als Lehrer Nachfolger des Vaters werden soll. Hinter den Verwandtschaften Boll und ich mit dem Zuge der Schulkinder, darauf die unabsehbare Menge einheimischer und auswärtiger Leidtragender, das Schulkapitel, dazu ein paar graue Häupter, mit denen der Verstorbene einst die Bänke des Seminars geteilt hatte, Abordnungen von Behörden und das Volk. Die Fabrik war zu Ehren des Dahingeschiedenen eine Stunde abgestellt.

Gewiß hat Aagrüt nie mehr Menschen trauernd einherwallen sehen als an diesem Tag. So einfach wie dieses Bild war auch die Zeremonie in der Kirche und auf dem Friedhof mit den Reden und Liedern. Jeder empfand es: Im Frieden und Dank der Heimat ist ein Gesegneter dahingegangen, im stillen von allen für sein schönes und fruchtbares Lebenswerk geliebt und bewundert, ein Zeuge, wie auch der Mann, der auf bescheidenem Posten steht, sich im Dienste der Jahre Anhänglichkeit und Ansehen erwirbt, wenn er nur die Pflichten des Lebens, sich selber treu, erfüllt.

Unter den Gästen, die an der Beerdigung teilnahmen, sah ich Bezirksratsschreiber Kern, mit dem ich im Weggang vom Kirchhof ein paar Worte der Begrüßung wechselte. Dabei lernte ich auch Nationalrat Doktor Thellung kennen, der neben ihm ging, und nachdem ich mit dem Sohn zu wiederholten Malen in Berührung gekommen war, fesselte mich der Alte, der sich mit ihm nicht verträgt. Er ist reichlich Sechziger mit silbernem Schnurrbart, hinter der goldeingefaßten Brille stehen ihm, von mächtigen Brauen beschattet, sehr kluge, fast schlaue, ungemein lebhafte Augen. Sein Gesicht ist zerknittert und von Leidenschaften durchfurcht, dabei aber geistig so beweglich, daß man vergißt, einen Alten vor sich zu haben. Seine Art ist ein Doppelspiel von aristokratischem und echt volkstümlichem Behagen. Wieviel er als Ehemann und Vater auf dem Kerbholz haben mag, – wenn er blickt und spricht, wundert man sich nicht, daß ihm die Gunst seiner weiten Wahlgemeinde immer wieder zufällt. Er ist nun einmal eine jener Gestalten, wie unser Volk sie liebt.

Dem Ratsschreiber hätte ich am liebsten Grüße an seine Tochter Marie aufgegeben, wagte es aber nicht, sondern sprach von der Frau Ratsschreiberin. Freundlich erwiderte er: »Sehen Sie wieder einmal nach uns!«

Auch meinen Freund Heinrich Moos traf ich. Er erzählte mir, daß er Aussicht habe, auf den Frühling als Lehrer nach St. Jakob berufen zu werden – der Glückliche!

 

Um Sonntagvormittag machte ich einen Spaziergang nach Hettenstein. Ich vermutete, daß Marie bei ihren Eltern weile. Als ich in das Haus treten wollte, stand sie am Fenster, ein Buch in der Hand, bemerkte mich aber und nickte mir zu. In der Stube empfing sie mich mit den Worten: »Gedacht habe ich mir, daß wir uns bald wieder einmal sehen werden!«

Ich fragte nach dem altertümlichen, kleinen, goldgepreßten Buch in ihrer Hand; es war Thomas a Kempis' »Nachfolge Christi«. Nun ja, das mystische Werk entspricht so recht den Sonntagsgedanken des ernsten Wesens. Sie führte mich zu ihrer Mutter, die in der Küche schaltete, und dann in ihr Mädchenzimmer. »Ich will Ihnen doch einmal Einblick in meine kleinen Heimlichkeiten gewähren,« lächelte sie nicht ohne Schalkheit.

Was für ein freundliches Stübchen im Strahl der Wintersonne! Über dem alten Schreibtisch mit den geschweiften Füßen hängt ein großer Stich, das bekannte Bild des Genfer Sees mit lateinischen Segeln, dem Schloß Chillon und der sich in der Flut spiegelnden Dent du Midi, und sonst an den Wänden sind mancherlei Bildnisse und Andenken, die Marie aus eigenem liebhaben mag.

Ich stand vor ihrer nicht großen, aber auserlesenen Bibliothek und griff daraus zwei Bände Hölderlin. »Gerade mein Liebling,« versetzte sie beifällig. Ich gab ihr einen verwunderten Blick. Ein Mädchen, dessen Liebling dieser nicht leicht lesbare Dichter ist!

»Mein vortrefflicher Sekundarlehrer hat mich auf ihn geführt,« beantwortete sie meine stumme Frage schlicht. »Wieviel verdanke ich den Freunden meiner Jugend! Der ›Faust‹ hier ist ein Geschenk des Inspektors Borel. Er trug ihn in einem Miniaturband immer bei sich, obgleich er das Werk fast auswendig wußte. Auf Spaziergängen sprach er mir stundenlang daraus vor und legte mir die schweren Stellen aus. Nur geht es mir mit Herrn Goethe etwas seltsam: immer führe ich wie sein Gleichen einen stillen Krieg mit ihm, was den Glauben betrifft, und kränke mich an seinen dunklen Zweifeln.

»Doch nicht eigentlich über meine bescheidene Bücherei habe ich mit Ihnen sprechen wollen,« unterbrach sie sich, »sondern Ihnen einmal mein Album von Dichtungen zeigen, wie ich es mir in einsamen Stunden aus mancherlei Werken geschaffen habe.« Sie legte einen stattlichen dunkeln Lederband mit Beschlägen von ziseliertem Stahl vor mich hin und öffnete die beiden Schließen mit einem kunstreichen Miniaturschlüssel. »Da blättern Sie, wenn es Sie freut! Sie sehen daraus wohl, was mir selber Poesie ist, – vielleicht nur mir Poesie!«

Leider blieb mir über dem mit der unendlich klaren Schrift Maries gefüllten Band viel zu wenig Zeit, um einen Überblick der Sammlung zu erhalten. Nur so viel erkannte ich: das Mädchen war dem Philosophischen, Kosmischen, Balladenhaften hingegeben, das Helldunkel der großen Meister reizte sie. Was war das für eine Mädchennatur, die diesen Gedankengängen zu folgen vermochte, den höchsten, die es im Bereich der Geister gibt? Kein Wunder, daß im Blut der Marie Kern etwas Mystisches kreist und sie so fern jeder anderen Mädchenart, so einsam und in aller Schlichtheit so stolz ihre Tage geht.

Die Ratsschreiberin steckte den Kopf zur Tür herein: »Vergiß das Tischdecken nicht! Sie, Herr Heider, essen selbstverständlich mit uns.«

Ich war wieder im Wohnzimmer und die Tochter zum Weinholen in den Keller gestiegen. Da kam die Mutter wie eigens zu mir herein und sagte: »Sie haben aber bei unserer Marie einen großen Stein im Brett! Noch nie hat ein Mensch ihr Mädchenstübchen sehen dürfen als wir Eltern. Nun aber Sie!« Bei diesem Wort ging etwas Leuchtendes über die Züge der herben Frau. Unwillkürlich dachte ich: Was muß sie selber einmal für ein schönes Mädchen gewesen sein!

Schlag zwölf Uhr kam der Ratsschreiber von einem Spaziergang heim, und das Mittagessen nahm seinen sonntäglichen Verlauf. Daß Herr Kern ein auffallend stiller Mann ist, weiß ich. Er sprach mit mir auch nur weniges über den verstorbenen Gottlieb Leber, aber es beunruhigte mich, als mich seine kräftigen blauen Augen ein paarmal forschend und fragend streiften. Mir war, er wisse um mein Zusammentreffen mit dem Zinklein und Zwengg. Es ist zum Teufelholen, wenn man kein gutes Gewissen hat!

Am Nachmittag besuchten Marie und ich ein Konzert in der Kirche, für das sie sich schon vorher zugesagt hatte. Merkwürdig: so unmusikalisch ich sonst bin, die getragenen religiösen Melodien gehen mir in die Seele. Wir konnten uns nachher gut und lange über die Darbietung unterhalten, sogar noch auf meinem Heimweg. Sie begleitete mich in der Dämmerung bis an den Wald.

Eben als wir die Hände zum Abschied ineinanderlegten, trat Doktor Thellung, Sohn, der überall da ist, wo man ihn nicht vermutet, aus dem Forst hervor und grüßte etwas komisch. »O, dieser Ruhelose! Dieser Eingänger!« sagte Marie hinter ihm. »Wann findet wohl der einmal seinen Frieden?« Wir plauderten noch, bis er aus unseren Augen entschwunden war; dann kam der Abschied.

Es ist ein Unglück um meine Liebe zu Marie! Ich fürchte nämlich, daß sie meine Gefühle nicht erwidert. Denn, wäre es so, wie könnte sie so frei, so unbefangen, so traulich mit mir verkehren? Nein, die Art eines stillverliebten Mädchens ist sicher anders als die ihre, und ich weiß, was sie für mich empfindet: ein Wohlmögen, eine gute, ehrliche Freundschaft – nicht mehr! Darüber keine Täuschung, Tobias Heider!

Mein Schicksal gestaltet sich. Vor mir liegt das Militäraufgebot, wonach ich am 6. April als Rekrut in die Kaserne zu St. Jakob einzurücken habe, um die sieben Wochen zu dienen, die mir im vergangenen Jahr wegen meines Bildungsaufenthaltes in Paris erlassen worden sind. Eine Woche St. Jakob, sechs Wochen Luzern! Der Dienst wird mir als Linkshänder schwer fallen!

Gestern hielt die Gemeindeschulpflege Sitzung ab, um die durch den Tod Gottlieb Lebers nötig gewordenen Beschlüsse zu fassen. Ich wurde bis zum Ablauf des Schuljahres als Verweser bestellt, was mein Gehalt etwas verbessert. Im übrigen kam die Pflege einstimmig überein, Gottlieb Leber, Sohn, als Lehrer zu berufen, und setzte seine Wahl durch die Gemeinde schon auf den ersten Sonntag im März fest. Sie erklärte mir, daß ich in diesem Beschluß keine Mißtrauensbezeugung erblicken möge, er entspreche einfach den Wünschen des Dorfes; sie lobte meine Schulführung und versprach mir, beim Erziehungsrat dahin zu wirken, daß ich auf eine gute Schulstelle versetzt werde. So bekam ich mein Stückchen Zucker! Nun heißt es: abwarten, wie sich mein Los gestaltet.

Boll ist seit dem schrecklichen Ende Zwenggs der umgewendete Handschuh. Abend um Abend sitzt er einträchtig mit seiner hochschwangeren Frau Anna zusammen und stöbert mit ihr in den Namenverzeichnissen etlicher Kalender herum, um die Wahl zu treffen, wie das kommende Kind – Knabe oder Mädchen? – heißen soll. Selbst ich werde zu diesen wichtigen Verhandlungen beigezogen. Endlich ist das Ehepaar einig geworden: wenn es ein Knabe sei, solle er wie Bolls Großvater »Abraham« heißen, sei es aber ein Mädchen, dann nach dem Wunsche der Frau »Martha«. Und nun nimmt mich nur wunder, wann der kleine Erdenbürger oder die Bürgerin, das Kind, das schon im Mutterleibe Friedensstifter ist, das Licht der Welt erblickt? – Auf Wunsch unseres Dr. med. Meyer, des Präsidenten der Donnerstags- oder Honoratiorengesellschaft von Aagrüt, habe ich in dieser einen Vortrag übernommen: »Ein Aufenthalt in Paris.«

 

Gestern abend flackerten und lohten auf den Hügeln unserer Landschaft die Feuer, mit denen die Jugend unserer alemannischen Lande den Funkensonntag oder die Bauernfastnacht als Gruß an den Frühling begeht, und in meinem Zimmer stand, von Frau Boll hingestellt, ein mächtiger Stoß »Öhrli«, zartes Kuchengebäck, wieder zu Ehren der Fastnacht. Offenbar ist meine Kostgeberin bei guter Laune! –

Nach langem, hartem Winter spüren wir das Herannahen des Frühlings aller Enden. Selbst in der Nacht höre ich das Tauwasser in den Känneln der Dächer und in den Ableitungsrohren der Hauswände singen und knistern und im Sturm aus Westen die Laute der wiedererwachenden Natur, brechende dürre Äste, das Ächzen der Wetterfahnen und das Klirren schlechtbefestigter Fenster.

Heute war Jubeltag der Schuljugend. Die Störche sind in ihr Nest auf die Käsebisse des Kirchturms zurückgekehrt. Am Mittag hielt der Mann die Voruntersuchung über den Stand der Dinge und flog wieder davon; am Abend brachte er die Frau mit sich. Beide standen würdevoll auf dem Rand des Nestes und klapperten ihren Wiedersehensgruß über das Dorf. War das ein Rufen und Schreien durch die Straßen: »Petri Stuhlfeier! Die Störche sind da!« Die Fenster öffneten sich, die alten Leute schauten freudig heraus, und selbst mancher harte Bauerngeiz warf, sich an der Kunde sonnend, der Jugend etwas Kleingeld zu, der Bäcker ein paar Brezeln, der Metzger etliche Würste. Am herzlichsten lachte ich über Boll, den besorgten Hausvater. »Der Storch, der Storch! Nun wird er bald durch unser Kamin herabgesaust kommen. Ich weiß aber gar nicht, wie man sich gegen ihn benimmt; es ist mir neu, und der Gedanke daran läßt mich nicht mehr schlafen!«

Ich aber weiß nicht, soll ich mich freuen oder traurig sein, daß der Frühling kommt, – Abschied von Aagrüt, vielleicht von Marie Kern?

Zehn Tage später! Unversehens kamen Marie und ich in eine sehr schwere Unterhaltung. Das war am letzten Sonntag bei meinem Besuch in Reifenwerd auf einem Spaziergang durch den schmelzenden Schnee, und sie betraf den kleinen Bericht im »Hettensteiner Anzeiger« über meinen Vortrag in der Aagrüter Donnerstaggesellschaft: »Ein Aufenthalt in Paris«. »Gern habe ich's gelesen,« lächelte Marie, »und mich gefreut, daß es Ihnen unter Ihren Zuhörern gut erging. Vielleicht darf ich selber einmal Ihre Arbeit genießen! Ein Satz in dem Bericht ist mir aber aufgefallen: ›Anziehend sprach der Redner auch von den Damen in dem ihm vertrauten Quartier Latin.‹ Nun, Herr Heider, erzählen Sie mir doch: haben Sie wirklich Damen kennengelernt – und wieso?«

Sie errötete bei ihrer Aufforderung und gab mir einen jener starken Blicke, deren ihre Augen fähig sind. Ich wurde wohl krebsrot und verlegen wie ein Schuljunge. Nein, nur Marie nicht mit einem Wort belügen! »Eines jener Mädchen«, begann ich, »hat mich aus der bittersten Not erlöst; sie nannte sich Manon Lafayette!« Und nun weiß ich nicht, was ich in törichtem Wahrheitsmut vor der Ratsschreiberstochter daherschwatzte, bis ich an ihrer Schweigsamkeit ermüdete. Sie sprach zu meiner Beichte kein Wort; mir schien nur, etwas unendlich Trauriges sei in ihre Augen gekommen, um ihren Mund ein Zucken innerer Schmerzen. Ich erinnere mich auch nicht recht, wie wir auseinandergegangen sind, wohl wie die beiden Kinder, die das Paradies verloren haben! – Nein, dieses Bekenntnis war nicht gut!

Nur eines ist mir wie Feuer bewußt: Ich liebe Marie abgründig.

 

Gestern abend merkte ich in der Wohnung Bolls etwas Geheimnisvolles, treppauf, treppab ein Tuscheln von Frauenstimmen, und Boll, dem der Schweiß über die Stirne lief, streckte den Kopf in mein Zimmer: »Die Schmerzen meiner Frau haben begonnen!« Vielleicht lag in dieser Meldung der Wunsch, daß ich ausgehe. Auch ohne sein Wort wäre ich der mir fremden und unheimlichen Angelegenheit einer Geburt aus dem Wege gegangen. Ich lief durch den Abend, die Nacht, und stieß an der Aa mit Thellung zusammen. Ziemlich spät setzten wir uns als die letzten Gäste ins »Lamm«. »Neuigkeiten von Marie Kern,« plauderte er. »Die Telegraphistenstelle Reifenwerd wird auf Mitte des Monats von einem neuen ständigen Beamten besetzt, und sie selber tritt auf den ersten April in das Hauptamt St. Jakob über. Sie kann also in Hettenstein vierzehn Tage Ferien verleben.«

Um Mitternacht verließen wir das Gasthaus; daheim spürte ich mit Mißvergnügen, daß das Ereignis der Frau Boll noch im Gange war, schlich mich unbemerkt in mein Zimmer und zog die Federn über das Ohr. Eine Stunde später erwachte ich über einem gellenden Frauenschrei, bei dem mir selber das Herz hörbar zu klopfen begann. Bald aber trat Boll in meine Kammer, leuchtete mir mit einer Kerze ins Gesicht und schrie freudetrunken: »Heider, steh auf! Es ist ein Junge – und er soll nicht Abraham heißen, sondern zur Ehre des Tages, an dem er geboren ist, Fridolin! Fridolin Boll! Das ist doch ein wunderschöner Name!«

In seiner Glückseligkeit schwatzte der junge Vater ein unbegreifliches Zeug daher, lachte wie ein Knabe und trug doch noch die Spuren vergossener Tränen im geröteten Gesicht und zerzausten Bart. Mir blieb nichts übrig, als aufzustehen, und der Verrückte holte eine Flasche Roten aus dem Keller. »Heider,« jubelte er, »du verdienst es fast nicht, daß ich mit dir anstoße! Wer noch nie gesehen hat, wie ein Kind zur Welt kommt, ist kein Mann! Ich aber bin es jetzt! Was war ich doch für ein schlechter Kerl, daß ich im Wirtshaus saß, als dieser Junge im Mutterleibe wuchs. Das schämt mich mein Leben lang. Nun aber: hoch mein Fridolin und meine treue, unendlich liebe Frau Anna!«

Nie habe ich eine so wahnsinnige Vaterfreude gesehen wie bei meinem außer Rand und Band geratenen Kollegen.

Selbstverständlich mußte ich das Kind bewundern. Wie es mir aber die Hebamme unter den Schleiern der Wiege vorwies, sah ich es nicht recht; es war einfach ein schlafendes Adämchen, wie wir wohl alle mal gewesen sind. Unwillkürlich fragte ich mich: Könntest du dich auch so närrisch wie Boll an einem Kinde freuen? Ja, wenn es von Marie Kern käme!

Gestern fand an der Aa die Feier Sankt Fridolins statt, das altalemannische »Lichterschwemmen«. In der Dämmerung eilten die Knaben und Mädchen vom Käsehoch bis fast zu den Erwachsenen an den Fluß und setzten auf die durch die Schneeschmelze lebhaft gewordenen Wasser allerlei Fahrzeuge: Schindeln, Rindenstücke, kunstlos geschnitzte Kähne und mancherlei Hölzer, jedes bemannt mit einer brennenden Fackel, stießen sie mit Stecken in die Mitte des Wasserlaufes und riefen den niederwärts tanzenden Flammen nach: »Licht bachab, Licht bachab! Licht, fahr Holland zu!« Wie eine Flottille schwammen an die hundert Feuerschiffchen den Fluß hinab, verloren sich in der Dämmerung der Landschaft, und der Jubel der Jugend erfüllte das Dorf: »Licht bachab!«

Wie viele tausend Jahre mag es her sein, daß in diesen Landen der erste Knabe aus Frühlingsfreude den Wassern ein tanzendes Licht übergab? Der Brauch des Lichterschwemmens bestand in meiner Knabenzeit auch daheim in Reifenwerd, ist aber neben den sausenden Rädern der Industrie in Vergessenheit geraten.

 

Unversehens hat sich mir die Schicksalsfrage »Marie« entrollt!

Ich habe der Frau Ratsschreiber meine Liebe zu ihrer Tochter Marie gestanden. Das kam unvermutet und wie von selber; ich verwundere mich, daß ich mich an die Mutter wandte und nicht unmittelbar an die Tochter.

Zweck meines Ganges in das Städtchen war, daß ich Schulmaterial besorgte. Da sah ich, daß die Ratsschreiberin im Vorgarten ihres Hauses Stiefmütterchen und Vergißmeinnicht pflanzte, und meinem »Grüßgott!« folgte ihre Einladung, sie nach erledigtem Geschäft zu besuchen.

Als ich kam, hielt sie mir ein kleines Abendbrot bereit, setzte sich um die Tischecke behaglich zu mir und begann von der Veränderung in der Stellung Maries zu erzählen: »Sie freut sich natürlich über ihre Beförderung und die künftige Tätigkeit in der Stadt; wir Eltern aber freuen uns darüber, daß wir sie vorher vierzehn Tage in den Ferien haben werden, etwa von übermorgen an.« Nun aber wandte Frau Kern das Gespräch und kam auf mein eigenes Erleben: »Rekrutenschule also, und nachher eine neue Stelle; wo, wissen Sie aber noch nicht. Schade, wir werden uns dann wohl selten mehr sehen. Auch Marie wird Sie vermissen!«

»Ich fürchte: ich sie noch mehr,« brach plötzlich und zu meiner eigenen Überraschung aus mir hervor. »Ich liebe Marie von ganzem Herzen und ganzer Seele und kann mir mein Leben nicht mehr denken ohne sie.«

Erregt stand die Ratsschreiberin auf. Die Hände auf dem Rücken durchschritt sie die Stube. Dann sagte sie wie in mütterlichem Zorn: »So jung und dieses Bekenntnis? Wir kommen ja damit in die größte Verlegenheit! Mein Mann wird sprechen: Ein Lehrverweser, der nicht einmal weiß, wo er künftig sein Brot verdient! Und Marie? Ich selber könnte Sie schelten, Herr Heider, daß Sie diese Liebe zur Sprache bringen. Es ist nur damit zu entschuldigen, daß Sie vor dem Abschied stehen!«

Frau Kern setzte sich wieder zu mir, ergriff meine Hand, und wie aus Mutterrecht heraus sprach sie mich auf einmal mit »Du« an: »Nun, ein Wort von Herzen zu Herzen! Ich bin in großen Sorgen um unser seltsam veranlagtes Kind und will dir ehrlich gestehen: dein Wesen ließ mich schon denken, du und die Marie sollten zusammenkommen! Wer versteht sie besser als du? Wie furchtbar jung bist du aber noch!«

»Ich kann warten, Frau Ratsschreiber, zwei, drei Jahre,« versetzte ich, »wenn ich nur der Zuneigung Maries sicher bin. Und die Jugend ist ja ein Fehler, der sich von selber verbessert.« Über dieses letzte Wort mußten wir beide lachen, doch nur einen Augenblick, dann kam wieder der tiefe Ernst der Stunde über uns.

Frau Kern sagte: »Vor allem weiß ich nicht, was Marie selber zu deiner Liebe sprechen wird. Ihre Wege sind durchaus nicht immer meine Wege, und in ihren Liebesangelegenheiten komme ich aus Kümmernissen nicht heraus. Als Geheimnis unter uns: Es ist wohl hierzuland noch kein Mädchen so viel umworben worden wie unsere noch nicht Zwanzigjährige. Sie wurde es schon als Siebzehnjährige im Welschland, dann hier in Hettenstein und jetzt in Reifenwerd. Ein Herr, dem die Stelle eines Bürochefs in Aussicht steht, hat um ihre Hand angehalten. Ihrerseits immer Ablehnung. Sie ist geradezu gewandt darin, wie sie Anträge höflich zu quittieren und abzuschlagen weiß. Ich empfinde es als ein Unglück. Wie arm ist ein Mädchen, zu dem nie ein Freier tritt. Aber nicht minder groß ist das Verhängnis, wenn ein junges Wesen vor Werbungen nie zur Ruhe kommt. In seiner Seele verliert sich das sichere Gefühl, das jedem Mädchen eingeboren ist: das ist mein Glück! Liebesgleichgültigkeit stellt sich ein, die Scheu, die Abneigung, sich zu binden, und das Scherzwort Maries: ›Mein Beruf ist mein Mann‹ ist gerade der rechte Weg ins Altjungferntum. Und nun sie aufs Hauptamt in Stellung kommt, befürchte ich erst recht, sie wolle von Liebe nichts wissen, auch von deiner nicht! – Ja, wenn du wenigstens in Aagrüt hättest bleiben können!«

Die Ratsschreiberin erhob sich mit einem Seufzer: »Soll ich wohl Marie von deinem Bekenntnis erzählen oder nicht? Ich denke: doch! und an meinem mütterlichen Zuspruch soll's nicht fehlen, wenn auch nur in der Meinung, ihr sollt eurer Freundschaft Sorge tragen, beide mit der stillen Hoffnung, daß sich daraus später, wenn deine Verhältnisse klarer geworden sind, ein Liebesbund ergebe. Meiner mütterlichen Zuneigung, lieber Tobias, sei sicher!«

Frau Kern stand das Wohlwollen in den leuchtenden Augen, die ihrem verwitterten und sorgenvollen Gesicht einen ergreifenden Ausdruck gaben. Ich liebe auch sie und würde ihr gewiß ein guter und getreuer Sohn sein!

Drei Tage wilder Unrast, und ich bin bald ein »Landstörzer« wie Thellung. Nun aber liegt ein zierliches Briefchen Maries vor mir. Es lautet:

»Mein lieber Herr Heider! Die Mutter hat Ihretwegen mit mir gesprochen. Gewiß lassen sich unsere Gedanken in Gottes freier Natur am leichtesten tauschen, und ich darf Sie wohl morgen abend um fünf Uhr an der Schön-Eich erwarten. Nachher werden wir uns im stillen Wald besprechen. Mit herzlichem Gruß

Ihre Marie Kern.«

Ich kann nun die Zeilen wenden und deuten, wie ich will, ich kann weder eine Hoffnung noch eine Absage daraus lesen. Doch finde ich das von Marie vorgeschlagene Stelldichein unter vier Augen edler als irgend eine Besprechung im Schutz des Elternhauses. Herrgott, wenn ich das feine Mädchen fahren lassen müßte! Mein Bekenntnis aus Paris war nicht gut! Auch habe ich den Augenblick für meine Frage auf das ungeschickteste gewählt. Wenn ich wenigstens sagen könnte: Ich bin nun Lehrer in der Stadt oder wieder in einem Dorf in der Nähe von Hettenstein. Wer weiß aber, wohin mich das Schicksal wirft?

An Doktor Thellung, Sohn, muß ich noch einen besonderen Freund haben. Zum Ärger meiner Kollegenschaft erzählt er auf seinen Läufen weit und breit, es gebe unter den Lehrern keinen, mit dem man ein vernünftiges Wort sprechen könne, als mich! –

Um fünf Uhr kam ich einen Seitenweg des Waldes daher. Marie saß bereits unter der Schön-Eich, ernst und tief in sich versunken. Den Hut hatte sie auf die Bank gelegt, ihre Hand hielt den gefalteten Nadelschirm, und sie stieß ihn dann und wann ins Moos und Gras, als müßte sie einen Gedanken im Boden begraben. Auf mein »Guten Abend, Marie!« fuhr sie leicht zusammen und kam mir ein paar Schritte entgegen. Ihre traurigen Augen verrieten mir nichts Gutes. Sie bot mir die behandschuhte Rechte. »Herr Heider,« begann sie leise und mit gesenktem Haupt, »warum haben Sie mir den Schmerz dieser Stunde nicht erspart? Ist es wirklich nicht möglich, daß ein junger Mann und ein Mädchen Freundschaft halten, ohne daß die Frage einer Liebschaft entsteht? Gerade Ihnen habe ich diese Fähigkeit zugetraut und war offener zu Ihnen als sonst gegen jemand.

Nun hat sich auch das als ein Irrtum erwiesen. Im übrigen, wie sonderbar! Zuerst legen Sie mir Ihr Bekenntnis aus Paris ab, das ich wegen seines Freimutes ehre, aber doch wie eine schwere Enttäuschung empfinde, und nun begehren Sie meine Hand! Ja, was glauben Sie denn? Sie, die Männer, verlangen von uns Reinheit, wir aber haben doch den gleichen Anspruch. Und selbst wenn ich diesen Gedanken in Schmerzen überwände, wie unsicher stehen Sie in der Welt!«

Sie sprach ernst, gedämpft, leidvoll, ohne Blick, eine Träne drängte sich ihr ins Auge, und kein Lächeln kam diesen Abend auf ihre Lippen. Wir gingen langsam den einsamen Waldweg, sie mit leiszitternden Gliedern, ich mit Herzpochen.

»Nicht ein gutes Wort haben Sie für mich, Marie?« bat ich.

»Nein!« erwiderte sie leise und bestimmt. »Ihre Werbung ist überhaupt leichtsinnig. Mir aber liegt nur daran, meinem Beruf zu leben. Was ich von Männern weiß, ist nicht so erhebend, daß ich die Liebe über meine Freiheit stelle. Also antworte ich Ihnen: Nein – nein – nein!«

Unvermerkt hatten wir uns auf den Waldwegen wieder zur Schön-Eich zurückgefunden. Da wurde sie milder. »Mein Gott, was hatten wir für eine schöne Freundschaft zusammen! Nun muß sie sterben! Eine Freundschaft darf keine unterdrückte Liebe sein.« Die Tränen brachen ihr hervor, sie schluchzte: »Du, du! Wenn ich von deinen Pariser Erlebnissen schon nicht erbaut bin, will ich doch mit einem Kuß von dir scheiden, mit dem ersten, den ich einem Mann gebe. Verstehe mich aber wohl: der Kuß ist kein Versprechen, sondern nur der innigste Wunsch, daß es dir gut gehe im Leben. Sagen soll er dir, daß ich noch viel Schönes aus deinem Wirken und Streben erwarte.«

Damit hatten wir den Waldrand bei der Schön-Eich erreicht, von dem man so herrlich ins Städtchen Hettenstein und ins Hochgebirge hineinblickt, und standen in einer Wiese, in der die goldenen Himmelsschlüssel, Dolde an Dolde, blühten. Im leuchtenden Abendsonnenschein gab mir Marie mit zitternden Lippen einen vollen, süßen Kuß. Ich spürte wohl, wie es in ihrer Seele kämpfte, tobte, wütete. Ein Gescheiterer hätte sie einfach an sich gerissen: »Nun, Marie, sind wir doch verlobt!« Wenn aber jemand ein Tor ist und den guten Augenblick vorübergehen läßt! Wir atmeten schwer. Zuerst fand sie das Wort: »Wir sind also beide gegenseitig frei. Aber begleiten Sie mich ins Städtchen, damit meine Mutter sieht, daß wir im Frieden auseinandergekommen sind. Darauf lege ich Wert. Und unser ›Du‹ galt nur im Augenblick des Scheidens.« Ein Paar wie Adam und Eva, da sie aus dem Paradies getrieben worden sind, betraten wir in der einbrechenden Dämmerung Hettenstein.

Die Frau Ratsschreiberin fragte nicht nach unserer Aussprache. Sie las das Geschehnis von unseren zerstörten Gesichtern. In mütterlichem Zorn, mit mächtiger Herzenskraft und mit einem strafenden Gesicht auf Marie fuhr sie in heißem Jammer los: »Zwei so dumme Kinder, wie ihr es seid, hat es auf der Welt wohl noch nie gegeben. Eins für das andere wie geboren und geschaffen, und nun doch auseinandergelaufen! Was zählt das, Tobias, wenn jetzt deine Verhältnisse unsicher sind? Die Frage ist: Was für ein Mann wirst du in zehn oder zwanzig Jahren sein? O, ihr Unglückseligen! Wartet, wartet! Die Tage, die Nächte werden schon kommen, wo ihr euch in euren Sehnsuchtsträumen sucht, wo eines nach dem andern die Hände ausstreckt und ins Leere greift. Schreien werdet ihr müssen: ›Zu spät, zu spät!‹ Marie, wo hast du deinen klaren Kopf und dein gutes Herz?«

Die Angesprochene brach in einen Tränenstrom aus, reichte mir die Hände und schwankte auf ihr Stübchen die Mutter aber grollte noch einmal hinter ihr: »O du törichtes Kind!« Der Ratsschreiber kam heim. Ich hatte aber gleich das Gefühl, mein Besuch sei ihm unangenehm, wohl wegen der Aufregung, die ich in die Familie getragen hatte. Ein paar knappe, kühle Fragen, ein Glückwunsch für die kommenden Tage, und ich merkte, daß ich nun gehen könne. Meinerseits Dank für die mir erwiesene herzliche Gastfreundschaft, und Frau Kern begleitete mich unter die Haustüre. Sie sprach mir tröstlich zu: »Nur nicht den Kopf hängen lassen! In Liebesdingen spricht ein Volkswort: Dreimal ›nein‹ gesagt ist ›ja‹ gesagt. Ich finde auch, du könntest in diesen Sachen noch etwas geschickter und etwas weniger stolz sein. In der Liebe darf sich auch ein Mann demütigen, ohne daß er sich zu schämen braucht. Wie viel Trümpfe hat er im Leben! Das Mädchen hat nur einen: das Ja!« Ich war schon einige Schritte gegangen, da spürte ich, wie sich im Haus ein Fenster öffnete – Marie! Will sie mich zurückrufen? Nein, ihre Handbewegungen waren Abschied. Sie bedeckte das Gesicht und wandte sich.

Aus dem Städtchen hinaus schritt ich in die Frühlingsnacht. In der Wiese am Waldrand, in der die vielen tausend Himmelsschlüssel stehen, warf ich mich ins feuchte junge Gras und fühlte immer noch den weichen Kuß Maries auf meinem Mund, schier wie eine Grausamkeit. Ich glaube, ich habe geweint um sie. Nein, von uns kann man nicht sprechen: »Das Lied ist aus!« Ich fürchte mich aber vor den Seelenkämpfen, die noch kommen werden; ich muß das Kind der Heimat einfach lieben und verehren! Zerrissenen Herzens werde ich den Abschied von Aagrüt erleben.

Reifenwerd! Drei Wochen sind es, seit ich in Aagrüt den letzten Eintrag in dieses Buch gemacht habe, und den heutigen schreibe ich daheim im Elternhaus. Was liegen für traurige Tage und Begebenheiten zwischen den beiden. Nicht einmal Soldat bin ich geworden!

Das artigste Erlebnis war noch mein Abschied von Aagrüt. Im Herbst bei meinem Eintritt in die Familie Bolls, des Kartenspielers, erhielt ich einen wehen Eindruck. Nun aber sah ich noch das Gegenstück dazu: die frohlächelnde, säugende Mutter, den ihr wonnig zuschauenden Vater und den frischen Jungen. Ich bin sicher, daß Boll keine Karte mehr berührt, und finde das Schauspiel erbaulich, wie aus einer unglücklichen Ehe eine glückliche geworden ist. Die Schulpflege schenkte mir zum Abschied hundert Franken und gab mir über meine Lehrtätigkeit ein gutes Zeugnis, zugleich die Versicherung, sie werde mich dem Erziehungsrat noch in einem Schreiben angelegentlich empfehlen, damit er mich an eine gute Stelle versetze. Heute weiß ich: das Zeugnis und die Empfehlung waren ein Schlag in den Wind; auf mir ruht das Kapitalverbrechen, daß ich im Seminar gedichtet habe.

Von Aagrüt fuhr ich ins Elternhaus, gestand der Mutter mein Erlebnis mit Marie und ließ mich von ihr trösten, ich werde mir das liebe Mädchen schon noch gewinnen. Dann begab ich mich nach St. Jakob, um mich am folgenden Morgen im Kasernenhof als Rekrut zu stellen. Warum schon auf den Abend in die Stadt? Ich wollte, ehe ich in den strengen Dienst ging, Marie noch einmal sehen, die mittlerweile ihre Stellung im Haupttelegraphenamt angetreten hat, und wußte, daß sie um sieben Uhr dienstfrei wurde. Nur sehen! Wartend stand ich auf der belebten Straße, und es kamen Rudel Angestellter aus dem Tor des Postgebäudes, mit einer anderen jungen Dame auch Marie. Zu meiner Überraschung entdeckte sie mich sofort in der Menge der Menschen, verabschiedete sich von ihrer Begleiterin und kam auf mich zu, doch zu meinem Schrecken mit dem Ausdruck unnahbaren Stolzes: »Herr Heider,« sagte sie leidvoll, »es ist mir recht, daß ich Sie treffe. Ich habe mit Ihnen noch das letzte Wort zu sprechen, aber nicht hier unter den Menschen. Gehen wir auf den nahen Lindenhof!«

Schweigend schritten wir eine alte Gasse hinauf und erreichten die Höhe, die die frühesten Schicksale der Stadt gesehen hat. Unter den anknospenden Bäumen spielte nur eine kleine Schar Kinder, die Seite über der Limmat war menschenleer. Dort an der niedrigen Mauerbrüstung hielten wir an, ich immer betroffener von dem undurchforschlich strengen Gesicht Maries, die mich trotz ihrer Jugend auf einmal an irgend eine Frauengestalt des Alten Testaments erinnerte, an eine der Richterinnen.

»Herr Heider,« begann sie schmerzlich, »es wäre eine Unwahrheit, wenn ich sagen wollte, ich hätte nie etwas für Sie empfunden, aber schon Ihr Bekenntnis aus Paris hat es mir schwer gemacht. Ich wäre aber vielleicht, wenn auch in innerer Not, darüber hinweggekommen und hätte den Mut gefunden, mit Ihnen ein bescheidenes Lehrerleben zu teilen. Als Sie Ihren Leichtsinn in Paris trieben, haben Sie mich ja noch nicht gekannt. Das entschuldigt Sie, obgleich es mir eine furchtbare Enttäuschung war, daß Sie nach Ihrem eigenen Geständnis nicht der Reine sind, für den ich Sie gehalten hatte. Nun aber bloß ein Name: Berta Zink aus Aagrüt! Zu diesem Mädchen gingen Sie, als Sie mich schon kannten, und daraus erkenne ich das Abgründige Ihrer Natur.«

»Wer hat Ihnen vom Zinklein gesprochen? Thellung?« fragte ich sinnlos.

»Nein, mein Vater,« erwiderte sie. »Er spürte, daß etwas in mir für Sie kämpfte, da half er mir zum Entscheid und entkräftete die Vorwürfe, die die Mutter Ihretwegen an mich richtete. Nein, kein Wort der Verteidigung. Sie ist nutzlos, überhaupt jede weitere Aussprache. Nur das noch: ich bereue den Kuß, den ich Ihnen gegeben habe, – und nun leben Sie wohl, Herr Heider!«

Mit dem Stolz einer jungen Königin ging Marie Kern, ohne sich noch einmal nach mir umzublicken. Ich stand seelenlos mit dem einzigen Gedanken: »Die weiß, wie man demütigt!« Nachher lief ich durch die Stadt und wäre vor Scham am liebsten unter die Pflastersteine gekrochen. In einem kleinen Gasthaus nahm ich Quartier. Schlaflos verbrachte ich die Nacht, die Sinne immer um Marie. Um fünf Uhr lief ich schon wieder durch die fast noch toten Straßen und kam um acht Uhr, zur festgesetzten Zeit, verelendet zur Sammlung der Rekruten im Kasernenhof.

Der Offizier, der die Personalien unseres Zuges aufnahm und uns zum Einkleiden führen sollte, faßte mich mit scharfen Blicken ins Auge, kam auf mich zu und schrie: »Kerl, du hast dich gestern abend wohl noch maßlos betrunken!« »Gewiß nicht, Herr Leutnant!« stotterte ich. Irgend ein Herzenston in meiner Stimme mochte ihn treffen. Er nahm mich am Kinn, drängte mir den Kopf fast schmerzhaft tief in den Nacken zurück, schaute mir eindringlich in die Augen, ließ mich wieder los und sagte: »Hier ein Schein, fort zum Arzt, Kasernenzimmer hundertzehn!«

Der Arzt, ein ruhiger, älterer Herr, untersuchte mich in Gegenwart eines Oberstleutnants. »Hypertrophie! Haben Sie Angst vor dem Dienst gehabt?« fragte er mich, und dann den Oberst: »Wie ist da zu entscheiden?« Der Oberst: »Das Dienstbuch! Ach, du mein Gott,« rief er mit kaltem Hohn, »das ist ja ein Schulmeister! Deren haben wir in der Armee schon zu viel. Es sind lauter Besserwisser und Weltverbesserer! Herr Doktor! Schreiben Sie dem Mann nichts von Hypertrophie ins Buch, sondern: ›Wegen Kropf dauernd befreit!‹ Alle Schullehrer haben Kröpfe, allerdings eher im Hirn als im Hals!« Etwas verwundert und zögernd schrieb der Arzt: »Wegen Kropf dauernd befreit« und gab mir das Buch. Der Oberst lachte mir zu: »Was stehen Sie noch? – Sie Schullehrer, laufen Sie doch dem Teufel zu!«

Ich weiß nicht mehr, wie ich mit meinem kleinen Köfferchen, in dem ich meine Zivilkleider heimschicken wollte, aus der Kaserne kam. Ich war von der Wendung der Dinge wie auf den Kopf geschlagen. Ich trauerte nicht und freute mich nicht und kam aus dem Erstaunen über mein militärisches Erlebnis nicht hinaus. Was trieb ich in meiner nach allen Umständen sonderbaren Lage in der Stadt? So viel Besinnung behielt ich, daß ich mich auf das »Obmannamt«, den Regierungssitz, wandte und dem Erziehungssekretär, dem »kleinen Grob«, die Mitteilung machte, infolge Entlassung aus dem Rekrutendienst müsse ich auf Beginn des neuen Schuljahres wieder eine Lehrstelle für mich erbitten. »Gut,« erwiderte er, »man wird Ihnen in ein paar Tagen berichten. Dichten Sie eigentlich immer noch?« »Hin und wieder,« gestand ich. Da lächelte er: »Es wäre besser, wenn Sie es ganz bleiben ließen, es ist für Ihr Vorwärtskommen schädlich!«

Die Eltern waren wie aus den Wolken gefallen, als ich aus dem Rekrutendienst zurückkehrte, der Vater, einst »Jäger links«, der sich immer freudig zum Militär gestellt hatte, wurde zornig und blieb es. »Himmel Herrgott! Gegen diesen schmachvollen Eintrag in dein Dienstbuch mußt du um Revision einkommen, sonst muß ich dich für immer verachten. Was soll dem Vaterland ein Wurmstichiger? Männer hat es nötig!«

Gewiß hätte ich aus eigenem Ehrgefühl ein Revisionsgesuch bei den Militärbehörden eingereicht, aber ich befand mich nicht wohl. Abgeschlagenheit, Schlaflosigkeit, Fieber quälten mich. Die Mutter rief den wegen seiner Gewissenhaftigkeit auch vom Vater verehrten Dorfarzt zu mir. Sein Gutachten lautete: »Mehr als Hypertrophie; Klappenfehler, erhebliche Lähmung der feinen, fadenartigen Bänder, die den Herzschlag besorgen sollen. Wäre es eine andere Jahreszeit, würde ich sagen: ›Ihr Sohn hat sich bei einer allzu scharfen Bergtour übertan.‹ Es kann auch Seelisches sein, was ich nicht weiß, Sturm der Jugend! Jedenfalls kommt jetzt Militärdienst nicht in Frage, sondern Ruhe, Ruhe!« –

Als der Arzt gegangen war, sagte der Vater, etwas milder gestimmt: »Ja, das liegt an deiner Geschichte mit Marie Kern. Das kommt vor, daß wir Männer über eine unerwiderte Liebe krank werden. Immerhin, das Vaterland sollte dir höher stehen als die gesamte Weiberwelt! Was nun Marie betrifft, bestreite ich deinen guten Geschmack nicht, den hast du von mir ererbt! Sie ist ein seltsam hochbegabtes Mädchen. Wie darfst du dich aber an sie heranwagen, du unreifes Lehrerlein. Mir ist es überhaupt immer noch unbegreiflich, wie du deinen schlechten Beruf hast erwählen können!« Er stand auf. »Immerhin sind wir Heider auch nicht auf den Hecken gewachsen, wir haben unsere Industrie in die Welt hinausgetragen, und ich messe mich mit einem Ratsschreiber. Wenn nun nur deine Versetzung an eine neue Stelle gut ausfällt! Dann würde ich mir gestatten, mit Kern, den ich von politischen Versammlungen her etwas kenne, in deiner Angelegenheit zu sprechen; vielleicht auch mit der Tochter, von der ich weiß, daß sie mich mag! Hoffe also, Tobias, das ist alles!«

Ich war gerührt von der Sorge meines Vaters, da kam der andere Schlag: die Zuschrift der Erziehungsbehörden, ich sei auf den ersten Mai zum Lehrverweser der Schulgemeinde Lenz ernannt! Lenz! Ich kenne den Ort noch nicht, ich weiß nur, daß er ungefähr am entgegengesetzten Ende unseres Kantons liegt wie Aagrüt, und habe von der Gemeinde in den Zeitungen zufällig Schlimmes gelesen. Sie hat einen der beiden jetzigen Lehrer bei der letzten der alle sechs Jahre stattfindenden Neuwahlen aus geringen Ursachen von seiner Stelle gesprengt. Nun bin ich also von den Behörden als Ersatzmann für den Fortgejagten bestimmt worden. Niemand geht aber gern an einen Posten, der gewaltsam frei geworden ist. Immer muß der Nachfolger für die Sünden des Vorgängers büßen!

Meine Klassengenossen von ehemals stehen in besseren Stellen als ich, und ich kenne meinen Feind: Seminardirektor Doktor Wetzer, den Naturwissenschaftler, der unter uns nur die nüchternen, ganz klaren Köpfe gelten ließ und jeden künstlerischen Einfall eines Zöglings zu »Allotria« stempelte. Sein hartes Urteil über mich ist von den Erziehungsbehörden ohne Prüfung übernommen worden.

Verlorene Liebe im Herzen, die Schmach, vom Militär weggewiesen worden zu sein, die Versetzung auf den Posten in Lenz, das alles drückt auf meine Seele. Ich verlebe traurige Ferien und glaube an das Wort meines Vaters, der über die Wendungen in meinem Leben auch unglücklich ist: »Wärest du nach meinem Wunsch Mechaniker geworden, du ständest in besseren Schuhen. Sieh deinen Onkel Johannes an, der doch nur ein paar Jahre älter ist als du. In seinem Monteurberuf sieht und erlebt er die weite Welt: Neapel, Wien, Berlin, Paris. Was aber wirst du von den Ländern sehen können mit deinem Lehrergehalt? Nicht einmal das eigene Land, das man nach jeder Richtung in ein Paar Stunden durchquert!«

Ich fürchte, der Vater hat Recht.

Unter den Verlusten meines jungen Lebens beklage ich am wenigsten den Militärdienst. Als armer Linkshänder wäre ich ihm sicher nicht so leicht gewachsen gewesen wie meine Kameraden, und vielleicht hätte ich mich darin gegen den Staat verbittert. Möge es mir Gott schenken, daß ich dem Vaterland in anderer Weise dienen kann! Was ich in mir selber am wenigsten verschmerze, das ist die Liebe zu Marie. Aber ich weiß, sie wäre mir nicht gern aus dem Unter- ins Oberland gefolgt, und meine Verweisung nach Lenz wäre für sie eine schwere Enttäuschung gewesen. Nein, kein Wort davon, wie mir zumute ist, wenn ich ihren Namen niederschreibe! –

Morgen, am letzten April, fahre ich in meine Stellung nach Lenz! – O, wäre ich vergangenen Herbst in Paris geblieben!


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