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Viertes Buch

Journalist und Schriftsteller in der Stadt

St. Jakob, im Juli 1889.

Stadt! Nachdem ich am ersten oder zweiten Tag unseres Aufenthaltes in diesem Tagebuche noch den Abschied von Lenz geschildert hatte, geriet es über der Fülle des Erlebens vor meiner eigenen Seele in Vergessenheit, und erst jetzt habe ich es wieder hervorgegraben.

In einer Vorstadt, weit draußen vor dem Weichbild, dort, wo sich Stadt und Land berühren, fand ich meine Schulstelle. Viele kleine Einfamilienhäuser mit Gärtchen, mächtige Mietskasernen schießen da wie die Pilze aus dem Boden und umschließen die Bauerngehöfte, die wie unstatthafte Denkmäler früherer Zeit in das Wirrsal von neuen Häusern, Baracken und Schuppen, Straßen und sich teilenden Eisenbahnlinien blicken. Überall aufgewühlte Erde, überall Unfertiges, Werden und Entstehen, und der Volkswitz nennt das Quartier »Klein-Amerika«.

Im dritten Stockwerk eines der rasch gebauten Häuser haben wir eine hübsche Wohnung inne, sogar mit schöner Aussicht auf den St. Jakobsberg. Sie hat nur den Nachteil, daß sie am Rangierbahnhof liegt, die schrillen Pfiffe der Rangierlokomotive, das Ächzen und Kreischen der Räder von schwer beladenen Frachtzügen auf den Schienen und die übel tönenden Rufe der Bahnarbeiter den Tag von der dunkeln Frühe bis in die letzte Abendstunde erfüllen. Im Anfang waren sie mir ein Entsetzen. Wie oft erhob ich mich vom Schreibtisch: »Nein, das halte ich nicht aus!« Nicht nur die Geräusche des nahen Bahnbetriebes, sondern daß im Hause auch irgend ein armer Klaviervirtuose wohnt und spielt und nahebei in einer Italienerniederlassung das Singen, Gitarre- und Handorgelspiel und der Bocciaruf bis um Mitternacht nie aufhören. Nun habe ich mich aber an den Lärm gewöhnt und könnte ruhig arbeiten, selbst wenn sich eine wildgewordene Lokomotive in unsere Haustüre stürzte.

Meiner Frau und den beiden Kindern geht es gut. Sie ist überglücklich, daß uns in der städtischen Stellung wenigstens kein Mangel mehr in den Haushalt schaut, pflegt auf einer Baustelle einen kleinen Blumen- und Gemüsegarten und weiß das Heim mit manchen Bequemlichkeiten zu schmücken, die es in Lenz nicht gab. Die Kinder haben sich in der Vorstadt ihre Welt entdeckt; sie spielen mit anderen in den Baugründen und Baracken herum, und wir Eltern sind oft erschreckt, was für eine kleine Gesellschaft sie uns hinauf in die Wohnung bringen: italienische, russische und französische Büblein und Mädchen.

Am meisten freut sich die Familie auf den Sonntag. Da ziehen wir mit unverbrüchlichem Eifer hinaus aufs Land, namentlich auf die Höhen, halten Mahlzeit im Freien, sind gute Läufer, selbst die Kleinen, und kehren erst am Abend wieder heim.

Dabei tat bis vor kurzem auch mein Adriaspitzer, der wegen seiner Schönheit und Sonderart von den Leuten viel bewundert wird, gern mit; sonst aber fühlte er sich in den neuen Lebensverhältnissen unglücklich. Sein Verdruß blieben unsere gebohnten Treppen. Die stumpfen Krallen fanden in dem glatten, harten Holz keinen Halt, er kollerte kopfüber und fiel. Nun wagte er sich gar nicht mehr selber ins Haus, saß vor der Tür und winselte mich oder Bekannte an, wir möchten ihn doch in die Wohnung hinauftragen. Da erbarmte ich mich seiner, lief mit ihm die Paar Stunden nach Reifenwerd und schenkte ihn meinem Vater. Dieser äußerte sich zuerst verächtlich über den ihm zugedachten Hausgenossen, aber nach ein paar Wochen sagte er mir: »Es ist mir ein Wunder, wie du dich hast von ihm trennen können; ich lasse ihn nicht mehr, solange ich und er leben.«

In meiner Vorstadtschule überfällt mich doch manchmal ein leises Heimweh nach derjenigen von Lenz, die immer ein fast sonntägliches, sauberes Dorfbild gewährte. In »Klein-Amerika« riecht es stark nach Proletariat. Ein Drittel der Schüler darf als gut gelten; es sind namentlich die Kinder der Eisenbahnerfamilien, die vom Lande stammen und die Überlieferungen dörflicher Ehrbarkeit behalten haben. Ein Drittel ist mittelgut und bildungsfähig. Über den Rest will ich am liebsten kurz sprechen: das sind die Jungen und Mädchen zugewanderter armer Fremden, die unseren staatlichen Schulzwang noch fast nicht kennen und das Deutsche nur notdürftig verstehen, namentlich Kinder polnischer Hausiererleute, die verbotenerweise rudelhaft in Kellergelassen hausen. Jede Woche kommt einmal die »Tante« und untersucht den Verdächtigen die Köpfe auf ungebetene Gäste, und dabei entschwinden mir unversehens für einige Zeit ein paar Schüler in die nötige Kur.

Neben denjenigen jüngsten Alters, die mir zugeteilt sind, unterrichte ich an zwei Vormittagen in der Ergänzungsschule Vierzehn- bis Fünfzehnjährige. Die Knaben sind Vorstadtgestalten; ihre werdende Männlichkeit bezeugen sie im Trotz gegen jede Antwort und Arbeit, und letzthin hat die Polizei einen mitten aus der Klasse geholt, ein trübes Bild jugendlichen Verbrechertums. Unter den Mädchen aber gibt es einige, mit denen ich herrlich arbeiten kann, sie folgen mir wie feurige Pferde und zwingen manchmal selbst die widerspenstigsten Jungen, die ihre Achtung doch nicht entbehren möchten, zur Aufmerksamkeit. Es tut mir um diese prächtig gescheite weibliche Jugend leid. Sie muß sich mit den bescheidenen Brocken begnügen, die ihnen diese Schulstufe bietet, in den höheren Töchterschulen aber wird so manche Talentlosigkeit sorgfältig wie eine Treibhauspflanze in die Welt der Klassiker emporgezüchtet! So viel Menschliches dabei auch auszukosten ist, bin ich mit meiner Stellung zufrieden. Vierzig Lehrer mögen in unserem Viertel wirken, und ich kenne sie nicht alle nach Gesicht und Namen; diejenigen aber, die mir am nächsten stehen, sind gütig zu mir, ebenso die Aufsichtspflege. Darüber muß ich froh sein. Ich nehme nämlich unter der Lehrerschaft nicht nur durch meine Gesanglosigkeit, sondern auch durch die Verbindung mit der Zeitungswelt eine Sonderstellung ein: mit dem einen Fuß stehe ich in der Schule, mit dem anderen im Journalismus und bedarf deswegen mancher Nachsicht im Schuldienst. Immer finde ich sie, und seit ich in der Stadt bin, ist mir, als trügen mich unsichtbare Flügel empor.

Mit mir freut sich Redakteur Emil Schmied, daß sich meine Übersiedlung nach St. Jakob auf dem einfachen Weg der Lehrerberufung gegeben hat, und hin und wieder kommt er, mich für einen Lauf flußhinab oder auf den St. Jakobsberg abzuholen. Er ist mir in der Stadt der gleich gute Freund geworden, wie es mir im Oberland Fritz Hartmann gewesen ist. Unsere Unterhaltung bewegt sich immer sehr lebhaft, und seinerseits ist sie ein unermüdliches Lichteraufstecken, wie jeder selber Schmied seines Glückes werden müsse. Rührend erzählte er mir von seinem Vater, dem Volksschriftsteller, der es in bitterer Armut doch fertiggebracht hatte, seine Söhne als angesehene Männer ins Leben zu stellen. Von diesem her ist Emil eine kräftige Neigung für das Volkstümliche geblieben, die ihn oft zu einem leichten Spott über Gelehrsamkeit hinreißt. Als ich ihm erzählte, daß ich hin und wieder Literaturstunden an der Universität besuche, lachte er mich fast aus. »Doktoren und Professoren, die schreiben können, haben wir wahrlich genug, aber gewiß nicht zu viel Schriftsteller, die Seele und Leben des Volkes mit den Augen des Volkes sehen und darstellen können. Holen Sie sich an der Hochschule keine Binde für Ihre gesunden Augen!«

Er selbst, in seiner Stellung an der »St. Jakober Zeitung« Handelsredakteur, doch in allen journalistischen Sätteln gerecht, betätigt seine Vorliebe für das Volkstümliche als geheimer, doch glänzender Humorist. Unter dem Pseudonym »Sebastian Gäuggeli, alt Cordonnier« veröffentlicht er im Blatt Betrachtungen über die Zeit- und Streitfragen, die gerade Stadt und Land bewegen, so voll beißenden Witzes und lachender Wahrheit, daß ihnen der weite Leserkreis zujubelt und jedermann den gescheiten »alt Schuster« zu entdecken sucht, der aus seinem Gesichtswinkel Menschen und Dinge mit so herzerfrischender Ursprünglichkeit zu beleuchten versteht. Wer aber denkt dabei an den Tagesschriftsteller, den seine tiefgründigen Artikel über Volkswirtschaftliches vor jedem Verdacht einer humoristischen Ader schützen?

Auf einem Spaziergang fragte ich: »Darf ich Ihnen eine Arbeit anbieten?« »Her damit!« Das war mein erster Beitrag zu der »St. Jakober Zeitung«, und so trat ich in den Mitarbeiterkreis des Blattes ein und zugleich in die große gesellige Runde, die sich fast Abend für Abend um die Redakteure bildet. Sie ist ein Mittelpunkt geistigen Lebens in der Stadt, wie es nicht leicht einen anderen gibt, wenigstens keinen, der mit Geistigkeit so viel Laune und Fröhlichkeit verbände wie dieses Halbdutzend lebhafter Köpfe, die unter sich selber treue Freundschaft halten.

Die Seele dieser Runde von Zeitungsleuten ist Chefredakteur Doktor Walter Abegg. Vierziger, im blonden Vollbart, eine der stattlichsten Manneserscheinungen, die mir begegnet sind, in allen Fragen des Lebens gewandt, offen, frei, witzig und von einer unbestechlichen Ritterlichkeit selbst gegen seine Gegner. Von Haus aus Philologe, beherrscht er Sprachen und Literaturen und besitzt dafür ein Gedächtnis, das mich in Erstaunen setzt. Wenn wir einmal miteinander allein gehen, lebt er seiner Freude, mit prächtig bildsamer Stimme große Stücke des Nibelungenliedes, Wolframs von Eschenbach oder Walters von der Vogelweide oder Goethischer Dichtungen vor sich her zu sprechen. Dabei klebt an ihm keine Spur von Gelehrtenstaub, in der Gesellschaft ist er ganz Gegenwartsmensch, Zeitungsmann und Politiker. Ich muß ihn bewundern.

Jakob Scheitlin, der Auslandredakteur, ein schwerer, dunkler Mann, dem etwas von einem Bären, ja Brummbären anhaftet, bildet in manchem das Gegenstück Abeggs, ist aristokratisch und zurückhaltend, aber an Wissen eine wandernde Enzyklopädie der Geschichte aller Zeiten und Völker, mit dem überzeugten Glauben an die besondere Berufung des Deutschtums. – Die Gesellschaft lacht oft über ihn: »Saulus, Paulus!« Seine Pfeife verqualmte früher die Redaktionsräume; plötzlich legte er sie nieder, und wenn sich jetzt jemand eine Zigarre anzündet, fragt er entrüstet: »Ja, gibt es noch ein Scheusal, das rauchen mag?« Der Mann hat manche Ecken und Kanten, aber wenn ihm hin und wieder ein Lächeln vom Mund in den schwarzen, dichten Bart hinunterzieht, finde ich in seinem Ausdruck etwas Rührendes.

Am stärksten unter den Gestalten der Redakteure beschäftigt mich diejenige Albert Steiners. Seit ich ihn kenne, kann ich das Wort »Genie« nicht hören oder lesen, ohne daß er mir mit seinem Napoleonskopf vor den Augen erscheint. Er ist aber ein Genie mit Nachteilen: er nimmt weder sich selber ernst noch irgend einen Menschen oder irgend eine Sache auf der Welt, spielt in allen Farben des Geistes und ist die Unstetheit selbst. Tage, Wochen zieht er keinen Federstrich, aber wenn er schreibt, übertrifft er alle an Glanz des Stils und setzt einen Artikel hin, der Widerhall in der gesamten Welt erregt. Er, der Spötter über alles, findet zuweilen kindlich fromme Laute; sieht man aber recht hin, ist sein Gottesglaube eine Blasphemie.

Von der Redaktion kenne ich noch zwei Herren, den jungen Hans Hagmann, der, wenn er nicht gerade als Leutnant Fensterpromenade vor den Damen der Stadt reitet, sehr hübsche Silhouetten aus der Gesellschaft entwirft, und Karl Bönstold, den Dichter mit dem gedankenvollen Zeushaupt. Doch habe ich diesen nur einmal flüchtig gesehen und gesprochen; er verkehrt kaum öffentlich und wolle, sagt man, überhaupt vom Zeitungswesen zurücktreten.

Zu denjenigen, die mit Vorliebe die Runde der St. Jakober Redakteure aufsuchen, gehören Gottfried Keller, Arnold Böcklin und Tiermaler Rudolf Koller. Die Eigenart der drei für unser Vaterland so charakteristischen Männer besteht darin, daß sie die stillsten im Kreise sind, mit Aufmerksamkeit der Unterhaltung der anderen folgen, selbst aber nur selten etwas zu den Gesprächen beitragen.

Gottfried Keller genießt die Gesellschaft in einer Haltung, als ob ihn die Schwere seines Hauptes zu Boden reißen wolle. Die Augen zugekniffen, scheint er mit den Gedanken seine besonderen Pfade zu wandeln, bis wir aus einer abgerissenen Bemerkung spüren, daß er sich doch kein Wort der Unterhaltung entgehen läßt. Im Gegensatz zu ihm ist Böcklin der stolz Aufrechte im Kreis, mit vorgedrängter Brust und einem Kopf wie aus Eisen geschmiedet. Das breite, gutmütige Großvatergesicht Kollers wirkt daneben fast unbedeutend. Immer mußte ich von Böcklin denken, über dieses Antlitz sei wohl nie ein Lächeln gegangen; aber ein paarmal sah ich nun sein Lächeln doch – dann, wenn Gottfried Keller lachte!

Gegen Mitternacht schlägt nämlich der Herr alt Staatsschreiber die Augen auf, blickt um sich und stößt knirschend hervor: »G'schider wär's, Ihr würded eis singe!« Nun kennt die Gesellschaft seine Liebhaberei für Lieder von der Straße, ja für richtige Gassenhauer, und stimmt an:

»Weiß am-e-ne Ort es Humbelinest,
das ha-n-i g'höre suse,
Schwefel, Pech und Humbelibum,
das triebt die Humbeli ufe!«

In guter Laune klopft sich Keller mit seiner auffallend kleinen Faust aufs Knie: »Das ist schön, das ist chaibe schön: singed das Lied grad namal!« Das ist der Augenblick, in dem auch über das Gesicht Böcklins ein Lächeln fliegt.

Als ich Keller das erstemal sah, habe ich ihn verärgert. Mit seinen Gewohnheiten und Wünschen noch unvertraut, verließ ich die Gesellschaft vor dem allgemeinen Aufbruch. Da rief er mir grimmig nach: »Gang, du Siech!« Helles Lachen ringsum, und mir die Aufklärung, daß der Dichter es nicht möge, wenn sich jemand vor ihm aus der Gesellschaft verabschiede. Später erlebte ich den gleichen Scherz an anderen, namentlich an Fremden, die in unseren Kreis getreten waren, um den Berühmten von Angesicht zu Angesicht kennenzulernen, und mit halbem Entsetzen Zeugen seiner göttlichen Grobheit wurden.

Vor allem lehnte es Keller soviel wie möglich ab, sich Gäste vorstellen zu lassen. So blieb auch ich ihm ein paar Abende des Zusammenseins ein Unbekannter. Einmal aber faßte er mich scharf in die Augen und fragte Steiner: »Wer ist denn der da?« Der Spötter, der an die Freundschaft Emil Schmieds mit mir denken mochte, erwiderte: »Unser neuester Handelsstift.« »So,« brummte Keller, und ich war nun für ihn der gleichgültige Redaktionsgehilfe. Wenn aber auch ein Zufall den Ulk Steiners aufdeckte, gewiß hätte ihm der fast Siebzigjährige nicht gezürnt; er hängt mit einer so väterlichen Zärtlichkeit an dem Übermütigen, daß er wehrlos gegen seine tollen Einfälle ist. Doktor Abegg wandte sich dann scharf gegen den Kollegen: »So gottlos frech wie du, Steiner, ist doch kein Mensch!« Der Getadelte aber lachte: »Ich wollte Heider nur vor dem Spott Kellers schützen. Das hätte ein Hagelwetter des Alten abgesetzt, wenn ich erklärt hätte: Ein Wettbewerber von Ihnen, Herr Doktor, zunächst aber ist er nur ein Lehrerlein!«

Gewichtiger als die oberflächliche Bekanntschaft mit den drei kunstberühmten Gästen und anderen hervorragenden Männern der Stadt ist für mich das freundliche Entgegenkommen der Redaktion der Zeitung. Ihre Mitglieder tragen mir Berichterstattungen an, zu denen sie selber keine Lust oder Zeit haben. Zuerst anvertrauten sie mir ein paar leichtere Schwurgerichtsfälle, und ich kam mit befriedigender Note über meine Berichte davon. Wie viel ich aber auch im Gerichtssaal an Menschlichem lernen könnte, diese Tätigkeit liegt mir nicht. Nie werde ich Gerichtsreferent, mir graut vor der Verlogenheit der Angeklagten, der Schlauheit der Zeugen, dem Pathos der Verteidiger und dem Mechanismus der Richter.

Es werden mir aber auch schönere Aufträge zuteil: ein Abend im Sommertheater, Ausflüge wissenschaftlicher Gesellschaften, ein Seenachtfest, der Sonnenuntergang auf dem St. Jakobsberg, die Einweihung eines Sängerdenkmals, der Herbst im Weinland, die Eisgewinnung im Glarner See, Weihnacht im Irrenhaus, Neujahrsnacht auf dem Säntis. Ich weiß bald selber nicht mehr, was ich neben meiner Lehrstelle gesehen und geschrieben habe, und wie ein Traum kommt es mir vor, daß ich in Lenz einmal so abgeschnitten war von der Welt.

Namentlich die Sommerferien verliefen mir sehr schön. Chefredakteur Abegg sagte: »Mir scheint, unser Feuilleton ist etwas zu trocken wissenschaftlich und abstrakt literarisch, recht für unsere Gelehrten, aber die breite Leserschaft kommt dabei zu kurz. Nun ein Vorschlag für Sie: Wir haben eine Menge Freikarten für Tal- und Bergbahnen, die niemand benutzt. Nehmen Sie den Stoß zu sich, verbringen Sie die Ferien, wo es Ihnen gefällt, und nachher schreiben Sie über Ihre Eindrücke von da und dort nach Ihrem Belieben. Das Wallis möchte ich Ihnen namentlich ans Herz legen; ich verbrachte meine letztjährigen wundervollen Ferien dort und würde die eigenen schönen Eindrücke in Ihren Schilderungen gern noch einmal erleben!«

So kam ich unverhofft und mit mir meine Frau auf mancherlei Umwegen wieder in das Land meiner Jugendbegeisterung und trieb mich von Zermatt aus auf Gletschern und Schneefeldern herum bis auf Höhen, von denen man in die dunkelblaue Ebene des Piemont hinuntersieht. Das Gesicht in den donnernden Bergbächen netzen, was für eine Freude! Nur eins sollte ich nicht erleben. Mit zwei Engländern, Brüdern, zwei einheimischen Bergführern und den dazu gehörenden Trägern hatte ich eine Besteigung des Matterhorns verabredet. Da erhielten die Brüder die Schreckensnachricht, ihre Schwester sei beim Abstieg von der Dent Blanche in eine Gletscherspalte gestürzt und, ehe man ihr Hilfe bringen konnte, darin erfroren. Ich sah die Engländer nur noch, als man die Verunglückte auf dem Kirchhof von Zermatt bestattete. Von unserer Matterhornbesteigung war nicht mehr die Rede.

Vornehmlich aber widmete ich die Tage im Wallis dem Studium der merkwürdigen alten Wasserfuhren, über denen seit Jahren mein Romanplan schwebte, ihrer Einrichtungen und der Überlieferungen, Sitten und Gebräuche, die damit verbunden sind, und in der Gemeinde Mund am Rawylpaß war ich selbst Zeuge der Ausbesserung der Leitungen. An einem achtzig Meter langen Seil wurde der junge Knecht über die Felswand hinuntergelassen, arbeitete zwischen Himmel und Erde am Werk, und auf einer Alp jenseits des Baches kniete betend die Gemeinde um den Priester, der das Allerheiligste erhoben hielt.

Als journalistischer Wandersmann besäße ich nun für die Erzählung die Anschauungsbilder, nach denen der arme Lehrer im Oberland umsonst gedürstet hatte; aber zu ihrer Niederschrift komme ich nicht, sondern erfahre an mir die alte Wahrheit, daß die Tagesschriftstellerei der schlimmste Feind einer gesammelten Arbeit ist. Doch fühle ich mich glücklich bei diesem »Aus dem Tag, für den Tag«, das mir so viel Bilder und Anregungen bietet.

Mein zweites Jahr in der Stadt. Um die Pfingstzeit wandte sich Doktor Abegg zu mir: »Wir haben eine Einladung des Pontonierfahrvereins Rhyn zu einer Fahrt auf dem Oberrhein, an der sich in bekränzten Kähnen das halbe Städtchen beteiligen wird. Das ländliche Fest liegt Ihrer Feder gewiß; schreiben Sie uns eine schöne Schilderung darüber!«

Unversehens führte mich der Weg an einem Samstagnachmittag wieder in jene Gegend, in der ich meinen Vikariatswinter verbracht und den kurzen, selig-wehen Liebestraum mit Marie Kern erlebt hatte. Sollte ich sie bei dieser Gelegenheit besuchen? Nein! Dazwischen lag das Versprechen an ihre verstorbene Mutter und eine ebenso scharfe Warnung aus dem eigenen Herzen.

Mein Plan lautete nun: Mit der Bahn nach Hettenstein fahren, von dort wieder einmal die mir vertrauten Wege nach Aagrüt gehen und hinüber nach Rhyn, wo ich auf den Abend zu einer Vorbesprechung des kleinen Festes erwartet wurde.

Ich wagte vom Zug aus kaum einen Blick auf das Städtchen Hettenstein und seine Linden zu werfen, überwand den aus irgend einem verborgenen Winkel hervorflammenden Trieb, seine Straßen doch rasch zu durchlaufen, eilte vom Bahnhof fluchtartig gegen den Wald und genoß schon das befreiende Gefühl, ich sei einer großen Gefahr entronnen. Nun aber ein paar Augenblicke Rast an der Schön-Eich und stilles Gedenken an vergangene Tage!

Die Stelle schien menschenleer, und nur das Gesumme der Immen tönte durch die Baumschläge. Auf der Bank aber stand ein leeres Körbchen, als hätte ein Kind sein Spielzeug vergessen. Nein, dort aus den jungen Tannen und dem hohen Gras einer Lichtung schaute das Mädchen hervor. Zögernd und ängstlich kam es ein Stück heran, stand still und rief: »Mann, nimm mir mein Körbchen nicht!« »Wo denkst du hin, Kleine!« lachte ich ihr zu. Vertrauen fassend, trippelte sie näher, ein schönes Kind mit großen, blauen Augen, um den Hals wie eine Korallenkette einen Grashalm mit ausgereiften dunkelroten Erdbeeren. Immer noch um ihr Körbchen bange, fragte es schüchtern: »Mann, darf ich dir die Beeren schenken?« löste den Halm und streckte ihn mir hin. »Ja, bist du denn so allein im Wald?« forschte ich. »Nein, mit der Mutter!« Ich aber hatte die Sechsjährige mit dem ersten Herzschlag erkannt und sagte: »Ich glaube, du heißest wie deine Mutter: Marie Thellung!« Überrascht staunte mich das Mädchen ohne Antwort an.

Im nächsten Augenblick stand Marie Kern von ehemals vor mir, schön, blühend, noch vergeistigter als einst. Wir wechselten zunächst kein Wort, wir blickten uns nur in die Augen. Da sank sie vor mir nieder auf die Bank und schaute andächtig in den Himmel. »Lieber Gott,« zitterte ihre Stimme, »ich danke dir. Du hast meine Gebete aus Tag und Nacht erhört, und noch einmal darf ich Tobias Heider sehen!« Ich küßte sie, erst auf den Scheitel, dann auf die Stirn, zog sie an mich, und wir küßten uns wie einfältige Kinder. Plötzlich begann Marie herzzerbrechend zu weinen: »Welche Torheit! Es ist zu spät, zu spät!«

Auch das Kind, das den Vorgang nicht verstand, weinte laut und schrie ohne aufzuhören: »Mann, tu meiner Mutter nichts!« Marie riß das Mädchen an sich, nahm es zwischen die Knie, als müßte sie einen Schutzwall zwischen uns aufrichten, und wir faßten uns. »Schrecklich zu denken,« sagte sie, »du wärest, ohne daß wir uns gesehen hätten, an Hettenstein vorübergegangen. Nun hat es Gott gefügt, daß wir uns doch getroffen haben! Wie selten komme ich in den Wald meiner Jugend, nur je Samstags, wenn daheim die Arbeit ruht. Nun aber sei so lieb, mich zurück ins Städtchen zu begleiten. Ein paar deiner Stunden gehören doch mir? Wie konnten wir uns so fremd werden!« Ich erzählte ihr von dem geheimnisvollen Zusammentreffen mit ihrer Mutter in Walburg. Die Tatsache jener Begegnung war ihr neu. »Noch im Sterben hat sie von dir gesprochen,« sagte Marie. »Nun aber dürfen wir uns nie mehr verlieren, nie! nie! – –« Wir traten in ihre Wohnung im ehemaligen Nationalratshaus. Nichts sprach darin von der vernachlässigten Wirtschaft, die man Thellung nachsagte, am stärksten aber überraschte mich wieder die Schönheit Maries, die ihre feine Mädchenblüte behalten hatte und kaum erraten ließ, daß sie Ehefrau und Mutter sei. Sie spürte meine Gedanken und sagte: »Gewiß hat man seine Sorgen, aber auch seinen Gott.« Sonst saßen wir fast schweigend, sie hingegeben an ein wunderbar demütiges Glück über unsere Begegnung und mit Augen, als stände sie im Bann eines unbegreiflichen Wunders.

Plötzlich erschien, ich weiß nicht woher, ihr Mann mit dem wallenden Bart und den vornehm geschnittenen Zügen, die fast aristokratische Erscheinung von früher und ohne eine Spur seines landstörzerischen Wesens. Er und ich wußten uns im ersten Augenblick nicht gegeneinander zu benehmen und waren beide etwas verlegen, dann aber brach er halb zornig, halb lachend los: »Was für ein Teufel schneit denn Sie daher, Heider? Sind Sie gekommen, meine Frau vollends verrückt zu machen? Sie waren schon immer der Götze im Haus. Da sehen Sie einmal!« Die Augen Maries baten um Schonung, er aber holte ein Album hervor. Darin standen mein Jugendbildnis, das ich Marie vor Jahren geschenkt hatte, mein Name, und sorgfältig auf die Seiten geklebt enthielt es die Mengen der Skizzen und Gedichte, die ich je geschrieben hatte, in einer so schönen Sammlung, wie ich sie selber nicht besitze. »So sind Sie der Götze meiner Frau, – was soll nun werden?« lächelte Thellung spöttisch. Marie, die sich in ihrer Heimlichkeit verraten sah, faltete die Hände und ließ den glühenden Kopf sinken. Endlich flüsterte sie ohne aufzublicken: »Tobias, es ist wahr, ich lebe in deinen Arbeiten!«

Thellung scherzte erregt: »Du auf du steht ihr also auch schon. Das geht ja verflucht geschwind, und nach meiner Erlaubnis fragt ihr nicht?!« Auf allen seinen Worten lag ein halber Spott und Ärger, aber auch das verhaltene Wohlwollen, das er mir in meinen Vikariatsjahren immer erwiesen hatte, kam wieder daraus hervor. »Heider, daß wir uns wegen Marie die Köpfe zerschlagen, dafür ist's noch lange Zeit. Zunächst wollen wir uns doch als alte Freunde begrüßen!« Wir stießen unsere Gläser auf das unerwartete Wiedersehen zusammen.

Wie im Fegefeuer saß ich zwischen dem Ehepaar, der Frau, die den fiebernden Blick nicht von mir lassen konnte, und dem eifersüchtigen Gatten, der nicht recht wußte, sollte er sich mir gegenüber als Freund oder Feind bekennen. Ich sagte nun, ich müsse auf Rhyn denken, und er bot mir auf ein Stück Weges das Geleite an. Die Frau kam ins Zittern und trat wankend mit uns unter die Haustür. Dort fiel mir ihre heiße, klare Träne auf die Hand. Thellung ärgerte sich über diesen Abschied. Verstimmt und stumm liefen wir miteinander eine Viertelstunde durch den Wald. Ich mit dem Gedanken: Wenn er doch nur umkehren wollte!

Da begann er zu sprechen, und was der sonst immer zu Spöttereien Aufgelegte vorbrachte, wurde ein erschütterndes Herzensbekenntnis der Liebe zu seinem Weib. »Sie ist eine himmelsgute Frau, wie ich sie nicht verdiene. Nur sagen kann ich es ihr nicht. Im Gegenteil, der Teufel zwingt mich, daß ich ihr hart begegne, ihr, die ich wie meine Schutzheilige anbeten sollte. Was wäre aus mir geworden ohne Marie? Sie wissen ja, wie ich mit meinem Vater stand! Ein Lump, ein Todunglücklicher ging ich durch die Welt! Es gibt Leute, die behaupten, ich sei's trotz ihr. Das ist aber nicht wahr. ›Landstörzer‹ lass' ich mir gefallen. Fluch auf meine Jugend! Nun aber, Heider, nehmen Sie mir meine Marie nicht weg! Ihre Seele haben Sie schon, aber was noch mir gehört, lassen Sie mir! Das andere wäre mein Tod und« – fügte er wie in finsterer Drohung hinzu – »der Ihre!«

An der Rede Thellungs überraschte mich der an ihm so ungewohnte Herzenston, namentlich aber der Verdacht, ich sei nach Hettenstein gekommen, um ihm sein Weib zu entfremden. »Ihnen Marie wegnehmen?« erwiderte ich betroffen. »Nie, nie! – lieber sterben!«

Da stand er still und atmete auf. »Ihr Wort genügt mir,« versetzte er. »Ihnen, wie meiner Marie, mag ich eine Freude gönnen, besuchen Sie hin und wieder meine Frau, aber –« Sein Ton wurde wieder finster und drohend, dann raffte er sich zu einem guten Lächeln zusammen: »Also, wir sagen auf Wiedersehen!« Eilfertig bot er mir die Hand und lief in jenem Landstörzerschritt, den ich von früher her an ihm kenne, davon.

Mir aber war über der jähen Wiederbegegnung mit Marie, ihrem Liebesbekenntnis aus wildestem Seelensturm, ihren Tränen, ihren Küssen, als sei etwas Ungeheures in mein Leben getreten. Sollte ich es uns zum Glück oder Unglück deuten? – Die Rheinfahrt, auf die ich mich so sehr gefreut hatte, verlief für mich wie ein Traumspiel. Ich weiß nicht, war die Schilderung, die ich davon entwarf, schlecht oder gut; wieder in der Stadt, wunderte ich mich bloß, daß die Häuser noch dastanden und die Leute schwatzten und lachten wie in den Tagen vor meinem Wiedersehen mit der Jugendgeliebten.

Das Schwerste: Wie sollte ich meiner ahnungslosen Frau das Abenteuer von Hettenstein bekennen? Ich tat es vorsichtig und schonungsvoll; aber die Antwort war doch ein Strom von Tränen. »Dein Vater hat mir einmal von jenem Fräulein Kern erzählt,« stammelte sie. »Deiner Liebe sicher, gab ich nichts auf die flüchtigen Worte. Welcher Mann hat nicht schon vor seinem Weib eine andere gern gesehen? Nun aber steht eine auf, die ich tot glaubte, und ich fürchte sie.« Ich wollte mein Weib beruhigen: »Lerne Marie kennen, und du fassest Vertrauen zu ihr!« Emma aber schluchzte: »Nein, die Frau von Hettenstein nur nie sehen müssen, nie, nie! Ich gebe zu, daß sie eine ehrbare Frau ist, die das Unglück selber nicht gesucht hat, aber ihr liebt euch, das ist genug! Das ist stärker als ihr selber, das sagen mir deine glänzenden Augen und das eigene Herz! Muß ich dich wirklich lassen, Tobias?« – –

Emma kam wieder zum inneren Frieden. Da schickte mir Marie ein paar Forellen und schrieb dazu ein gutes Wort; meine Frau geriet aufs neue in Flammen. Ich blickte der nackten Eifersucht in die Augen, bin von der wehen, zitternden Zärtlichkeit meines Weibes umklammert und leide unter ihren Tränen.

In der Tat ist meine wieder wie ein Feuer ausgebrochene Liebe zu Marie ein furchtbares Unrecht gegen Emma. Gab es je eine schönere, friedlichere Ehe als die unserige? Kamen Gäste zu uns, so sagten sie mir stets: »Was haben Sie für eine entzückend liebe Gattin!« Ich wußte aber immer am besten um ihre Treue, ihre Aufopferungsfähigkeit, und ich hätte in den armen Tagen von Lenz gewiß keine verständnisreichere, gütigere Gefährtin haben können als sie! Nein! Nun, da meine Jahre heller geworden sind, soll sie, so wahr mir Gott helfe, teil an meinem Sonnenschein haben. Nicht die Spur einer Untreue klebt an meinen Gedanken, gewiß noch weniger an denen Maries, es ist nur die Eifersucht, die gleich mit der Gefahr des Ehebruches spielt. Was wäre es für ein Wahnwitz, zwei in ihrer Art bewundernswerte Frauen, ein paar unschuldige Kinder und uns Männer ins Unglück zu stürzen? Verbrechen! Mord!

Emma ist immer bereit, mir das Leben froh zu gestalten, eine Blume, die sich von selber der wandelnden Sonne zuwendet und in ihrer freundlichen Anmut selbst wieder Sonne in die Herzen spendet. Was fesselt mich aber mit so wundersamer Gewalt an Marie, daß ich mich doch nie mehr von ihr hinweg verbannen möchte? Immer schwebt der Zauber eines Geheimnisses um sie; sie ist der dunkle See, in dem es stets von versunkenen Glocken läutet. Ihre nonnenhafte Strenge, die ihr nie gestattet, ihrem Mann mit einem herben Wort zu begegnen, das Mädchenhafte, das ihr in ihrer Ehe geblieben ist, haben für mich einen unergründlichen Reiz. Dazu die Gewißheit: die Seele derjenigen, die dich in der Jugend zu leicht gewogen hat, gehört dir! Und leider Gottes ist es doch Wahrheit: nie kann ich ihr in die großen schönen Braunaugen blicken, ohne das Süßeste zu ahnen, was ein Weib dem Manne zu schenken hat.

Eine wilde Unruhe wütet in mir, das Gefühl: ich und mit mir andere stehen in einer zwar nicht deutlich erkennbaren, aber in schweren Ahnungen spürbaren Schicksalsgefahr.

Doch ein anderes Erleben! In einer Straße der Stadt begegnete ich Seminardirektor Doktor Wetzer. Mit einem stummen, höflichen Gruß wollte ich an dem Manne vorübergehen, der mich nie hatte leiden mögen und mir den Weg schwer machte. Da winkte er mich zu sich heran: »Haben Sie für mich auf ein Viertelstündchen Zeit?«

Wir lenkten unsere Schritte an den See, und die Unterhaltung ging ziemlich gequält. Plötzlich stand er still. »Heider,« sagte er, »es ist ja sehr erfreulich, wie Sie sich durchgerungen haben, und ich erkenne, daß ich Sie viele Jahre falsch beurteilt habe. Verzeihen Sie mir meinen Irrtum und denken Sie an mich, wenn auch Sie im Leben einmal die Erfahrung machen müssen, daß Sie irgend jemand unterschätzt haben. Dann kennen Sie meinen Schmerz.« Ehe ich ihm antworten konnte, reichte er mir die Hand, drückte die meine warm und ging mit einem kurzen »Leben Sie wohl!« Ich aber faßte es kaum, daß sein Wort mehr als ein Traum von mir selber war.

Wahrscheinlich habe ich ihm eine unerwartete Ehre zu danken: die Erziehungsbehörden haben mich zum Berichterstatter über die Weltausstellung in Paris für die Schulkapitel unseres Kantons ernannt und mir die Mittel für einen Aufenthalt von drei Wochen gewährt. So komme ich, zehn Jahre nach meinen Jugendgängen, wieder in die mir von mancherlei Erinnerungen sonnenbeglänzte Stadt und freue mich darauf!

 

Wieder daheim! In Paris galt meine alte Liebe dem Quartier Latin. Jeden Abend durchstreifte ich seine Straßen und Gassen. Die Bilder waren die gleichen wie einst, aber die mir vertrauten Gesichter von ehemals fand ich nur zum kleinsten Teil wieder. Übrig geblieben waren die strohblonden, nun schon ältlichen Töchter Vebeurs in ihrem Bäckerladen und jenseits des Jardin du Luxembourg das schneeweiße Fräulein Albarel mit den feinrosigen Wangen. Sie erzählte mir, daß ihr Bruder vor zwei Jahren gestorben sei. Ich trat auch in die frühere Garküche Gauthier. Der neue marchand de vin et de comestibles wußte mir nur zu berichten, sein Vorgänger sei bei der Schlichtung eines Raufhandels erstochen worden. Unfaßlich, ein Mord in diesem friedlichen Restaurant! Ich fragte nach der Gesellschaft der Schaufensterputzer. »Meines Wissens hat nie eine solche bei mir verkehrt,« erklärte der Wirt. Ich fand aber in seiner Küche wieder artige Unterhaltung, ein paar Gäste sagten zu mir und unter sich: »Der Herr aus der Schweiz hat die französische Grammatik gut gelernt!«

Und die Lafayette? An einem der Tischchen vor den Cafés am Boulevard Saint Michel sitzend, winkte ich manche Grisette heran: »Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?« und fragte nach dem freundlichen Stern meines ersten Aufenthaltes im Quartier Latin. »Lafayette? Nein, die gab es unseres Erinnerns nie!« Und liebenswürdig, wie die Kokotten sind, forschten sie selber nach der Verschwundenen. Keine Spur! Was wollte ich eigentlich mit der Lafayette? Gewiß nichts anderes, als ihr ein wenig aus meinem Leben erzählen, und das hätte ich getan, wenn sie jetzt der Verworfensten eine wäre. Liegt sie nun wohl draußen in dem furchtbaren Hospital, in das mich einst der deutsche Arzt blicken ließ? Um Gottes willen nicht! Ich hätte sie aber auch dort besucht und ihr eine Wohltat erwiesen. Freundlicher als der Gedanke an das Spital war mir der andere, sie habe, wie sie die Absicht in der letzten Stunde unseres Zusammenseins äußerte, den Tod in der Seine gesucht und ruhe in einem der Massengräber der Weltstadt, auf denen kein Täfelchen und kein Name steht, oder jener Rechtsanwalt, später vielleicht Deputierter aus Lyon, der mit ihr während seiner Studienjahre lebte, habe sie in eine jener kleinen Villen vor der Stadt gesetzt, in denen sich viel verschwiegene Liebe verbirgt.

Paris erschien mir bei dem zweiten Aufenthalt wieder wie beim ersten als die große Sphinx: als der Moloch, der die eigenen Kinder frißt, als die gütige Mutter, die gebiert, schafft und baut. Ich halte es doch für ein Glück, für das ich meinem Vater dankbar sein muß, daß ich schon als junger Schnaufer in diese Feueresse des Schicksals blicken durfte!

Manon Lafayette lebt! Einen Monat nach meiner Heimkehr habe ich einen Brief von ihr erhalten. Sie schreibt:

»Mein lieber, unvergeßlicher Freund! Sehr verspätet hat mich die Visitkarte erreicht, die Sie meiner früheren Hauswirtin in Paris für mich abgegeben haben. Sie geriet in die Hände der letzten Freundin, die weiß, was aus mir geworden ist. Nur zum Scherz schickte mir diese die Karte. ›Madame, riez d'un adorateur suisse-allemand d'autrefois!‹ Ich lachte aber nicht, ich war gerührt von Ihrem Gedenken und sende Ihnen als Beweis diese Zeilen, die Ihnen nie, nie versprochen waren.

Mein Mann und ich leben in Lyon. Er ist der ehemalige Student, der mir den Namen ›Lafayette‹ zugedacht hat, Rechtsberater verschiedener industrieller Unternehmungen und, wie wir hoffen, von den nächsten Wahlen an Deputierter.

Seine erste Frau verlor er schon nach einem Jahr, sie starb an der Geburt eines Sohnes. Da holte er mich aus Paris, damit ich diesem Mutter sei. Jetzt haben wir auch ein reizendes Töchterchen.

Aus Anlaß Ihrer Karte habe ich meinem Gatten eine halbe Nacht lang von Ihnen erzählt. Mit mir ladet er Sie freundschaftlich ein, uns gelegentlich einen Ferienbesuch abzustatten.

Wir besitzen vor der Stadt ein wohnliches Gartenhaus, an dem die Rhone vorüberströmt. Da könnten Sie so ungestört dichten wie einst in Ihrer hohen Kammer am Pantheon! Sind Sie überhaupt noch journalistisch oder schriftstellerisch tätig? Haben Sie Weib und Kind? – Wie geht's, wie steht's? – Darüber erbitte ich mir einen sehr großen und ausführlichen Brief.

Ihre treu ergebene Freundin

Madame Doktor Charles Bartholai.«

Den großen, ausführlichen Brief schrieb ich, gab aber der ehemaligen Manon das Versprechen nicht, sie je zu besuchen, wiewohl es mir eine große innere Beruhigung ist, daß ich um ihr Leben und ihr freundliches Ergehen weiß.

Mit meiner Arbeit über die Ausstellung in Paris steht es schlecht. Im Erziehungsrat weht Gegenwind. »Sehr fleißig sehr hübsch, vielleicht etwas zu feuilletonistisch. Beschluß: Ihre Schrift wird zu jedermanns Einsicht im ›Pädagogischen Museum‹ aufgelegt.«

Ich dachte schon, kein Mensch blicke darein, da kam ein junger, schwungvoller Pfarrer, der eine kleine Zeitschrift »Über Berg und Tal« herausgibt, und erwarb das Manuskript zur Veröffentlichung.

Mein Lied ist wie die Heckenros',
Verweht in Sommerwinden,
Es wandert arm und heimatlos
Und kann nicht Ruhe finden!
O doch – ich weiß, ein Auge ruht
In sinnendem Verweilen,
Ein liebes Auge, treu und gut,
Auf jeder meiner Zeilen.
Im Wald horchst du dem Ton im Wind,
Weltabgewandtes Träumerkind!
Zwar hab' ich meine Heimat nicht
An deiner Brust gefunden,
Noch lebt in deiner Augen Licht
Mein Lied die schönsten Stunden.
Du senkst in seine dunkle Flut
Des Herzens Trauerweiden,
Wie sanft am Strom die Welle ruht,
Ruhn bei dir Glück und Leiden.
Und Heimat hat der Ton im Wind. –
Ich grüße dich, mein Träumerkind!

So dichte ich, habe aber auch das Törichteste getan, was ein Mann in meiner Lage tun kann: die beiden Frauen Marie und Emma, die mich mit gleicher Leidenschaft lieben, zusammengeführt. Jene hielt es für Gewissenspflicht, mit meiner Frau in ein gutes Einvernehmen zu kommen, und der Weg in unsere Wohnung fiel ihr gewiß nicht leicht. Sie ging ihn aber, als stände sie unter einem Gottesgebot, und nahte sich Emma in einer Demut, die mich erschütterte, etwa mit der Gebärde: ›Frau Heider, ich stehe in Ihrer Schuld, bin aber entsündigt durch die Reinheit, mit der ich Ihren Mann liebe.‹ Meine Frau verstand diese Bewegung nicht; sie bewahrte zwar die äußere Höflichkeit, aber die sonst immer Liebenswürdige und Biegsame blieb gegen den Besuch doch von einer erkältenden Zurückhaltung. Als ich Marie wieder an die Bahn begleitete, sagte sie todestraurig: »Der Gang war umsonst!« In der Ecke des Wartsaales ließ sie wie eine, die am Sterben ist, das Haupt an meine Brust sinken, und als sie sich wieder emporraffte, zuckte das Weinen um ihren Mund.

Daheim fand ich Emma in Tränen aufgelöst und zürnte: »Hast du das kluge › Noblesse oblige‹ vergessen?« Sie erwiderte: »Gewiß wollte ich gegen Frau Thellung freundlich sein, aber du hast mir nie gesagt, daß sie so schön ist!«

Der Gedankensprung einer Frauenseele. Doch werfe ich keinen Stein auf meine Frau. Die Eifersucht ist eine so starke und übermenschliche Leidenschaft wie die Liebe, zu lesen in hundert Lebensbekenntnissen. Wozu darüber schreiben? Mein Herz aber ist über das Erlebnis tieftraurig!

 

Wie wunderbar spielt das Leben! Während mir war, ich müßte zwischen zwei Frauen verbrennen, kam schon eine leichte Erlösung. Sehr ernsthaft sprach Redakteur Albert Steiner bei mir vor. »Es ist ein Luftschiffer in die Stadt gekommen, Eduard Spell, der Passagierflüge unternehmen will und wünscht, daß ihn, wenigstens auf der ersten Fahrt, jemand vom Blatt begleite. Der Mann, der die halbe Welt gesehen hat, ist nach den Auskünften der Schweizer Konsulate dies- und jenseits des Meeres außerordentlich vertrauenswürdig. Sie dürfen versichert sein, daß ich am liebsten selber mit ihm in die Lüfte stiege. Nun aber begegne ich bei diesem Plan einem unüberwindlichen Hindernis: Meine Frau geht guter Hoffnung, wir sind nicht sicher, wann das Kind zur Welt kommt. Rücksicht hierauf verbietet mir also die Teilnahme an der Fahrt, und deswegen frage ich Sie: Wären Sie geneigt, als unser Berichterstatter am nächsten Sonntag nachmittag mit dem Luftschiffer den Aufstieg in den blauen Himmel zu wagen?« Ich sagte zu. In St. Jakob hatte man wohl schon manchen Ballon steigen sehen, aber nur besetzt mit einem Akrobaten oder seiner Frau, die hinter dem nächsten Hügel schon wieder landeten, nie aber mit Fahrgästen aus der bürgerlichen Welt. Es erregte ungemeines Aufsehen, als man vernahm, ein junger städtischer Lehrer werde Kapitän Spell auf seiner Fahrt durch die Lüfte begleiten. Bekannte riefen mir auf der Straße zu: »Ist Ihnen denn das Leben nicht mehr lieb?« Die meisten hielten mich in meiner Abenteuerlust für verrückt, mit ihnen die Polizei; sie stellte mit mir eine Untersuchung an, ob ich bei gesunden Sinnen sei und nicht unter dem Zwang einer Suggestion stehe, erkannte aber meine Zurechnungsfähigkeit und gestattete mir die Fahrt.

Von einem mit Bäumen umgebenen Platz, auf dem eine Musikkapelle spielte und die Neugierigen Kopf an Kopf gedrängt standen, glitt die Goldkugel »Urania« mit uns empor, mit mir und zwei Journalisten aus Paris, die im Ballonwesen erfahrener sind als wir Schweizer, und führte uns durch den Abendstrom der Lüfte. Zwei Stunden dauerte die wundervolle Fahrt, und als ich wieder auf der Erde stand, schrie mein Herz: »Mehr, mehr!« Schon in der Dämmerung war ich wieder wohlbehalten in unserem »Klein-Amerika«, umjubelt von meinen Schülern, die an der Haustüre auf mich gewartet hatten.

In der Nacht noch begann ich meine Schilderung der Fahrt, trug das erste der drei Stücke am Morgen vor Schulbeginn auf die Redaktion, und die Veröffentlichungen folgten sich Schlag auf Schlag. Wer hätte den herrlichen Ballon nicht am Himmel schweben sehen? Wo ich ging und stand, las die neugierige Menge die »St. Jakober Zeitung«, und zu jeder Ausgabe der Feuilletons drängte sich eine harrende Schar um die Schalter des Blattes. Kapitän Spell und ich hatten uns gegenseitig einen großen Dienst erwiesen: er mir, daß er mir die Mitfahrt an Stelle Steiners gestattet hatte, und ich ihm, daß er und sein Ballon plötzlich das Zutrauen der Öffentlichkeit fanden. Unsere Namen hatten sich verschwistert, und wochenlang gab es keine volkstümlicheren im Land. –

Der Sommer wurde für mich fast toll. Wer von den Herren oder Damen der Stadt sich ein großes Vergnügen bereiten wollte, fuhr Ballon. »Aber Heider muß mit, er schreibt über die Fahrt, und wir besitzen ein dauerndes Andenken daran.« So stieg ich hin und wieder, in ein paar Monaten zehnmal, in den Korb, meist zu großen Sonderfahrten, die sich reiche Industrielle oder Kaufleute gönnten. Immer erlebten wir entzückende Bilder: Die Wolken haben sich unter uns zum silbernen Meer geschlossen, im Süden hat sich der Gipfel der Jungfrau unter uns geneigt, und nun schimmert durch einen Wolkenriß der Genfer See! Oder: In der Abendsonne fliegen wir über den Bodensee, auf die deutschen Wälder senkt sich die Nacht. Tief und schnell wandert das Schiff; auf den Ballastsäcken hockend, schlafe ich ein paar Stunden, – dann Sonnenaufgang, und wie die Glocken der Stadt Kassel zum Gottesdienst rufen, landen wir an der Wilhelmshöhe. – Auch die Gesellschaft ist fesselnd. Wieviel wissen die Weltleute zu erzählen! Über einen jungen Herrn mußte ich herzlich lachen. »Übermorgen halte ich Hochzeit,« sagte er, »die Fahrt ist also meine Abschiedsfeier von der Junggesellenfreiheit!« Nein, nicht jeder kann seine ledigen Tage so schön beschließen!

Meine Schilderungen veröffentliche ich bald da, bald dort, und es steht ein fast unheimliches Glück über ihnen. Als hätte es ihrer nicht vor den meinen eine Menge gegeben, zum Beispiel die wundervollen Bücher Flammarions, wandern sie in Hunderten von Zeitungswiedergaben wie die Kunde einer Neulandsentdeckung durch die Welt, sogar in mancherlei Sprachen über das Meer. Es regnet nun Briefe von Zeitungen und Zeitschriften, an denen ich irgendwie mitarbeiten soll, und läge mir daran, könnte ich jetzt leicht als freier Journalist vom Ertrag der Feder leben.

Warum werde ich nicht freier Tagesschriftsteller? Ich spüre, daß mein Herz doch an der Schule hängt. Ihre Pflichten geraten zwar mit meiner Journalistik häufig in Widerstreit, aber liebenswürdige Kollegen besorgen an den Tagen meiner Abwesenheit die Klassen, und mit der Schulpflege habe ich eine freimütige Aussprache darüber gehalten, ob nicht der Augenblick gekommen sei, in dem ich mein Lehramt niederlegen solle. Die Antwort: »Wir fühlen ja selber, daß Sie nicht mehr lange der Unsere bleiben werden, bitten Sie aber, von Ihrem Rücktritt abzusehen, bis er eine Notwendigkeit geworden ist.«

 

Das Ballonfahren ist gewiß für vieles gut, und meine tapfere Frau ist von Herzen bei meinen Abenteuern. »Wie bin ich glücklich über dich, du mutiger Mann!« Ich fürchte aber, ihr Glück gelte wohl weniger meinem Mut als der stummen Hoffnung, daß ich in den blauen Bächen des Himmels Marie Thellung vergesse. Gegen meine Leidenschaft helfen aber auch die Luftreisen nichts. Wenn ich eine Schilderung schreibe, sehe ich nur die braunen Augen Maries und denke: »Was wird sie dazu sprechen?« Und wenn mein Kopf recht müde vom Erleben und von der Arbeit ist, fahre ich zu ihr hinaus. Nicht heimlich, sondern – sei's andern lieb oder leid – offen und frei. Marie und ich stimmen darin überein, daß wir keine Heimlichkeiten wollen.

Immer bin ich der freudig Erwartete, in mädchenhafter Glut leuchtet mir ihr Gesicht entgegen. Unsere Stunden aber verlaufen auf das einfachste. Wir küssen uns nicht mehr, das war dem Herzenssturm des Wiedersehens bei der Schön-Eich vorbehalten. Wir gehen einen Wiesen- oder Waldweg, am liebsten dem Wellengeplauder der Aa entlang, im stillen Tal, vor uns das spielende Kind, das Marie nie mitzunehmen unterläßt, und was wir sprechen, dürften Gott und Menschen hören, Thellung und meine Frau haben nichts zu fürchten. Natur und Dichterisches, das ist unsere Unterhaltung. Unsere Gedanken sind aber frei wie die anderer Menschen, und diejenigen Maries kann ich erraten. Wenn wir uns da oder dort auf eine Bank setzen, schreibt sie mit der Spitze ihres Nadelschirmes unbewußt ein T.H. in die Erde. Das heißt doch: »Tobias Heider, ich liebe dich!« Plötzlich zuckt sie zusammen und vernichtet die verräterischen Zeichen.

Furchtbar für uns ist immer der Augenblick des Abschiedes. In ihr Gesicht tritt ein starrer Schmerz, ich spüre, wie ihr das Herz tobt und wie das meine zu rasen beginnt. Wahrhaft eine Erlösung, wenn wir ein Wort finden. – Wie war es das letztemal? Unsere Hände zitterten ineinander. Da neigte sie das Haupt tief demutsvoll und sagte, ohne mich anzublicken: »Bin ich nicht die größte Törin auf der Welt? Das Bild eines Mannes, das ich in meinen kühnsten Mädchenträumen entwarf, das hätte ich in dir, Tobias, finden können. Ich aber ging hin und ließ es; nun ist die Strafe Gottes über meinem Hochmut!«

Marie gleicht einer Traumwandlerin, von der man sagt, sie gehe um Mitternacht geschlossenen Auges sicher über einen Dachfirst. Sie kümmert sich, wenn sie frei mit mir geht, nicht um die Welt und ihre bösen Zungen, um keinen Menschen! Ich schlug ihr vor, sie möge mit mir meine Eltern in Reifenwerd besuchen. Sie erwiderte: »Herzlich gern. Warum sollte ich deine Eltern scheuen?« Wir trafen sie aufgeräumt. Auf einem Spaziergang sagte der Vater: »Mit Vergnügen erinnere ich mich an die Zeit, als Sie, Frau Thellung, bei uns die vereinte Telegraphistin waren. Und ich freue mich, daß Sie mit meinem Sohne Tobias wieder Freundschaft geschlossen haben. Das ist der schöne Ausgang einer Liebe zwischen zwei Menschenkindern, die nicht zusammenkommen konnten: sie bleiben Freunde.« Die Mutter aber sah tiefer. Sie winkte mir in die Küche hinaus, und ihre Rede war einfach: »Bub, lieber Bub! Ich habe einmal von den Ordalien oder Gottesurteilen des Mittelalters gelesen. Da mußte der Angeschuldigte über feuriges Eisen laufen; wenn ihm der Gang gelang, ohne daß er sich die Füße verbrannte, wurde er als unschuldig erkannt. Ich merke, du gehst nun auch über feuriges Eisen, und in diesen Tagen kommt es gar nicht darauf an, ob du ein kühner Ballonfahrer bist, sondern ein dir selbst getreuer Mann, wie die Welt sagt: ein Charakter!« Ihre Augen flammten in die meinen.

Ungefähr wie die Mutter mag wohl Thellung urteilen. Gegen mich artig, beobachtet er uns mißtrauisch, und für Marie hat er manchmal ein beißendes Witzwort, das mich schmerzt. Sie nimmt es schweigend hin. Selten spricht sie von ihrem Manne zu mir, dann aber mit unverhohlener Bitterkeit. »Ich gab ihm meine Hand sehr schwer, und nur gegen sein heiliges Versprechen, daß er die Umherläuferei aufgebe und treu zur Arbeit stehen wolle. Und ich Törin hoffte! Ein paar leidliche Monate, da streifte er wieder wie als Junggeselle mit der Fischrute durchs Land, und unser Geschäft, das alle Keime guten Gedeihens in sich trug, wäre verdorben, wenn ich mich nicht selber an mir ungewohnte Arbeiten gestellt hätte, oft Tag und Nacht und zitternd vor Übermüdung. Mit meinem Beispiel glaubte ich ihn zwingen zu können, daß er ernsthaft zu seiner Pflicht zurückkehre. Umsonst! Er ließ mich gewähren und ging seiner Wege. Da faßte mich das Gefühl der Freiheit, mit dem ich dir seit unserem ersten Wiedersehen begegne.«

Nach einer Pause voll tiefen Sinnens fuhr Marie fort: »Wie leicht erträgt die Frau hundert Fehler an ihrem Mann, wie schwer den einzigen, größten: daß er seine Zeit totschlägt. Wenn sich Hermann jetzt noch still und ohne Aufsehen, doch mit Eifer in das Geschäft stellte, so geböte mir mein Gewissen, ihm das hingebendste Weib zu sein. Arbeit! Arbeit! Das ist das große Heilige, dessen wir Menschen bedürfen. Und neben dir, Tobias, spüre ich diese Wahrheit mit besonderer Schärfe. Mir kommst du oft wie eine Kerze vor, die an beiden Enden brennt, mit der Angst meines Herzens blicke ich dir in das durch deine Tatkraft erschöpfte Gesicht, aber auch mit unendlicher Achtung und Liebe. Wir Frauen können wohl nicht anders, als unsere Seele den Schaffenden schenken.«

Wir schauten uns schweigend und glückselig in die Augen. Da erblaßte sie, hob unwillkürlich den Arm vor die ihren und wich ein paar Schritte zurück. »Nein, so dürfen wir uns nicht ansehen, um Gottes willen nicht, das ist die Sünde!«

 

Ein herrlicher Sonntagmorgen im Herbst! Ich hatte mich mit meiner Frau unter die hohen Platanen am Ufer des Flusses gesetzt, ein falbes Blatt um das andere rauschte hernieder in die blauen Wasser. Neben uns spielten die Kinder auf einem Kiesweg. Da kam unser Dienstmädchen gerannt: »Herr Heider, eine Depesche!« »Ist das etwas Besonderes?« scherzte ich. Das Telegramm war aber doch nicht gewöhnlichen Inhaltes. Emil Schmied telegraphierte mir: »Bönstold zurückgetreten, Sie sind gestern abend vom Verwaltungsrat der ›St. Jakober Zeitung‹ einstimmig als Feuilletonredakteur gewählt worden. Auf einer Fahrradwanderung durch meine Heimat stoße ich mit Ihnen den Frühschoppen an!«

Das Telegramm kam mir nicht ganz unerwartet, erfüllte mich aber doch mit Freude. Auch meine Frau. Sie lachte: »Was fehlt dir noch? Dir regnet ja das Glück des Lebens durchs Dach herein: Ballonfahrten, Frauenliebe, und nun diese Stellung nach der Neigung deines Herzens!«

»Ich denke auch,« entgegnete ich ihr, »daß diese Neuigkeit ein Gabelfrühstück wert ist,« ging aus dem Park in die Stadt, trat in ein vornehmes Restaurant und erfuhr dort wieder einmal, wie die Kleinlichkeit des Menschlichen in die schönsten Stunden des Lebens hineinspielt.

Als ich meine Rechnung im Betrag von etwa zwei Franken bezahlen wollte, hatte ich kein Geld bei mir, rief den Wirt und bat ihn, mir die Kleinigkeit vorzuschießen. Er sagte: »Nein, vorzustellen brauchen Sie sich nicht. Sie sind Lehrer Heider, der Ballonfahrer. Dagegen geht es mich nichts an, wie Sie meinen Angestellten Ihre Rechnung begleichen.« Ich gab nun dem geängstigten Mädchen, das vielleicht schlechte Erfahrungen mit Gästen hinter sich hatte, meine Uhr in Versatz. Sonderbar berührte mich der Gedanke: »Zum erstenmal im Leben hast du deine Uhr verpfändet.« Ich lief heim, und eine halbe Stunde später hatte ich die treue Begleiterin meiner schweren und schönen Stunden wieder. Zornig fuhr ich den Wirt an: »In Ihr Restaurant trete ich nie wieder!« Das war mein erstes Erlebnis als Redakteur: in der eigenen Stadt nicht für zwei Franken Kredit!

Der Berufswechsel gab sich leicht, und wohl die größte Freude daran hatte mein Vater. Er ließ mir ein Faß edelsten Eigengewächses vor das Haus führen und kam selber zu mir. »Jetzt darf man doch sagen, wer du bist!« Als wäre Lehrer nicht auch ein ehrenhafter Beruf! Er mochte ihn aber nie leiden. In der Stadt erregte es ziemliches Aufsehen, daß das Blatt einen Mann aus der Volksschule berief; es gibt viele Gelehrte, die denken, sie hätten ein besseres Anrecht auf den Posten gehabt als ich. Das Wort »Glückspilz« fällt, und keines tönt mir gemeiner in die Ohren. Die Presse aber begrüßt mich freundlich: »Der rechte Mann auf den rechten Posten!«, und in der Öffentlichkeit gönnt man mir's allgemein.

 

Nun bin ich unter schönen kollegialen Verhältnissen am Erleben des neuen Amtes, und ich stehe ihm leichter vor, als ich mir eingebildet hatte. Auch habe ich mich mit meiner Familie in eine von jedem Lärm entfernte, altpatrizische Wohnung am Berg niedergelassen. Es geht mir also gut.

In tiefster Stille bedrängt mich aber doch der Gedanke an Marie. Wir sehen uns dann und wann. Ich schwöre zu Gott, daß es keine rechtschaffenere Frau gibt und nie auf Erden gegeben hat als sie, und auf unseren einsamen Gängen ereignet sich zwischen uns nicht der leiseste Hauch einer sinnlichen Lockung; mir ist, ich wandle neben einer Nonne. Ich bin aber doch nur ein Mensch von Fleisch und Blut, und das siedende Blut in mir spricht: »Verachte doch die Sittengesetze der Welt! Nicht einen Herzschlag lang wird dir Marie widerstehen können.« Dieses reine Weib in den Armen! Höchste Erfüllung menschlichen Traumes, ein Berg der Seligkeit! –

Dann aber, dann? Ich kann nur Entsetzliches sehen! Nicht daß ich denke, Marie ginge freiwillig in den Tod! Davor schützen sie ihr frommes Gemüt, ihr tiefer Glaube. Ich fürchte das andere: Gewissensnot, Schwermut, Irrsinn, und erblicke sie mit zerrauften Haaren hinter Toren, vor denen uns graut.

Wenn meine Seele einsam dämmert,
Wenn sie nicht schläft, doch auch nicht wacht,
Die Stirne, drin der Tag gehämmert,
Sich kühlt im Traum der linden Nacht,
Dann tauchen aus der dunklen Ferne
Vor mir zwei schöne Augen auf,
Zwei himmlisch wundervolle Sterne.
Mein ganzes Innres ruht darauf,
Ruht auf den Augen, die voll Schweigen
Und doch in innerstem Versteh«
Aus unbegreiflich süßem Neigen
Ins Zwielicht meiner Seele spähn!

Marie! – – –

Der Gedanke an sie treibt mich oft noch in der Nacht hinauf in die Wälder über der lichterflammenden Stadt. »Gott, gib mir die Kraft, daß ich überwinde!« Zu furchtbar der Gedanke: Aus Armut und Niedrigkeit hat dich das Schicksal hinan auf sonnige Höhe geführt, – nun wirft dich die Leidenschaft in den Abgrund! Und mit Marie und mir stürzen zwei Familien; alle, die an mich glaubten, würden sich über meine Torheit entsetzen. Nein, keinen Tag könnte ich mehr leben, wenn Marie durch mich ins Verderben käme.

In einem Laubgewölbegang des nächtlichen Waldes traf ich mit einer fröhlichen Gesellschaft zusammen, die sich den Heimweg mit venezianischen Lampen erleuchtete. Sie erkannte und umringte mich: »Kommen Sie doch mit, Heider!« Und es war mir wahrhaft eine Wohltat, daß sie mich meiner Gedankeneinsamkeit entriß.

 

Die Liebesangelegenheit mit Marie hat sich geklärt. Soll ich sagen furchtbar oder wunderbar? Ich glaube, Gott ließ mich dabei einen guten Weg gehen!

Auf der Redaktion erhielt ich eine Depesche von Doktor Thellung, die mich ins Mark erschreckte: »Wir vermissen Marie. Kommen Sie sofort.« Den Arbeitsurlaub hatte ich rasch. Mir war aber, der Zug nach Hettenstein schleiche wie eine Schnecke; die Unruhe, was das Telegramm bedeute, zerriß mich. Am Bahnhof erwartete mich Thellung, barhaupt, ungekämmt, verwildert, im Gesicht Spuren vergossener Tränen. Mit rollenden Augen stieß er hervor: »Schaffen Sie mir meine Frau her! Sie sind an dem Unglück schuld. Wenn meiner Marie ein Leid geschehen ist, töte ich Sie und mich!« Nun fuhr mir selber die lähmende Angst in die Glieder, aber ich brachte doch den Halbwahnsinnigen zu einer Aussprache.

»Ja, das sind verfluchte Geschichten,« keuchte er, »und ich beichte nicht gern aus den Geheimnissen meiner Ehe, namentlich Ihnen nicht! Gesagt muß es aber werden. Wir hatten gestern nacht Ehestreit Ihretwegen. ›Du treibst mich in die Aa!‹ rief sie, stand auf und verließ das Haus. Ich nach einer Weile auch, um sie zu suchen und zur Heimkehr zu bewegen. Ich dachte, sie fahre zu Ihnen, umsonst überwachte ich aber die Züge: – nein, in die Weite kann sie nicht gegangen sein, Mantel und Hut sind da. Sie hat sich aber auch nicht in die Aa geworfen. Ich habe den Fluß den ganzen Morgen abgesucht, überall ihren Namen gerufen, ohne Antwort. Nun suchen Sie. Vielleicht gibt sie Ihnen Bescheid.«

Wir liefen nun planlos hinaus in die Wälder, Thellung fünfzig Schritte hinter mir, und folgten vor allem den Windungen der Aa, ich immer mit dem Ruf: »Marie, Marie! – Um Gottes willen, gib Antwort!« Für Unbeteiligte gewiß ein komisches Bild, wie der Nebenbuhler dem Mann die Frau suchen hilft. Ich tat es aber Stunden um Stunden, immer mit dem Gedanken: wenn sie nur noch am Leben ist! In der blauen Frühlingsdämmerung drohte mir die Stimme zu versagen, hoffnungslos wandte ich mich an Thellung: »Wir sind in der Nähe von Aagrüt. Sollten wir nicht Leute aufbieten, die uns suchen helfen?« Er schüttelte aber den Kopf. »Nur kein Aufsehen in der Gegend; ich hoffe immer noch, sie komme in der Nacht von selber heim. Es ist nicht zu fassen, daß ich meine Marie verloren hätte!«

Noch einmal meine Rufe. Da horch! Schwach, doch klar, ihr Bescheid: »Tobias, ja!« Wir gingen dem Ton, der nicht weit herkam, nach. In einem wildverwachsenen Gestrüpp von Weiden und Dornen an einer tiefen Gumpe der Aa fanden wir sie. Ein Wunder, wie sie dahinein hatte gelangen können. Sogar wir Männer hatten Mühe, das Dickicht zu durchbrechen. Thellung sagte: »Donnerwetter, da bin ich schon am Morgen vorbeigegangen, ohne sie zu finden!«

Marie saß auf einem Weidenstrunk, die Haare wirr, den Kopf vornüber gebeugt, die Hände wie eine Betende oder Träumende auf den Knien gefaltet, die Füße im Wasser. Die kleinste unvorsichtige Bewegung hätte sie in die Gumpe stürzen müssen! Als sie uns sah, begann sie leise zu weinen. Ohne ein Wort zu wechseln, führten wir sie aus dem Gestrüpp. Auf der Wiese dahinter sank sie in das sprießende Gras. »Ich bin müde,« sagte sie, und dann mit einem Lächeln, das mich wie eine Anwandlung von Irrsinn gemutete: »Wunderbares habe ich erlebt. Bei mir selber war ich entschlossen, das Schreckliche zu tun. Nur noch zu Gott beten, daß er mir in der Ewigkeit die Todsünde nicht anrechne! Da geschah das Wunder. Als wäre eine heilige Kraft über mir, fielen mir die Augen zu, und an mich heran trat Jesus, der Herr, wie er den Jüngern auf ihrem Gang nach Emmaus erschienen sein mag. Seine Fingerspitzen ruhten mir auf der Schulter, und ich hörte seine mild mahnende Stimme: ›Marie, tu's nicht, um deines Kindes willen nicht!‹ Mich verließ der Wille; nur fand ich den anderen nicht, von selber wieder heimzugehen!«

Sie schlummerte auf der Wiese ein. Mir aber war, ich müsse neben ihr ins Gras knien und Gott danken, daß sie ein frommes Weib ist. Was schlagen aus der Religion doch für heilige Quellen des Lebens!

Thellung dachte wohl das gleiche wie ich. Die Tränen der Erlösung rannen ihm über die Wangen. Plötzlich zog er aus der inneren Rockasche einen Revolver. »Sehen Sie, Heider, sechs Schüsse sind gesteckt! Gewiß hätten diese für Sie und mich genügt, wenn mir meine Marie verunglückt wäre. Jetzt mögen die Fische Revolver und Patronen fressen!« Damit warf er die Waffe in die Aa.

Er unternahm es nun, die Erschöpfte und Fröstelnde an die Straße zu führen, und ich ging nach Aagrüt hinein, um das Wägelchen des Lammwirtes zu bestellen. Wir fuhren schweigend durch den nächtlichen Wald. Der alte Kutscher mußte aber doch etwas von unserem Abenteuer gemerkt haben. Er wandte sich auf einmal nach uns um: »Ja, ja, es gibt viele Sorgen in der Welt; meine Frau liegt nun auch im dritten Jahr an der Rückendarre darnieder!«

Als Marie in ihrer Wohnung gebettet lag, wandte sich Thellung zu mir: »Was nun?«

»Ich bleibe hier,« erwiderte ich, »wenn es sein muß, die ganze Nacht; ich möchte nicht heimkehren, ohne mich mit Ihrer Frau noch ausgesprochen zu haben.«

»Soll sie schon wieder verrückt werden?« grollte er.

Ich aber bat: »Schenken Sie mir Vertrauen; eine Stunde, in der ich mit Marie ohne Zeugen sprechen kann.«

Aufgeregt lief der gewiß todmüde Mann hinaus in die Nacht; ich aber wachte am Tisch.

Gegen Morgen rührte sich Marie. Ich ergriff ihre schweißbedeckte Hand. »Bist du munter genug, um mich anzuhören?«

»Ja,« erwiderte sie.

Was ich ihr nun sagte, ist mir zu heilig, als daß ich es niederschreiben möchte. Der Kern war, sie möge als gutes Weib den Wünschen ihres Gatten entgegenkommen.

Sie hörte mich an; wie ein gehorsames Kind flüsterte sie: »Ja, ja. ja.«

»Und nun trennen wir uns,« fuhr ich fort. »Ich werde dich nicht wiedersehen, bis du mich rufst! Hältst du es aber für notwendig, so rufe mich – und ich komme.« Wir gaben uns einen leisen Kuß, und ihre Tränen benetzten meine Hand.

Ich saß wieder am Tisch und wartete auf den Morgenzug. Da kam Thellung übernächtig irgendwoher. »Nun, habt Ihr jetzt miteinander geredet?« fragte er halb zornig.

»Ja,« und ich bekannte ihm das Gespräch. »Jetzt aber auch Ihnen ein Wort!« sagte ich. »Arbeiten Sie, und Sie werden unter Gottes Sonne kein treueres und ergebeneres Weib finden als Ihre Marie. Und wenn ich sie mit Ihnen glücklich weiß, werde ich Ihren Frieden nicht mehr stören!« Er wurde zuerst wild: »Sie haben in meinem Haus überhaupt nichts dreinzusprechen!« Bald besann er sich aber eines Bessern, begleitete mich an die Bahn und sagte: »Bei Gott, ich glaube, Ihnen, verfluchter Heider, muß ich noch dankbar sein!« – –

Wunderbarer Frühlingsmorgen! Auf den dampfenden Feldern werktätiges Bauernvolk mit Vieh, Wagen, Pflügen. In wohltuender Ermüdung fuhr ich in die Stadt, hingegeben an den Gedanken: Du bist der größten Gefahr entgangen, die je über deinem Leben gestanden hat. Wenn Marie ein Leid geschehen wäre, du hättest ja selber keinen frohen Tag mehr. Im Himmel gibt es einen gnädigen Gott!

Aus dem Frühling ist es Sommer geworden, und Marie rief mich nie. Da meldete ich mich aus Teilnahme, wie es um sie stehen möge, selber bei ihr zu Besuch.

Am Bahnhof empfing mich Thellung, frisch, aufgeräumt, herzlich wie nie zuvor. »Meine Frau erwartet Sie mit Freuden!«

Was war denn in diesem Haus geschehen? Irgend was Sonntägliches lag darüber, auch über dem Gesicht Maries Friede und Verklärung. Nach dem Mittagstisch spielte die kleine Marie in unendlicher Zutraulichkeit auf meinen Knien. »Du, aber einen so schönen Bart wie mein Vater hast du doch nicht!« plauderte sie.

Am Nachmittag saß ich mit der Mutter allein in der von grünen Fensterläden gegen die Sonne abgeblendeten, fast dämmerigen Stube. Sie begann: »Ist dir an unserem Mittagessen nichts aufgefallen?«

»Es hat mir herrlich gemundet,« erwiderte ich.

»Es gab aber keinen Fisch,« lächelte sie. »Du warst doch früher nie bei uns, ohne daß wir dir Forellen vorgesetzt hätten. Gottlob, das ist vorbei. Mein Mann hat das Fischen ziemlich aufgegeben, allerdings mit kleinen Rückfällen. Er steht aber nun doch die meiste Zeit im Geschäft, und wenn ich zu ihm herantrete, so lacht er: ›Ich muß wohl arbeiten, der verfluchte Heider befiehlt's.‹ Immer hat er einen Schnacken für dich, aber heimlich mag er dich leiden. Und in diesen Wochen unseres Schweigens fragte er oft: ›Warum sieht man ihn nicht mehr?‹«

Marie senkte glückselig verträumt die Lider und saß demütig wie die Madonna. »Nun Ernsthaftes, Tobias! In jener wehen Nacht nach meiner törichten Flucht an die Aa hast du mir meine Weibespflicht dargelegt. Ich bin ihr gefolgt. Ich spüre mich Mutter eines zweiten Kindes. Oh, wenn es ein Knabe sein könnte!«

Sie verbarg mir halb ihr Gesicht, eine Pause entstand; da nahm ich ihre Hand. »Ich glaube, uns beiden hat Gott geholfen!«

»Ja,« flüsterte sie, »und ich habe mich auf den heutigen Tag gefreut, um es dir sagen zu dürfen.«

Sie stockte, ich aber fand das Wort: »Und du wolltest mich bitten, daß ich dich deiner heiligen Mutterschaft überlasse und dein Glück durch keinen Besuch mehr störe, bis das Kind da ist.«

Sie hauchte: »Ja.« Wir reichten uns stumm die Hände und ließen sie lange ineinander ruhen. Wir wußten: dieser Tag hat uns von der Leidenschaft füreinander erlöst. Zuletzt sagte sie leise: »Wenn es ein Junge ist, soll er ›Samuel‹ heißen, das bedeutet: Geschenk von Gott.«

Thellung trat zu uns und lud mich zu einem Spaziergang ein. Auf dem Weg durch Feld und Wald versetzte er: »Es ist zwar eine Affenschande, wenn ein Dritter in einer Ehe Ordnung schaffen muß, dazu der Liebhaber der Frau. Ich danke Ihnen jetzt aber doch. Wären Sie etliche Jahre früher zu uns gekommen, wieviel Bitterkeit hätten Marie und ich uns damit erspart. Ich litt unter ihrer Kälte und ging fischen, eines nährte seinen Groll an dem andern. Nun aber erfahre ich von ihr, was ich immer wußte: Im Herzensgrund ist sie ein himmelsgutes Weib. Und ich spüre die Pflicht, so wie sie es wünscht, zum Geschäft zu sehen. Aber, Heider, das geht nicht so leicht. O, wenn man dreißig Jahre gefischt hat!« seufzte er komisch auf; mir aber war es eine große Genugtuung, wie herzlich jetzt der Mann sprach, der sonst gegenüber jedermann nur halbspöttische Töne fand. An der Bahn bot er mir die Hand, mit einem warmlächelnden »Auf Wiedersehen«. »In einem Jahr,« erwiderte ich. Da sagte er: »Kommen Sie, wann Sie wollen. Sie werden uns immer ein lieber Gast sein!«

Ich fuhr nun nicht gleich in die Stadt zurück, sondern zunächst nach Reifenwerd. »Mutter, ich habe das Gottesurteil überstanden; ich bin über glühendes Eisen gelaufen und habe mir die Füße nicht verbrannt.« Unter vier Augen erzählte ich ihr meine Erlebnisse in Hettenstein. Sie stand auf, sah mir mit wundersamem Blick in die Augen und sagte: »Ich kenne eine alte Strophe des Sängers Walter von der Vogelweide, die heißt:

Wer schlägt den Löwen, wer schlägt den Riesen,
Wer überwindet jenen und diesen?
Das tut der Mann, der sich selber zwinget!

Ich danke dir, Bub! Indem du in aller Leidenschaft Marie geehrt hast, hast du auch mich, deine Mutter, geehrt, und ich bin darauf stolzer, als wenn dir irgend ein Ruhm der Welt zufiele.«

Gottfried Keller ist gestorben. Heute fand in den bescheidenen Ehren, die unser republikanisches Land für seine Unsterblichen hat, die Feuerverbrennung seiner Reste statt. Zu meinem Leid konnte ich dabei nicht Zeuge sein. Da ihm alle anderen Redakteure näher gestanden waren als ich, überwies man mir während der Nachmittagsstunden der Beerdigung die Redaktionsgeschäfte. Meine Seele aber schritt mit den anderen hinter dem Sarg, und ich erinnere mich, wie der Dichter vor einem halben Jahr seinen Todesahnungen drastischen Ausdruck gegeben hatte.

Unser Steiner war fast immer derjenige, der ihm aus der Gesellschaft das Nachtgeleite gab.

Einmal ersuchte mich der Kollege, dabei mitzutun, der Doktor gehe auf so schweren Füßen. Durch den Nebel kamen wir langsam in eine enge Gasse in der Nähe des Ziels, die im Volksmund die »Hundskehre« heißt. Da brach der alte Mann sein Schweigen: »Hundskehre! Ich weiß auch einen Hund, der sich bald kehren wird!« »Sie meinen doch nicht sich selber, Herr Doktor?« versetzte Steiner mit großer Höflichkeit. »Doch, gerade den meine ich!« erwiderte Gottfried Keller bestimmt und fest. Es war das letzte Wort, das ich von ihm gehört habe; ich begegnete ihm nachher nie mehr in unserer Runde.

Es ist nicht der Zweck dieses Tagebuches, daß ich seinen Ruhm dareintrage. Der geht ja durch die Welt. Ich empfinde es aber als ein Lebensglück, daß ich den Dichter mit den herrlichen Werken und mit den Schrullen seines Alltags von Angesicht zu Angesicht habe kennenlernen dürfen.

Es ist dafür gesorgt, daß kein Baum in den Himmel wächst, aber auch ein wundervolles Gesetz der menschlichen Natur, daß keine Liebesleidenschaft stillesteht, sondern wächst, Flamme wird und nachher doch in sich vergehen muß. Es überrascht mich selbst, wie leicht es mir nach meinem letzten Besuche fällt, Marie fern zu bleiben; die Mühelosigkeit des Verzichtes stammt aus dem Gedanken an das Kind, das sie unter dem Herzen trägt, und ein seliger Friede, Sonntagsstimmung liegt darüber. Ich darf mit Gewißheit sagen, daß die Stunden mit Marie die schönsten meines Lebens waren und die Krone seiner Erinnerungen bleiben werden. Mir ist, ich müßte dem Ewigen dafür danken, daß der furchtbare Druck meiner jungen Mannesjahre von mir genommen ist, der würgende Gedanke, ich sei von derjenigen verworfen, der die Glut meiner Jugend galt. Nein, Marie hat mich, wenn auch in schmerzhafter Entsagung, mit der abgrundtiefsten Inbrunst geliebt, deren ein Weib fähig ist, und aus dieser Liebe trage ich das Gefühl einer seelischen Werterhöhung, um die außer ihr niemand zu wissen braucht.

Ich habe nichts mehr von ihr gehört, als daß ihr der Sohn »Samuel« geboren ist, das »Gottesgeschenk«. Ein Jahr wollte ich sie nicht mehr sehen; es sind nun zwei geworden, ohne daß ich je wieder Besuch in Hettenstein gemacht hätte. Aus ihrem Schweigen schließe ich, in der Familie Thellung herrsche ein so tiefer Friede, daß ich ihn nicht stören dürfe.

Wir selber haben ihn notwendig: meine Frau und ich! Sie hat gewiß unter meinen Fahrten zu Marie ungerecht und schrecklich gelitten, ich spüre, was ich ihr schuldig bin, kann aber die Tage in Hettenstein nicht bereuen:

Life is a sea, where storms must rise,
'Tis folly talks of cloudless skies!

Sollen bloß wir Männer das Meer erfahren, auf dem die Stürme rasen? Nein, auch unsere Frauen! Was ist es Herrliches um ein junges, unerfahrenes Mädchen. Höher schätze ich aber ein schicksalserfahrenes Weib, das weiß, wie sich das Herz auch in der Ehe die Liebe von Tag zu Tag erobern muß. Emma weiß es!

Wir sind nun eine stattliche Haushaltung, und die Geburtsfeste sind einseitig gefallen: Vier Mädchen! Mir erscheint diese Tatsache wie eine Quittung des Schicksals dafür, daß ich vielleicht in meiner Jugend das Weibliche zu sehr verehrt habe. Gott straft die Leidenschaft immer mit ihrem Übermaß: Wer im Diesseits zu viel Forellen gefangen hat, muß im Jenseits immer für die Heerscharen der Engel fischen, der Geizhals zwischen seinen Geldsäcken ersticken, und der Ehrgeizige wird ein gequälter König.

Am Sonntag ging ich mit den Kindern in den Wald spazieren und trug das jüngste auf der Schulter. Da kam mir ein Herr mit drei prächtigen Jungen entgegen. Als er vorübergegangen war, hörte ich ihn zu diesen sagen: »Vier Mädchen, o der arme Vater!« Zornig über dieses Mitleid dachte ich: Warum sollen vier frische, gesunde Mädchen nicht so viel wert sein wie vier frische, gesunde Jungen? Vielleicht haben sie, die Mädchen und die Jungen, später einander notwendig. Als ich von dem Nachtdienst der Redaktion kam, trat ich an die Betten der Töchterchen und dichtete:

Liegen da die jungen Rosen.
Welch ein selig Glücksgenügen,
Weicher Traum von Sonnenlosen
In den kindlich reinen Zügen!
Auf den süßen Jugendschlummer
Lass' ich sacht den Lichtschein rinnen,
Stillverhaltner Lebenskummer
Heißt mich tief und tiefer sinnen:
Wie auch Liebessturm und Wende
Jemals euer Schicksal treiben –
Segen meiner Vaterhände,
Meine Tür soll offen bleiben!

Ich bin hoffentlich der Mann, der sein Versprechen halten kann!

 

In meiner Redaktionstätigkeit bewege ich mich leicht und angenehm. Meine Schrecken sind nur die Nachtdienste, und sie fallen mir häufiger zu als den Kollegen, die mehr am öffentlichen Leben beteiligt sind als ich. Bis um zwölf Uhr hat selbst dieser Dienst keine großen Beschwerden auf sich, oft lassen sich dabei Arbeiten für den anderen Tag vorbereiten. Um Mitternacht aber kommt die weitläufige Genfer Depesche, die »Hölle«, wie wir sie nennen. Da gilt es, am Telephon unablässig die Tagesneuigkeiten aus der weiten Welt in französischer Sprache abzuhorchen und sie während des Hörens ins Deutsche zu übertragen und niederzuschreiben. Neben dem Redakteur steht der Metteur und zieht ihm für die Setzerei Blatt für Blatt unter der Hand hervor. Ihre besondere Schärfe erhält die Nervenspannung dieser Arbeit durch den Umstand, daß wir das Geschriebene nicht mehr überprüfen, kein Orts- oder biographisches Lexikon mehr nachschlagen können, um uns der Schreibart neu auftauchender Namen zu versichern. Um ein Uhr müssen die Druckmaschinen laufen, damit die Leser das Blatt hübsch warm zum Morgenbrot erhalten.

Was Wunder, daß uns bei der raschen Nachtarbeit mancherlei Fehler unterlaufen! Dafür hat unser gewandter Chefredakteur das klassische Beispiel geliefert. »Kaiser Wilhelm wurde in Genua von sieben Kürassieren empfangen.« Im Wirbel der Nachrichtenabnahme hatte er cuirassier mit cuirassé (Panzerkreuzer) verwechselt. Wir andern aber sind seine Adepten, aufgeregt und niedergeschlagen zugleich verlassen wir den Nachtdienst mit der Sorge: Was steht am Morgen wieder für ein Unsinn im Blatt? Zum Glück werden die Mängel von den meisten Lesern nicht bemerkt; es gibt aber immer einige, die wahrhaft Jagd darauf machen und ihren Spott über uns ergießen. Am meisten jedoch lachen wir selber über unsere Mißgriffe, einer über die des andern, doch in aufrichtigem Wohlwollen.

Wir stehen weit und breit im Ruf, daß es keine einmütigere Redaktion gibt als die unserige, einmütig in einem kräftigen Stück Arbeit jeden Tag, in frohgelaunten Abenden und in einer Freundschaft, an der auch unsere Familien teilnehmen. Wir verdanken das vor allem unserem ritterlichen Doktor Walter Abegg, der immer wieder eine Plauderviertelstunde unter uns Redakteuren veranstaltet. Leider sehen wir dabei unseren prächtigen Emil Schmied nicht mehr; er ist vom Handelsteil des Blattes in die Direktion einer großen Lebensversicherungsgesellschaft eingetreten, seinen volkstümlichen Anlagen entsprechend betreibt er mit Eifer und Glück den Plan einer Volksversicherung, an der auch der Ärmste teilhaben soll.

Steiner, unser enfant terrible, übertreibt zuweilen den Spaß, und dabei wird immer der ernste Jakob Scheitlin, der keinen Scherz versteht, sein Opfer. Wenn ihn der Übermütige recht eifrig am Tagesbericht schreiben sieht, geht er mit unschuldigem Schalkgesicht zu ihm hin: »Mein Lieber! Ich kenne mich in der Rechtschreibung nicht aus. Im Augenblick weiß ich nicht mehr, wie man den Namen deines berühmten Mitbürgers von Basel, des Kunsthistorikers Jakob Burckhardt, schreibt. Nun kann mir gewiß niemand so sichere Auskunft geben wie du. Jakob schreibt man also, das weiß ich, mit einem ›ck‹, immer wenn dem ›k‹ ein Vokal vorausgeht, verdoppelt man es, so sagt wenigstens das Rechtschreibebuch von Duden. ›Burckhardt‹, da geht dem ›k‹ ein Konsonant voraus, man setzt nur ›k‹ hin, und zum Schluß genügt wohl ein hartes ›t‹.« Scheitlin starrt und brennt auf: »Du verrückter Albert, hast du je den Namen ›Bismarck‹ ohne ›ck‹ gesehen?« Steiner, immer mit Lammesmiene: »Nein, das wirklich nicht, aber jene norddeutsche Gutsbesitzersfamilie, aus der der Kanzler hervorgegangen ist, verstand wohl mehr von der Jagd als von der Orthographie, dagegen mußte die feinsinnige Künstlerfamilie Burckhardt von Basel doch immer gewußt haben, wie man ihren Namen richtig schreibt!«

Scheitlin, dem die Namen Bismarck und Burckhardt Heiligtümer sind, läßt den Widerpart nicht fertigsprechen, ergreift irgend eine Sache, wirft sie ihm an den Kopf, zieht seine schwarzen Lederhandschuhe an, nimmt den Stock am Silbergriff und geht. Unter der Türe wendet er sich in würdevoller Entrüstung um: »Nein, auf einer so ungebildeten Redaktion tue ich nicht mehr mit!« Hinter ihm Lachen und die Stimme des Chefredakteurs: »Steiner, du bist doch ein Viech, unseren guten Jakob so schwer zu beleidigen!« »Ja,« erwidert ihm Steiner mit seiner demütigen Schauspielermiene, »nun muß ich mich mit meiner ungebildeten Feder hinsetzen und seinen Leitartikel fertigschreiben!«

Meine eigene Arbeit stellt mir keine zu hohen Aufgaben, unser Feuilleton hat einen Stab alter zuverlässiger Mitarbeiter. Dabei ist mir aber doch ein Mißgeschick unterlaufen. Ein Naturforscher sandte mir ein Manuskript »Hermaphroditismus bei Käfern«, und zehn Tage hätte es den Raum gefüllt. Ich schickte ihm nun die mit mehr Latein und Griechischem als mit Deutschem durchspickte Arbeit unter der höflichen Bemerkung zurück, sie eigne sich wohl eher für eine Fachzeitschrift als für unser Blatt. Der Verfasser empfand die Ablehnung als Beleidigung, schlug Lärm, und nun habe ich das gesamte gelehrte Lager der Stadt gegen mich. »Das wagt der ehemalige Volksschullehrer!« So muß ich bei meinen scheinbar freien Entscheidungen doch mancherlei Rücksichten nehmen. »Um Gottes willen,« heißt es da etwa, »schicken Sie der Dame die Novelle nicht zurück! Gewiß ist es eine schwache Leistung, ihr Gatte ist aber einer unserer besten politischen Korrespondenten, den wir wegen des beleidigten Schriftstellerinnenstolzes seiner Frau nicht möchten abspringen lassen.«

Schwieriger als der Redaktionsverkehr mit den Einheimischen ist derjenige mit Fremden; nicht mit unseren ausländischen Korrespondenten, unter denen ich bei ihren gelegentlichen Besuchen feine Köpfe kennengelernt habe, sondern mit dem Bildungsproletariat, dem aus irgend einem Grunde der Boden der Heimat unter den Füßen verloren gegangen ist. Solcherlei Gestalten, politische Flüchtlinge oder Märtyrer sonst einer Idee, treiben sich zahlreich in unserer Stadt herum und sind lästige Besucher auf unseren Schreibstuben. Halb bittend, halb frech wollen sie uns Beiträge aufdrängen, die in unserem Leserkreis keinen Widerhall finden würden, und gebärden sich, als brächten sie uns Schweizern erst eigentlich die großen Lichter der Kultur. So sicher aber, als man sich mit ihnen einläßt, gerät man in Widerwärtigkeiten.

»Herr Redakteur, ich habe brennenden Hunger. Bitte, lesen Sie doch gleich dieses Feuilleton und geben Sie mir darauf einen Vorschuß.« Ein paar Stichproben in die große Arbeit: sie gefällt mir, ich lasse dem Unbekannten einen Vorschuß von hundert Franken ausrichten, und er geht unter vielen Bücklingen. Das Feuilleton soll erscheinen. Da keucht der alte Administrator in meine Schreibstube herein, einen Folianten unter dem Arm. »Da sehen Sie, wir haben den Artikel, den Sie jetzt bringen wollen, schon vor ein paar Jahren im Blatt stehen gehabt. Wir eine Zeitung, die sich selber nachdruckt! Da hätte die Stadt ein paar Tage zu lachen. Natürlich hat der Lump die Abhandlung aus irgend einer Bibliothek aus dem Blatt abgeschrieben!«

Einen Ehrlichen habe ich aber doch in dieser unerfreulichen Gesellschaft gefunden. Er bat mich um eine Beisteuer zu seiner Heimreise nach Samara. Ich gab das Geld verloren. Wer aber sandte mir bald aus seiner fernen Heimat die fünfzig Franken zurück? Der mir kaum bekannte Jude!

Jedenfalls ist unsere Redaktion kurzweilig, eine Hochschule des Lebens.

Wie als Lehrer spüre ich auch als Redakteur meine Lücken. Jener litt unter der Gesangslosigkeit, dieser an der Unfähigkeit, ein dichterisches Buch zu rezensieren. Sie liegt nicht, wie man mir nachsagt, an meiner Kritiklosigkeit, sondern ich trage im Gedanken meines eigenen müheseligen Kampfes um ein bißchen Schriftstellerei in mir eine heilige Scheu vor irgend einem Angriff auf ein Werk. Ich weiß, wie viel dunkle Stunden und helle Hoffnungen hinter jedem, auch dem unvollkommenen stehen, und bin stets verwundert über meinen Freund Steiner, der unsere Schauspieler und Schauspielerinnen vom Stadttheater, auch Maler und Bildhauer mit Witz und Humor so zusammenreißt, daß uns andere von der Redaktion das Grauen ergreift. Zur Entschuldigung oder doch zur Erklärung: Immer war er ein Kind des Glücks, ein intuitives Genie, ihm blieb die Schärfe eines künstlerischen Lebenskampfes unbekannt.

Meine Abneigung gegen das Besprechen von Büchern versteht niemand so gut wie unser Doktor Abegg. »Sehr einfach!« spricht er, »du gibst die einlaufenden Bücher an unsere Mitarbeiter weiter und schreibst dafür Eigenes! Es ist doch das erste Ehrenzeichen einer Zeitung, wenn ihre Leiter selber etwas gestalten können!«

In der Tat, wie viel habe ich in ein paar Jahren zusammengeschrieben: aus den Räten, aus den Jahresversammlungen wissenschaftlicher Vereine, von Schützen- und anderen Festen, Sängerfahrten, großen Kunstauktionen, über Brand von Dörfern, Überschwemmungen, Unglücksfälle in den Bergen, Wanderungen in anderen Ländern und Meerfahrten. Es ist ein wahres Glück, daß es dem Tagesschriftsteller geht wie dem Schmetterling: er gaukelt über die Wiesen des Lebens, erfreut vielleicht die Augen etlicher, aber wenn der Falter in einer kühlen Nacht kraftlos in das Gras sinkt, wer vermißt ihn am Morgen? –

Am meisten freut es mich, wenn ich Ballon fahren kann, der gespenstische Schatten der großen Kugel in Sonne oder Mond auf der flimmernden Erde wandelt und die Landschaften wie Phantasmagorien unter uns vorüberziehen.

Der Journalismus hat gewiß größere und eigenartigere Reize als ein anderer Beruf. Er vermittelt uns die reichen Anschauungsbilder der Welt, ist eine Quelle der Menschenkenntnis, auch der eigenen Charakterbildung.

 

Ein überraschender Redaktionsbesuch, Amerikaner: das frühere Zinklein und ihr Mann! Ich erkannte sie nicht auf den ersten Blick. Das zierliche Mädchen von ehemals ist eine stattliche Frau geworden. Das Gesicht, um das die fliegenden Blondhaare spielen, ist aber immer noch hübsch. Sie stellte mir ihren Gatten vor, eine protzig gesunde, breitbrüstige, eichenhafte Gestalt. Damit ich ihn ja gut sehe, trat er dicht vor mich hin, gestikulierte mit mächtigen Pratzen und mit einer Stimme, als hätte er einen Erdapfel im Munde hin und her zu werfen: »Ja, ich bin Hansheinrich Stüßi aus dem Glarnerland, Farmer in der Gegend von Neuglarus. Wir kommen von Aagrüt, das mir ziemlich gefallen hat, und fahren jetzt in meine Heimat in den Bergen. Die Leute dort hinten, die glauben, man lebe nur auf ihren Alpen, sollen sich überzeugen, daß es auch in Amerika ein Auskommen gibt. Ist meine Frau etwa mager? Und sieben Kinder, darunter zweimal Zwillinge, haben wir, wünschen aber nicht, daß wir dabei stehenbleiben. Das ist nicht wie im alten Europa, in dessen Mietskasernen die Leute schnell kindersatt sind. Auf einer Farm hat man gern viel Nachwuchs und Hände. Uns geht es also vorzüglich, und das ist's, was Ihnen meine Frau hat melden wollen.« Damit trollte sich das urwüchsige Paar, das ehemalige Zinklein mit dankbarem Blick.

 

Nach zwei Jahren sah ich Marie wieder einmal. Unversehens! Ich machte als Berichterstatter die Probefahrt eines jener Kraftwagen mit, die jetzt im Aufkommen sind. Erschrecktes Vieh und staunende Menschen überall. »Unerhört!« riefen die Leute. »Ein Wagen, der keine Lokomotive ist und doch ohne Zugtiere fährt! Was wird noch aus unserer Welt?« – Mittagsmahl in Konstanz, dann glitten wir an den Ufern des Oberrheins hinunter. Eine kleine Abbiegung, da sagte ich dem Führer: »Halt! Wir sind ja in Hettenstein. Ich muß hier aussteigen!«

In der Rechtsstube Doktor Thellungs erhob sich Marie von irgend einer schriftlichen Arbeit und sagte leuchtenden Auges: »Tobias, du endlich wieder einmal! Sieh, uns geht es gut!« In der Tat. An einem Pult hatte ihr Mann eine Menge Akten vor sich, die hübsch herangewachsene junge Marie war über einer Postbesorgung tätig, und neben der Familie ein Schreiber und ein Stift. Wann hatte Rechtsanwalt Thellung früher Hilfe gebraucht?

In der Wohnstube begab sich nun ein stilles Fest. Marie brachte auf ihrem Arm den Jungen herein: »Samuel, mein Sonnenstrahl, mein Glück!« In der Tat habe ich nie eine reinere Mutterfreude gesehen als die in ihrem Antlitz und nie einen schöneren Knaben. Mit den strahlend blauen Augen glich er seinem Vater. Er streckte seine Ärmchen zu mir herüber, rutschte vom Schoß der Mutter, kletterte auf meine Knie und stammelte: »Mann, du bist lieb!« Gibt es Übertragungen aus der Mutterseele, die schon ein kaum lallendes Kind Schicksalszusammenhänge spüren lassen?

Marie und ich verabredeten einen Spaziergang in den Wald. Thellung scherzte: »Ich käme auch gern mit, aber ihr werdet Dinge zu besprechen haben, die nicht für meine Ohren sind!«

Auf unserem einsamen Gang erzählte mir die Freundin manches und sagte: »Aus einem Seltsam und Landstörzer wie meinem Mann wird selbstverständlich nie ein Heiliger. Unser Geschäft aber, das am Zusammenbrechen war, gedeiht. Und wenn mir das Leben Unzulängliches bringt, brauche ich, um glücklich zu sein, nur an den einzigen Namen zu denken: »Samuel!«

So sprach Marie, von ihrer Mutterfreude wie von einem Heiligenschein umgeben. Und am Bahnhof: »Grüße mir deine Frau sehr lieb; ich werde nicht ruhen und rasten, bis ich auch ihr Herz gewonnen habe. Das ist der letzte Wunsch, um dessen Erfüllung ich Gott bitte!«

 

Ein Herbsterlebnis! Ich wurde zu einem Vortrag in Frankfurt eingeladen: »Land und Volk im Wallis«. Auf dem Ausflug ließ ich mich von einem Töchterlein begleiten, damit es etwas Anschauungsbilder deutscher Lande gewinne, der Städte, der Heide und des Meeres. Am Tag nach dem Vortrag fuhren wir den Rhein hinunter. Goldener Sonnenschein lag über dem Strom, an seinen Halden jauchzte die Weinlese, und als wir am Felsen der Lorelei vorüberglitten, sang das gesamte Schiff: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten?« Mich bekümmerte aber die Lorelei und der störende danebenstehende Fabrikkamin recht wenig! Im Nachklang des Vortragsabends sah ich nur ein Wallisertal, niedrige, sonnverbrannte Dörfer, einen weiß dahinsausenden Bach, darüber wildzerrissene Felswände und daran in schwindelnder Höhe die Holzkännel einer Wasserfuhre. Über die Felsen hinab schwebte an einem Seil der kühne Knecht, der um seiner Liebe willen ein Werk auf Leben und Sterben wagte. Bild um Bild entstand vor mir, die feierliche Prozession der Dörfer, ein in glühender Fürbitte für den Jungen in die Knie gesunkenes Tal, inmitten der Gemeinde ein todblasses Mädchen, die Geliebte.

Mir war plötzlich, ich hätte mein Leben versäumt, daß ich den Romanplan meiner Jugend so lange hatte brach liegen lassen, und das Mannigfaltige, was ich als Journalist gestaltet hatte, erschien mir in seiner vollen Nichtigkeit. Das Schiff schwenkte gegen Koblenz. Da sagte ich zu meinem Mädchen: »Opfern wir Heide und Meer, unsere schönen Rundreisekarten! Ich muß sofort heimfahren und eine Erzählung aus den Schweizerbergen schreiben.« Das Kind zerdrückte im stillen ein paar Tränen, verstand mich aber: es wußte genug um meine oft raschen Entschlüsse.

Statt nach dem Norden trug uns nun der brausende Zug durch das Elsaß dem Süden zu, heim. Und sonderbar: die innere Aufgabe, die ich lange Jahre vergessen hatte, litt keine Stunde des Aufschubes mehr!

Ich ließ die Feder Tag und Nacht laufen, meistens in der Nacht. Und wenn es dann so todstille war, überraschte mich das leise Weinen meiner Frau, die sorgenvoll vor meiner Tür stand. »Lieber Mann, du richtest dich ja zugrunde!« Ich aber tröstete sie: »Störe mich nicht! Ich werde nicht krank, ich sterbe nicht, bis das Werk fertig vor mir liegt!«

Und jetzt, zu Weihnacht, liegt es vollendet vor mir, geschrieben mit erstaunlicher Leichtigkeit, wie eine Selbstverständlichkeit von der Seele geschrieben. Unbewußt muß ich doch Jahre an der Erzählung gearbeitet und gebaut haben. In einer Überhöhung der Sinne schuf sie sich, die ich wie ein Wunder empfinde, wie jenes Wunder, da Christus der Herr die Finger auf die Schulter Marie Kerns legte!

Zwischen Weihnacht und Neujahr fuhr ich zu ihr, legte den müden Kopf auf ihren Schoß, und wir verbrachten die Stunden stumm und still.

 

Dieser Bericht könnte den Titel führen: Der Roman eines Romanes! Woher die erste Anregung kam. Wie er in dunkeln Nächten Gestalt gewann. Wie er in den Erstdruck ging. Wie ihn das Urteil der Öffentlichkeit ablehnte und wie er dann einen Verleger fand. Aber es gibt ja auch Leser und Leserinnen eines Buches, die nie bedenken, daß hinter dem Band ein pochendes Menschenherz gestanden hat.

In der ersten Zeitungsnummer des neuen Jahres begann ich die Erzählung erscheinen zu lassen und dachte dabei: wenn die Dichtung auch wie jedes menschliche Werk ihre Mängel haben werde, müsse ihr doch ein freundlicher Empfang im Volke sicher sein; entsprechend ihrer Entstehung aus glühender Seele besitze sie von selber die innere Macht, die Herzen der anderen zu ergreifen.

Die Urteile ließen warten. Bald aber hatte ich tiefe Sorgen um mein Werk. Im »Tagblatt von St. Jakob« gibt es die lebhaft grünende »Eselswiese«, eine von anonymen Anzeigen durchspickte Seite des Journals. Da kann jeder, den das nötige Kleingeld nicht reut, aus dem Dunkeln hervor seinem Groll und Haß gegen irgend einen anderen Luft verschaffen, nur nicht gerade in gerichtlich anfechtbarer Form. Auf der »Eselswiese« erschienen nun unterschriftslose, heftige Angriffe gegen meine sich in Fortsetzungen aufbauende Erzählung. »Werden die Felsen der ›Weißen Bretter‹ noch grün, rot und blau angestrichen?« Immer wiederholten sich die Spöttereien, oft mit einer Satire wie scharfgeschliffene Dolche, und immer wußte der Einsender das Lachen der Öffentlichkeit auf seine Seite zu ziehen.

Ich war wehrlos, kannte aber meinen Feind. Es war einer der ausländischen Flüchtlinge, ein Mann von hohen Talenten, viel bewunderter junger Lyriker, aber abgründigen Charakters, einer von jenen, die sich selbst die Nächsten entfremden müssen. Am liebsten wäre ich zu ihm hingegangen und hätte ihn mit dem Stock gezüchtigt. Das gestattete aber meine Stellung nicht.

Nun sagt man, über Anonymes solle man mit Verachtung hinweggehen, und ich gebe die Richtigkeit dieses Grundsatzes zu. In der Angelegenheit meiner Erzählung war er falsch. Mit mir erkannte Abegg die Gefährlichkeit dieser niederträchtigen Verhöhnungen, und der hochgeachtete, einflußreiche Mann, der nie leicht in die Rechte anderer eingriff, sprach in meiner Sache beim »Tagblatt« vor. Die Pfeile des mir feindlichen Fremdlings unterblieben, ja noch mehr: er wandte sich aus mir unbekannten Gründen von unserer Stadt und soll irgendwo in Deutschland oder Frankreich Selbstmord begangen haben.

Für mich zu spät! In der Öffentlichkeit wirken seine Angriffe nach, ein merkwürdiges Beispiel, wie sich Tauende in ihren Urteilen durch einen Anonymus bestimmen lassen, und auf meinem Roman lag der Fluch der Lächerlichkeit und der Abneigung. In meiner mir so vertrauten Stadt erschien ich mir wie die Eule unter den Vögeln: kaum getraute ich mich mehr über die Straßen, aus Furcht vor der Frage: »Wie sind Sie denn nur dazu gekommen, eine so unlesbare Geschichte in unser Leibblatt zu stellen!«

Trat ich am Morgen in meine Redaktionsstube, so reckten sich durch drei Türen Köpfe und beobachteten, was auf meinem Gesicht vorginge, wenn ich auf meinem Pult die Stöße der wegen meines Romans zurückgewiesenen Blätter erblickte. Im Anfang waren es allerdings nur einzelne, nach einer Weile aber schon ein Dutzend, später fünfzig, und als der Roman auf halbe Höhe gediehen war, hundert, fast alle mit einem Rot- oder Blaustiftzeichen. »Das Zeug ist ja nicht zu lesen. Fort mit Ihrem unfähigen Feuilletonredakteur!«

In diesen aufregenden Tagen begegnete ich in der Stadt zufällig dem mir sonst wohlgesinnten Buchhändler und Verleger Doktor Weber aus Klosterau, der freundlich meine »Ferien an der Adria« herausgegeben hatte. Wir speisten miteinander, und in unserer Unterhaltung spielte ich forschend darauf an, ob er auch den Roman in seinen Verlag aufzunehmen die Güte hätte. Sein Gesicht verfinsterte sich. »Um Gottes willen nicht! Ich kam zwar nicht dazu, die Feuilletons zu lesen. Landaus, landein aber herrscht doch nur der einzige Eindruck, daß die Erzählung für Sie einen vollen Schiffbruch bedeutet. Meinerseits Hand davon, ich habe schon Bücher genug, die nicht gehen!«

Überall ließ man mich merken, daß der Roman gründlich mißfiel, und in meiner Bedrängnis hatte ich nur zwei Freunde, die Redakteure Abegg und Scheitlin. Jener tröstete mich: »Eine unerhörte Hetze allerdings; meine Frau aber, deren Urteil mir wertvoll ist, und ich lesen deine Erzählung mit wahrer Freude. Wenn der Verfasser nicht mit vielen seiner Leser Tür an Tür lebte, überall fände das Werk Beifall.« Und der steife Jakob Scheitlin: »In der Gesellschaft geht es freilich so arg über Ihre Erzählung her, daß ich meines Eindruckes davon selber nicht mehr sicher bin und mich fragen muß: Bin ich töricht oder die vielen Schimpfer? Nun habe ich die dreißig Nummern, die erschienen sind, an meinen Freund Doktor Otto Römer in Deutschland geschickt, mit dem ich in Schleswig-Holstein zehn Jahre eine Tageszeitung redigierte, und ihn um seine Meinung darüber gebeten. Sein unbestechlicher Geschmack ist für mich maßgebend, und an sein Urteil über Ihr Werk halte ich mich!«

Erst nach etlichen Tagen erhielt er von seinem Freunde Bescheid. Unterdessen war die Verlegenheit und Aufregung über die vielen zurückgewiesenen Nummern auf das Höchste gestiegen. In meiner Schreibstube erhielt ich Besuche von Mitgliedern des Verwaltungsrates der Zeitung, die sich sonst selten bei mir sehen ließen. Der hochgebildete Schulpräsident von St. Jakob schnurrte: »Ja, finden Sie denn Ihre törichte Geschichte für unser Blatt gut genug?« Und ein Großindustrieller: »Ich kenne Ihren Vater als einen der vorzüglichsten Maschinenbauer der Schweiz. Ihnen als Schriftsteller kann ich nicht das gleich ehrenvolle Berufszeugnis erteilen.« Am stärksten trafen mich die Vorwürfe des Besitzers eines ersten Verlagshauses in Zürich: »Mein Herr! Es war für uns gewiß kein kleiner Schritt, als wir Sie aus der Volksschule heraus in die Redaktion beriefen. Der Verwaltungsrat hat aber die etlichen Jahre Ihrer Tätigkeit am Blatt mit Freude beobachtet und Ihnen wie uns selber die Genugtuung darüber bezeugt. Nun kommen Sie uns mit diesem faulen Roman! Das ist ja geistiger Selbstmord. Wie sollen wir Sie da noch länger am Blatt halten können?«

Ich sah meine Stellung an der Zeitung, in der ich mich wohl fühlte und die mir lieb war, erschüttert. Nun erschien bei mir noch der Präsident des Verwaltungsrates, der Oberst, der mir früher immer freundlich begegnet war, und sprach im Ton des Kommandanten: »Was, ein Dutzend Nummern soll die Geschichte noch füllen? Unmöglich! Das Unglück muß schnellstens aus der Welt geschafft werden. Drei Nummern räume ich Ihnen noch ein, damit Sie in einer kurzen Zusammenfassung den Schluß erzählen.« Und ging mit zornigem Blick.

Gleich nachher trat Doktor Abegg zu mir. »Was hat der Oberst gesprochen? Nein, nein, solange ich ein Wort am Blatt zu sagen habe, wird an diesem Roman kein Wort gekürzt. Dafür steht mir das Ansehen der Zeitung und dein Ruf als Journalist, der ihr treu gedient hat, zu hoch.« So wurde um mein Werk gestritten.

In ebensolcher fast dramatischer Bewegung klärte sich aber auch der Himmel über dem Schicksal des Werkes und mir. In einem freundlichen Brief an Scheitlin schrieb Doktor Römer, der Roman habe einen so bedeutenden Eindruck auf ihn gemacht, daß er die Blätter gleich an einen Jugendfreund, den Inhaber einer der angesehensten deutschen Verlagsbuchhandlungen, weitergegeben habe, und aus dessen Lob wisse er, daß der berühmte Verlag die Erzählung zu erwerben gedenke, wenn einmal ihr Schluß vorliege und ebenso befriedige wie die Anfangs- und Mittelstücke. Das Schreiben lief durch die aufatmende Redaktion. »Das wäre deine Ehrenrettung!« sagte man mir von allen Seiten.

Nur ein paar Tage später überreichte mir das Empfangsfräulein des Blattes eine Visitkarte, die mich mächtig überraschte: der große Verleger war's, der mich besuchen wollte, und unter seinem stolzen Namen stand in zierlicher Künstlerschrift: »auf der Durchfahrt nach Pallanza«. Schon erschien der Gewaltige unter meiner Tür: Bismarckgestalt, einen Kopf höher als andere Sterbliche, straff vom Scheitel bis zur Sohle, strahlende, blaue Augen, bezauberndes Lächeln und die verbindlichsten Formen eines Weltmannes.

»Ich konnte doch nicht an St. Jakob vorbeifahren,« begann er, »ohne den Urheber einer so schönen Dichtung wie der Ihrigen zu begrüßen. Zu diesem Zweck habe ich in der Stadt übernachtet. Nun aber kein Wort weiter als die Bitte: Darf ich den Schluß Ihres Romans lesen? Haben Sie für mich ein Zimmer, in dem ich es ungestört tun kann?«

Ich holte das Manuskript aus der Setzerei herunter, führte den Verleger in ein Nebengemach und erwartete mit Herzklopfen seinen Wiedereintritt bei mir. Da kam er, die Blitzaugen und das Antlitz voll Sonne, und herzlich schüttelte er mir beide Hände: »Nun erzählen Sie mir aus Ihrem Leben, wie Sie Schriftsteller geworden und zu der Geschichte von den Wasserfuhren gekommen sind.«

Ein Stündchen plauderten wir, dann sagte er: »Wie dankbar muß ich meinem lieben Otto Römer sein, daß er mich auf Ihre Spur geführt hat! Also ich telegraphiere heute noch an meine Firma: man soll Ihr Werk sogleich in Satz geben; kurz nachdem der Abdruck in der Zeitung vollendet ist, lassen wir das Buch in zwei Auflagen erscheinen. Die zwei Tausende sind, wie ich bestimmt hoffe, nur der Anfang für viele, viele. Noch etwas! Sie müssen sich von morgen an zwei Monate Ferien machen. Ich weiß, unter welchen Überanstrengungen ein Romanwerk wie das Ihre entsteht. Und seine Veröffentlichung war für Sie ein Leidensgang. Noch gestern abend ließ ich es mir in der Stadt erzählen. Ihre betrüblichen Erlebnisse sind mir aber nicht unbegreiflich. Was in zerstückelten Fortsetzungen kaum zu genießen ist, wird im Buch ganz anders zur Wirkung kommen. Bestimmt also, von morgen an haben Sie auf mich hin Ferien!«

»Unmöglich, Herr Kommerzienrat!« erwiderte ich. »Wie dürfte ich das Blatt im Stiche lassen?« Da lachte er hell: »Glauben Sie wirklich, ich hätte in der Welt nicht schon Größeres zustande gebracht als ein paar freie Wochen für Sie? Führen Sie mich jetzt, bitte, zu Ihrem Herrn Chefredakteur und nachher auch zu Herrn Jakob Scheitlin, dem Freund meines Otto Römer, damit ich ihm für sein Eingreifen in Ihre Romanangelegenheit danken und ihm erzählen kann, wie wir miteinander ein Übereinkommen getroffen haben. Ich hoffe, daß es auch Ihre Zeitung erfreuen wird.«

Walter Abegg setzte in das Blatt ein paar liebenswürdige Worte über das Erscheinen des berühmten Verlegers auf unserer Redaktion und darüber, daß er meinen Roman für die Buchausgabe erworben habe. Nachher begleiteten wir den Gefeierten zum Mittagstisch, und am Abend sammelte sich eine stattliche Gesellschaft aus den Kreisen unserer Zeitung in der Oberstube eines alten St. Jakober Zunfthauses, um mit uns teilzuhaben an der Begebenheit des Tages. Reden stiegen, und voll sprühender Laune erhob sich auch der Kommerzienrat: »Verehrte Schweizer Herren! Uns verbindet Geben und Nehmen. Ihre Dichter sind die Deutschlands, die unserigen die Ihren! Das ist ein unüberwindliches Gesetz der gemeinsamen Sprache. Ich darf nun wohl mit Ihnen das Glas erheben, daß dem Schweizerbuch, zu dessen Ehren wir hier vereinigt sind, eine freudige Heimkehr aus Deutschland in seine engere Heimat beschieden sei!« Und er wandte sich zu mir: »Ihnen, seinem verehrten Schöpfer, zunächst viel Sonne in die wohlverdienten Ferien am deutschen Meer!«

Der Verleger fuhr in den Süden, ich mit der Tochter, die ich im Herbst mit meiner Heimkehr enttäuscht hatte, in den Norden. Dort erhielt ich von meiner Redaktion die Meldung, der Roman habe in der Zeitung ruhig zu Ende gehen können; deutlich lasse sich die Versöhnung der Öffentlichkeit mit dem Werke erkennen. So hatte sich durch das Eingreifen einiger mir wohlgesinnter Männer mein Schicksal aus einer großen Lebensverlegenheit ins Licht gewandt, und in der Erwartung meines ersten erzählenden Buchs erlebte ich die glücklichsten Ferien, die einem Menschen beschieden sein können.

Auf den roten Felsen von Helgoland stand ich mit meiner Tochter und schaute träumerisch hinaus nach den Segeln auf dem wogenden, unendlichen Meer. Wie seltsam geht doch das Spiel des Lebens, sein »Hosianna!« und »Kreuzige ihn!« Ist es da verwunderlich, wenn jemand Dichter wird? Nein, viel verwunderlicher, daß es nicht alle Menschen sind!

Da gab uns eine Depesche des Kommerzienrats das Zeichen zur Heimkehr. In einem stimmungsvollen Saal des großen Verlagshauses überreichte er mir in einer festlichen Gesellschaft von Herren und Damen mit feierlicher Ansprache das erste, schön gebundene Exemplar meines Romans, und mit mir freute sich wohl niemand so sehr darüber wie mein verehrter Doktor Otto Römer, der das Werk auf diesen stolzen Weg geführt hatte.

Als ich in die Schweiz zurückkam, lag es schon in den Händen meiner Mutter und denjenigen Maries. Nun machte ich in Reifenwerd und Hettenstein Besuch. Marie hielt das Werk auf ihrem Schoß. »Als wär's dein Kind,« lächelte ich. »Und es ist dein Kind! Nie hätte ich das hohe Lied einer reinen Jugendliebe dichten können ohne das Wunder, daß du mir deine Seele geschenkt hast. Keine Dichtung entsteht, sie sei denn bewußt oder unbewußt zu Ehren eines lieben Weibes geschrieben. Woher sonst die Kraft?«

»Nun aber sei still, Tobias!« flüsterte Marie. Sie senkte das Haupt träumerisch und tief, als wolle sie das Buch auf ihrem Schoß küssen. »Nein, kein Wort mehr! Wie soll ich sonst die Seligkeit dieses Augenblicks einmal vor Gott verantworten?«

 

Zehn Jahre später.

Aus kleinem Anlaß habe ich das halbvergessene Tagebuch meiner Werdezeit wieder hervorgegraben. Mich besuchte ein verlobtes Paar aus Lenz, einstige Schüler von mir. »Wir wollten doch nicht in den Stand der Ehe treten,« sagten sie, »ohne den Segen unseres lieben ehemaligen Lehrers einzuholen.« Wir plauderten von jenen Jahren, da ich in Sturm und Drang Lehrer auf ihrer Altane gewesen. Nachdem sie gegangen waren, griff ich wieder einmal zu diesem Buch und las mit innerer Erschütterung die Kapitel von Lenz.

Da machte ich in mir selbst eine seltsame Entdeckung. Mir summte das Lied eines Dichters im Kopf, dessen Name mir entfallen ist, während sich mir die Strophe in die Seele gegraben hat:

»Wärst du geblieben auf deiner Heiden,
Du wüßtest nichts von Schuld und Leiden!«

Wäre ich in allen Begrenzungen meines ursprünglichen Berufs einfacher Volksschullehrer geblieben! Wie viele Schmerzen, die unweigerlich mit der Schriftstellerei verbunden sind, hätte ich mir ersparen können. In irgend einem Winkel meines Herzens weint das Heimweh nach der bescheidenen Lehrerzeit, von der ich mich doch mit der gesamten Kraft meines Wesens habe losringen müssen. Dabei finde ich nur einen kleinen Trost in dem Gedanken, daß ich nicht eigentlich den Lebenslinien der jungen Jahre fremd geworden bin und als Schriftsteller noch den Beruf eines Erziehers erfülle. Ist das tatsächlich wahr? Ich wage kein lautes Ja. Es träumt sich in stillen Stunden so schön, wir Dichter seien diejenigen, die in ihren Büchern den Werk- und Sonntag, die Liebe und Sorge des Volkes mit dem Sonnenschein der Poesie beglänzen, die Werke seien ihm selber zur Freude der Spiegel seiner inneren menschlichen Werte und Dolmetscher des Verstehens von Land zu Land. Ist aber die Welt durch die vielen herrlichen Dichtungen, welche die Jahrhunderte vor ihr gehäuft haben, um Fingersbreite an seelischen Gütern vorwärts gekommen? Nein! Mir ist es eine volle Überzeugung: Unsere Ahnen vor manchen Jahrhunderten waren schon so rechtschaffen, so weise wie wir

Oft tut es mir um die viele gläubige Jugend leid, die zu Gott bittet: »Um unserer Seligkeit willen, laß uns Dichter werden, damit wir predigen dürfen von den höchsten Kanzeln der Welt!« Die Unerfahrenheit weiß nicht, wie viele verbitterte Schriftsteller es gibt, junge und alte. Männer und Frauen, und wie ihnen hohlwangig die Sorge über die Schulter ins Manuskript blickt.

Das gefährlichste Wort in unserem Beruf ist »der Erfolg«. Wir bedürfen seiner schon aus der Sorge um das tägliche Brot. Und selbst wenn wir reich wären, – gäbe es ein traurigeres Los als das eines Menschen, der Bücher schreiben muß, ohne daß sie einen Widerhall in der Öffentlichkeit finden? Unsere Tätigkeit schreit nach Antwort aus der Welt, wie es ja in der Forderung jeder menschlichen Arbeit liegt, daß sie ihre stille oder offene Anerkennung finde. Aber ich sehe das gemeine Tier, den Neid, mit seinen Glotzaugen hervorkriechen: »Schlagt ihn tot, den Unverschämten mit seinen vielen Auflagen!« Da fliegt etwas unendlich Feines aus der Seele hinweg, was im Grunde Vorbedingung jedes dichterischen Schaffens ist: das Vertrauen in die Gegenseitigkeitsgefühle der Menschen. Und doch gibt es in der Kunst nur ein gutes Losungswort: Können und Gönnen!

Unverbittert bin ich bis jetzt aus den Anfechtungen meines Berufes hervorgegangen. Es gibt zwar keine Stunde, in der ich vergesse, daß der Erfolg so geheimnisvoll, wie er zu uns Schriftstellern gekommen ist, uns wieder verlassen kann und daß wir umstritten bleiben, solange wir leben und wirken.

Ich habe mir aber das herzliche Lachen bewahrt, das fast als Sonderart meiner angestammten Familie gilt. Ich lache, wenn man mir das verkleinernde Wort »Volksschriftsteller« entgegenhält; selber ein Kind des Volkes, diene ich ihm gern und freue mich, wenn ich meine Bücher in den Händen der einfachsten Menschen sehe; vielleicht haben sie unsere Anregungen am nötigsten. Und ich lache über die vielen, die besser wissen als ich, wie ich meine Bücher hätte schreiben sollen, aber noch nicht zu der einfachen Erkenntnis hindurchgedrungen sind: »Jeder Vogel pfeift, wie er kann und muß,« oder »Keiner von uns vermag über den eigenen Schatten hinauszutreten.«

Ich lebe nicht in der Einbildung, mir seien Werke von Ewigkeitswert beschieden, Dichtungen, die in die Menschheitsgeschichte eingehen werden. Die Sterblichkeit meiner Bücher steht vor meinen Augen so klar wie die eigene. Wenn ich die Bände nur nicht überleben muß! Das ist das Bitterste aller Schicksale, wenn die Werke früher die Kraft verlieren als die Hand, die sie geschrieben hat. Im übrigen ist es ein erhabenes Gesetz und unsere Pflicht, daß wir die Welt räumen und Jüngeren den Platz an der Sonne gönnen.

Und soll ich zum Schluß dieser Betrachtung noch vom Heiligsten sprechen, was die Nächte eines Schriftstellers bewegt? Das stammt nicht vom Markt, nicht aus Lob oder Tadel der Welt, es ist das Ereignis unserer stillen Klause und unserer seligen Schaffensstunden, wenn ein Werk nach den Zögerungen und Hemmungen des Anfanges wie von selber zu wachsen und drängen beginnt, wenn die eilende Feder unseren Eingebungen fast nicht mehr zu folgen vermag und wir uns, von den Geheimnissen der eigenen Seele ergriffen, fragen: Woher die Kraft, die strömenden Bilder? Sind wir ein Teil dessen, der Himmel und Erde erschaffen hat? – Auch mir waren diese Stunden beschieden, und für die stummen Schöpferfreuden danke ich Gott!

 

In unserer Stadt geht ein Rätselspiel über mich, das mich selber herzlich zum Mitlachen bewegt. Die Gesellschaft soll auf die Frage antworten: »Welches sind die besten Werke Tobias Heiders?«

Das eine oder andere Buch wird genannt. Der Rätselsteller aber erwidert: »Nein, gewiß nicht seine Bücher, sondern seine vier Töchter!« Ich freue mich nämlich an den lebensfrischen Mädchen, die so klare Augen in die Welt stellen, um so reiner, als mir kaum ein Verdienst an ihrer Wohlgeratenheit zufällt. Aus Trotz gegen den Zwang und Drang, die über meine eigene Jugend gegangen sind, unterließ ich es, sie zu »erziehen«. Das Ergebnis? Ich habe dafür das Zeugnis einer geistig hochstehenden Frau weit draußen in der Welt:

»Und gingen sie durch Mitternächte,
Die Töchter Heiders tun stets das Rechte.«

Dabei sind sie mir zärtlich ergeben. »Vater, was bereitest du uns aus deinen zwei unermüdlichen Federspitzen für eine wunderbare Jugend. Alpen und Meer dürfen wir sehen und die Weite der Länder, und als Dichterkinder finden wir überall offene Tür. Da erheischt es doch die Dankbarkeit, daß wir selber tüchtig werden für das Leben!«

Nun sind sie doch ziemlich erzogen und finden mit ihrem natürlichen, warmherzigen Wesen den Beifall der Stadt. Da stecke ich also, obgleich ich einmal Lehrer war, mit meiner Pädagogik nicht dahinter, sondern das Mutterherz mit der seinen. Frau Emma geht es wie mir: In unseren nicht leichten gemeinsamen Schicksalsgängen hat auch sie seit dem jungen Ehesommer, da wir bei Erdäpfeln und Salz saßen, noch vieles lernen müssen, neben der Überlegung: »Wie erziehe ich meine Kinder?« die andere: »Wie begegnet ein kluges Weib ihrem Mann, dem die Eigenartigkeiten und Absonderlichkeiten eines Schriftstellers im Blut sitzen?« Am besten weiß ich es selbst, daß ich nie ein Heiliger war und ein Mensch mit allen Fehlern unseres unvollkommenen Geschlechtes bleibe; meine Frau aber sieht aus den Urgründen ihrer Liebe und in unendlicher Güte zu meinem Wohlergehen.

Selbst die Verehrung der Marie Thellung hat sie von mir übernommen. Sie spricht: »Ich sehe es dir an, lieber Mann, daß du dich am Schreibtisch wieder einmal überarbeitet hast. Fahre doch zu Marie; von ihr kommst du immer am aufgeräumtesten heim.«

Mit einem Lächeln auf den Stockzähnen empfängt mich Thellung. »Das ist lieb, daß Sie wieder einmal mit meiner Alten wandern wollen!« Wie mich das Wort »Alte« schmerzt! Gewiß stehen Marie und ich jetzt in der Reife der Jahre, sie ist aber stets noch eine schöne Frau, mit dem Vorzug, daß ihr seelisch belebtes Gesicht einen Strahl der Jugend bis ins höchste Alter bewahren wird. Das ist ein Segen der geistigen Kraft. Ihr Mann aber bleibt ein Sonderling: obgleich er um ihre Treue so gut weiß wie ich, hat er ihr die Bitte abgeschlagen, daß er mir das »Du« herzlicher Freundschaft schenke. Mir ist seine Weigerung keine Enttäuschung; vielleicht liegen dafür schwerere Erinnerungen zwischen uns, als daß wir bis in die Knochen gute Freunde werden könnten. Wir vertragen uns aber, und Heimat der Seele bleibt mir Marie!

Nochmals zehn Jahre später.

Ich schließe dieses Lebensbuch mit dem erschütternden Eintrag, daß meine treue Herzensfreundin Marie Kern gestorben ist, gestorben aus dem Leid über einen anderen Todesfall. Jener junge Samuel, der immer ihre besondere Freude gewesen war und Gott und den Menschen ein Wohlgefallen, zog als hoffnungsreicher Student in den Rekrutendienst unseres Schweizer Vaterlandes, kam von Fiebern zerbrochen wieder heim und erlag der Krankheit. Da fielen die Schleier unheilbarer Schwermut über die Mutter, und sie mag darin ein Jahr lang vor sich hin gedämmert haben. Nur noch einmal sah ich sie – den Schatten jener Marie, die Wonne und Leid meiner jungen Jahre gewesen war und später die Vertraute meiner dichterischen Pläne und Entwürfe.

Als sie starb, war ich nicht einmal im Lande, sondern saß weltflüchtig am Ugleisee im fernen Holstein über einem Manuskript. Ich konnte ihr die letzte Ehre nicht geben, nur ein paar Blumen aus der Heide auf ihren frischen Grabeshügel legen lassen.

Wieder in die Heimat zurückgekehrt, besuchte ich die Familie und erlebte ein überraschend schönes Bild. Wohl trugen die Angehörigen noch die Zeichen tiefer Trauer um die verstorbene Mutter, aber in den beiden Schreibstuben arbeiteten neben dem Vater und ein paar Angestellten zwei blühende Töchter und ein nachgeborener sechzehnjähriger Sohn. Über der Gruppe lag ein Frieden, eine Eintracht, eine Sauberkeit, daß ich unwillkürlich denken mußte: Sonntagsmenschen! Und unter ihnen geht der gute Geist der Dahingeschiedenen um. In diesem Sinn wagte ich eine Anspielung zu Thellung. »Ja, glaub's der Teufel,« erwiderte er, »neben einer Mutter wie Marie geraten die Kinder von selber, und mit einer Frau, wie die meine war, wird sogar ein Kalfakter im Alter noch ein ziemlich brauchbarer Mensch!«

Namentlich Marie, die älteste der Töchter, die mir einst zurief: »Mann, nimm mir mein Körbchen nicht weg!«, ist eine sehr schöne junge Dame geworden, das Ebenbild der Mutter, doch mit den stahlblauen Augen des Vaters. Ich wurde nicht müde, in ihren Zügen nach denen der Seligen zu forschen, und empfand: das ist ja wahrhaft die Auferstehung! Unsere herzlichste Zuneigung begegnete sich, eine Zuneigung, die mit ihrem nachherigen Geständnis nichts zu tun hatte, sie sei heimlich mit einem jungen Gymnasiallehrer verlobt, fürchte aber die Einsprache des Vaters, der sie als seine Mitarbeiterin nicht entbehren wolle.

Beim Mittagstisch wandte sie sich an ihn: »Ich darf mir doch diesen Nachmittag zu Ehren Herrn Heiders Ferien gönnen und mit ihm wie früher die Mutter einen Lauf durch die Landschaft machen?« Thellung knurrte etwas, das ebensogut ein Nein wie ein Ja sein konnte, Jung Marie aber ging sich rüsten. Die übrige Jugend stellte sich wieder an die Arbeit, ein Weilchen war ich mit ihm allein. Da spottete er: »Ich muß es sagen, Sie haben ein verfluchtes Glück in meinem Haus. Sie haben mir die Alte außer Rand und Band gebracht; kaum ist sie tot und auf dem Kirchhof, verdrehen Sie der Jungen den Kopf. Wann nehmen diese Geschichten endlich ein Ende?«

In der Tat bewegte auch mich der Gedanke, was für ein seltsames Schicksal ich erleben durfte: eine Frauenfreundschaft durch drei Geschlechtsfolgen von der Großmutter über die Mutter zum Kind. Ob die Ratsschreiberin im Jenseits darum weiß?

Jung Marie und ich besuchten den frisch aufgeworfenen Grabhügel ihrer Mutter. Dann gab sich unser Spaziergang durch den Wald. »Wie froh bin ich,« begann sie, »daß Sie zu uns gekommen sind. Sonst hätte ich Sie aufsuchen müssen, um Ihnen die letzten Grüße der Seligen zu bestellen.« Wir kamen zur Schön-Eich und setzten uns auf die Bank. Da neigte Jung Marie ihren frischen Mund auf den meinen: »Ein herzlicher Kuß – das ist der letzte Gruß meiner Mutter!«

Nach einigem Besinnen fuhr sie fort: »O, wie furchtbar haben wir Kinder mit ihr gelitten! Gegen ihre unüberwindliche Schwermut nach dem Tod Samuels wußten wir uns oft nicht zu raten und zu helfen. Da wies uns die Verzweiflung den Weg. Wir knieten vor ihr nieder: ›Du, Mutterchen, du warst doch Tobias Heiders Freundin, erzähle uns von ihm!‹ Und immer fiel bei Ihrem Namen ein Glücksstrahl der Verklärung in das abgehärmte Gesicht. Mit erdenfremdem Lächeln plauderte sie von Ihnen: ›Ja, Tobias Heider! Das war ein wunderbares Erleben! Als junges, stolzes Mädchen nahm ich ihn zwar zu klein, er aber verzieh mir, und als er ein Mann geworden war, kam er wieder zu mir, auf unseren Spaziergängen durfte ich in die Quellen seiner Seele blicken und genoß dabei ein Glück, höher, als es die kühnsten Mädchenträume hätten ahnen können. Keine Frau der Welt hat so Schönes erlebt wie ich mit Tobias. Wenn ich an ihn denke, habe ich vor Gott kein Recht, schwermütig zu sein. Kinder, wenn ihr jetzt zur Ruhe geht, schließt Tobias in euer Nachtgebet ein, und wenn ich gestorben bin, sagt ihm, eine Tote halte über ihm den Schild!‹« So erzählte Jung Marie.

Am Abend, ehe ich in die Stadt heimkehrte, plauderten Thellung und ich noch eine Weile unter vier Augen in seiner Stube und ließen die Gläser aneinanderklingen. Da lachte er: »Heider, es wäre doch verdammt schade, wenn ich Sie damals an der Aa erschossen hätte. Das habe ich schon oft gedacht. Im Grunde haben wir uns doch immer leiden mögen!«

 

Merkwürdigerweise blieben diese Worte die letzten, die ich von Doktor Thellung hörte. Unerwartet rasch starb auch er und liegt in der gleichen Gräberreihe des Friedhofes von Hettenstein beerdigt, in der Marie eingesenkt worden ist. Hat vielleicht doch das Heimweh nach seiner »Alten« den unverbesserlichen Spötter so rasch in die Grube gerissen?

Die Freundschaft mit den Seinen aber blieb. An der Hochzeit Jung Maries nahm ich teil. Den anderen Tag verlebte ich in der mir durch den Tod der Eltern vereinsamten Heimat Reifenwerd und wanderte über die Hügelzüge, über die ich als Knabe gelaufen bin. Unter den stillen Tannen und Buchen der sonnigen Höhen strömten viele Gedanken auf mich ein, besonders tief gedachte ich noch einmal Maries.

Wären wir glücklicher geworden, wenn wir uns in einer Ehe gefunden hätten? Nein, erwiderte ich mir um herzhafter Kraft. Die Ehe verwöhnt die Menschen und vergewöhnlicht sie voreinander, selbst die geistig hochstehenden. Über dem Verzicht auf das Letzte, Höchste aber, was uns als Glück erscheint, schwebt eine geheimnisvolle Krone. Ich denke dabei an das französische Wort: »C'est moi qui t'a aimé, c'est toi qui m'a rendu poète.« Marie hätte es sprechen dürfen:

»Du liebtest mich; ich aber lieh
Die Gabe dir der Poesie!«

Und mein eigenes Weib, die treue, aufopfernde Lebensgefährtin? Ihr überweise ich als Dank dieses Buch meiner Schicksale, in das vorher keine Augen als die meinen geblickt haben. Sie, die so vieles an meiner Seite zu überwinden gelernt hat, wird den Namen »Marie« schmerzlos lesen. Ich schließe es daraus, daß es ihr immer ein Sonntag innigster Mutterfreude ist, wenn uns Frau Jung Marie besucht. Wir unterscheiden zwischen ihr und den eigenen Töchtern nicht, uns ist es immer eine Freude, wenn die Jugend zu uns tritt!

Wie müssen wir ihrer froh sein! Obgleich wir noch nicht eigentlich alte Leute sind, schleicht und schielt das Alter doch schon in unser Dasein. Das spüre ich am tiefsten über diesem Buch. Fast alle die vielen Menschen, von denen es spricht, sind schon in jenes Land gegangen, das wir nicht kennen, von den wesentlichen Gestalten leben nur noch wir beide, und in stiller Nachtstunde überfällt mich oft das Dichterwort: »Die Toten sind die größern Heere!« Gottlob darf ich dem Gedanken an Alter und Sterben in innerer Ruhe begegnen. Als heiliges Erbteil meiner Eltern wird mir die Arbeitsfreude bleiben, solange es Tag ist, und nie werde ich zu jenen Greisen gehören, die in sich selber hineinweinen: »Nun stehen wir am Rand des Grabes und haben nichts erlebt!«

Nein, lieber Gott, ich danke dir für den Weg, den du mich in Schmerzen und Wonnen hast gehen lassen. Wohl weiß ich: mit meinen Werken bin ich vor dir ja nur ein armer Knecht. Aber ich halte mich an die Offenbarung deines Sohnes Jesus Christ, daß denen, die viel geliebt haben, viel vergeben wird.


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