Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Oberförsterei, die nur durch einen Baumgarten von dem Hause des Medizinalrats getrennt lag, war eines der stattlichsten Gebäude des Platzes. Die Herzöge von Breitenfels hatten stets der Jagdpassion in hohem Maße gehuldigt. 61 Ehemals, als Breitenfels noch ein selbständiges Land bildete, hatte in diesem Gebäude der Oberhofmeister gewohnt. Nun, nachdem schon seit hundert Jahren die beiden Herzogtümer verschmolzen waren, bestand diese hohe Charge nicht mehr in Breitenfels und der Oberförster bewohnte das Gebäude. Die alten Mauern des zweistöckigen Giebelhauses bargen herrschaftliche Räume mit stuckverzierten hohen Plafonds, parkettierten Fußböden und breiten Flügeltüren. Im Flur hingen alte lebensgroße Ölbilder fürstlicher Jäger und unzählige Geweihe, und die schöne breite Treppe schmückte ein kunstvolles schmiedeeisernes Gitter.
An diesem Nachmittag war zu Ehren des erwarteten Besuches über die roten, frischgescheuerten Fliesen des Hausflurs verschwenderisch Sand gestreut, und ein durchdringender Geruch von Räucherpulver quoll den Eintretenden entgegen. Änne, die mit der Mutter das Haus ihres Verlobten betrat, fuhr fast zurück vor dieser süßlichen schweren Luft, die sich betäubend um ihren schmerzenden Kopf legte.
Aus der Wohnstube rechts kam der Oberförster ihnen entgegen, hinter ihm drängten die Kinder nach. Der große Mann war sichtlich bewegt und streichelte leise die Hand des jungen Mädchens, die er behutsam in seinen Arm genommen hatte. Sie zu küssen wagte er nicht in Gegenwart so vieler. »Kommen Sie herein, Mamachen, legen Sie im Zimmer ab – tritt ein, Änne«, bat er einfach.
Fräulein Stübken, die jetzt im schwarzen Kleid und zierlichen Schürzchen auf der Schwelle erschien, zeigte sich sehr dienstbeflissen bei Abnahme der Sachen. Es war schon ein wenig dämmerig in dem großen Gemach, in das der einfache Hausrat gar nicht zu passen schien, aber der Feuerschein des Ofens spielte traulich auf dem altersbraunen Fußboden, der Kaffeetisch war mit blendendweißem Tuch bedeckt und aus der großen weißen Porzellankanne quoll ein würziger Duft.
»So, Frau Schwiegermama, nun wollen wir zuerst gemütlich Kaffee trinken. – Fräulein Stübken, wo haben Sie Ihre Waffeln? – Kommt, Kinder – wer von euch will auf der andern Seite der neuen Mama sitzen?«
Es meldete sich keines, und so zog er die älteste heran. »Hier, Änne, ich hoffe, sie wird dir bald eine kleine Stütze werden. Sei artig, Agnes, und präsentiere Großmama den Kuchen!«
Man saß dann und genoß den Kaffee. Fräulein Stübken machte die Wirtin und nötigte überflüssig viel. Ganz besonders aufmerksam war sie Änne gegenüber, was diese nicht zu 62 bemerken schien. Änne hatte durch die Kinder erfahren, wie die Hausdame ihres Bräutigams über sie dachte. Zürnen tat sie ihr nicht, denn es war ja die Wahrheit, aber sie ignorierte sie. Wozu auch ihr gegenüber lügen? Es war ja genug, daß sie Heinz belog!
Die Stübken, eine Dame von ungefähr dreißig Jahren, etwas mehr geputzt als nötig und mit höchst moderner Haarfrisur, hatte einen verkniffenen Zug um den Mund, wie er den unglücklichen Geschöpfen, die vom Schicksal von einem Hause in das andere gejagt werden, und von denen jede Brotherrschaft fordert, daß sie sich mit »aller Liebe« ihrer Aufgabe widmen, so oft eigen ist. Änne, die seit ihrer Verlobung für die Arme, die sich nun wieder eine andere Stellung suchen mußte, inniges Mitleid gefühlt und erst seit heute mittag über die Charaktereigenschaften dieser Dame sich Gedanken gemacht hatte, faßte sie genauer ins Auge und meinte, daß sie älter und verfallener als je aussähe, und daß sie vielleicht gehofft habe, Günthers Frau zu werden.
Hätte er sie doch genommen! fuhr es ihr plötzlich durch den Sinn, und dann erschrak sie über diesen Gedanken. Was hätte sie getan, wenn Günthers Arme nicht für sie offen gewesen wären? Wie hätte sie dann beweisen können, daß Heinz ihr gleichgültig, ach, so gleichgültig war?
»Ich denke, Fräulein Stübken, Sie zeigen, solange es noch hell ist, den Damen die Wohnung und die Schränke«, sagte Günther endlich, der seine Braut zuweilen angesprochen hatte, ohne mehr als eine kurze Antwort zu erhalten.
Man erhob sich, Fräulein Stübken hing den Schlüsselkorb an den Arm und schritt voran; den Kindern wurde bedeutet, artig zu sein. Man wanderte durch mehrere Räume. Alle, höchst dürftig möbliert, machten einen mehr als unwohnlichen Eindruck. Die »gute« Stube war geradezu schauerlich – die Möbel aus Birkenholz waren mit grellgeblumtem Wollstoff überzogen, der Teppich hatte kohlkopfgroße Rosen im Muster, der Kaiser, die Kaiserin, der Herzog und die Herzogin, Bismarck und Moltke blickten als empörend schlechte Öldruckporträte von den Wänden. In einer Ecke befand sich ein aus Holz geschnitztes schiefes Rauchtischchen, in dessen Rillen und Kerben dicker Staub lag. Die Vorhänge, steif gestärkt und viel zu sehr mit Waschblau gefärbt, und vor dem Spiegel die herkömmliche Stutzuhr mit Glasglocke darüber, vollendeten die Ausstattung.
»Schrecklich!« dachte Änne. Und die Eltern und Günther hatten allen Ernstes ausgemacht, daß sie keine Aussteuer an 63 Möbeln gebrauche! Erst gestern hatte auch der Vater das gütige Geschick gepriesen, daß Änne sich so nett und warm in das behagliche Nestlein setzen könne. Zum erstenmal überfiel sie eine herzbeklemmende Angst vor dem Lose, das sie sich erwählt hatte, und drohte, sie fast zu ersticken. Wie öde, wie kalt war es hier!
»Ein bißchen ungemütlich hier, Kind«, flüsterte die Mutter, »das macht, weil nicht geheizt ist! Eine Frauenhand kann da mit ein paar Kleinigkeiten viel tun, mit ein paar Blumentöpfchen lassen sich Wunder erzielen.«
Ja freilich, Mama hatte recht, das war es: Wärme fehlte, ein bißchen Sonne und Blumen!
Fräulein Stübken forderte jetzt die Frau Medizinalrätin auf, in die Schrankkammer zu treten, sie habe ein Verzeichnis der Wäschestücke in jedes Fach gelegt.
»Und ich will dir indessen meine Stube zeigen«, sagte der Oberförster zu Änne, »Mama holt uns dann ab, wenn sie hier fertig ist.«
Einen Augenblick stockte ihr Fuß, dann ging sie mit. Sie war seit dem Abend im Walde noch nicht wieder mit ihm allein gewesen; sie hatte es vermieden. In diesem Augenblicke fand sie indessen keinen passenden Vorwand, und es war ja schließlich auch töricht, danach zu suchen. So ging sie denn neben ihm durch den großen Flur und betrat die Schwelle des Zimmers, das der Wohnstube gerade gegenüberlag. Der letzte falbe Tagesschein erhellte es nur noch notdürftig, und auch hier spielten die Flammen im Ofen. In ihrem Schein lagen mehrere Hunde auf der Diele, die, durch den Eintritt einer fremden Person beunruhigt, sich knurrend aufrichteten. Auch hier eine spartanische Einfachheit, soweit Änne sehen konnte: ein riesenhafter Schreibsekretär an der Wand nahe beim Fenster, davor ein Ohrenstuhl; ein mächtiges Sofa, über dessen Lehnen Fuchsfelle gebreitet waren; Unmassen von Tierbildern in Kupferstich an den Wänden, zwischen ihnen Geweihe; ein Gewehrschrank, ein Kleiderschrank und unter der Decke blauer Tabaksrauch.
»Kuscht euch!« befahl er den Hunden; und dann zog er seine Braut zum Sofa hinüber. »Komm, Änne, setze dich!« Er hatte etwas Unbeholfenes in seinem Benehmen, und Änne fühlte, wie seine Hand zitterte. Mechanisch folgte sie seiner Aufforderung und drückte sich in die äußerste Ecke des mit schwarzem Leder überzogenen Kanapees. Er setzte sich neben sie und nahm wieder ihre Hand, und als er fühlte, daß auch sie leise 64 zitterte, sagte er weich: »Hast du Angst vor mir, mein kleines Mädchen?«
Sie antwortete nicht.
»Mußt auch nicht«, fuhr er treuherzig fort, »ich bin dir so gut, so sehr gut. Es tut mir weh, wenn du dich fern von mir hältst. Fasse ein wenig Vertrauen zu mir, Änneken. Willst doch mein guter Engel werden – hast mich doch lieb?« Er hatte ihren Kopf an seine Brust gepreßt, seine große Hand drückte ihren Scheitel wie ein Riesengewicht.
Sie konnte nicht antworten, sie wußte weiter nichts zu tun, als es still zu dulden.
»Siehst du, Kind«, fuhr er leise fort, »es ist mir ja selbst ein Wunder, daß du ja gesagt hast. Ich bin nicht verblendet über mich. Ich bin aus kleinen Verhältnissen heraufgekommen, habe hart gearbeitet in meiner Jugend, scherwenzeln und glatte Worte machen habe ich nicht gelernt. – Schön bin ich auch nicht, und drei Kinder hängen an mir – das einzige, womit ich dich gewinnen könnte, ist ein Herz voll Liebe und Treue für dich, Kind, und daß du dies herausgefunden hast, das ist mir eben so wunderbar, wo ich es doch immer versteckt habe vor dir, denn ich meinte, du seiest zu gut für mich! – – Oder ist es Mitleid gewesen, Änne, mit mir und meinen Kindern? Sag mal ehrlich, Änne, habe den Mut – Ja? War's Mitleid? Ich nehme es dir nicht übel – ich wollte dich schon längst fragen.«
Sie schüttelte leise den Kopf.
»Nein?« forschte er, und es klang wie Jubel, und er bog sich hinunter und küßte sie. »Wenn du jetzt ja gesagt hättest, Änne, wenn du –« er war aufgesprungen und ging im Zimmer umher, dann setzte er sich wieder neben sie und hob sie auf seine Knie, als sei sie ein Kind. »Weißt du, was ich geworden wär', wenn du ja gesagt hättest? – Nein, Änne, ich lasse dich nicht fort, bleib ruhig – weißt du es? – Ein einsamer Mann wäre ich wieder geworden, denn ich hätte dich freigegeben in der nämlichen Minute! Komm, Mädel, du sollst es wissen, warum! Nicht um meinetwillen – dein Mitleid wäre für mich immer noch ein großes Glück – um deinetwillen, Änne, denn – – und nun sage ich dir etwas, das außer dir kein Mensch weiß: vielleicht auch verstehst du es gar nicht, denn um das ganze Elend zu begreifen, muß man die Erfahrung hinter sich haben.«
Sie war aufgesprungen, sie wollte ausrufen: »Ich will dein Geheimnis nicht, denn ich liebe dich ja nicht!« aber er zog sie wieder auf sein Knie, und dann sagte er langsam wie mit 65 gebrochener Stimme: »Ich habe meine erste Frau nicht geliebt! – Änne, weißt du, was das heißt? Nein, das weißt du nicht. – Gott mag's jedem ersparen, denn wenn's eine Hölle gibt auf Erden, ist es dies!«
»Eine Hölle auf Erden«, hatte er gesagt. Sie machte sich heftig los und stand auf. Er ließ sie, es war, als sei er in alten schweren Gram versunken, so still saß er da und starrte vor sich hin. Und sie war zum Fenster geflüchtet und ihre Blicke hingen an einem Licht, das schimmerte im Erkerbau des Schlosses, drei Treppen hoch. – Ihr war zumute, als müßte sie ersticken vor Angst. Und hinter ihr redete jetzt der Mann aus dem Dunkel, als spräche er mit sich selber: »Und wenn man die so ansieht, mit der man zusammengeschmiedet ist, mit Ketten, die tausendmal drückender sind als eiserne, wenn man bei allem, was sie tut, denken muß, wie ist das nun wieder dumm und ungeschickt! Wenn man an dem ganzen unseligen Geschöpf nur Tadelnswertes findet. Wenn es gar nichts recht machen kann! Wenn einem schon die Fingerspitzen kribbeln, tritt sie nur ins Zimmer. Wenn man das Antlitz, von dem man wünscht, es nie gesehen zu haben, jeden Mittag bei Tische sich gegenüber erblickt. Wenn man der Elenden fluchen möchte für jeden Dienst, den sie einem leisten muß. Wenn man aufwacht des Morgens und ihr Gesicht ist das erste, das einen ansieht, vorwurfsvoll und bittend, und man fühlt statt Mitleid – Zorn in sich! Wenn man froh ist, sobald die Haustür hinter uns zuschlägt – wenn – –«
Er stand auf, kam herüber zu ihr und zog sie zärtlich an sich.
»Ach, du hast viel zu tun, Änne, du mußt alles wiedergutmachen, was schwere Jahre mir angetan haben!«
»Aber weshalb – –?« stieß sie hervor.
»Weshalb ich sie nahm, Kind? Ach, Änne, wie soll ich dir das sagen, wie kommt das zuweilen? Der eine tut es aus Gedankenlosigkeit, der andere in der Laune einer unseligen Stunde, der dritte aus Trotz. Verstehe mich um Gottes willen nicht falsch, es liegt mir nichts ferner, als die Mutter meiner Kinder noch im Grabe zu tadeln. Sie war des Oberförsters Nichte droben in Brotterode. Sie war älter als ich – ich war jung, ehrgeizig und arm. Ich kannte keine andere und sie wollte mich, sie liebte mich, sie stellte sich mir in den Weg, wo immer ich ging, und die Leute, die redeten von einer guten Partie, von einer braven häuslichen Frau, von Einleben auch ohne Liebe und sagten, daß die leidenschaftslosen Ehen die glücklichsten wären! – – Dummes Zeug! Es geht nicht ohne Liebe, ohne Leidenschaft – sag' ich!« rief er 66 heftig. »Nein! Oder – es sind Menschen ohne Herz, Puppen, die am Draht tanzen, Tiere sind's! Und darum, Änne, wenn ich vergehen sollt' um dich – ohne deine Liebe ertrüg' ich's nicht – um deinetwillen! Und nun schweigen wir von meiner Johanne. Sie ruht aus von vielen Enttäuschungen, ist auch wohl nicht glücklich gewesen mit mir, obwohl ich glaube, sie wußte nicht, was sie entbehrte. Ich habe es ihr wenig gezeigt, wie es um mich stand. Aber siehst du, Änne, gerad in dem stillen, gleichgültigen Nebeneinander, in dem unterdrückten Schmerz – da liegt das Elend!«
Und wieder zog er sie an sich. »Änne«, sagte er leise und innig. Und ihr war es, als drehte sich alles um sie in rasendem Wirbel. Sie fühlte nichts als ihre eigene ungeheure Schuld diesem Manne gegenüber, wenn sie jetzt schwieg – und sie konnte nicht reden! Sie hatte Liebe verleugnen können, Liebe heucheln diesem gegenüber – nie!
»Ich muß dir etwas sagen«, rief sie, angstvoll sich an ihn schmiegend, »ich muß –« Und dann brach sie in ein leidenschaftliches, tränenloses Schluchzen aus und blieb dennoch stumm.
In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet und Lampenschimmer fiel herein. Frau Rat und Fräulein Stübken sahen nur noch, daß der Oberförster seine Braut im Arme hielt. Ihr Weinen war jäh vorüber.
»Wir müssen heim«, sagte die Mutter freundlich, während Fräulein Stübken, die die Lampe auf den Tisch gestellt hatte, das Zimmer verließ. »Einen Augenblick setze ich mich noch. Natürlich, lieber Hermann, ich will Ihnen die Ruhe nicht nehmen. Dies ist auch ein nettes Zimmer« fuhr sie fort, um Änne Zeit zu lassen, sich zu sammeln, ohne im mindesten Neugier zu verraten, »und das da ist wohl Ihre liebe selige Frau?« erkundigte sie sich leise und deutete auf ein Bild über dem Schreibtisch, eine Photographie in schwarzem runden Holzrahmen.
Er schüttelte verneinend den Kopf. »Nein, das ist ein frühverstorbener Bruder von mir, der Theologie studierte.«
»In Ihrem Zimmer kein Bild der Verstorbenen?« stotterte Frau Rat. »I Spaß, da ist's ja!« Und nun erhob sie sich und schritt zu dem Tischchen hinüber, auf dem eine Wasserflasche stand, ein Leuchter und Zündhölzchen. Aber als sie die Lorgnette nahm, um es zu betrachten, war es nur ein schön gedruckter Spruch:
Selig das Haus, das in Liebe gebaut!
und darunter
1. Korinther 13. Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.
67 »Ein schöner Spruch, nicht wahr?« rief er heiter. »Ich deute, er soll so recht extra für uns erdacht sein, und behaglich wollen wir es uns machen in dem alten Bau! Sie haben freie Hand, liebe Mutter, können schalten und walten wie Sie wollen, denn ich werde selten daheim sein in der nächsten Zeit. Wenn der Herzog kommt, so ist – –«
»Kommt Hoheit?« unterbrach die Rätin neugierig, »ich meinte, er wolle in diesem Jahr Breitenfels nicht beehren?«
»Übermorgen ist er da.«
»Mit großem Gefolge?«
»Nur Jagdgäste. Die Herzogin ist nach dem Süden gereist.«
»Ohne Theater?«
»Ei bewahre! Das hielte Hoheit nicht aus. Diesmal ist's das Opernpersonal, das er mitbringt. Da soll mein kleiner Schatz ordentlich Musik hören. Mein Sitz steht dir immer zur Verfügung. Woher ich das weiß? Ich erfuhr das alles aus einem Briefe vom Jagdjunker Zerbau. – Mit dem ›Freischütz‹ fangen sie an.«
Man war unter diesen Gesprächen aus der Oberförsterei hinaus und bis an die Maysche Tür gelangt. »Ich sage dir noch gute Nacht, Änne«, flüsterte er, »aber ich muß erst mit den Kindern essen.« Dann trennten sie sich.
Am späten Abend noch, als der Medizinalrat und Tante Emilie schon die Ruhe gesucht hatten und Änne sich auch von der Mutter trennen wollte, die im Zimmer noch allerlei zu ordnen und zu kramen hatte, fragte das Mädchen beim Gutenachtkuß, stockend und die Farbe wechselnd: »Mama, weißt du nicht, ob Günther mit seiner ersten Frau zufrieden lebte?«
Die Rätin schob die Brille auf die Stirn und sah ihre Tochter groß an. »Du willst wohl gar auf eine Verstorbene eifersüchtig werden?« rief sie, »fange doch solchen Unsinn nicht an, Kind!«
»Eifersüchtig? Aber, Mama, nein! Mir ist nur, als ob ich mal gehört hätte, es sei da nicht so ein strahlendes Glück gewesen.«
»Strahlendes Glück! Kleines Schaf, wie stellst du dir denn eigentlich die Ehe vor? Soviel ich weiß, sind die Leute rechtschaffen miteinander ausgekommen. Glück? Was heißt denn Glück? – Zu dummes Zeug!«
»Ich habe mich noch immer nicht richtig ausgedrückt, Mama – ob sie sich lieb hatten, meinte ich.«
»Na, Gott – natürlich! Oder meinst du, ein Mann weint so bitterlich wie er über die Frau im Sarge, wenn sie ihm gleichgültig gewesen wäre?«
68 »Das konnte am Ende Reue gewesen sein«, bemerkte Änne nachdenklich.
»Worüber Reue? Etwa darüber, daß er Geduld mit ihr hatte, als sie an der Schwindsucht zu kränkeln begann, jahrelange Geduld? Daß er sie drei Monate hindurch Tag und Nacht auf dem Siechbette gepflegt hat wie eine Diakonissin, und daß er das Mariechen, bei dem ihr Leben schließlich erlosch, aufzog wie eine Kinderfrau? Ich meine, der hat wahrlich nichts zu bereuen! Wie kommst du auf solchen Schnack, Änne?«
»Geduld hat er mit ihr gehabt, Mama?« wiederholte das Mädchen langsam. »Glaubst du, er würde auch mit mir Geduld haben?«
»Wollen's hoffen!« gähnte Frau Rätin, die ihr Kind nicht verstand; »stelle sie nur nicht zu sehr auf die Probe! Weißt du was? Wenn deine Hochzeit vorüber ist, tue ich ein Dankopfer – mir graut vor der nächsten Zeit!«
»Mir auch«, sagte Änne leise und ging aus dem Zimmer. Droben saß sie dann auf ihrem Bette und grübelte. »Sagen muß ich es ihm und bitten will ich ihn, daß er mich dennoch nimmt. Ich will mir Mühe geben«, flüsterte sie und preßte die Hände zusammen, »er darf mich nicht verlassen, er soll auch mit mir Geduld haben!«
Und dann erinnerte sie sich seiner Beschreibung des öden, trostlosen Lebens neben der ungeliebten Frau. »Eine Hölle!« hatte er gesagt. Und sie wollte trotzdem diese Schwelle überschreiten? Sie versuchte, es sich vorzustellen, ob sie ihn immer würde ertragen können, ihn und die Kinder. Und sie streckte die Hände aus wie abwehrend und schlug sie gleich darauf vor ihr glühendes Antlitz.
»Ich will nicht, ich kann nicht!« stöhnte sie. Und nun dachte sie an Heinz, und die Röte der Erregung wich der Blässe des starren harten Trotzes.
»Es muß sein!« sagte sie, »es muß sein!«
Wochen vergingen und es blieb alles beim alten. Änne hatte ihren Verlobten nur selten gesehen, er war völlig in Anspruch genommen von seinem Beruf infolge der Anwesenheit des Herzogs, der ohne Günthers Begleitung keinen Pirschgang unternahm. Zu einer Aussprache hatte sie keine Gelegenheit gefunden, aber auch den Mut nicht. Wenn sie in seine Augen blickte, die stets einen Schimmer von Rührung und Zärtlichkeit bekamen, sobald sie auf ihr ruhten, preßte ihr die Angst den Mund zu. Was sollte dann werden, wenn er ihr antwortete: »Nein, Änne, nein – laß uns auseinander gehen, ich weiß, was es heißt – ohne Liebe heiraten!«
69 Ja, was sollte dann werden? Weiterleben im Hause der Eltern? Unter den Augen von Heinz, in der Erfüllung der geringen Pflichten, die nicht den tausendsten Teil ihrer jungen Kräfte erforderten? Nein! Andere Arbeit brauchte sie, schwere Pflichten, die sie so in Anspruch nahmen, daß sie nicht Zeit fand, nach rechts und links zu sehen! Erst nach der Hochzeit wollte sie ihm alles sagen, dann mußte er sie behalten, mußte Geduld mit ihr haben!
Droben im rechten Flügel des Schlosses, den der Regierende zu Jagdzeiten bewohnte, schimmerte allabendlich die Reihe der hellen Fenster in die Nacht hinaus, und auf dem sonst so stillen Schloßplatz war reges Leben. An den Straßenecken klebten Programme: »Herzogliches Hoftheater zu Breitenfels.« Vor dem Gasthofe droben hielten abends lange Reihen von mehr oder minder feinen Equipagen, denn die Bewohner der umliegenden Städtchen, Dörfer und Rittergüter kamen, um den Vorstellungen beizuwohnen, die für sie einen seltenen Genuß boten. Es war ja anerkannte Tatsache, daß das herzogliche Hoftheater über vorzügliche Kräfte verfügte.
Änne saß beinahe jeden Abend in der Loge der herzoglichen Beamten auf einem der beiden Plätze, die dem Oberförster gehörten. Den anderen Platz nahmen abwechselnd Fräulein Stübken, die Mutter oder Tante Emilie ein. Änne war es gleichgültig – wer. Sie sah und hörte nicht, was um sie her geschah, sie ging völlig auf in den Tönen, und hier allein vergaß sie ihre ewig quälenden Gedanken.
Diese Plätze befanden sich in den Seitenlogen des zweiten Ranges des winzigen Theaterchens. Es war heiß dort innen und dunkel, Änne merkte es nicht. Gegenüber, auf seiten der Herzogin-Mutter, sah sie in der Proszeniumsloge Abend für Abend die hohe Frau mit ihren Hofdamen, Frau von Gruber, Fräulein von Ribbeneck, und dem Kammerherrn. Heinz hatte sie nicht wieder erblickt, sie wußte nur, daß er sofort beurlaubt worden war, daß er den Abschied eingereicht habe und sich mit unerhörtem Fleiß in seine neuen Pflichten einzuleben bemüht sei. Ihre Durchlaucht hatte das gnädig dem Medizinalrat anvertraut und auch, daß sie glaube, eine ganz vorzügliche Akquisition gemacht zu haben.
Es war, als ob sich alle die tobenden Wasser anschickten, ruhig und ehrbar in den Bahnen dahinzufließen, die sie sich selbst gewählt hatten, als vernünftige Bächlein, die bestimmt waren, zu nützen und zu arbeiten, bis sie dereinst in dem großen Meere untertauchten.
70 Änne erfuhr auch eines Tages, daß der dritte Weihnachtsfeiertag für die Hochzeit des Herrn Hofmarschalls ausersehen sei. Sie ertrug's kaum, wenn von ihm die Rede war, aber sie nahm sich zusammen; nur erschien sie still, gedrückt und merkwürdig gleichmäßig. Die Mutter hielt das für die natürliche Folge des Brautstandes, dem Vater aber gefiel ihr Aussehen gar nicht. »Nervös«, sagte er, »sie wechselt zu oft die Farbe und in ihren Augen flackert es, als hätte sie Fieber.«
Er verschrieb ihr Chinin und verordnete Spaziergänge.
»Nimm die Kinder mit, wenigstens die großen«, schlug die Mutter vor, »es wird dich zerstreuen!«
In Ännes Herzen bäumte sich jäh etwas auf. Sie ertrug seit jenem Tage, da der Junge und das Mädel nach Kinderart ihr ins Gesicht gerufen hatten: »Du liebst uns ja gar nicht«, die kleinen Geschöpfe kaum noch. Sie konnte sich zu keiner Liebkosung mehr aufraffen, sie fühlte sich erkannt von ihnen – Kinder sind größere Herzenskundige, als man denkt – und so fiel die Antwort auf den Vorschlag der Mutter heftig ablehnend aus. Ob man ihr denn nicht noch die paar Wochen Freiheit gönnen wolle, fragte sie mit flackernden Augen, sie wünsche allein zu gehen, ganz allein, sogar ohne Tante Emilie!
Frau Rätin war sehr erschreckt ob dieses Ausbruches. »Herrgott, ja!« sagte sie, »sei doch nur ruhig. An Kinder muß man sich erst gewöhnen, ich weiß ja. Aber was du gegen Tante Emilie jetzt hast, das ist mir unverständlich.«
»Na, laß sie doch nur, Schwägerin«, beruhigte die Tante, »wir beide wissen, wie wir dran sind miteinander – es wird auch wieder besser, gelt, mein Engelchen?«
Das »Engelchen« antwortete aber nicht und ging allein spazieren im Schloßgarten, immer dieselben Wege, so ganz einsame und unbetretene, von denen sie wußte, daß sie niemand auf ihnen begegnen würde als höchstens einem der zahmen Rehe oder einem Arbeiter. Die todestraurige, spätherbstliche Natur, die so sehr ihrer Stimmung entsprach, schien sie zu beruhigen.
Auch heute war sie draußen. Von Unruhe gequält, hatte sie die Näherei auf den Tisch geworfen, müde, ihren Namen dutzendweise in die Taschentücher zu sticken, die sie zur Aussteuer bekommen, hatte Hut und Mantel angetan und war ihrer Wege gegangen. Es war so um drei Uhr nachmittags eines trüben Novembertages, die Wolken drohten mit Schnee bei völlig windstiller, köstlicher Luft. Der Parkweg, auf dem Änne dahinschritt, führte bergan zu einem nicht mehr benutzten schloßartigen Lustbau, in dessen Räumen nur noch 71 Gartengerätschaften und das Futter für das zahme Wild aufbewahrt wurden. Man hatte von dort eine reizende Aussicht über den großen Teich und die Baumpartien des Gartens bis zum Schloß hinüber, das sich von dieser Seite besonders stattlich darstellte. Hier oben, auf dem kleinen Platz vor dem »Luisenschlößchen«, stand sie still und betrachtete das liebliche Bild. Auf dem Turme wehte die Flagge des regierenden Herzogs. Er gedachte in diesem Herbst lange zu bleiben, man sprach sogar davon, daß er das Weihnachtsfest hier verleben wolle. Wenn er abreiste – dann – das hatte ihr gestern abend Günther gesagt – dann war ihre Hochzeit.
»Es wird ja doch nichts daraus«, pflegte Tante Emilie zuweilen zu behaupten, und deshalb mied Änne sie. Aus ähnlichem Grunde ging sie dem Fräulein Stübken aus dem Wege, die ihr immer mit einem so eigentümlich maliziös mitleidigen Lächeln entgegentrat, das sich zu mühsam beherrschtem Grinsen steigerte, wenn sie Änne mit den Kindern zusammen sah, den Kindern, die der künftigen Mutter mit einer ostentativen Gleichgültigkeit begegneten und ebenso ostentativ jubelnd in Fräulein Stübkens Arme flüchteten.
Wieder stand sie da und grübelte: »Einen Ausweg, nur einen Ausweg!« ohne die Lösung zu finden. Hinter ihr klangen Schritte, und als sich Änne langsam umwandte, mit gerunzelter Stirn ob dieser Störung, erkannte sie in der eleganten Erscheinung, die auf sie zuschritt, die Diva des herzoglichen Hoftheaters, Fräulein Jeanette Hochleitner, eine schöne Blondine, sehr schick gekleidet und von jedermann im Städtchen gekannt, belobt und beklatscht.
»Gott sei Dank«, sagte die Sängerin mit klingender Stimme in unverkennbar österreichischem Dialekt, »endlich a menschlich's Wesen! In dem Park kann ma 's Gruseln lernen, an so a'm Tag! I bitt', gnädig's Fräul'n, erlaub'n S', in Ihrer Gesellschaft aus der Einsamkeit fortz'geh'n, denn i hab' wirkli a sehr große Angst.«
»Sie fürchten sich?« fragte Änne, halb ungläubig, halb verlegen. »Aber hier ist's völlig sicher und ich – ich habe meinen Spaziergang erst begonnen.«
»Ui jegerl! dös soll heiß'n – verschwind – i dank' für di!« lachte die Sängerin, »aber na, dös will i net! I bitt' Euer Gnad'n, lass'n S' mi hintendrein trotteln, i möcht' a gern no a bisserl geh'n, und in der Windstille kann ma's ohne Gefahr für die Kehl; und unsereins plauscht halt gern a mal mit jungen Madeln. In dem Spuknest von Breitenfels, wo d' Leut' stumm z' sein scheinen, verlernt man ja schließli 's Reden!« Und 72 ohne Ännes Zusage abzuwarten, nahm sie ihre mit Seide gefütterten Röcke zusammen, um sie vor der Feuchtigkeit des Bodens zu schützen, und schritt neben ihr, während sie weitersprach: »Gelten's, Sie leben hier, gnä Fräul'n, ja? I seh' S' halt immer in der Loge von den Herren Hofbeamten, da, wo der junge Dackel, der Sternitzki, seinen Platz hat. Sie kennen ihn doch, den Sternitzki, den Vorleser von Hoheit? I muß da immer naufschau'n, denn, wissen S', der Sternitzki sieht meinem Brüderl so ähnli, daß 's rein zum Staunen is – mein gut's Brüderl!«
»Sie sprechen österreichischen Dialekt, Fräulein Hochleitner, sind Sie aus Wien?« fragte Änne, um nicht ganz zu schweigen.
Das schöne Mädchen lachte. »Dös haben S' wirkli rausg'fund'n? Na, dös ist schon a Kunst – ja, i bin aus Österreich. Oh, mein lieb's Innsbruck, dös is a Stadt, da müssen S' mal hinreisen! Wissen S', dös ist so a Städterl für a Hochzeitsreis' – sagen S' nur a mal Ihr'm Liebsten: ›Hör, du muast mit mir nach Innsbruck, Schatzerl, oder i nehm' di net‹, und dann –«
»Mein Bräutigam bekommt schwerlich Urlaub, und ich glaube auch nicht, daß eine Hochzeitsreise überhaupt in seinem Plane liegt«, sagte Änne ruhig.
»Jesses Maria – Se san schon verlobt?« rief die andere. »Du mein! I hab da nur so an Schlag ins Blaue nein 'tan. So jung und wollen schon 's Kreuzerl auf sich nehm'n?« Sie schüttelte sich ordentlich. »Da hat Ihnen g'wiß das Mutterl zug'redt«, fuhr sie fort, »ja, so sind d' Mütter. D' meine hat's a so mach'n woll'n mit mir. Is a aner daher komm'n wia i grad siebzehn war, und hat ihr vorg'redt von die schönen soliden Verhältnisse, in die i komm'n tät, und dös hat ihr ka Ruh' net g'lass'n. Tag und Nacht hat s' mir in die Ohr'n g'leg'n und hat g'sagt: ›Net wahr, Schani, du bist g'scheit, du tust 'n nehm'n! Denk, du bist a arm's Mad'l, 's Vatterl kann d'r ka Geld hinterlass'n und der Fedor‹ – das is mein Brüderl – ›der braucht a a ganz g'hörig's Stück in sei'm Wien bei die Student'n, und wer weiß, ob sich a Versorgung zum zweitenmal bietet. Net wahr, du nimmst 'n, Schani?‹ Aber i hab' natürli net g'wollt und hab' die Zung'n hinter ihm außerg'streckt, wie er gangen is, und hab' g'sagt, er soll no a bissel wart'n, i sei no z' jung. Dann ist 's Schreckliche kommen, mein arm's Vatterl hat sich bei der Sektion einer Leich' – er war Dokt'r – a Blutvergiftung –«
»Ihr Herr Vater war Arzt?« fragte Änne teilnehmend.
»Ja! Wundert's Ihne gar, daß sein Tochter Opernsängerin worden is?«
73 »O nein« antwortete Änne zögernd, »nur – mein Vater ist auch Arzt.«
»Da sind S' wohl das Töchterl vom alten Medizinalrat May? Ja, na freili, jetzt erkenn' i Sie auch. Ja, wissen S', da müssen S' mir das Patscherl geb'n, i hab' ihn so gern, Ihr'n lieben Papa. Er hat mi ja im vorigen Jahr so prachtvoll kuriert – na, wi mi dös freut! Er is so gemütli am Krankenbett und macht gar Spaß, wann er a'm quält mit seine Instrumenter. Sehen S', so war mein Vatterl auch, und dann hat er so arg schnell dran glaub'n müss'n, in drei Tag lebendig und tot! Und wie's ein Viertejahr her war, daß wir ihn begraben hatten, da is der G'wisse wieder komm'n, er hat's ja guat g'wußt, daß ka Vermög'n da war und die Witwe in Not is mit der Tochter, und da ging's aufs neu über mein arm's G'müt her. Ui, was hab'n mir d' Leut zug'setzt! Ganz mürb haben s' mi g'macht, und endli hab' i noch vierundzwanzig Stund' Bedenkzeit verlangt, und da haben s' a Ruh' geb'n und g'meint, nun hätten s' mi. Aber wie die vierundzwanzig Stund' um g'wes'n sein, da haben s' nur a Brieferl g'fund'n, das i für mein Mutterl zum Abschied auf'n Tisch g'legt hatt', und i bin derzeit schon in Wien g'wes'n bei aner Dam', die mein Vatterl von schwerer Krankheit g'rettet hatt'. Da hab' i dann das Brüderl hinkommen lass'n und hab' ihm g'sagt: ›– so und so, und jetzt tust mi auf d' Musikschul' begleit'n, i will a Sängerin wer'n, will mi prüf'n lass'n. 's wird ja doch wohl um Gott's willen noch an andern Weg geb'n zum Fortkommen für a rechtschaffen's Mad'l als das Heiraten.‹ Er hat z'erst gar große Aug'n g'macht und g'fragt: ›Von was willst studieren, Schani?‹ – ›A Freistellen muß i hab'n!‹ is mein Antwort g'wes'n; sie wer'n do a Freistell'n hab'n für die Tochter von a braven Mann, der bei Königgrätz ist verwundet word'n? I bitt' bei unserm Kaiser drum. – Na, kurz und gut, und da, schau'n S' mi an, so bin i word'n! – Net wahr, 's läßt sich ertrag'n?«
»Und Ihre Mutter?«
»War doch am End' a vernünftige Frau und hat mein Brieferl mit Nutzen geles'n damals.«
»Was hatten Sie ihr denn geschrieben?«
»Gar net viel, nur das, daß i's für a Schand halten tät, wann 's Mad'l an Mann nähm' ohne Lieb', nur um a Versorgung z' finden, oder aus Ärger oder sonst einer Ursach', und daß i ka Lust hätt', unglückli z' wer'n und unglückli z' mach'n, und daß 's a noch andre Möglichkeiten gäb', zu existieren. als unter der Haub'n. Sie hat's mit der Zeit 74 begriff'n, denn der Mann, der mi g'wollt hat, behandelt sein Weib schlecht; mei' Tant' in Innsbruck kann's beobachten, sie wohnt net weit von ihm, so schräg gegenüber. Jetzt ist die Mutter ganz einverstand'n mit mir, führt a die Wirtschaft in der Residenz für mi, und 's Brüderl besucht uns, wenn seine Kranken ihn fortlass'n von Innsbruck.«
Änne blieb eine ganze Weile stumm. Sie betrachtete nur mit großen forschenden Augen ihre Begleiterin, deren Geplauder gleich einer Offenbarung für sie war. Als tue sich ein Vorhang vor ihren Blicken auf und zeige ihr, was dahinter lag – eine schöne, leuchtende freie Welt! Herrgott, jene hatte ihr doch weiter gar nichts Besonderes erzählt als eine ganz einfache Geschichte, und doch umklang es sie wie eine frische schmetternde Fanfare, wie ein Frühlingslied! Oh, wer das auch könnte – ja, wer ihr das früher erzählt hätte! Wer so groß, so mutig wäre! – Aber das war nichts für sie! –
Sie senkte den Kopf, und der graue Vorhang schnurrte wieder zusammen, und aus seinen Falten tauchten die vorwurfsvollen mißtrauischen Gesichter der Kinder auf, denen sie eine Mutter werden sollte, und Günthers Stimme meinte sie dabei herauszuhören: »Weißt du, was es heißt – eine Ehe ohne Liebe? Eine Hölle auf Erden – das tiefste Elend!«
»Wie schau'n S' denn aus?« sagte jetzt das schöne Mädchen gutmütig, »die Augen sollt' a Braut net machen!«
»Das ist auch sonst nicht meine Sache, ich bin eigentlich immer fröhlich«, antwortete Änne, gewaltsam ihre Gedanken zwingend, »ich habe nur heute ein wenig Kopfweh. Aber sehr freut es mich, Sie, Fräulein Hochleitner, persönlich kennengelernt zu haben. Ich möchte –« sie wurde plötzlich flammendrot – »ich möchte Sie wohl erzählen hören von Wien und der Zeit Ihrer Studien und« – sie stockte – »ich interessiere mich so für Musik, ich singe selbst ein wenig.«
»Aber mit der größten Freud'«, antwortete die andere, »i bin so glückli, wann i plauschen kann – da will i Ihn'n an Vorschlag mach'n: morgen geh'n wir wieder mitanander spazier'n, vielleicht a a mal a Stückerl in 'n Wald, i hab' den Wald gar so gern! Zeit hab' i überviel, denk'n S' doch, wir wärmen ja nur die alt'n Opern auf, für die 's Theaterl die Dekorationen hat. Sind so a bissel leichtes Zeug, wie's Hoheit gern hat, wann die Gemahlin net da is, denn schau'n S', Fräul'n May, sie is arg klassisch, die Frau Herzogin, und Offenbach und Suppé sind ihr a Greuel – mir ja eigentlich auch, aber was soll man mach'n? Die Leonore in ›Fidelio‹ ist mir a lieber, natürli, als die Eurydice in ›Orpheus in der 75 Unterwelt‹! Na, i wollt' nur sag'n, i hab' freie Zeit und jetzt bestimm'n S', wo wir uns morg'n treff'n woll'n, i freu' mi schon darauf wie a Kind!«
»An der nämlichen Stelle wie heute«, schlug Änne vor.
»Schön, Sie halt'n a Wort, Fräul'n May? Um drei Uhr morg'n? Und heut abend, da schau'n S' auf, die Rose Friquet wird Ihn'n an Blick in Ihr'n Schmollwinkel hinaufwerf'n – Sie kennen doch das ›Glöckchen des Eremiten‹?«
»Ja, natürlich!« sagte Änne, »und heute kommt sogar mein Vater mit.«
Die Damen trennten sich, die Österreicherin mit einem warmen »Tschau«, Änne mit einem freundlichen »Auf Wiedersehen«.
»Du hast ja ordentlich rote Backen«, sagte die Rätin, von ihrer Arbeit aufsehend – sie nähte Knopflöcher in die Bezüge – als Änne zur Kaffeestunde wieder eintrat und sich mit den anderen an den Tisch setzte. »Hast wohl Günther getroffen?«
»Nein«, sagte sie und ein leichter Schatten überflog ihr Gesicht, »aber es war ein schöner Spaziergang, und ich freue mich auf das Theater heute abend.«
»Ich möchte nicht alle Abend das Gesinge hören«, meinte Frau Rätin verdrießlich, »und Gemütlichkeit hat man überdies kaum noch zweimal in der Woche, das heißt, wo nicht gespielt wird. An Günthers Stelle hätte ich dir den Platz nicht ein für allemal gegeben; 's ist keine Vorbereitung für eine künftige Hausfrau, ewig im Theater zu sitzen und das dumme Zeug anzuhören – da gibt's ja weiter nichts in den Opern als Liebeswahnsinn. Ich mein' –«
»Aber, Alte«, sagte der Medizinalrat lachend, »ereifere dich doch nicht! Bist selbst gern ins Theater gegangen, als du jung warst, und heute abend geht sie ja unter dem Schutze des Herrn Oberförsters.«
Änne wandte erstaunt den Kopf ihrem Vater zu. »Aber, Papa, ich dachte, du gingst mit?«
»Ja – nun sieh mal – Günther war vorhin hier – – der Herzog hat sich eine kleine Verletzung auf dem Pirschgang zugezogen, darum kehrten sie so früh zurück. So hat Günther gerade Zeit heut abend, und da wollte Mutter eigentlich – –«
»Ich wollte, daß du zu Hause bleibst, natürlich«, ergänzte Frau Rätin, »denn du wirst wohl annehmen können, daß Günther sich mal wieder nach einem gemütlichen Abend mit dir sehnt. Aber davon wollte er nichts wissen, wollte dir die Freude nicht verderben, sagte er. Er ist eben in den Fehler von so vielen Bräutigams gefallen – alles zu tun, was das 76 liebe Herzchen will; und ziehen sie dann als Ehemänner das entgegengesetzte Register auf, dann gibt's ein Unglück. – – Indessen, wer nicht hören will, muß fühlen!«
Änne verteidigte weder sich noch ihren Bräutigam, sie fragte nur nach einer ganzen Weile: »Papa, hast du nicht mal Fräulein Hochleitner behandelt?«
»Ja, im vorigen Jahr, als der Kollege« – er nannte den Namen des Leibarztes Seiner Hoheit – »mit dem Herzog auf ein paar Tage nach Berlin verreist war. Ist eine ganze Wetterhexe, das Mädchen!«
»Und anständig?« erkundigte sich Tante Emilie.
»Warum denn nicht?« fragte Änne.
»Mein Gott!« machte Frau Rätin achselzuckend, als wollte sie sagen: Im allgemeinen haben die Damen des Hoftheaters kein Patent auf absolute Tugend.
»I gar!« meinte der Rat, »ich bekümmere mich nicht um solche Dinge.«
Änne schwieg. Aber langsam stieg ihr eine dunkle Röte ins Gesicht und sie sah eine ganze Weile ins Leere. Das Häkchen saß in ihrem armen zergrübelten Kopf und der graue Vorhang schien sich wieder ein wenig zu verschieben, so daß ein goldenes Blitzen dahinter aufleuchtete.
»Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll«, erklärte Frau Medizinalrat acht Tage vor Weihnacht ihrer Schwägerin. Sie saßen nach dem Mittagsmahl in der Eßstube, Frau Rat mit der intensiven Röte im Gesicht, die bei ihr bekanntlich auf Sturm deutete. Sie verlasen Rosinen in ungeheuren Mengen, denn am folgenden Tage sollte die große Festbackerei losgehen.
»Inwiefern weißt du nicht mehr, was du denken sollst?« erkundigte sich Tante Emilie und schob ihre Brille zurück.
»Sie ist schon wieder spazierengegangen«, antwortete die Hausfrau stirnrunzelnd, »obgleich ich es ihr geradezu verbot wegen der enormen Arbeit. Dazu hat sie nun Zeit. Aber als ich von ihr verlangte, sie solle doch nun endlich Anstalt machen und mit den Kindern zum Photographen gehen, da paßte es ihr nicht, wie schon seit acht Tagen. Und es wär' ein so hübsches Geschenk gewesen für Günther – Änne und die Kinder auf einem Bild!«
»Ich kann solche voreiligen Bilder nicht leiden«, gab die kleine dicke Tante zur Antwort und beförderte ein ausgelesenes Häufchen Korinthen behutsam in die Schüssel, die sie auf dem Schoße hielt.
»Voreilige Bilder?« fragte gedehnt die Rätin.
77 »Ja! Ich mag's auch nicht, wenn sich Brautleute auf einem Bild abnehmen lassen. Das ist nachher eine unangenehme Erinnerung, solange sie leben, wenn nämlich nichts daraus wurde – verstehst du, Marie?«
»Na, Gott soll mich bewahren«, antwortete diese, »du bringst einen auf recht nette Gedanken! Wenn ein Paar sich drei Wochen vor der Hochzeit nicht miteinander photographieren lassen soll, dann weiß ich nicht, wann es eigentlich geschehen könnte! Ich begreife außerdem nicht, Emilie, was du immer zu unken hast! Es ist eben nur, daß du für alles, was das eigensinnige Mädchen tut, eine Entschuldigung finden willst.«
»Erbarmen, Schwägerin, ich entschuldige sicher nicht alles bei der trotzigen Marjell, im Gegenteil –« verteidigte sich die Tante.
»Dann solltest du ihr auch einmal die Wahrheit sagen«, erklärte die geärgerte Mutter, »auf dich hat sie immer gehört! Aber du sitzt ganz gelassen dabei, wenn sie sich so sonderbar zu benehmen geruht.«
Tante Emilie begnügte sich mit einem Kopfschütteln.
»Ja«, gab seufzend die Rätin zu, »es hilft auch nichts, hast recht. Ich meine, der Oberförster sollt' mal ein bißchen aufmucken, sollt' sich die Launen nicht gefallen lassen. Aber der sitzt da und sieht sie an mit verklärtem Gesicht und scheint sich nichts Besseres zu wünschen als so 'n unartiges Ding. – Ich begreife seine Geduld nicht! Ich hätte May mal so mißachtend behandeln sollen, na, ich glaube, es wär' in selbiger Stunde aus gewesen mit ihm.«
»Nun, er liebt sie eben«, entschuldigte Tante Emilie das Benehmen des Bräutigams.
»Es ist immer so«, wehklagte die Rätin, »die zweiten Frauen haben es besser als ihre Vorgängerinnen. Wenn ich denke, wie die erste um ihn herum war! Alles las sie ihm an den Augen ab, aber Änne tut nicht dergleichen. Wenn sie sich wenigstens um die Kinder bekümmern möchte! Ach, lieber Gott, ich wollte, die Hochzeit wäre vorbei, und das erste Ehejahr auch, bis sie sich ein bißchen eingelebt hätten miteinander! Manchmal, Emilie, manchmal – es ist ja freilich Sünde – manchmal denke ich, sie wird nicht glücklich, so sonderbar ist sie jetzt.«
Tante Emilie hatte auf den Lippen, zu sagen: diese Gedanken kommen etwas spät, meine Beste! Wär' 's mein Kind gewesen, ich hätte gesagt: besinne dich, du hast ja den Mann gar nicht lieb! Aber – heiraten, nur heiraten, weiter denkt ihr Mütter nichts! »Weißt du was?« sagte sie dann laut, »ich 78 hab' Sehnsucht nach frischer Luft und die Korinthen da sind fertig, ich geh' die Änne im Park suchen. Im ganzen Schloßgarten ist kein Weg vom Schnee frei als eben der Mittelgang zur Terrasse empor, und dort läuft sie ja wohl auf und ab und wird leicht zu finden sein. Ich will sie mal ein bißchen ausfragen, die närrische Marjell.«
»Du kannst lange suchen«, grollte die Rätin, »seit der Herzog hier ist, geht der Schneepflug durch alle Wege.«
»I nä, laß mich nur machen, bin schon lange neugierig auf den Park im Schnee.« Und damit erhob sich Tante Emilie und kam nach zehn Minuten, mit einem altmodischen, innen mit Hamster gefütterten Pelz und einer ebenso altmodischen Kapuze angetan, wieder herunter, nickte noch einmal in die Stube hinein und verließ das Haus.
Der alten Frau war nachgerade angst und bange um ihren Liebling. Das Mädchen benahm sich in ihren Augen wie eine – na – die nicht auf rechten Wegen geht. »Gott verzeih' meine Dummheit«, murmelte sie vor sich hin, »manchmal denk' ich, sie trifft den Heinz Kerkow heimlich! Sie geht mit einer Ausdauer spazieren, die unbegreiflich ist, ebenso unbegreiflich wie das schroffe Ablehnen jeder Begleitung.«
Sie trippelte nun schon innerhalb des Schloßgartens auf dem weißen festen Schnee dahin. Ganz leise schneite es weiter, und die winzigen Flocken legten sich wie ein zarter Hauch auf die schwarzseidene Kapuze und den Mantelkragen. Wie schön das war, wie weihnachtlich, und wieviel trauter könnte es noch sein, wenn auch im Hause alles so klar und rein wäre! Die Jungen würden zum Feste kommen, und unter dem Lichterbaum sollte ein Brautpaar stehen – aber das hatte sich Tante Emilie anders gedacht! Die Änne wurde alle Tage blasser und stiller. Und dann wieder war es, als ob sie Reue über ihr Wesen empfände, und sie schwatzte und lachte wie eine, die nicht recht gescheit ist. Und dies ins Theater gehen, jeden Abend, den Gott werden läßt, das heißt, sooft gespielt wird – –
Sie war ein paarmal mitgegangen, die Tante Emilie, um zu sehen, ob Änne des neugebackenen Hofmarschalls wegen hingehe, aber der war nur an einem der Abende erschienen, und da sah Änne mit einem Paar grenzenlos gleichmütigen Augen über ihn weg, und ebenso gleichgültig betrachtete sie seine Braut, das blasse, hochmütige Ding. Ihr ganzes Interesse gehörte der Vorstellung. Aber das könnte ja auch täuschen, dachte sie, und es kam Tante Emilie vor, als sei dieses Interesse an der Bühne fast zu groß, um natürlich zu sein, einmal 79 war es ihr sogar, als ob Änne jemandem auf der Bühne leicht zunickte.
»Goldkäppchen, wen grüßt du denn da?« hatte sie gefragt, aber die Antwort war Änne schuldig geblieben.
Ach, liebe Zeit, das Kind war ja nur so unstet, so unglücklich, weil es den Kerkow immer in der Nähe wußte, weil's nicht vergessen konnte, weil's in seiner Verzweiflung dem Günther in die Arme gerannt war und nun sich graute vor dieser Ehe! Wäre nur erst die Hochzeit droben vorüber und das Paar nach Italien gereist! Aber Gott mochte wissen, was man bis dahin noch erleben würde! –
Die alte Dame blieb am Fuße des Schloßberges stehen, hinter einem kleinen, nun ganz verschneiten Pavillon, um sich an dieser zugfreien Stelle ein wenig zu verschnaufen. Sie hatte bis jetzt in dem weiten Garten nicht einen Menschen erblickt und war schon ganz entmutigt, da hörte sie Kinderstimmen hinter sich, und sich wendend, gewahrte sie Oberförsters dreie, die Fräulein Stübken an die Luft führte. Der Kleinste saß im Kinderschlitten, der Junge auf der Pritsche und Mariechen zog das Gefährt, Fräulein Stübken endlich stampfte gravitätisch hinterher.
Tante Emilie trat hinter dem Pavillon hervor und begrüßte die Näherkommenden. »Ja, das ist aber ein Vergnügen für euch kleines Volk! Schönen guten Tag, liebes Fräuleinchen – sagen Sie, haben Sie nicht unsere Änne gesehen? Sie geht hier irgendwo spazieren.«
Fräulein Stübken schlug den Schleier zurück von dem schäbigen Pelzbarettchen, unter dem ihr Gesicht gelblich mit blauroten Wangen hervorlugte, tupfte sich mit dem Taschentuch die Tränen, die ihr die Kälte herausgepreßt, aus den Augen und sagte, Tante Emilie mit einem eigentümlichen Lächeln ansehend: »Da werden Sie wohl woanders suchen müssen, Frau Schönberg. Im Park ist Fräulein May nicht.«
»Aber – natürlich! Sie geht ja alle Tage her!«
»Ach ja, früher, aber nun schon lange nicht mehr. Sie geht jetzt jeden Tag in die Stadt hinunter, nach der Prinzeß Luisenstraße zu, wissen Sie die?«
»I nä, Fräuleinchen! – Was soll sie denn da?«
Fräulein Stübken trat, vor Kälte zitternd, von einem Fuß auf den anderen, und das Lächeln auf ihrem Gesicht, so ein recht boshaftes Lächeln, schien auch festgefroren. »Was sie da tut? Sie besucht eben das Fräulein Jeannette Hochleitner – ich denke mir, sie singen da miteinander, vielleicht üben sie 80 etwas zur Weihnachtsüberraschung ein für den Herrn Oberförster.«
»Das könnte sein«, gab Tante Emilie schnell gefaßt zu, ob sich gleich innerlich in ihr alles vor Entsetzen empörte, »da werde ich mich hüten, sie zu stören.«
Fräulein Stübken lächelte noch mehr. »Geniert es Sie, Frau Schönberg, wenn wir Sie begleiten?«
Tante Emiliens Wohlwollen für die Hausdame des Oberförsters hatte sich plötzlich in einer Weise abgeschwächt, daß sie es kaum zu einem höflichen »Bitte schön« brachte. Das Lächeln und der Ton der Berichterstatterin hatten ihr in Ännes Seele weh getan. Das erbitterte Mädchen an ihrer Seite merkte es und begann aus einer anderen Tonart zu sprechen.
»Ich habe schon immer kommen wollen, um Ihnen das zu erzählen, Frau Schönberg« hub sie an, »die ganze Stadt klatscht davon, die Hochleitner ist doch kein Umgang für Fräulein May! So eine, die – na, ich darf nicht darüber reden! Die Silberschließerin von Ihrer Durchlaucht, die hat sie selbst gesehen droben im Schloß, wo das Theater längst geschlossen war. Ich habe nur immer geschwiegen, weil's so gehässig aussieht, so als ob – na, mir kann's ja egal sein, am ersten Januar gehe ich nach Berlin in eine andere Stellung! Aber, sehen Sie, ich bin drei Jahre beim Herrn Oberförster gewesen, und das Hauswesen und die Kinder sind mir ans Herz gewachsen, und da tut's einem weh, wenn die Leute so reden. Wie ich von meiner Freundin, der Frau Sekretär Busse, höre – die wohnt nämlich auch in dem Hause, wo die Hochleitner gemietet hat, und sieht da alles ein und aus gehen, die Lakaien des Herzogs mit Blumensträußen und die Kollegen und Kolleginnen vom Theater und so weiter – wie ich höre, was die sagt: ›Du, Stübken, um Gottes willen, was hat denn nur Mays Änne alle Tage zu der Hochleitner zu laufen?‹ da habe ich Mund und Nase aufgesperrt, hab's nicht glauben wollen und – dann hab' ich's selbst gesehen! War bei der Sekretärin eingekehrt nach dem Spazierengehen mit den Kindern, nur einen Augenblick, denn sie hat unsere Kinder so lieb. Also ich sitze da am Fenster mit meiner Tasse Kaffee, die mir die Bussen eben gebracht hat, da sehe ich eine Gestalt herkommen. Hat sich einen dichten Schleier vor das Gesicht gebunden, als ob man Änne May nicht auch so erkennen müßte – an ihrer Gestalt. Wer hat denn solche Figur in Breitenfels? Und obendrein der Marderbesatz, den ihr der Herr Oberförster auf das Tuchjäckchen hat nähen lassen! – Und es dauerte auch gar nicht lange, da kommt oben durch 81 die Decke das Klavierspiel und das Singen, ganz reguläre Übungen, und zuletzt ordentliche Lieder, und vergnügt sind sie dabei, alle Augenblick' hat's ein Lachen gegeben, und – sagen Sie selber, Frau Schönberg, es ist doch unpassend im höchsten Grade!«
Sie waren gerade auf dem Schloßplatz angelangt bei diesen Worten, da richtete sich die kleine Tante so hoch auf, daß Fräulein Stübken vor Schreck das Wort in der Kehle steckenblieb.
»Änne tut nie etwas Unpassendes, verstehen Sie, liebes Fräulein? Und was Ihre Andeutungen über das Fräulein Hochleitner anbetrifft, so rate ich Ihnen, vorsichtiger damit zu sein und – machen Sie doch lieber den Mund zu, es ist Ostwind, der könnte Ihnen leicht eine Halsentzündung bringen. Guten Abend, Fräulein Stübken!« Und den Mantel, den ihr der Wind auseinander geweht hatte, fest um sich ziehend, ließ Tante Emilie die Erstarrte stehen und schritt dem Mayschen Hause zu, äußerlich eine Heldin, innerlich verzagter als je.
Sie trat übrigens nicht in das Haus ein, sie wandte sich vielmehr vor der Tür um und ging langsam unter seinen Fenstern zurück der Stadt zu, sie mußte wissen, ob es Wahrheit sei, was sie da eben erfahren hatte.
Änne war an diesem Tage wie an jedem andern gleich nach dem Essen ausgegangen. Dem Wunsch der Mutter, daheim zu bleiben, war sie nicht nachgekommen, hatte ihn kaum gehört. Aber wenn auch, sie wäre doch gegangen, sie brauchte diese ungestörten Stunden, um mit sich selbst ins reine zu kommen, um fest zu werden in dem, was sich allmählich in ihrer Seele gestaltet hatte. Sie war sich bewußt, daß sie ihrer Familie vollständig unbegreiflich sein müsse während dieser schrecklichen Zeit, in der sie der Spielball dieses inneren Kampfes war, und sie wunderte sich, daß die Eltern so viel Geduld mit ihr hatten, sie und Günther. Dieser sah sie zwar fragend und besorgt an, hatte aber niemals ein mißmutiges oder zweifelndes Wort für sie gehabt. Er begriff sie einfach nicht, aber er forschte auch nicht. Freilich, sie sahen sich selten genug; der Dienst beim Herzog nahm ihn völlig in Anspruch.
Den Plan, ihn zu fragen: Willst du mich auch ohne Liebe? hatte sie aufgegeben. Sie wollte einfach nur ihre Freiheit von ihm fordern, bedingungslose Freiheit. Seitdem sie die Geschichte der Hochleitner kannte, seitdem sie in das freie und 82 schaffensfreudige Leben der Künstlerin einen Einblick getan, hatte auch sie nach Freiheit, nach Selbstbestimmung verlangt. Und von dem Tage an, da sie der Sängerin zum erstenmal in die kleine Wohnung gefolgt war, um ihr etwas vorzusingen, womit sie ein ehrliches glänzendes Lob erntete, beherrschte sie der Gedanke, Musik zu studieren. Über das, was in ihr vorging, sprach sie zu niemand, auch zu Fräulein Hochleitner nicht, aber aus der lachenden, offenherzigen Änne war ein verschlossenes, trotziges Mädchen geworden. Sie wußte Fräulein Hochleitner immer wieder im Gespräch auf die Kunst, auf ihren Beruf, auf ihre dadurch erlangte Selbständigkeit zu bringen, und in ihren Augen glänzte es auf, wie wenn ein Durstiger den frischen ersehnten Wasserstrahl erblickt, sooft diese ein Lob auf Ännes Stimme mit den Worten schloß: »Und so was will sich vergraben in Breitenfels, in der Ehe mit an Witwer, der drei Kinder hat – so a Stimm', so a Persönlichkeit! Aber war denn niemand da, der Ihn'n g'sagt hätt', als Sie sich binden wollten gar so früh: bedenken Sie sich doch, Sie arm's Hascherl, 's is für immer! Man kann nimmer los von so einer Kett'n – und wann's gelingt, bleibt ein großes Stück Jugendkraft und Frische, bleiben soviel goldene Illusionen dran hängen!«
Änne pflegte auf die wiederholten Bemerkungen nichts weiter zu antworten als: »Ich habe es so gewollt.«
»Na, des Menschen Will' ist sein Himmelreich! Aber schauen S', die Reu' wird net ausbleib'n!«
Änne blieb diesmal eine Entgegnung schuldig, aber sie bettelte um ein wenig Unterricht: »Darf ich singen, liebstes Fräulein Hochleitner?« Und sie sang an dem Klavier der Künstlerin und vergaß alles darüber, und allmählich war aus Änne May eine begeisterte Schülerin geworden, die nun von der über sie immer mehr in Entzücken geratenden Lehrerin regelmäßigen Unterricht erhielt.
Und jeden Abend ging das Mädchen mit dem Gedanken zur Ruhe: morgen, morgen schreibe ich ihm! Sie lag schlaflos und grübelte über die möglichst milde Form ihrer Absage, und jede Nacht kämpfte sie im voraus den schweren unausbleiblichen Kampf durch, der ihr mit den Eltern und deren Vorurteilen bevorstand. Und jedesmal, wenn sie sich zur Ruhe philosophiert hatte, machten ihre Vorstellungen halt vor der Frage: was wird Heinz Kerkow sagen, wenn er erfährt, daß ich entlobt bin? – Sie kann dich doch nicht vergessen, wird er sagen, sie bringt es nicht fertig, den andern zu nehmen!
Dann fuhr sie empor und fühlte ihr klopfendes Herz und 83 die Schweißperlen auf der Stirn. Ach ja, er mußte es herausfühlen, daß ihre Verlobung eine Verzweiflungstat gewesen war, die zu Ende zu führen ihr die Kraft gebrach. Aber mochte er sagen, was er wollte, nur nicht sehen sollte er sie nach der Entlobung! Sie wollte weiter das Leben ertragen, das sie jetzt führte, zur Lüge und Komödie verdammt, bis er den Urlaub, den er zu seiner Hochzeitsreise erbeten, angetreten hatte! War er erst fern, dann würde sie mehr Mut und Ruhe finden zu dem, was sie tun mußte! In ihrem trotzigen Weh dachte sie nur an das, was sie litt. Kein einziger Gedanke flog zu dem Manne, der die Tage zählte, bis sie ihm folgen würde in sein Haus. Und so saß sie tags über und nähte an ihrer Ausstattung mit zusammengezogenen Brauen und hörte mit finsterem Schweigen an, wenn die Mutter erzählte, daß Günther ungeduldig die Abreise Seiner Hoheit herbeisehne. Neckereien brachten sie zu Tränen und Ermahnungen zu offenem Widerspruch. Sie fühlte sich selbst hassenswert, und die befremdeten Gesichter der Ihrigen stachelten sie zu nervöser Gereiztheit. Aufatmen tat sie erst, wenn sie am Instrument saß bei Fräulein Hochleitner.
Auch heute war sie gleichsam geflohen aus dem elterlichen Hause und vor den Tischgesprächen, die sich um weiter nichts drehten, als um die binnen acht Tagen bevorstehende Hochzeit von Fräulein Ribbeneck mit dem Hofmarschall. Die ganze Stadt sprach von nichts anderem, in jedem Laden wußten die Verkäuferinnen davon zu erzählen, die Näherinnen, die in die Häuser gingen, die Damen, die auf Besuch zu Mays kamen. Änne mußte erfahren, wie lang die Schleppe am Brautkleid sein werde und welche Farbe die Brautjungfern zu ihrer Toilette gewählt hätten. Es war, als habe sich alles verschworen, sie zu quälen.
Ganz rot vom eiligen Lauf und vor innerer Bewegung trat sie in das Stübchen der Künstlerin, die am Fenster saß und an einem altdeutschen Kostüm nähte. Sie sollte darin das Gretchen singen im Gounodschen »Faust«.
»Schau«, sagte diese fröhlich, »dös ist lieb, daß Sie kommen, Fräul'n May, der Mokka wird auf der Stell' ferti sein, und mein G'wand'l a, da könn'n m'r glei anfang'n. Hier san d' Noten, der Buchhändler hat s' heut früh g'schickt, und da is a der Psalm, den i auf Befehl Ihrer Durchlaucht bei der Trauung vom klanen Kerkow in der Schloßkirch'n sing'n soll. Woll'n S' so freundli sein und mal anseh'n, bis i da ferti bin? Es wär' mir lieb, i höret glei a mal den Psalm, und versprech' Ihn'n, wenn S' so recht schön vom Blatt wegsingen, Ihre 84 Trauung a mit meiner Stimm' zu verherrlich'n, daß Sie glei mein'n, a Engerl is extra vom Himmel 'runter kommen zu der Stund'!«
Änne lächelte trüb. »Ach, dann sind Sie ja gar nicht mehr hier, Fräulein Hochleitner« sagte sie, indem sie ihr Jackett ablegte und die Pelzmütze hastig vom Kopf nahm. »Bis jetzt ist der Tag übrigens noch nicht bestimmt.«
»Sie hab'n an merkwürdig geduld'gen Bräutigam, Klane! I glaub', i würd's ihm übelnehmen an Ihrer Stell'. No, Sie scheinen halt selbst kein' Eil zu hab'n, i aber desto mehr, mit dem Mokka, man' i. Därf i bitt'n, Fräul'n May, schenken S' ein, derweil sitzt das Streiferl hier wieder fest.«
Es war unendlich gemütlich in dem von einem herrlichen Maiglöckchenstrauß durchdufteten kleinen Raum. Die spießbürgerliche Einrichtung des Zimmers verschwand ganz unter allerhand anmutigem Tand, auf jedem Sitzmöbel lag irgend etwas, das Klavier stand offen, einige Notenblätter waren zur Erde gefallen, ohne daß sich jemand nach ihnen gebückt hätte, und auf dem verblichenen Teppich zerknabberte Azorl, der reizende weiße, sehr verzogene Seidenspitz, einen Pantoffel seiner Herrin.
Änne schenkte den Kaffee ein aus der kleinen silberglänzenden Wiener Maschine, und dann saß sie ein paar Minuten schweigend ihrer bewunderten Lehrerin gegenüber und sah den flinken Händen zu.
»No?« fragte diese, erstaunt ob der Stille, und sah das Mädchen an. »Wia schau'n S' denn aus? Alle Tag' blässer und alle Tag' trübseliger? Ja, was heißt denn dös? Wissen S', manchmal hab' i schon 'dacht –« sie stockte und vollendete dann, »daß S' Angst hab'n vor der Zukunft, Sie arm's Hascherl!«
Änne sah sie traurig an.
»Ja, lieber Gott, 's is eben a sehr schwerer Schritt«, fügte die Sängerin hinzu.
Änne biß die Lippen aufeinander und schluckte an ungestüm hervorquellenden Tränen, dabei schüttelte sie energisch den Kopf, als wollte sie sagen: »Sie irren sich, ganz gewiß, Sie irren sich!«
»Dös ist's net? I hab' beinah g'laubt, so sei's. Aber dös is ja a net mögli, und wann's a so wär', hätten S' wohl längst a End g'schaff'n, man zieht an braven Mann doch net an der Nas'n 'rum? Feig san S' doch a net, Fräul'n Ännerl, und an Irrtum eing'steh'n, is am End' a ka Schand' – – ja, ja, i seh's, i irr' mi, 's is an andrer Kummer, bin aber 85 die letzt', die dran rührt. – Kommen S', wir woll'n sing'n, 'm Kerkow sein' Hochzeitskantate!«
»Ich kann nicht!« stieß das junge Mädchen hervor.
Die Sängerin, die schon am Klavier saß, wandte sich jäh, einen Ausdruck von Überraschung im Gesicht. »Gerad den Psalm net? Oder überhaupt net?« fragte sie, das blasse Gesicht der sonst so lernbegierigen Schülerin betrachtend.
Änne raffte sich zusammen. »Heut überhaupt nicht«, sagte sie, »ich habe Kopfweh.«
»Na, da plausch'n wir halt a bisserl«, tröstete Fräulein Hochleitner. »Was kann ma denn tun, um Sie auf andre Gedanken zu bring'n? Soll i Ihn'n a Lied sing'n, oder soll i Ihn'n a bisserl erzähl'n, davon, daß alle Leut' hier verruckt san über d' Hochzeit drob'n, und daß dem Kerkow sein Schwesterl ankommen is, so a arm's bleichsüchtig's Ding im schwarzen Krepp, das ausschaut, als hab's ka Hoffnung mehr auf Erden? I muß sag'n, an der Ribbeneck ihrer Stell' hätt' i net auf so a prächtige Hochzeit b'stand'n. Aber sie kann sich net helf'n, sie muß aller Welt zeig'n, daß sie jetzt doch an Mann erwischt hat, nach so viel vergeblichen Versuchen. Und der arme Jung', der muß für ein paar Tag' das Kreppbändel vom Arm und in die Tasch'n tun. – Ja, wie die z'samm'komm'n, dös könnt a'm a Rätsel san, wann ma net wüßt, daß –«
Sie verstummte und goß Änne eine zweite Tasse ein. »So, Fräul'n May, da ist der Zucker, bedienen S' Ihn'n!«
Änne kam mechanisch der Aufforderung nach und starrte dann irgendein Bild an. Die Dämmerung war herabgesunken, undeutlich verschwammen alle Gegenstände. Die Sängerin hatte ihren Spitz auf den Schoß genommen, streichelte, wie in Gedanken verloren, das weiße Fellchen ihres Lieblings und dachte an irgend etwas, das sie der Gegenwart entrückte. Sie hörten beide nicht, wie ein fester Schritt die Treppe empor und über den Flur kam. Der Azorl fuhr erst auf, als ein kräftiges Klopfen an der Stubentür erscholl, nun sprang er wie ein Gummiball zur Erde und bellte aus Leibeskräften. Fräulein Hochleitner eilte zur Tür und fragte ins Dunkle hinaus: »Wer ist da?«
»Verzeihen Sie, mein Fräulein – Günther, Oberförster Günther. Ich wollte meine Braut abholen, sie ist doch noch hier?«
»Ah! Schau'n S', wie galant! Herr Oberförster, bitt', kommen S' nur eini, – Fräul'n May, da ist er, der Herr Bräutigam!« rief sie Änne zu, die ganz erstaunt in ihrem Sessel 86 verblieben war, aber trotz der tiefen Dämmerung deutlich die hohe breite Gestalt ihres Verlobten erkannte.
»Guten Abend, Änne«, klang seine Stimme, »ich traf eben Tante Emilie auf der Straße, sie wollte hierher, um dich abzuholen, und ich bat, mir dies zu überlassen – es ist dir hoffentlich recht?«
Sie erhob sich langsam. »Ja!« antwortete sie halberstickt.
In diesem Augenblick glühte die Flamme der Lampe unter der Hand der Sängerin auf. Die Blicke des Brautpaares begegneten einander. »Wie blaß sie aussieht«, dachte er, »es ist ihr unlieb, daß ich hinter ihr kleines Geheimnis gekommen bin.«
Sie dachte nichts, fühlte nichts als die ungeheure Schuld, die sie ihm gegenüber trug.
»Aber da setzen S' Ihn'n do no a bisserl«, bat Fräulein Jeannette, »hat's denn gar so große Eil', Herr von Günther? Kann i 'Ihn'n an Likör anbiet'n – gelt, ja? Setzen S' Ihn'n doch!« Sie kam schon mit einem eleganten Likörkästchen an, das sie öffnete, und wies auf die Flaschen. »Benediktiner? Chartreuse? Creme de Cacao? oder Anisette? Was möcht'n S'?« rief sie fröhlich. »Ännerl, wollen S' net a –?«
Der Oberförster wandte langsam seinen Blick von dem schönen Mädchen im roten Plüschhauskleid, mit dessen langer Schleppe Azorl spielte, zu Änne hinüber. Sie hatte nicht wieder Platz genommen und stand hinter ihrem Stuhl in ihrem schwarzen Wollkleid, das nur durch einen einfachen weißen Leinwandkragen geschmückt war. Sie hatte einen gequälten Zug um den Mund; die Röte kam und ging auf ihrem Gesicht. Er trank das Gläschen aus, das ihm gereicht worden war. »Auf Ihr Wohl, Fräulein! Aber nehmen Sie es nicht übel, wenn wir aufbrechen, ich habe noch Wichtiges mit meiner Braut zu besprechen – wegen der Hochzeit, wissen Sie. Der Herzog reist am dreißigsten Dezember heim. Eben erfuhr ich's auf der Jagd von ihm selbst.«
»Also endli a Aussicht, daß man wieder ins Städterl kummt!« rief die Sängerin und schlug jubelnd die Hände zusammen. »Gott sei Dank, daß wir aus dem Räubernest erlöst wer'n! Wie wird sich's Mutterl freu'n! Mir is nur um ans lad, um die da« – sie wies auf Änne, die mit großen angstvollen Augen auf den Oberförster starrte – »von der trenn' i mi schwer, Herr Oberförster. Sie is a Gold, a rein's Gold und a Stimm hat's – – i hab' schon immer dacht, der Herr Oberförster, der versteht's, er schießt net allein die Hirscherln, er fangt a sogar die Nachtigall'n!«
Änne wandte sich hastig um und legte ihre Sachen an. Als 87 sie der Hochleitner die Hand reichte, sah sie aus wie eine, die entschlossen ist zu irgend etwas Verzweifeltem. »Gute Nacht!« sagte sie heiser und ging nach der Tür, an Günther vorüber, den sie noch ein paar Minuten unter dem Wortschwall der Sängerin ließ. An der Pforte des Vorgärtchens wartete sie auf ihn.
Es war jetzt völlig Abend geworden, aber der Schnee verbreitete eine bläuliche Helle auf der Straße, in welche die erleuchteten Fenster der Wohnungen rötlichgelb hineinflammten. Eine große Ruhe lag über der verschneiten Welt.
Jetzt trat er aus der Tür und kam die Stufen hinunter. Sie sah, daß er noch den Jagdanzug trug, die hohen Stulpenstiefeln und die Joppe. Er mochte auf die Nachricht von der bevorstehenden Abreise des Herzogs hin nur die Büchse ins Haus gestellt haben, um ihr die Kunde zu bringen; da hatte er Tante Emilie getroffen. Aber, wie um alles in der Welt, wußte die von ihrem Besuch bei der Hochleitner? –
»Komm, Änne, wir nehmen den Umweg an der Waldstraße entlang«, bat er.
Sie fügte sich. Stumm gingen sie nebeneinander, er auf der Fahrstraße, sie auf dem schmalen Trottoir. Als die letzten Häuser hinter ihnen lagen und der Waldpfad begann, der auf dieser Seite längs des Städtchens bis zum Schloß hinauflief, machte er eine unbeholfene Bewegung, als wollte er ihren Arm in den seinen ziehen, aber sie wich mit gesenkten Augen zur Seite.
»Änne«, sagte er endlich, und trotz der großen Stille, die sie umgab, klang es undeutlich, wie von tiefer Erregung gedämpft, »Änne, freust du dich nicht auch ein wenig? – Hast noch immer Angst vor mir? Bin ich dir noch immer so fremd? – Ja sieh, unser Brautstand, der – der war nicht, wie er sein sollte. Ich hatt' so wenig Zeit und hab' auch immer gedacht, ich wollt' dich nicht quälen, nicht erschrecken oder – hab' ich's getan, Änne?«
»Nein«, murmelte sie, »aber – –«
»Aber?« Es klang wie ein Schrecken aus dieser Wiederholung der Frage.
»Ich hab' dir etwas zu sagen –« stieß sie hervor und blieb stehen. Es war unter einer riesigen Eiche, die ihre knorrigen beschneiten Äste in die Luft streckte wie drohend erhobene Hände, wie verzweifelte Menschenarme.
»Noch etwas zu sagen? Jetzt noch?« fragte er langsam.
Durch ihre junge schlanke Gestalt ging ein Wanken. Er 88 streckte den Arm aus und zog sie an sich, daß sie fest an seiner Brust lehnte. »Nun sprich«, sagte er.
»Nicht so! Nicht so!« stammelte sie, und ein heftiges Schluchzen machte die Worte fast unverständlich. – »Lasse mich, laß mich! Ich kann nicht mehr lügen, ich kann nicht!«
»Lügen – du – Änne?«
Sie hatte sich freigemacht und stand vor ihm, das Haupt gesenkt, die Hände fest ineinander gefaltet. »Verzeih mir«, sagte sie hart, »ich dachte, es würde gehen, aber – es geht nicht. Ich fühle es, ich fühlte es schon lange, aber – ich – –«
»Was geht nicht? Daß du mich heiratest, daß du –«
Sie nickte hastig ein paarmal mit dem blassen verzerrten Gesicht. »Ja!«
»Änne, und du fühltest das schon lange?« Er war zurückgetreten, unwillkürlich hatte er den Hut vom Kopf gerissen und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
»Schon immer, ja«, sprach sie weiter, »ja, gleich von vornherein. – Aber ich wollte doch – weil – das ist ja gleich. – Nun will ich nicht mehr, und wenn du darauf bestehst, dann – ja – aber was danach kommt, das trage du auch! Du kannst's durchsetzen, ja, aber tu's nicht – ich bitte dich, es wird schrecklich – es – –«
Sie sank plötzlich in die Knie. Mit ihrer Kraft war es vorbei. Er bückte sich und hob sie empor. »Warum drohst du mir?« fragte er leise, »was denkst du von mir? Hast du vergessen, was ich dir einst sagte?«
Nicht weit von der Eiche, auf einem schmalen Weg, der in den Wald führte, stand eine Bank. Er trug sie dorthin, sie war ihrer zitternden Glieder kaum Herr. Und wie schon einmal hob er sie auf seinen Schoß und hielt ihren Kopf an seiner Brust.
»Nun sage mir alles«, bat er, »du kannst mir vertrauen. Ich habe dich ja groß werden sehen und bin dir ja sonst nicht fremd.«
»Sei nicht so gut zu mir!« schrie sie auf, »ich kann es doch nicht, was du willst – gib mich frei – laß mich –!«
»Du bist frei, Änne«, sagte er und ließ den Arm sinken, »und wenn du mir dein Vertrauen nicht schenken kannst, dann will ich ohne Fragen mein Geschick hinnehmen. Komm, steh auf!«
Aber sie konnte sich nicht erheben. Unter den schmerzdurchzitterten Worten des Mannes war sie in ein wildes Schluchzen ausgebrochen. »Verzeih! Verzeih! Verzeih!« wiederholte sie in diesem Paroxysmus von Verzweiflung und Reue – »frage mich nicht, ich bin so schlecht, so schlecht!«
89 »Nein, Änne, du bist nicht schlecht, du liebst mich nur nicht! Hast es vielleicht geglaubt, mich zu lieben – damals als du ja! sagtest auf meine Bitte, und hast dich geirrt. Du bist noch so jung, und ich muß mir Vorwürfe machen, daß ich die Hand nach dir ausstreckte. Weine nicht, armes Kind, du bist nicht schlecht!«
Sie hörte auf zu schluchzen. Ihr Kopf lag an seiner Schulter, und er streichelte ihr Haar, und etwas wie süße wohlige Erschlaffung überkam sie nach all dem Jammer. Ein grenzenloses Vertrauen zu diesem guten, selbstlosen Menschen mit dem edlen, schlichten Wesen, den sie so unerhört gekränkt hatte, schmolz ihren Trotz, schmolz ihre Kälte, ihre Verschlossenheit, sie fühlte den Drang, ihm alles zu gestehen, ihr ganzes Herz zu entlasten. »Ich will es dir sagen«, flüsterte sie kindlich in sein Ohr. »Sieh, ich war trotzig, war krank im Herzen – ich hatte ihn so lieb, und wie er die andere nahm, da wollt' ich ihm zeigen, daß –« sie stockte, sie fühlte sich plötzlich auf den Füßen stehen, an den Schultern gepackt und geschüttelt von der Hand eines Rasenden.
»Gespielt mit mir – mit mir? – du! du!« stieß er hervor. Dann ließ er sie jählings los, daß sie taumelnd zu Boden sank, und dort blieb sie auf den Knien liegen und starrte von Entsetzen gelähmt zu dem Manne hinüber.
Er war auf die Bank zurückgesunken. Die Hände ineinander verschlungen, in vorgebeugter Haltung saß er da und sah zu Boden; Änne wußte nicht, wie viele Minuten. Endlich stand er auf, nahm den Hut aus dem Schnee. »Komm!« sagte er mühsam, »hier kannst du nicht bleiben.«
»Hermann!« schrie sie und rutschte auf den Knien zu ihm hinüber. »So hatte ich es ja nicht gemeint! Daran hatte ich nicht gedacht!«
»Steh auf«, unterbrach er sie, »ich bin dir ja Dank schuldig, daß du den Mut gefunden hast, mich aufzuklären, den Mut der Verzweifelten in der letzten Stunde!« Er half ihr, sich emporzurichten. »Du machst's mir leicht, das Scheiden. Komm, die Eltern werden dich vermissen.«
»Die Eltern!« stammelte sie. »Die Mutter!«
»Hast Angst, vor sie zu treten mit deinem Geständnis?« fragte er bitter, ohne sie anzusehen. »Nun – – dann werde ich dir das abnehmen. Fürchte nichts, ich verrate nichts von dem – dem andern, werde ihnen nur sagen, daß es uns beiden nach reiflicher Überlegung ratsam scheine, zu scheiden – daran müssen sie sich genügen lassen!«
Sie waren nach raschem Wandern jetzt auf den Schloßplatz 90 getreten, und angesichts der erleuchteten Fenster ihres Elternhauses überkam es Änne wie ein Fieberschauer, da ihr das Unerhörte ihres Benehmens diesem Manne gegenüber klar wurde. Sie blieb vor ihm stehen und hob die gefalteten Hände empor – er ging vorüber, als sähe er ihr Gebaren nicht.
»Willst du mir nie verzeihen?« rief sie und erfaßte den Ärmel seines Jagdrockes mit zitternden, krampfhaften Fingern, »du weißt ja nicht, was ich gelitten habe!«
Sein Fuß stockte noch einen Augenblick, der Ärmel entglitt ihrer Hand. Er schritt die Stufen hinauf, öffnete die Haustür und trat zur Seite, um sie einzulassen. »Leb wohl, Änne«, sagte er ernst, indessen sie an ihm vorübereilte in stürmischer Hast, kaum wissend, wie sie durch den Flur kam und die Treppe empor.
Als die Rätin aus der Stube ihres Mannes schaute, um zu sehen, wer eingetreten sei, erblickte sie im schwachen Schein des Flurlämpchens nur den Oberförster, der regungslos dastand, den Hut auf dem Kopfe, die Hände im Jagdmuff, und zu der Treppe hinüberstarrte.
»Herrgott – du bist es, Günther? Hast du Änne nicht gesehen?« rief sie. »Um's Himmels willen, es ist ihr doch kein Unglück geschehen?«
Da wandte er sich schwerfällig um, nahm den Hut vom Kopfe mit einer müden Bewegung und sagte: »Ich habe sie gesehen und gesprochen, sie ist eben nach oben gegangen. – Und jetzt möchte ich mit Ihnen reden, Frau Rat, und mit Ihrem Manne.«
Sie schwieg, betroffen von seinem Aussehen, seiner Stimme, und bedeutete ihn durch eine Handbewegung einzutreten.
»May«, sagte sie gepreßt ins Zimmer hinein, »Günther hat uns etwas mitzuteilen.«
Im Mayschen Hause war es am Tage nach der aufgehobenen Verlobung Ännes, als läge ein Toter darin. Die Rätin ging umher mit dick verweinten, aber zornsprühenden Augen, sie erklärte ihrem Manne und jedem, der es hören wollte, diese Geschichte bringe sie noch unter den Boden! Eine zurückgegangene Verlobung war nach ihrer Ansicht etwas Schmachvolles, Ehrenrühriges. In Breitenfels sei das, soweit sie sich erinnern könne, in einer honetten Familie niemals vorgekommen; Änne sei blamiert auf Lebenszeit.
Als der Oberförster gestern mit gefurchter Stirn und kurzen Worten den Eltern die Tatsache mitteilte, daß er und Änne übereingekommen seien, sich zu trennen, hatte die Rätin sich gesträubt, es zu glauben, und behauptet, Änne sei nur 91 verschüchtert, er solle doch um Gottes willen keinen Unsinn reden, ihre Tochter werde ihn sofort um Verzeihung bitten! Er dürfe es doch nicht für Ernst nehmen, wenn ein kindisches Mädchen trotze! Mit flehender Beredsamkeit begann sie zu erzählen, daß auch sie kurz vor der Hochzeit den Einfall bekommen hatte, May den Laufpaß zu geben, so ein ungeheures Bangen habe sie erfaßt vor dem ernsten Schritt. Er solle doch Geduld üben, Änne müsse sich falsch ausgedrückt haben! Und nach jedem Satz hielt sie ein und schnappte nach Luft wie ein Ertrinkender und fragte: »Nicht wahr, May?«
Der Oberförster aber hatte ihre Hand ergriffen, ihr gedankt für die treue mütterliche Gesinnung, dem Rat die Rechte geschüttelt und sich zum Gehen gewandt, ohne weitere Worte. Und nun war es still geworden in dem Zimmer, das er verlassen hatte.
»Fasse dich, Alte«, sagte der Rat, indem er der kreidebleichen Frau auf die Schulter klopfte, »wer weiß, was es gegeben hat! So recht gefiel mir die Brautschaft nie. Das Mädchen tat's wohl in der Übereilung, in dieser Frage haben nur sie und er zu entscheiden. Wir wollen's tragen mit ihr«
»Und der Skandal und das Gerede?« Die erbitterte Frau lief aus dem Zimmer und geradeswegs nach Ännes Stube.
Das Mädchen saß da in der Kälte – das Feuer im kleinen Ofen war längst erloschen – ganz wirr noch, körperlich und seelisch erschüttert. Die Mutter stürmte ins Zimmer und stieß in der Dunkelheit so heftig an eine kleine Etagere, die Ännes sorgsam behütete Nippes trug, daß das zierliche Gerät klirrend auf den Fußboden flog, wo es noch einige ärgerliche Fußtritte erhielt.
»Ich will dich nur fragen«, begann sie, mit zitternden Händen nach den Streichhölzern tastend und Licht anzündend, »ob du eigentlich bei klarem Verstand bist. Augenblicklich setzt du dich hin und bittest Günther um Verzeihung – schriftlich! Das wäre noch schöner, drei Wochen vor der Hochzeit jemandem den Stuhl vor die Tür zu setzen! Das kann sich kein Dienstmädchen erlauben – du – meine Tochter erst recht nicht! In fünf Minuten bist du unten, liebes Kind, und schreibst – verstanden?«
Aber ihr Einschüchterungsversuch mißlang kläglich, denn Ännes ganzer verzweifelter Trotz stemmte sich gegen diese Vergewaltigung.
»Nein«, sagte sie kurz, »du hast kein Recht, mich zu zwingen.«
»Kein Recht?« stammelte die Mutter atemlos. »Ich will dir etwas sagen, du liebloses, unkindliches Geschöpf, du: wenn ich 92 keine Rechte habe, habe ich auch keine Pflichten mehr gegen dich – verstanden?«
Die Hand der maßlos erbitterten Frau hatte sich auf die Schulter ihres Kindes gelegt und krampfte sich fest wie Eisen. »Ich sage dir, wenn du darauf bestehst, den Mann vor den Kopf zu stoßen, dich um diese anständige Versorgung zu bringen, so sieh auch zu, wie du ohne deine Mutter fertig wirst! Zwischen uns beiden ist's aus. Das merke dir!«
»Ja, ich verstehe – ich werde gehen.«
»Zu Günther?«
»Niemals! Das kann ich nicht.«
Änne war aufgestanden, hatte ein Tuch vom nächsten Stuhl gerafft und sich der Tür genähert.
»Wohin?«
»Das ist ja gleichgültig – nur fort!« stieß das Mädchen hervor.
Die Rätin stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor die Tür. Ihr war angst vor dem entschlossenen Aussehen der Tochter. Aus ihren Drohungen verfiel sie in weinerliche Anklagen: »Also das ist der Dank für all meine Treue und Liebe seit neunzehn Jahren, daß du deinem Vaterhause entlaufen willst wie eine Tolle, wenn dir nicht gleich der Wille geschieht, wenn man dir zuredet zum Guten, dich ermahnt, deine Pflicht zu tun, die du freiwillig auf dich genommen hattest? Denkst du, man spielt ungestraft mit solch heiligen Versprechungen? Aber gut, mein Kind, setze deinen Willen durch, die Strafe wird nicht ausbleiben! Und wenn du später hier herumhockst im Hause, ein altes verbittertes Mädchen, das überall sich zurückgesetzt fühlt, das keine rechten Pflichten hat, kein rechtes Interesse, womit es sein Leben auszufüllen vermag, dann wird die Reue schon kommen! Und wenn nicht eher – dann, wenn sie deinen Vater und mich hinausgetragen haben und du in der Welt einsam stehst und vergessen, dann, ja dann wirst du denken – hätt' ich doch, o hätt' ich doch – –«
»Aber, Schwägerin«, sagte da eine sanfte Stimme, »wie kannst du nur! Herrgott, 's ist doch besser, sie tritt zurück, wenn sie fühlt, daß es nicht geht, als daß sie sich und ihn unglücklich macht!« Tante Emilie war eingetreten, und ihre guten, angstvollen Augen suchten das Mädchen, das noch in ihrem eilig übergeworfenen Tuche dastand, die verstörten Augen auf die Mutter geheftet.
»Du hast gerade noch gefehlt!« murmelte diese.
Das Mädchen duldete es still und starr, daß die alte gutmütige Frau sie in die Arme nahm und ihr tröstende gute 93 Worte zuflüsterte. Die Rätin aber verließ das Zimmer. Sie hatte die Schlacht verloren, jetzt mußte sie an einen möglichst ehrenvollen Rückzug denken. Und nachdem sie an ihres Mannes Schulter sich ausgeweint hatte, verfügte sie sich mit mühsam erkämpfter Fassung in die Küche und erzählte zunächst dem verwunderten Dienstmädchen, daß Fräulein Ännes Hochzeit vorläufig noch aufgeschoben sei, weil – den Grund blieb sie schuldig. In der Nähstube lohnte sie die Mamsell Scheurig, die Näherin, ab – nach Weihnacht werde sie ihr sagen lassen, wann sie wiederkommen solle, und am späten Abend noch wirtschaftete sie in der Leinenkammer umher, bis auch das letzte Stückchen der Ausstattung in Truhen und Schränken geborgen war. Zum Glück hatte sie die seidenen Kleider für Änne und sich noch nicht gekauft. In der »guten Stube« sammelte sie die paar Brautgeschenke in ein Körbchen, Günthers und der Kinder Photographien und dergleichen, und stellte alles beiseite, dann endlich setzte sie sich hin und benachrichtigte ihre Jungen von dem traurigen Begebnis.
Jedem von ihnen schrieb sie: »Und wenn man nur wenigstens wüßte, warum sie ihn nicht mehr will. Vater und ich stehen vor einem Rätsel. Sie sagt: ›Ich kann nicht!‹ und damit ist sie fertig. Vater hat sie eben zu sehr verzogen, und Tante Emilie erst recht mit ihrer sentimentalen Gefühlsduselei. So werdet ihr ein recht verstimmtes Haus finden, wenn ihr kommt. Mich hat's arg mitgenommen und Papa auch, der läßt sich's nur nicht merken. Der Herzogin muß er's auch mitteilen, es ist das furchtbar fatal.«
Ja, als ob ein Toter im Hause weilte, so war's am andern Tage. Das Rasseln der Nähmaschine war verstummt. Die Oberförsterskinder, die sonst in aller Morgenfrühe schon angelaufen kamen, um Großmama May »Guten Morgen« zu sagen, blieben aus, und auf dem Kaffeetisch stand der Weihnachtsstollen unberührt.
Änne lag matt und fiebernd auf dem Bett. Der Vater kam herauf, und als er das liebliche kindliche Gesicht so verändert sah, strich er ihr leise über die Wangen. »Kind, Kind, wozu das alles? Was hast du dir dabei gedacht, als du dem Mann dein Jawort gabst?«
Eine heiße Röte überflackerte sie einen Augenblick, aber sie schwieg.
»Und was soll ich Durchlaucht als Grund angeben?« fragte er.
»Ich weiß es nicht, Papa!«
94 Er ging kopfschüttelnd. »Wenn du kannst, nimm dich zusammen und steh auf«, rief er noch zurück. »Mutter wird dir nichts mehr sagen – sie hat sich drein geschickt.«
Änne kam auch richtig zum Mittagsessen; Tante Emilie drückte ihr verstohlen die Hand unter dem Tischtuch. Der Rat schien zerstreut. Der Mutter Heftigkeit war einer resignierten Miene gewichen, jede Bewegung drückte aus: Ja, was soll man tun, man muß sein Kreuz eben tragen! »Und Durchlaucht«, fragte sie endlich in die Stille hinein, während sie das Rindfleisch zerschnitt, »was hat denn Durchlaucht gesagt zu der Geschichte?«
»Sie war sehr teilnahmsvoll, gütig wie immer«, erwiderte der Rat, »meinte, sie habe sich damals eigentlich recht gewundert über die Verlobung. Es sei gewiß jetzt eine schwere Zeit für das junge Mädchen, und ob wir sie nicht eine Zeit lang auf Reisen schicken wollten.«
»Du Grundgütiger – auf Reisen!« wiederholte die Frau Rat, der die Tränen abermals in die Augen schossen.
»Ich antwortete ihr auch: ›Durchlaucht, in der Lage, meine Tochter auf Reisen zu schicken, bin ich nicht. Bedenken Durchlaucht, daß ich zwei Söhne habe! Sie muß es auch hier überwinden können.‹ – Dann meinte Durchlaucht, es sei doch fatal, daß Günther so in der Nähe sei, aber der Herzog werde ihn schwerlich versetzen wollen. Und zuletzt fügte sie noch den Wunsch hinzu, daß Änne dereinst ein anderes Glück finden möge – das richtige. Wie gesagt, sie war gütig wie immer. Mir tat es wohl, mich auszusprechen, aber daß die Ribbeneck dabei saß, das störte mich – sie machte ihr albernstes Gesicht dazu!«
Änne zuckte ein wenig. So! Wenn's die Ribbeneck wußte, dann hatte auch er es bereits erfahren, und was würde nun folgen? Sie legte Messer und Gabel hin, sie konnte keinen Bissen hinunterbringen.
Nachmittags kam ganz zufällig die Frau Oberamtmann Meyer von der Domäne – als Klatschbase gekannt und gefürchtet im ganzen Städtchen. Frau Rat erblaßte, als das Dienstmädchen ihr diesen Besuch meldete.
»Hast du gesagt, daß ich zu Hause bin?« fuhr sie das verblüffte Wesen an.
»Ja, Frau Rätin – – sollte ich nicht?«
Stöhnend erhob sie sich aus dem Lehnsessel hinter dem Ofen der Eßstube, an dessen Lehne sie ihren schmerzenden Kopf gepreßt hatte. »Nun geht's los«, sagte sie zu Tante Emilie, »der läßt es keine Ruhe, bevor sie nicht alles weiß. Man möchte 95 sich doch am liebsten verkriechen! Die Geschichte überlebe ich nicht!« Mit dieser wiederholten Prophezeiung verfügte sie sich in die »gute Stube«.
Die Frau Hofprediger und die Frau Kaufmann Kruse kamen ebenfalls noch kurz hintereinander, wie das Dienstmädchen Änne und der Tante Emilie berichtete.
»Lieber Gott«, sagte die Tante, »wenn doch deine Mutter etwas ruhiger wäre! Sie reibt sich ja ganz auf!«
»Es tut mir auch so leid«, klagte Änne, »aber – ich kann's nicht ändern, Tante.«
Die alte Dame seufzte; dann war's wieder still. Nach einer Stunde ging draußen eine Stubentür, die Damen verließen das Haus. Sie sprachen bei der Verabschiedung alle miteinander, der Lärm drang bis in das stille Zimmer. Dann energische, kurze Schritte, die Hausfrau riß die Tür auf, eine flackernde Röte lag unter den tränenfunkelnden Augen.
»Wenn ich den Schlag nicht kriege, dann soll's mich wundern«, sagte sie keuchend. »Ei Gott! Ei Gott!« – Sie stieß eine Fußbank zur Seite und band unmotivierterweise ihre Schürze ab, um sie gleich darauf wieder anzulegen.
»Weißt du, was sie sprechen in der Stadt?« fragte sie, endlich vor Änne stehenbleibend.
»Nein, Mama, es ist mir auch gleichgültig.«
»So? Mir aber nicht, wenn man erzählt, du habest dich auf den Kerkow gespitzt gehabt und aus purer Wut den andern nehmen wollen!«
Änne sprang empor, alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen. »Ah!« stieß sie hervor, »wer sagt das?«
»Wer? Ja, wer! Siehst du, das ist dir nun doch außerm Spaß! Nun stopfe mal die Lügenmäuler!«
Änne saß schon wieder, sie antwortete nichts mehr.
»Ich habe den Damen meine Meinung wahrlich nicht vorenthalten«, redete die Mutter weiter, »sie lügen ja den Himmel mit der Hölle zusammen! Wahrscheinlich habest du ein Vögelchen singen hören, daß da droben nicht alles mehr stimmt zwischen dem Brautpaar – erzählt man sich, und darum habest du den Bruch herbeigeführt mit Günther – – Herrgott!« sie preßte die Handflächen gegen die Schläfen und gab dem unglücklichen Fußschemel einen Stoß in entgegengesetzter Richtung, daß er durch die halbe Stube flog.
Änne erhob sich und schritt stumm hinaus. Sie wußte kein Wort von diesem Zerwürfnis, niemand hatte je zu ihr etwas davon erwähnt; sie hatte überhaupt nicht darüber nachgedacht. Aber daß ihr Geheimnis auch nur andeutungsweise bekannt 96 war, das brannte sie wie Feuer. Eine Viertelstunde später pochte sie bei Fräulein Hochleitner an. Natürlich wußte auch sie bereits von der Entlobung Ännes.
»Jesus Maria!« rief sie, als sie das blasse Gesicht ihrer jungen Freundin sah. »Ist's wahr?«
Änne streckte ihr die Hand hin – der Goldreif fehlte. »Fragen Sie mich nicht weiter, ich kann nicht mehr davon sprechen« bat sie.
»Aber, Schatzerl, wo werd' i! Sagen S' mir nur, ist's Ihna nun leichter ums Herz?«
»Ach, liebes Fräulein!« flehte Änne.
»Ja, und was fangen S' denn nun an, wenn S' net heiraten?«
»Lernen will ich – nach Berlin oder Dresden will ich, auf eine Musikschule!«
»Schauen S' mal an! Und sind die Herren Eltern mit einverstanden?«
Änne senkte den Kopf. »Ich weiß es nicht, noch sprach ich nicht mit ihnen darüber – ich bin noch so matt von gestern, von alledem – – und der Sturm wird auch besser dann erst entfesselt, wenn die Brüder nach dem Fest wieder abgereist sind. Die würden mich auch nicht verstehen, und es soll doch Friede sein am Friedensfest.«
»Sie meinen, die Eltern wer'n net gleich Ja und Amen sag'n?«
»Oh, lieber Himmel, nein! Aber, bestes Fräulein Hochleitner, ich kam mit einer Bitte her.«
»Schießen S' los, mein arm's Hascherl – wie sie blaß ausschaut – wenn's in meiner Macht steht, will i's tun!«
»Darf ich Ihnen die Hochzeitskantate vorsingen?«
»Weiter nichts? Hab' g'meint wunder was! Geh'n S' her – da – vier Kraizerl sind's – i markier' jetzt das Orgelvorspiel, einundzwanzig Takt' – so –«
Sie setzte sich ans Klavier und begann das Vorspiel. Änne sang, verschleiert, mit halber Stimme, als quöllen ihr Tränen in der Kehle empor.
»Glauben Sie, daß ich wagen könnte, das zu singen vor Zuhörern?« fragte sie dann.
»Aber warum denn net, wenn S' richtig disponiert sind? Denn wissen S', das muß sich anhör'n wie Glockengeläut und Engelstimmen, dös is mächtig, dös packt!«
»Natürlich! Aber wenn ich mir Mühe gebe?«
»Ja, keine Frag', freilich können S' es singen!«
»Dann kommt meine Bitte, Fräulein Hochleitner.«
97 »Nun?«
»Sehen Sie«, begann Änne, »ich möchte gern, daß meine Eltern und Brüder mich einmal öffentlich singen hören, bevor ich ihnen eröffne, was ich vorhabe, und eine andere Gelegenheit wüßte ich in Ewigkeit nicht. Tun Sie mir den Gefallen, werden Sie kurz vor der Trauung der Ribbeneck – heiser, bitte, bitte, und dann lassen Sie mich für Sie eintreten!«
Fräulein Hochleitner machte eine Wendung auf dem Drehsessel und blickte das vor ihr stehende Mädchen mit unverhohlenem Staunen an. »Dös versteh' i halt net«, sagte sie auf echt Wienerisch, »Sie wollen singen zu 'm Kerkow seiner Hochzeit?« Dann begann sie zu lachen. »Oh, Sie Schlauköpferl, dös hätt' i Ihn'n gar net zutraut! Wie S' dös ausdacht hab'n, so fein! Aber dös i ka Sünd, da tu' i mit! Um ein viertel vor drei Uhr am dritten Feiertag pünktli auf d' Minut' werd' i heiser, und a halb' Stünderl später singen S', dös heißt, wenn aus der ganzen Geschicht' no was wird, denn kan halb'n Kreuzer geb' i dafür.«
»Wie denn? Was soll denn das heißen?« fragte Änne gepreßt.
»Ja, haben S' denn davon net g'hört? Dös weiß doch jed's Kammerkatzerl drob'n im Schloß! 'ne arge Krempelei hat's geb'n zwischen dem Paar. Die Herzogin hat erst a Machtwort sprechen müss'n, daß 's einigermaß'n wieder auf d' Gleich kam. Man sagt, wegen dem armen Hascherl, der Schwester von ihm, sei's kommen. I glaub', er hat's gern woll'n in sein Haus nehm'n, das Wuzerl, das blasse! Aber die z'widere Person, die Braut, hat's net g'wollt, hat förmli Wutkrämpf' kriegt und hat g'sagt, er sollt' wähl'n zwischen ihr und der Schwester, und da –«
»Und da?« wiederholte Änne.
»Hat sie halt ihr'n Willen durchg'setzt. Jesus Maria, 's is a Kreuz und a Elend in der Welt mit die Männer, die sich immer als Herrn aufspielen und sich dann doch allweil ducken.«
»Er wird sie eben sehr liebhaben«, sagte Änne tonlos.
Die Sängerin lachte, daß ihre blendendweißen tadellosen Zähne hinter den roten Lippen sichtbar wurden. »Lieb?« rief sie, »lieb? Sie heilige Unschuld, Sie! Jetzt sein S' net bös, jetzt muß i lachen; dös glaub'n S' doch selber net. Na, also den Hochzeitspsalm woll'n S' ihm sing'n? 's is recht so! Aber machen S' 's brav, sonst schadt's Ihn'n mehr, als es nutzt.« –
Änne fragte nicht mehr. Als sie nach Hause gekommen war, stellte sie sich ans Fenster und schaute zu dem Lichte hinauf, als könnte sie durch die Mauer hindurch, geradezu in 98 Heinz Kerkows Herz sehen. Ob es wahr ist? ob es wahr ist? fragte sie, ob er unglücklich ist, schon jetzt? Warum aber hatte er nicht den Mut, den sie gehabt hatte, die Fessel zu durchreißen? Oder war das sein Mut, daß er festhielt an dem, was er gewollt hatte?
Vielleicht – vielleicht war sie die Feige gewesen! Ja, ja, ihr hatte gegraut vor dem Leidensweg! Günther hatte ihn ihr ja selbst geschildert, ohne Liebe geht es nicht!
»Es geht nicht!« murmelte sie zu dem Lichte hinauf, als wollte sie ihn warnen. »Im übrigen aber will ich zeigen, daß ich nicht feige bin, will mein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Ich will nützen in der Welt, erfreuen, aber ohne Zwang. Ich will frei sein, ich will das Recht haben, zu trauern um eine verlorene Liebe, ohne daß die Trauer zur Sünde wird – ich will leben!«