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Die Nacht würde Änne nie vergessen, solange sie lebte, das wußte sie genau. – Viel Schweres hatte sie durchgemacht in ihrem jungen Leben. Sie hatte es ertragen, daß der Mann, den sie liebte und von dem sie sich geliebt glaubte, urplötzlich sich von ihr abwandte, einer andern zu, die er noch tags zuvor verspottet hatte. Sie war mit ihrem tief verletzten Herzen, ihrem gekränkten Stolz, ihrem Trotz in eines andern Arme geflüchtet und hatte mit Entsetzen alle die Konsequenzen über sich ergehen lassen, die dieser verzweifelte Schritt mit sich brachte. Sie hatte es ertragen müssen, einen guten Menschen, der sie liebte, gekränkt und unglücklich zu sehen – 227 ihretwegen, weil sie ihm ihr Wort nicht halten konnte. Sie hatte die Kämpfe mit ihren Eltern bestanden um ihrer Selbständigkeit willen, um ihre Kunst. Sie hatte den Vater verloren und ihren Beruf, der sie hinweghob über die Misere des Lebens, der Mutter zuliebe aufgegeben; sie hatte sich gegrämt um den Mann, den sie unglücklich wußte, aber die Kunde von ihm, die ihr gestern geworden, das war das Allerschwerste!
Mit vollen Flammen schlug ihre alte heiße Liebe für ihn, den sie nie vergessen konnte, wieder empor. Nichts weiter als das eine beherrschte sie: er darf nicht untergehen, er darf nicht, Heinz Kerkow, der Gespiele ihrer Kinderzeit, ihre erste, einzige Liebe, der frische, lustige Mensch – es kann nicht sein, es darf nicht sein! Sie rief ihren alten Trotz zu Hilfe gegen das, was sie fortreißen wollte, was sie hintrieb zu ihm. – Was geht's dich an? Er hat dich mit Füßen getreten, dich und die Liebe! Es half nichts. – Er darf nicht so enden, er darf nicht, man muß ihn retten – aber wie? Und immer deutlicher, immer bewußter wurde es ihr: du kannst es, du mußt es! Geh zu ihm, rede ihn an mit dem alten treuen, kameradschaftlichen Ton der Vergangenheit!
Und wieder bäumte sich ihr trotziges Herz auf. Nein! Nein! Er könnte ja denken, ich wollte aufs neue um seine Liebe betteln, denn er ist jetzt frei. – Nein, lieber tot! – Aber es ließ ihr keine Ruhe. Geh zu ihm, er braucht eines Freundes Hand! Wenn ein Wildfremder am Rande eines Abgrundes ginge, ohne die Gefahr zu kennen, du würdest ihn zurückreißen, Änne, und den Mann, dem doch deine ganze Seele gehört, den willst du verkommen lassen?
Aber, er kann dich ja suchen! sagte das trotzige Herz.
Nein, nein! Du weißt ja, er ist krank. Er ist wie eine Pflanze, der ein Wurm an der Wurzel nagt, nicht mehr fähig, einen frischen Trieb zu treiben, einen rettenden Gedanken zu fassen. Er kann nicht mehr handeln – handle du!
Mein Gott, aber wie denn? Schreiben? Der Doktor hatte ihr erzählt, Heinz öffne die Briefe gar nicht mehr, die er bekomme, ausgenommen etwa die dienstlichen Schreiben. – Nein, sie muß ihn sehen, ihm in den Weg treten, muß zu ihm sprechen!
Was denn aber? Das wußte sie noch nicht; der Zufall würde ihr helfen, irgendein Wort würde sie finden, das ihm zu Herzen ginge, gar nicht mal viele brauchten es zu sein!
Tatsächlich schlief sie nicht einen Augenblick in dieser Nacht, und als der Tag anbrach, stahl sie sich aus dem Schlafzimmer und lief in den Garten. Er lag schon im vollsten 228 Sonnenschein, und der Tau funkelte auf allen Blättern und Gräsern. Sie vergaß ganz, daß sie im Morgenanzug war, einem alten, schwarz und weiß gemusterten Kattunkleidchen, dessen Rock ein klein wenig zu kurz geworden war, und dessen Bluse mit dem Matrosenkragen für ihre prächtige Gestalt ein wenig kindlich war. Sie hatte nur flüchtig die Haare geordnet; sie hingen ihr in zwei schweren Flechten herunter, wie Änne sie zu jener Zeit noch gern trug, als sie mit Heinz und Tante Emilie ihre Waldspaziergänge machte. Unter dem Kate Greenaway-Hut, der auch ein altes Inventarstück war, guckten ihre Augen ins Leere hinaus, auf ihrem Gesicht wechselten Röte und Blässe, und ihre Füße wandelten längst außerhalb des Gartens den Waldweg hinter der Domäne entlang, der zum Luisenschlößchen führte. Dort stand die Frau Försterin schon vor der Tür und sah ihr ganz verwundert entgegen.
»Hätt' Sie beinahe gar nicht erkannt, Fräulein May!« rief sie, »das kleidet Sie ja wie ein Backfischchen! Schönen guten Morgen! Wollen Sie so zeitig schon singen?«
Änne stutzte. »Ja«, sagte sie dann nach kurzem Besinnen, »wenn's nicht stört, Frau Försterin?«
»I Gott bewahre! Mein Mann ist längst im Walde, und meine alte Schwiegermutter – sie ist zwar krank, aber sie hört's nicht, die ist stocktaub.«
Und Änne eilte zu ihrem Klavier, und wenn's auch nur Übungen waren, die Töne beruhigten sie wie ein betäubendes, schmerzlinderndes Mittel. Sie hatte schon eine ganze Weile gespielt, da klopfte es und die junge Förstersfrau trat ein.
»Jetzt kommt der Herr Schloßhauptmann mit seinem Jungen über den Platz«, meldete sie wichtig, »der Kleine trinkt hier Ziegenmilch. Wollt's Ihnen nur sagen, Fräulein; gelt – es stört Sie doch nicht? Dieses Zimmer betreten sie wohl kaum.«
Änne stand hastig auf; sie fühlte ihr Herz bis in den Hals emporschlagen. »Doch, stieß sie hervor, »es stört mich! – Kann ich noch fortgehen, ohne – –?«
»Da sind sie schon!« flüsterte die Frau. »Bleiben Sie nur ruhig hier, Fräulein; lange halten sie sich ja nicht auf. Wenn der Kleine seine Milch getrunken hat, fahren sie weiter in den Wald.«
»Lassen Sie niemand hier herein!« forderte Änne.
»Nein doch! Nein doch!« beruhigte die Försterin, ganz verwundert das junge, so blaß gewordene Mädchen betrachtend. Und als jetzt eine schwache Kinderstimme ihren Namen rief, sprang sie zur Tür, schlüpfte hinaus, und Änne hörte, wie der Schlüssel von außen herumgedreht und abgezogen wurde.
229 Zitternd saß das Mädchen vor dem Klavier und horchte auf jedes Wort, das von draußen zu ihr hereinscholl.
»Treten Sie gefälligst in unser Wohnzimmer, Herr Schloßhauptmann, in der guten Stube ist gescheuert, noch ganz naß die Dielen, und draußen zieht's ein wenig, der Wind kommt von Osten«, sagte die Försterin.
Jetzt wurde das Wägelchen fortgeschoben, und nun waren sie nebenan, von Änne nur durch eine dünne Tür geschieden, vor welche man allerdings ein Vertikow gestellt hatte, das dem Klavier hatte weichen müssen. Aber als sei es in derselben Stube mit ihr, so deutlich klang jedes Wort der redseligen Frau in Ännes Ohr. Unbeweglich verharrte das Mädchen, und dabei befiel sie in der unmittelbaren Nähe des Mannes, um dessen trostloses Geschick sie während der letzten Nacht nicht die Augen geschlossen, zu dessen Rettung sie Plan auf Plan entworfen hatte, ein Gefühl der lähmendsten Niedergeschlagenheit.
Plötzlich zuckte sie empor – das war seine Stimme gewesen! Sie tat ihr beinahe körperlich weh, und sie griff unwillkürlich nach dem Herzen.
»Will's denn gar nicht schmecken heut, Heini? Bitte, trinke, mein Liebling!«
»Ich kann heute nicht, Papa, ich bin so satt und der Kopf tut mir weh!«
»Und hast noch nichts genossen heute«, sprach jetzt Heinz wieder.
»Quälen Sie ihn doch nicht, Herr Schloßhauptmann«, wandte die Förstersfrau mitleidig ein.
Dann hörte Änne rasche Schritte durch den Flur kommen, ein energisches Klopfen an die Tür nebenan, und die wohlbekannte schneidige Stimme des Doktors Lehmann scholl herüber: »Servus, junge Frau! Ach, und da sind ja auch die Herrschaften vom Schloß – Morgen, Herr von Kerkow! Morgen, mein Kleiner! Na, wie schaut's aus? Das lobe ich mir, da kann ich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, muß ohnehin über Land! Zur geehrten Schwiegermutter komme ich also nachher, Frau Försterin, und jetzt dürfen Sie uns ruhig etwas verlassen, meine Beste. Setzen Sie der alten Frau unterdes eine frische Haube auf und öffnen Sie die Fenster, ich liebe es, wenn meine Patienten möglichst hübsch aussehen und in guter, reiner Luft atmen.«
Unter hellem Auflachen schien die also Aufgeforderte das Zimmer zu verlassen, denn die Tür ging und ein Weilchen war es totenstill nebenan.
230 Dann wieder des Doktors Stimme, der in den Flur hinausrief: »He! Junge Frau, holen Sie mal den kleinen Mann hier und fahren Sie ihn ein wenig auf und ab vor dem Hause!« Und kaum war das Rollen des Wägelchens verklungen auf den Steinfliesen des Flurs, als die laute Stimme des Arztes schon wieder erklang: »Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, Herr von Kerkow, daß das Kind sich in den letzten Tagen erheblich verändert hat. Es geht so nicht länger, der Knabe muß in andere Lebensbedingungen – – fahren Sie nicht so auf, mein Herr! Ich weiß ja, daß Sie alles mögliche tun für die Pflege des Kleinen, aber in der Atmosphäre von Resignation, in der Sie so langsam absterben, muß das zarte Kind bald vergehen. Mich aber interessiert das Kerlchen – als Arzt, wissen Sie – und ich möchte Ihnen daher den Vorschlag machen – vertrauen Sie ihn mir einmal an auf ein paar Monate – – wie beliebt?«
Heinz hatte irgend etwas gemurmelt.
»Allerdings – 'ne Frau habe ich nicht, nein, das ist richtig! Die haben Sie aber auch nicht, Herr von Kerkow. Mein Vorzug liegt eben darin, daß ich Arzt bin, daß solche Krankheitsfälle mein besonderes Interesse von jeher erweckt haben, und daß ich auch einigermaßen in der Lage war, Erfahrungen zu sammeln über die Behandlung derartiger Leiden. In unserem Stadtkrankenhause, zum Beispiel, bin ich längere Zeit der ordinierende Arzt der Kinderstation gewesen, und übrigens würde ich auch selbstredend für weibliche Hilfe sorgen; Schwester Viktoria ist eine vorzügliche Pflegerin. Und dann vergessen Sie nicht, daß ich im Mayschen Hause wohne, Verehrter, und daß sich die Frau Medizinalrätin brennend für meinen Plan interessiert, der darin besteht, daß ich in nicht zu ferner Zeit eine Heilanstalt für rhachitische Kinder zu errichten gedenke. Endlich gibt es da noch ein gewisses Fräulein May, das sich gestern erst mit wahrhaft himmlischem Mitleid nach dem Kinde erkundigte; ich bin überzeugt, sie würde manche Stunde für den armen kleinen Kerl übrig haben, denn das Mädchen hat das Herz auf dem rechten Fleck, ist überhaupt – alle Donnerwetter, aber das gehört nicht hierher, ich meine nur – –«
Änne hatte sich erhoben. Sie stand zitternd mit vorgeneigtem Kopfe, in den Augen ein glückliches Leuchten. Der liebe Gott selbst schien ihr Vorhaben fördern zu wollen.
»Ich danke Ihnen«, scholl da Heinz Kerkows Stimme, »ich falle nicht gern Fremden zur Last, und außerdem wüßte ich 231 tatsächlich nicht, wie Fräulein May dazu kommen sollte, sich um das elende fremde Wurm zu kümmern.«
»Wie sie dazu kommen sollte? Herr, wie kommt denn überhaupt der eine Mensch dazu, dem andern zu helfen? Weil's drin liegt im Menschenherzen, weil so ein goldenes Gemüt von dem Mädel seins gar nicht anders handeln kann – verstehen Sie?« schrie der Doktor ärgerlich. »Aber, wie Sie wollen, Verehrtester, wie Sie wollen! Es ist Ihr Junge, lassen Sie ihn in Gottes Namen zugrunde gehen – ich hab's gut gemeint! 'n Morgen, Herr von Kerkow!«
Nun eilende Schritte, ein hastiges Türschlagen, draußen das Rufen nach der Frau Försterin, und dann wurde es still.
Änne war wieder auf den Stuhl zurückgesunken, das Gesicht erblaßt, die Hände im Schoß gefaltet. Diese Worte von Heinz, diese paar Worte, mit der schneidenden, hochmütigen Betonung gesprochen, hatten sie getroffen wie ein kalter Strahl, hatten all den Trotz in ihr wachgerüttelt, den Liebe und Mitleid zur Ruhe geschmeichelt in ihrem Herzen. Wer so sprechen kann, hat nie geliebt, und sie, sie war drauf und dran gewesen, sich einer schroffen Zurückweisung auszusetzen in ihrer grenzenlos opfermütigen Liebe für ihn und sein Kind. Ihr Kopf bog sich plötzlich in den Nacken zurück – Törin, Närrin, die sie war!
Sie klappte den Deckel des Instrumentes zu, nahm ihren Hut und drückte auf die Klinke. Ach, man hatte sie ja eingeschlossen! Sie runzelte die Stirn und blickte ungeduldig im Zimmer umher. Klopfen wollte sie nicht, sie wußte nicht genau, ob der Herr Schloßhauptmann von Kerkow vielleicht noch im Zimmer nebenan saß. Aber sie wäre für ihr Leben gern aus diesem Hause geflohen. Da fiel ihr Blick auf das offene Fenster. Mit einem anmutigen Schwung saß sie plötzlich auf der Fensterbank und ließ ihre schlanke Gestalt ins Freie gleiten, es war ja ein so niedriges Parterre. Hochatmend stand sie unter den Tannen; mit einem kleinen Umweg durch den Wald konnte sie ungesehen entwischen. Aber Änne hatte vergessen, daß dieser Pfad wieder in den breiten Gang einmündete, der direkt zum Luisenschlößchen führte, und so prallte sie beim Hinaustreten aus seinem tiefen Blätterschatten plötzlich mit dem Herrn Doktor Lehmann zusammen, der seinen Stock im Kreise schwingend, den Hut im Nacken, eilig daherkam, dessen ärgerlicher Gesichtsausdruck aber bei dem Anblick des geliebten Mädchens dem verklärtesten Lächeln wich.
»Alle Hagel – Fräulein Änne!« stammelte er, den Strohhut schwenkend, »das muß ein schöner Tag werden, wenn einem 232 schon in aller Herrgottsfrühe so etwas in den Weg läuft – Gestatten Sie, daß ich mit Ihnen gehe? Muß nämlich jetzt nach Hause, Sprechstunde fängt an, und leben will der Mensch auch, das heißt – Kaffeetrinken. Haben Sie schon gefrühstückt?«
»Nein«, antwortete das junge Mädchen kurz.
»Tun wir's zusammen in Ihrem Garten?« bettelte er. »Herrgott, das wär' eine Idee! Wie ist's denn, tut der Kopf noch weh? Haben Sie gut geschlafen? Hat Ihre Frau Mutter schon mit Ihnen – ich wollte sagen, haben Sie Ihre Frau Mutter schon gesprochen?« verbesserte er sich, rot werdend.
»Ich schlief gestern abend schon, als sie kam, und sie heute früh noch, als ich ging, Herr Doktor.«
»So, so! Sie wollte Ihnen etwas erzählen, glaube ich«, stotterte er. »Na, das braucht aber nicht gleich heute früh zu sein. Erst frühstücken wir zusammen und, Fräulein Änne, wenn meine Sprechstunde vorbei ist, sagen Sie mir vielleicht – –«
Sie blickte ihn halb verwundert, halb zerstreut an. »Was denn?«
»Ich meine, wie Ihnen das gefallen hat – die Geschichte, das Märchen – das – was Ihre Mutter Ihnen erzählen will –«
Sie hörte ohne Interesse auf seine Worte, sie antwortete auch nicht, sie dachte schon wieder an die bitteren Worte von Heinz Kerkow. Und genau so zerstreut schritt sie ihm voran in die Haustür und bot der am Fenster entzückt aufschauenden Rätin einen Guten Morgen. Ja, ganz entzückt war die Frau Rat, weil sie die beiden so zusammen hatte kommen sehen. Die Änne mit der hohen Röte innerer Scham auf dem Antlitz schien ihr so bräutlich, so selig, und nun wollte gar der Doktor im Garten frühstücken mit der Änne – es konnte nicht anders sein, sie waren einig, die beiden, gottlob, sie waren einig!
Aber die erregte Frau hatte den Mut nicht, sich Gewißheit zu verschaffen. Sie lugte nur hinter den Gardinen hervor auf das junge Paar und beobachtete die Augen des Doktors, die nicht von dem jungen Mädchen ließen. Das saß abgewandt, in halber Verlegenheit und warf den Hühnern Brocken zu über den Drahtzaun hinüber. Als der Doktor sich erhob, um sein Sprechzimmer aufzusuchen – es wartete bereits ein Häuflein Patienten – da litt es die Mutter nicht länger, sie nahm die Schüssel Spinat und ein Messer und setzte sich zu Änne, und mit zitternden Fingern die Blätter verlesend, begann sie: »Du, Änne –«
233 Das Mädchen fuhr herum wie eine, die aus dem Schlaf erwacht. »Was willst du, Mutter?«
»Ich« – der Rätin stockte plötzlich der Atem. »Ach, du wirst's wohl schon wissen, du Schlaukopf – gelt?«
»Was denn, Mutter?«
»Hat dir der Doktor nichts gesagt?«
Änne mußte sich erst besinnen. »Ach so – ja – du wolltest mir etwas erzählen. Was ist's denn?«
»Weiter hat er dir keine Andeutung gemacht?«
Änne schüttelte den Kopf.
Die Rätin seufzte. »So sind nun die Männer«, dachte sie. »Wenn ich man bloß wüßte, wie ich es anfangen sollte, die Sache so zur Sprache zu bringen, daß es Ännes Herz rührt.«
»Er ist doch eigentlich eine Seele von einem Menschen«, begann sie laut, »der Doktor! Was, Änne?«
»Ich kenne ihn zu wenig, aber ich glaube, er ist wirklich ein guter Mensch«, gab Änne zu. Und plötzlich erinnerte sie sich, wie sie eben erst ein begeistertes Lob aus seinem Munde erlauscht hatte, und die Röte der Bestürzung stieg ihr purpurn in die Wangen.
»Warum wirst du denn so rot?« lachte die Rätin. »Du ahnst wohl schon, was ich dir sagen soll? Na, ich merk's ja, du weißt, daß der arme Kerl bis über die Ohren in dich verschossen ist, und –«
»Aber, Mutter!« rief Änne, doch ein Weiteres kam nicht über ihre Lippen, nur in die Augen drängte sich ein heißes Erschrecken über diese neue Werbung. »Du mußt nicht scherzen mit solchen Dingen, Mutter« setzte sie stotternd hinzu.
»Da sei Gott vor!« rief die alte Dame eifrig und stolz. »Es ist Wahrheit, Kind, so wahr wie ich hier vor dir sitze. Ich hab's auch lange schon gemerkt, und gestern abend bat er mich, ich sollte für ihn sprechen bei dir. Ihn macht ja die Liebe rein zum blöden Jungen! Nein, mein Änneken, es ist wahr!« beteuerte sie nochmals, »er will dich heiraten und – das hast du ja auch schon lange gemerkt, du Schlaukopf, du!«
»Und du hast ihm Hoffnung gemacht?« fragte das Mädchen und stand hochaufgerichtet vor der Mutter.
»Warum denn nicht? Worauf sollen wir denn noch warten, Kind? Denke doch nur – Vermögen, ein tüchtiger Arzt, die ganze Praxis des seligen Vaters hat er, und gut ist er dir, rein närrisch – ich dächte doch – –«
»Mutter«, stieß Änne hervor, »du durftest ihn nicht ermutigen, du hattest kein Recht dazu!«
Frau Rat stellte die Schüssel hin und warf das Messer 234 hinein. »Ich kann mir doch nicht denken, daß du so, gelind gesagt, so unvernünftig bist, Änne«, stotterte sie. »Komm mal her und laß uns beide ein ruhiges Wort darüber reden«, und sie zog die Tochter an der Hand tiefer in den Garten, »komm in die Laube da unten, dort hört uns niemand!«
Änne ließ sich ziehen, aber sie zitterte am ganzen Körper. Nun war sie wieder mitten hineingeschleudert in den Kampf. Sollte er denn niemals enden? Und nun drückte die Mutter sie auf die graugestrichene Lattenbank und blieb vor ihr stehen mit mühsam zusammengehaltener Ruhe und Sanftmut.
»Bedenke doch, ich bin Witwe und du bist ein armes Mädchen«, begann sie so leise und gütig, wie sie nie gesprochen hatte. »Es mag dich vielleicht keine übergroße Liebe zu ihm drängen, jedenfalls aber darfst du ihm deine Achtung nicht versagen. Du mußt seine Rechtschaffenheit und seinen Fleiß anerkennen, das ist gar nicht anders möglich. Du bist nun auch in dem Alter, wo man diese Eigenschaften zu schätzen weiß, denn was aus den vielgepriesenen Liebesheiraten wird, das kannst du recht deutlich an den Kerkows sehen. Der sogenannte Beruf eines Mädchens als Sängerin, als Lehrerin oder dergleichen ist ja doch eben nur ein Notbehelf für solche, die keinen Mann bekommen, und kurz und gut, liebes Kind, es wäre eine wahrhafte Sünde, eine wahre Vermessenheit, wolltest du dies Glück nicht annehmen, denn wenn du da draußen auch wirklich mal den Wind dir um die Nase hast wehen lassen – um zu ermessen, wie schwer das Leben ist für ein einsames Frauenzimmer, dazu hat dir, gottlob! bis jetzt jede Gelegenheit gefehlt.« Und nun begann sie zu schluchzen, und weil sie vergessen hatte, ihr Taschentuch einzustecken, nahm sie den Schürzenzipfel vor die Augen.
Über Ännes gesenktes Haupt ergoß sich dieser Redestrom mit niederschmetternder Gewalt, um so wirkungsvoller, als er in ungewöhnlich sanfter Weise zum Ausdruck gebracht wurde. Ach, und diesmal, fühlte sie, würde ihr die alte weinende Frau die Weigerung nicht wieder vergeben. Und sie mußte sich doch wieder hineinstürzen in Sturm und Wetter, sie mußte nein! sagen.
Sie stand auf. »Komm nur, Mutter, ich werde dem Doktor die Gründe meiner Weigerung selbst auseinandersetzen, will dir das Schwere nicht zumuten, oder – ich schreibe ihm.«
»Du willst nicht?« schrie die Rätin, alle Sanftmut über Bord werfend.
»Ich kann nicht, Mutter! Sei gut, ich bitte dich! Ich habe dich so sehr lieb, aber verlange nicht, daß ich unglücklich werde!«
235 Mit diesen Worten schritt sie an der Mutter vorüber, und entschlossen, diese Angelegenheit so rasch als möglich zu Ende zu bringen, lenkte sie ihre Schritte direkt in des Doktors Vorzimmer.
Als sie eintrat, saß dort nur noch ein altes Mütterchen aus den Bergen droben und wartete auf ihren »Ollen«, der zum Doktor gefahren war, »weil er's so arg auf der Brust hatte«, wie sie Änne mitteilungsbedürftig erzählte, und der »Neue« solle der »ollen Müller-Lorenzen so gut auf die Beine geholfen haben, solle ein ganz Kluger sein, der würde ja wohl auch ihren Gottlieb kurieren können.«
Dann endlich kam der »Olle« herausgehüstelt, und des Doktors Auge traf auf Änne, die mit ernstem blassen Gesicht neben dem Instrumentenschrank stand. Sein Herz hörte beinahe auf zu schlagen – das sah keiner bräutlichen Ergebung gleich, nicht dem Benehmen eines Mädchens, das liebt.
»Sie wollten mich sprechen?« stotterte er.
»Ja, Herr Doktor, aber lange soll's nicht dauern, ich weiß ja, Sie sind beschäftigt!«
Sie trat in das ihr so liebe Gemach, in welches sie so oft geschlüpft war, um dem Vater ein herzliches Wort zu sagen, ihm einen Kuß zu geben oder die kleinen Kümmernisse ihres jungen Lebens anzuvertrauen. Wo war er geblieben, der allezeit freundliche Mann, der treue, liebe Beschützer ihrer Jugend? Es war ihr, als fühlte sie in diesem Augenblick erst, wie furchtbar verlassen sie in der Welt stehe, wie sie auch nicht ein Herz ihr eigen nenne, das sie und ihr Handeln verstände.
Der junge Arzt wies auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch, aber er brachte die übliche Frage: »Nun, wo fehlt's denn?« angesichts dieses Besuches nicht über die Lippen. Er wartete, mit den Fingern auf der Tischplatte trommelnd, mit blassem Gesicht auf ihre Mitteilung.
»Mutter hat mir das Märchen erzählt, Herr Doktor«, begann sie, »vergeben Sie mir, wenn ich Ihnen sagen muß, daß es nie zur Wahrheit werden kann. Ich bin sehr unglücklich darüber, daß ich Ihnen vielleicht weh tue. Ich will Ihnen aber auch den Grund meiner Weigerung sagen – sehen Sie, ich habe einen andern lieb und werde ihn nie vergessen können – das Drum und Dran erlassen Sie mir wohl! Sie aber haben Anspruch auf eine Braut, die nicht nur Ihre Frau wird, sondern deren ganzes Herz Sie ausfüllen. Und nun bitte ich Sie um eines, Herr Doktor, um Ihre Freundschaft. Ich weiß es, Sie sind ein guter, kluger Mensch, und Sie verstehen meine Weigerung.«
236 Sie hielt ihm die Hand hin, zögernd erfaßte er sie und drückte einen unbeholfenen Kuß darauf, dann trat er rasch von ihr fort ans Fenster und sprach kein Wort.
Änne blieb noch ein paar Minuten und sah ihn traurig an. »Machen Sie es der Mutter nicht zu schwer«, bat sie; dann verließ sie die Stube. Und dort innen blieb einer, der setzte sich plötzlich wie todmüde an den Arbeitstisch, legte die Stirn in die Hand, und ein echter, großer Schmerz um die verlorene liebste Hoffnung seines Lebens schüttelte ihn.
Sie liebte einen andern, den sie nie vergessen konnte! Da war freilich nichts zu wollen! Da war kein Hoffen möglich!
Wer mochte es nur sein, der Glückliche? Und warum kam er nicht und riß sie an sein Herz? Was mußte er für ein Kamel sein, der so ein Mädchen harren und warten läßt, Jahr auf Jahr! dachte neidisch der arme Doktor. Vielleicht weiß es dieser Kerl nicht einmal, räsonierte er weiter, vielleicht hat er gar 'ne Frau, die er in einer dummen Stunde genommen hat – möglich. Armes Kind! Ach, Änne, du gute, reizende, ehrliche Änne – – und das ist nun das Ende der Geschichte meiner schier närrischen Liebe zu dir. Und wir sollen auch womöglich noch ganz freundschaftlich weiter miteinander verkehren! Der Teufel mag dein Freund sein – ich kann's nicht!
Nach einem Weilchen saß er in dem offenen Wagen und fuhr über die Berge nach dem einsamen Hüttenwerk, wo die typhuskranke Frau eines Beamten seiner wartete. Der Kutscher, der den allezeit gesprächigen, leutseligen Herrn zu unterhalten gedachte und heute keinerlei Antwort erhielt auf seine Bemerkungen, wandte sich verwundert nach seinem schweigenden Fahrgast um. »Jesses, Herr Doktor, Se hebben woll 'nen Schnuppen? Ihnen tranen ja de Oogen ordentlich!«
»Ja, freilich, einen ekligen Schnupfen«, gab er zu, »Gott weiß, wo ich ihn mir geholt habe!«
»Na, danach werd's klar im Koppe«, tröstete der Alte gutmütig.
»Das tut auch not!« pflichtete seufzend der junge Arzt bei.
Als Doktor Lehmann gegen Abend nach Hause zurückkehrte und Frau Rat ihr tiefgekränktes Herz ihm gegenüber auszuschütten gedachte, war bereits der dritte Bote vom Schlosse da, der den Herrn Doktor hinaufholen sollte.
»Komme gleich! Was ist denn los?« fragte er. Und dann gab er dem Kutscher, der ihn hergebracht, einen Zettel an Schwester Viktoria. »Sie fahren erst noch mal hinaus, Dillge. Eine Pflegerin, die ihre Sache versteht, muß zu Faktors noch in dieser Nacht, sonst kriege ich die Frau nicht durch. Und das 237 hier in der Apotheke besorgen Sie, während sich die Schwester zur Fahrt rüstet. Auf drei Wochen soll sie sich einrichten, ihre Kranken besuche ich schon und schaffe Hilfe, wo es nottut, das sind alles nur Bagatellen. – Na, und Sie sagen Herrn von Kerkow, daß ich in zehn Minuten oben sein werde«, wandte er sich an den Diener vom Schlosse.
Frau Rat saß am Fenster, Änne war im Garten und Tante Emilie lag mit Kopfschmerzen zu Bett. Es herrschte eine ungewohnte Stille im ganzen Hause. Die Mutter hatte seit dem Augenblick, da sie erfuhr, daß ihr Kind den Doktor endgültig abgewiesen hatte, kein Wort mit Änne geredet, hatte sich vielmehr einige Stunden lang eingeschlossen und war erst vor wenigen Minuten wieder zum Vorschein gekommen. Sie und Änne waren fertig miteinander, und es würde am besten sein, wenn der Trotzkopf wieder nach Dresden ginge! Morgen, wenn sie, Frau Rat, erst ruhiger geworden wäre, wollte sie es der Tochter vorschlagen.
Das junge Mädchen schritt währenddem langsam im Garten auf und ab. Sie dachte schon nicht mehr an den kleinen dicken Doktor, sie kämpfte noch immer mit ihrem Herzen, dem durch die Worte von Heinz so bitter weh geschehen war: wie käme denn Fräulein May dazu, sich um ein fremdes Kind zu kümmern? Dieses eine Wort »fremd« hatte mit einem Schlage alle frühere Zusammengehörigkeit verleugnet und war die Bestätigung, daß sie ihm nie, nie mehr gewesen war als – eine flüchtige Spielerei! – –
Und über der Welt, die soviel herbes Leid in sich barg, soviel Enttäuschung, wehte an diesem Abend der Duft des blauen Flieders geradezu berauschend, und auf die Berge und Wälder, auf Schloß und Städtchen goß der Mond seine Silberstrahlen und ließ die blühenden Apfelbäume in leuchtendem Weiß erscheinen. Aus dem Garten der Oberförsterei klang Zitherspiel und der Gesang einer Frauenstimme, das mochte die junge Frau Oberförsterin sein. Sie waren glückliche Menschen, die beiden, die dort wohnten, und in einer Stimmung, wie sie für solchen Abend paßte.
Änne stand still und lauschte ein Weilchen, dann kehrten ihre Gedanken mit zwingender Gewalt immer wieder zu Heinz zurück. Was mochte nur droben auf dem Schlosse geschehen sein? Der Bote hatte des Doktors Erscheinen so dringend gefordert. Ob der Kleine kränker geworden war?
Sie lachte plötzlich kurz auf – was ging das »fremde« Kind sie an!
Sie wanderte wieder auf und ab in dem Mittelweg, der 238 vom Hause an durch die Länge des Gartens bis zur Jasminlaube führte. Eben näherte sie sich wieder dem Hause, da stürmte der Doktor zur Vordertür herein.
»Fräulein Änne«, scholl seine Stimme im Flur, »Fräulein Änne!«
Sie blieb erschrocken stehen; was wollte er von ihr heute?
Nun trat er bereits in die Gartentür. »Ach, da sind Sie ja! Können Sie es über sich gewinnen, solch zudringlichen Burschen wie mir einen Gefallen zu tun? Wie ich Sie kenne, sind Sie nicht kleinlich, also – vergessen Sie mal ein paar Stunden lang, was heute geschehen ist, helfen Sie mir als barmherzige Schwester! Da droben, der Heini, das elende Tierchen, muß operiert werden, Halsabszeß mit Erstickungsgefahr, höchste Eisenbahn – verstehen Sie! Kerkow steht vor der Tatsache wie ein Gelähmter, ist zu nichts zu gebrauchen, und Schwester Viktoria ist soeben fort von Breitenfels, nach dem Hüttenwerk da oben. – – Binden Sie ein Tuch um und kommen Sie, unterwegs werde ich Ihnen sagen, was Sie zu tun haben. Zimperlich sind Sie ja nicht, und es handelt sich um Leben und Tod! Eilen Sie, ich bin gleich wieder hier mit meinen Instrumenten, nehmen Sie auch eine Schürze mit – –«
Ännes Kopf bog sich in den Nacken zurück. Was geht mich das »fremde« Kind an? wollte sie rufen, aber es würgte sie etwas in der Kehle, etwas, das mächtiger war als der Schmerz ihres verletzten Herzens, als ihr gedrückter Stolz.
»Sie wollen wohl nicht?« rief er zurückkehrend mit dem Saffiankästchen unter dem Arm. »Das dürfen Sie mir nicht antun, ich fordere diesen ersten Freundschaftsbeweis von Ihnen im Namen der Menschlichkeit!«
Aber sie schritt schon neben ihm durch den Flur.
»Wissen Sie«, sprach der Doktor weiter im Gehen, »dem Wurm wäre geholfen, täte er die Augen zu, aber der Kerkow, weiß Gott, der Mensch tut dann irgend etwas, das nachher nicht wiedergutgemacht werden kann!«
Sie schritten in größter Eile den Schloßberg hinan, nachdem Änne noch dem Mädchen eine Bestellung an ihre Mutter zugerufen hatte. Und die Mutter saß am Fenster und sah die zwei Menschen, von denen sie glaubte, daß sie nie wieder ein Wort zusammen reden würden, einträchtig nebeneinander über den Platz gehen und im Dämmer der Mondnacht verschwinden.
Was sollte das nun wieder heißen?
Droben im Schloß stand Heinz von Kerkow und starrte auf das Bettchen seines Lieblings, der sich in schweren Qualen wand. So rasch hatte die tückische Krankheit sich entwickelt, 239 daß nur noch eine Operation Rettung bringen konnte. Sein Einziger, sein Letztes, sein Liebstes war dem Tode geweiht – –
Ihm war so dumpf zumute, daß er die Größe dieses neuen Unglücks noch gar nicht voll ermaß. Er hatte die Anordnung des Arztes kaum recht verstanden – warmes Wasser, einen Tisch, frische Leinentücher, hellbrennende Lampen. – – Das Dienstmädchen, die knochige Person, die soeben noch auf dem Korridor von dem jungen Arzt zu der Würde eines dreifachen Kamels erhoben worden war, weil sie gar so ungeschickt das wimmernde Kind emporgehoben hatte, schleppte mit zitternden Händen im Nebenzimmer alles zusammen, was Doktor Lehmann gefordert hatte, und Heinz starrte auf diese Vorbereitungen, als gälten sie einem fremden, nicht seinem Kinde, seinem einzigen.
Und dann ging die Tür plötzlich auf und hinter dem Arzt kam eine schlanke, dunkle Gestalt über die Schwelle, und ein Paar Augen, ein Paar lieber trauriger Mädchenaugen suchte das Bettchen des Kindes. Heinz trat betroffen einige Schritte zurück und faßte nach dem Tische, und da kam sie schon herüber zu ihm und sagte mit einer Stimme, der man anhörte, wie schwer das Sprechen ihr wurde: »Erlauben Sie, bitte, Herr von Kerkow, daß ich, in Ermangelung anderer weiblicher Hilfe, dem Herrn Doktor ein paar Handreichungen tun darf – ich will gewiß ebenso sorgsam sein, als wäre es mir« – – »kein fremdes Kind« hatte das trotzige Herz ihr zugeflüstert, aber ihre Lippen stockten angesichts dieses zusammengebrochenen Menschen, der vor ihr stand, und wie vor Frost schlugen ihr die Zähne zusammen.
»Ich danke Ihnen«, stammelte er, »ich danke Ihnen.«
»Wollen Sie die Freundlichkeit haben, uns zu verlassen, Herr Schloßhauptmann«, befahl jetzt Doktor Lehmann, »ich werde Sie benachrichtigen, sobald Sie wiederkommen dürfen. Ich liebe nicht«, betonte er, als Heinz zögerte, »wenn Angehörige bei einer Operation zugegen sind – hier ist nur fremde Hilfe am Platz.«
Und dann führte er kurzerhand den Schloßhauptmann hinaus, und Heinz saß am Fenster des Zimmers, das einst seine Schwester bewohnt hatte, die Hände über dem Knie gefaltet, unbeweglich. Würde es sterben, das Kind, der kleine liebe Gefährte seiner einsamen Tage? »Ein letzter Versuch«, hatte der Arzt gesagt – furchtbares Wort! Und war es auch ein armes Krüppelchen, für ihn bedeutete das Kind alles – alles! Denn nachher, dann – – er wollte nicht weiter denken.
Und die Minuten schienen sich zu Ewigkeiten zu dehnen, bis 240 man ihn rief. Und als dies endlich geschah, als der Arzt ihn holte, da trat er auf den Zehen in das nur dämmernd erhellte Krankenzimmer. Am Bettchen des Kindes, das eingeschlummert schien, saß Änne May, und den Finger an die Lippe legend, forderte sie ihn stumm zum Schweigen auf.
»Sie bleibt hier die Nacht«, erklärte der Arzt, »und morgen auch, bis eine Schwester aus Brendenburg kommt. Ich gehe nur hinunter und ziehe mich um, dann komme ich zurück. Sie haben wohl ein Zimmer und ein Bett für mich, ich möchte für alle Fälle zur Hand sein während der nächsten Stunden. Sie, Herr von Kerkow, können sich legen, wenn Sie wollen, oder, falls Sie in der Nähe bleiben wollen – im Nebenzimmer ist wohl ein Stuhl, ein Sofa – nur äußerste Ruhe, bitte, äußerste Ruhe!«
Heinz ging gehorsam in die angrenzende Stube und warf sich in einen Sessel, von dem aus er das Bettchen des Kindes beobachten konnte. Es war totenstill in den hohen Räumen, das Flämmchen des Nachtlichtes warf seinen zuckenden Schein über die schlanke Gestalt, die in dem Fauteuil zu Füßen des Bettes wachte, den Kopf zurückgebogen gegen die Lehne, das schöne Gesicht nach oben gerichtet, unbeweglich, mit großen offenen Augen. Dann und wann richteten sich diese dunklen Augen mit einem unendlich weichen Ausdruck von Besorgnis auf das schlummernde Kind, aber immer wieder starrte sie empor zur Decke in schmerzlichem Sinnen.
Das war Änne May, die neben dem Bette seines Kindes wachte! Ist das ein Traum? Hat sie wirklich sich seines Kindes erbarmt?
In der lautlosen Stille, die in den Zimmern herrschte, nur unterbrochen durch den Glockenschlag der Schloßkirche, sah Heinz einen Augenblick die Gestalt des Arztes, der zurückgekehrt war und sich flüsternd zu Änne hinabbeugte. Dann fiel ihm ein, wie der junge Doktor am Morgen mit begeisterten Worten den Charakter Ännes geschildert hatte. Er empfand plötzlich ein lebhaftes Unbehagen, das seinen Höhepunkt erreichte, als er sich der Andeutungen erinnerte, welche die Frau Försterin ihm heute früh gemacht, nachdem der Arzt ihn verlassen hatte, droben, auf dem Luisenschlößchen: »Die Leute sagen ja, er wird Fräulein May heiraten.« – Er lächelte bitter. Sie war das erste Glück, das ihm unter den Fingern zerronnen war, und dann weiter, ein Schlag nach dem andern, und jetzt der letzte – sein Kind wird sterben. So saß er in dumpfer Verzweiflung – wie lange? er wußte es nicht.
Die Mädchengestalt hatte sich noch immer nicht gerührt. Nun 241 sah er, wie sie plötzlich an dem Bettchen niederkniete, wie sie vorsichtig das Kind berührte, dann hastig aufstand, ihren Platz verließ und an das Nebenzimmer klopfte. Im nächsten Augenblick war der Arzt da mit einer brennenden Kerze, die er Änne zu halten gab, während er sich über das Kind beugte. Dann richtete er sich empor und blickte dem jungen Mädchen in die Augen, dazu ein Zucken der Schultern; eine Handbewegung, die Heinz jäh emporfahren ließ. Wie hingeweht stand er plötzlich auf der andern Seite des Lagers, leichenblaß, mit verzerrtem Gesicht.
»Was ist's mit Heini?« fragte er mühsam.
»Herr von Kerkow«, antwortete der Arzt erschüttert, »er ist hinübergeschlummert, der Kleine, ohne Kampf, ohne Schmerz.« Er trat neben den Mann, der, wie verständnislos, die stille kleine Gestalt mit seinen Blicken umfaßte, und legte die Hand auf seine Schulter. »Ich weiß, was das heißt für Sie, Herr von Kerkow«, sagte er, »aber ich weiß auch, wieviel Schmerz und Erdenelend dem armen Kinde erspart sind. – Denken Sie nicht an sich, gönnen Sie ihm die Ruhe. Sein Leben war ein Leidensweg.«
Änne stand blaß, mit niedergeschlagenen Augen. Sie fand keine Worte für das, was sie bewegte. Heinz Kerkow aber wandte sich kurz um und ging ins Nebenzimmer, dessen Tür hinter ihm zufiel.
Die beiden Zurückbleibenden sahen sich fragend an. »Wir dürfen ihn nicht allein lassen, Fräulein Änne«, flüsterte der Arzt. »Gott im Himmel«, fuhr er fort, »der arme kleine Kerl ist erlöst, aber wenn dieser Mann weiter nichts hat auf der Welt – er lebte ja nur für das Kind –, glauben Sie mir, Fräulein Änne, er ist imstande und macht ein Ende – mit sich!«
»Was soll man tun?« fragte sie dagegen und preßte die Hände zusammen in furchtbarer Angst.
Doktor Lehmann ergriff plötzlich ihre Hand und führte sie in eine der tiefen Fensternischen. Dort öffnete er beide Flügel, so daß die im Mondlicht schimmernde weite Ferne vor ihnen sich auftat und der würzige Duft der Frühlingsnacht hereinwehte in das Sterbezimmer, zugleich mit den Liedern der Nachtigallen, die in dem Fliedergebüsch des Schloßberges zu singen begannen.
So standen sie schweigend, und eine ganze Weile verstrich, ehe der Mann zu reden vermochte, und Änne fühlte, wie seine Rechte zitterte, die er mit festem Druck um die ihrige gelegt hatte.
»Fräulein Änne«, begann er endlich mit mühsam beherrschter 242 Bewegung, »wenn ich nun wüßte, wer der Mann ist, den Sie nie vergessen können!«
Sie entriß ihm hastig die Hand, ihre Augen blitzten ihn durch die Tränen zornig an. »Herr Doktor!« sagte sie, tief verletzt.
»Vergeben Sie mir, Änne. Ihre Mutter selbst hat es mir verraten im grenzenlosen Zorn und in der Bitternis um einen zerschellten Lieblingsplan. ›Auf das Schloß haben Sie sie gebracht!‹ rief sie mir zu, als ich vorhin unten war, ›nun, das haben Sie klug gemacht, sie zu dem zu führen, um deswillen sie jeden andern verschmäht!‹ Es fehlte nicht viel, sie hätte mich einen Dummkopf gescholten. Sie aber, Änne, werden zu stolz sein, das zu leugnen. Es gehe mich nichts an, werden Sie vielleicht sagen – schön! Das weiß ich! Aber sehen Sie, Fräulein Änne, wenn man als Arzt nur anders könnte, als an das Wohl und Wehe seiner Patienten zu denken, selbst wenn einem – dämlicher Kerl, der man ist, das Herz sich umkehrt! Ich meine nämlich, Fräulein Änne, da Sie ihn nun doch einmal lieben mit jener großen Liebe, deren nur ein Frauenherz fähig ist, so erbarmen Sie sich auch über ihn, dann retten Sie den Mann vom Untergang!«
Sie stand, den Rücken ihm zugewendet, aber er sah, wie sie zitterte, wie sie sich mühte, ihrer Erregung Herr zu werden. »Was soll ich tun?« stieß sie endlich hervor, ohne sich umzuwenden.
»Das fragen Sie mich doch nicht, Änne? Wann hätte wohl je ein Mann das Rechte getroffen in solchen Fällen? Das kann nur einzig das Weib, das liebt. Sie wissen, was ihm fehlt – Freiheit, Arbeit, neuer Lebensmut, Energie – – Na, natürlich wissen Sie es, Änne! Nehmen Sie sich seiner an, stellen Sie den grundguten, edlen Menschen wieder auf seine eigenen Beine. Das kann eine liebende Frau, gewiß kann sie das – wie? das ist Ihre Sache. Und nun guten Morgen, liebe Änne, ich möchte ein wenig ruhen, ehe ich andere Patienten besuche. Sie wissen von Ihrem Papa her: wenn der Totenschein ausgestellt ist, ist der Arzt überflüssig.«
Er nickte ihr zu mit seltsam zuckendem Gesicht, suchte Hut und Stock und verließ das Zimmer.
Änne verharrte regungslos, die Hände um das Fensterkreuz geschlungen. Hinter ihr schlief der Kleine den ewigen Schlaf. Es war so still, so furchtbar still, sie meinte, ihr eigenes Herz pochen zu hören. »Gott, erbarme dich«, betete sie, »laß mich den rechten Weg finden, ihm zu helfen!«
Im Nebenzimmer schritt Heinz Kerkow auf und ab. Ihm war zumute wie einem Schiffbrüchigen mitten auf dem weiten 243 Ozean, keine rettende Planke, nichts wie Öde ringsum, entsetzliche lähmende Öde. Es lohnt nicht mehr, mit dem Weinen zu kämpfen, die Kraft ist erlahmt. Untersinken, Frieden finden dort unten, nur nicht weiter ringen müssen in dieser Hoffnungslosigkeit. – Sterben – –
Änne hörte dieses ruhelose Wandern wohl eine Stunde lang, dann wurde es still nebenan. Ein Schrank wurde geöffnet, ein paar Kästen auf- und zugeschoben und nun – sie barg ihre schlanke Gestalt dicht hinter dem Fenstervorhang, nur ihr Kopf beugte sich vor, mit angstvollen spähenden Augen – nun öffnete sich die Tür nach dem Sterbezimmer, Heinz trat auf die Schwelle und blickte sich um. Als er das Zimmer verlassen sah, kam er herein, ging festen Schrittes zu der Tür, die auf den Korridor mündete, verschloß sie und kehrte zu dem Bettchen seines toten Knaben zurück. Einige Augenblicke stand er und betrachtete finster die kleine Leiche, dann griff er in die Brusttasche, kniete vor dem Bett nieder und hob den Revolver.
In diesem Augenblick flog es wie ein Schatten an seinem Auge vorüber, eine kleine energische Hand drückte kraftvoll seinen Arm herab und eine klare Frauenstimme sagte: »Seit wann bist du ein Feigling, Heinz Kerkow?«
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Beim ersten Morgensonnenstrahl kehrte Änne zurück in ihr Heim. Das Haus war noch verschlossen, ebenso die Läden, nur in des Doktors Zimmer stand ein Fenster geöffnet, und sein Gesicht tauchte hinter den Gardinen auf, als Änne seinen Namen rief und ihn bat, die Haustür aufzuschließen.
»Wie ist er denn? Sprachen Sie ihn noch? Wie trägt er es?« forschte er leise, als sie eintrat.
»Wie ein Mann«, antwortete Änne, und sie drückte die Hand des jungen Arztes im Vorbeigehen.
Weiter erfuhren weder Tante Emilie noch die Mutter etwas über den Schloßhauptmann von Kerkow, überhaupt niemand. Dagegen erfuhr Änne etwas anderes, nichts mehr und nichts weniger, als daß sie die rückhaltlose Erlaubnis habe, ihrem Beruf wieder nachzugehen, und zwar in Begleitung der Tante Emilie. Und als die Tante sich erbot, doch lieber bei der Schwägerin bleiben zu wollen, hörte sie die Antwort: »Danke! Ich habe schon an Lieschen Weidner telegraphiert; sie kommt ganz zu mir – als Tochter. Ihr könnt ja nun völlig leben, wie ihr wollt in Dresden, braucht euch meinetwegen nicht zu sorgen!«
Im übrigen hüllte sich Frau Rat in Schweigen, und selbst 244 der Doktor existierte augenblicklich nicht für sie, denn dieser Mensch war das undankbarste Geschöpf, das je in ihrer Nähe gelebt hatte! Anstatt anzuerkennen, wie sehr sie beflissen gewesen war, seine Wünsche zu fördern, hatte er sie angedonnert: »Wie, Frau Rat, Sie wußten, daß das Herz Ihrer Tochter nicht mehr frei ist, und wollten sie trotzdem überreden, mich zu heiraten? Haben Sie denn eine Ahnung, hochverehrte Frau Rat, daß das – geradezu gesagt – perfide gegen mich, ja, gegen mich, gehandelt ist?« So drehte dieser kratzbürstige Mensch auf einmal die Geschichte um, als Lohn für ihre mütterliche Gesinnung. Hätte sie nur einen andern Mieter in Aussicht, dieser Doktor sollte schon dran glauben. Leider aber waren die zahlungsfähigen Junggesellen in Breitenfels sehr rar!
Die alte Dame packte mit undurchdringlichem Gesicht Ännes Sachen ein, fügte fast mehr als sie entbehren konnte an Leinenzeug dazu, wie jemand, der um Gottes willen reichlich und vollgemessen gibt, damit er dereinst nicht Vorwürfe zu erdulden braucht. Und als am Begräbnistage Heinis Änne und Tante Emilie vom Kirchhof zurückkehrten, war nicht nur alles aufs gewissenhafteste geordnet und eingepackt, es lag auch ein Kuvert neben Ännes Tasse, das einen Tausendmarkschein enthielt. »Dein mütterliches Erbe« stand darauf geschrieben mit großen Buchstaben.
»Aber, Mama?« sagte Änne peinlich erregt, »warum denn das?«
»Nimm es nur, dann ist zwischen uns alles erledigt! Du kannst nun tun und lassen, was du willst, und bist keiner Seele eine Verantwortung schuldig. Ich möchte sie auch nicht tragen, diese Verantwortlichkeit – du hast es so gewollt! Ich kann nur noch den lieben Gott bitten, daß er dich's nie bereuen läßt, den Weg gegangen zu sein, der dir der rechte schien.«
Am folgenden Vormittag reiste Änne ab, unversöhnt mit der alten, nach ihrer Meinung so schwer gekränkten Frau. Die Tränen rannen über ihr blasses Gesichtchen – die Augen der Mutter blieben trocken. Sie würde sich hüten, dem trotzigen Ding zu zeigen, daß ihr das Herz beinahe brach! – Der Doktor war vor Tau und Tag schon über Land gefahren. Abschiednehmen galt ihm im allgemeinen schon für etwas Schreckliches, in diesem Falle dünkte es ihn unmöglich.
Der Wagen rollte an dem Schloßgarten vorüber. Änne schaute noch einmal hinauf zu dem Erker, unwillkürlich, obgleich dort nichts zu sehen war als herabgelassene Vorhänge. Das Licht würde dort oben abends nicht mehr flimmern, der 245 Schloßhauptmann von Breitenfels war gestern, gleich nach dem Begräbnis, zum Herzog gereist, um seine Entlassung zu erbitten.
Tante Emilie wußte es. »Was er wohl anfangen wird?« fragte sie, zu Änne gewendet.
»Ich habe keine Ahnung, Tante.«
»Es sind doch alle Berufsklassen so überfüllt, und er ist so gar nicht mehr gewohnt, zu arbeiten –«
Ännes aufleuchtende Augen trafen sie plötzlich, und ein stolzes Lächeln ließ einen Augenblick ihre Zähne aufblitzen. »Der Heinz Kerkow? Um den ist mir nicht bange, Tante Emilie.«
»Was sagst du?« stotterte die alte Frau.
Aber Änne schwieg und sah ernst in die Ferne hinaus, in deren Dunst die Türme der Stadt schimmerten, von welcher aus die Eisenbahn sie entführen sollte, der Arbeit, der ungewissen Zukunft entgegen. Barg diese Zukunft auch ein Glück für sie? Ach, hoffentlich! Hoffentlich!
In einem Zimmer des vierten Stockwerkes in einem Miethause der Christianstraße zu Dresden saß Tante Emilie und wartete auf Änne, die aus der Musikschule heimkommen mußte. Die alte Dame war heute noch ungeduldiger, als wenn sonst die fünfte Stunde schlug, denn der Postbote hatte ein kleines Paket abgegeben, und außerdem war ein Brief gekommen vom Doktor Lehmann aus Breitenfels. Änne korrespondierte nämlich mit ihm ganz regelmäßig. Jede Woche langte solch ein Schreiben an.
Ja, vier Jahre waren vergangen, seitdem Frau Rat ihrer einzigen Tochter die Erlaubnis zum »Wandeln ihrer eigenen Wege« gleichsam aufgedrungen hatte, und wahrlich, leichte Wege waren es nicht gewesen. Die alte halsstarrige Frau in dem fernen Bergstädtchen ahnte nicht, wie sehr das Herz ihres Kindes sich um sie sorgte und bangte, wie es litt unter der stets verweigerten Annahme seines Besuches. Ein einziges Mal in all der Zeit war Änne nach Breitenfels gereist, damals, als eine böse Influenza Frau Rat auf das Krankenlager geworfen hatte, und da hatte Änne sie gehegt und gepflegt mit dem Doktor um die Wette, hatte ihr jede mögliche Stärkung verschafft, hatte mit tausend guten Worten um ihre Gunst geworben. Als aber die alte Frau wieder in ihrem Lehnstuhl am Fenster sitzen konnte, merkte Änne, daß ihr noch nicht vergeben 246 war, und sie reiste niedergeschlagen wieder nach Dresden, um in der Arbeit, in der Kunst, ihr Leid zu vergessen.
Mit dem Doktor hatte sie das Abkommen getroffen, von ihm wöchentlich über das Befinden der Mutter unterrichtet zu werden, und daß er gern an sie schrieb, dafür sprachen die herzlichen und doch respektvollen Briefe, in denen zwischen jeder Zeile die Versicherung zu lesen war, daß er sie nie vergessen werde trotz allem und allem. Geheiratet hatte er noch nicht, aber Änne hoffte, daß er die kleine blonde Cousine, die jetzt Tochterstelle bei der Frau Rat vertrat und die ihn heimlich mit aller Inbrunst einer ersten Liebe im Herzen trug, doch noch heimführen werde. »Zureden darf man freilich nicht«, hatte Änne zu Tante Emilie gesagt, »ich habe es erfahren, was daraus entstehen kann. Laß nur, er kommt von selber zu dem Entschluß!«
»Er wartet ja doch noch immer auf dich«, pflegte dann die alte Dame zu erwidern, »armer Mensch!«
Änne wußte ja zur Genüge, was Warten heißt, Warten in Qual und Ungewißheit, ohne jede Nachricht, ohne Lebenszeichen von dem, auf den man wartet. Sie selbst wollte es so. Sie hatte mit einem einzigen Wort eine Annäherung des geliebten Mannes abgelehnt, hatte den Mut gehabt, mit scharfem Messer in seine kranke Seele zu schneiden, damit sie gesunde.
»Ich kann mich nicht an Sie binden, Herr von Kerkow, ich bin selbst schwach und bedarf eines starken Armes, auf den ich mich stützen möchte. Es würde ein trostloses Wandern sein, wollte ich mich jetzt an Sie hängen. Aber, wenn Sie einst wiederkommen wollen als ein Mann der Arbeit, der auf eigenen Füßen steht, in welcher Stellung es auch sei, dann will ich Ihnen folgen. – Bis dahin leben Sie wohl!«
Und ohne ein Wort der Erwiderung hatte er sich daraufhin trotzig abgewandt. Sie begriff heute nicht mehr, wie sie damals so hatte sprechen können, so klar, so kalt und entschieden. Sie wußte, es war ein va banque-Spiel – alles oder nichts – der letzte Versuch, den Mann aufzurütteln aus seiner Apathie. Ob es gelingen würde? Wer konnte das wissen! Es war gut, daß sie mit Arbeit förmlich überhäuft wurde, denn in jeder müßigen Stunde trat sein Bild vor ihre Augen, das Bild, wie er am Bette des toten Kindes die Arme nach ihr ausstreckte: »Wenn du mich zwingst, zu leben, so bleibe bei mir, Änne!«
Da, da hatte sie jene Worte gesprochen. Sie wußte jetzt nur, daß er seinen Dienst aufgegeben hatte und hinausgezogen 247 war in das Leben. Wohin? Keine Kunde war ihr gekommen, aber tief in ihrem Herzen, da lebte die Hoffnung. Und wunderbar, je längere Zeit verging, um so größer und leuchtender wuchsen ihr die Schwingen, um so seltener kamen die Stunden des Zweifels, um so bestimmter erwartete sie sein Kommen.
Ein glänzendes Bühnenengagement hatte sie wiederum abgewiesen, in dem sicheren Gefühl, Heinz würde sie nicht gern auf den Brettern sehen. Es begriff sie niemand, sie gab sich auch keine Mühe, ihren Entschluß zu erklären. Sie unterrichtete, sie sang in Konzerten und Kirchen, immer von neuem alles begeisternd mit ihrer herrlichen Stimme, ihrer anmutigen Erscheinung. Sie war schlanker geworden und bleicher. Sie lebte ja auch gar so wunderlich dahin mit der alten Tante droben im vierten Stock, erzählten sich die Menschen. Besuche nahm sie nie an, und was sie nur erübrigen konnte, schleppte sie auf die Sparkasse. Sie war nahe daran, zu den Geizhälsen von Profession gezählt zu werden. Aber sie ließ sich nicht beirren und wenn sie in ihrer einfachen weißen Seidenrobe auf dem Podium stand – etwas anderes als weiße Seide trug sie nie –, so jubelte ihr alles zu und bestürmte sie um eine »Zugabe«, und Änne bewies, daß sie nicht geizig sei, sie sang drei, vier Lieder über das Programm hinaus.
Von dem Innenleben des Mädchens wußte auch Tante Emilie nichts. Sie glaubte, Änne lebe nur ihrer Kunst und habe den unseligen Liebestraum mit dem ehemaligen Schloßhauptmann von Kerkow längst vergessen. Daß sich das Mädchen noch verheiraten werde, glaubte sie nicht. Warum sollte sie auch? Es war so behaglich hier, Änne schien so glücklich in ihrem Beruf, und die kleine Häuslichkeit hielt sie, die Tante Emilie, so blitzblank und sauber – ihretwegen konnte es so fortgehen ohne Ende. Nur heute, heute war sie in Unruhe, denn der Brief des Doktors trug den Poststempel Berlin, eine schier unglaubliche Tatsache. Das Paketchen kümmerte die alte Dame nicht, jedenfalls mal wieder das Autographenalbum eines Backfischs.
Endlich wurde draußen die Korridortür geöffnet und im nächsten Augenblick trat Änne in das Zimmer, ein bißchen müde und abgespannt zwar, aber doch das alte liebe Lächeln um den Mund. »Guten Abend, Tantchen! Wie früh es jetzt schon dunkel wird, und ist erst Ende September!« sagte sie. Und ein Päckchen Noten auf den dazu bestimmten Schrank legend, setzte sie hinzu: »Ist Nachricht da von Breitenfels?«
»Dort liegt der Brief vom Doktor, Kind. Wundere dich 248 nicht, er ist aus Berlin – was in aller Welt will der in Berlin?«
Änne machte verwunderte Augen, setzte sich aber erst recht behaglich in den Lehnstuhl am Fenster, vor welchem die Blumen der alten Dame im frischen Herbstwinde nickten, und nahm die Tasse Tee, die die Tante ihr brachte. »Ach, siehst du«, sagte sie herzlich, die runzlige Hand streichelnd, »das ist die schönste Stunde des Tages, so wohlig und traulich. Und heute brauche ich nicht mal wieder fortzugehen, Tantchen, denn die Konzertprobe im Gewerbhaussaal fällt aus. Ich darf nach Herzenslust faulenzen. Aber nun zeig' mal den Brief von unserm Freund her – wahrhaftig, aus Berlin! Und das Paket? Ach, was wird in dem Paket sein – natürlich ein Album, in dem ich mich verewigen soll! Übrigens, Tantchen, denke dir, Fräulein Hochleitner hat sich in New York verheiratet, mir erzählte es eben eine frühere Schülerin von ihr. Nun aber, was will der Herr Doktor?« Dann las sie den Brief still für sich.
»Meine liebe, sehr verehrte Freundin!
Wie kommt denn der nach Berlin? werden Sie sagen, wenn Sie droben in der Ecke den Namen der Reichshauptstadt lesen. Ja, das raten Sie nur mal! Des Landes bin ich nicht verwiesen, auf die Brautfahrt habe ich mich auch nicht begeben, denn das bekannte Zitat: ›Willst du immer weiter schweifen usw.?‹ scheint ganz extra für mich erfunden zu sein. Ich könnte Ihnen nun vorlügen, daß der Kaiser mich zu allerhöchst seinem Leibarzt ernannt habe, oder daß ich von einem hiesigen Millionenonkel als Reisedoktor engagiert worden bin, fürchte aber, Fräulein Ännes klare Augen würden finster blicken, und sie sagte zu sich selbst: ›Er kann doch die Faxen nicht lassen, Gott weiß, was dahinter steckt!‹
Drum also heraus mit der Wahrheit, das heißt – erst zur Hauptsache! Mein Rapport über das Befinden Ihrer Frau Mutter war bereits vorgestern fällig, mich hielten indessen allerlei Reisevorbereitungen vom Schreiben ab, und außerdem nahm Frau Rat ein so außerordentliches Interesse an meiner Ausfahrt, daß sie mir tatsächlich die Zeit nicht gönnte, an Sie, Fräulein Änne, zu schreiben. Und nun zu des Pudels Kern! Ihre Frau Mutter befindet sich gut, und es sollte mich nicht wundern, wenn sie eines Tages urplötzlich in leibhaftiger Person in dem Stübchen meiner lieben Freundin erschiene, um – –
Ja, nun werden Sie ungläubig lächeln. Aber sehen Sie, 249 Fräulein Änne, Ihre verehrte Frau Mutter glaubt mir ganz einfach nicht, daß ich nach Berlin reise. Sie denkt – das geht aus ihrem ganzen Benehmen hervor – sie denk: Aha, der Doktor reist nach Dresden und holt sich die Braut, als welche Sie gemeint sind. Diese fixe Idee ist chronisch bei ihr, und nichts ist dagegen zu tun. Ich vermute, sie ist mit allerhand Schlichen hinter unsern harmlosen Briefwechsel gekommen, und ihre Kombinationen gelten ihr als Tatsachen.
Ja, Fräulein Änne, es ist zum Lachen. Wenn ich aber mitlachen soll, so kann ich's nicht hindern, daß ich dabei eine Grimasse schneide, wie die Kinder es tun, die das Weinen unterdrücken wollen. Jedenfalls wissen wir beide, daß Mutter May sich irrt, ich darf wohl sagen – leider irrt, aber eines andern zu überzeugen war sie partout nicht. Sie ließ sich ganz genau von mir beschreiben, wie man es macht, um nach Dresden zu gelangen, und ich wette, die eilige Zitierung der Schneiderin hing mit diesem ihrem Phantasiegespinst aufs engste zusammen. Also halten Sie sich bereit, einen abermaligen Sturm der Enttäuschung α χοντο meiner Reise über sich hinbrausen zu lassen.
Ich bin unschuldig diesmal. Ich bin nach Berlin gereist, um in der Charité eine neue, höchst interessante Heilmethode der Diphtherie kennenzulernen und zugleich mir das neue Krankenheim eines Kollegen in Charlottenburg anzusehen, nach dessen Muster ich das meinige in Breitenfels bauen will. Ja, Fräulein Änne, ich habe die Idee der Anlage einer Kinderheilanstalt aufzugeben, um mich der Nervenheilkunde zuzuwenden, und eine Klinik für Nervenkranke soll es werden.
Steht dieses Haus, dann führe ich auch die Braut heim. Ihnen will ich es anvertrauen – sie ist ein vernünftiges, gutes, kleines Mädchen, ist Ihre Cousine, und was dann ja doch die Hauptsache ist, sie will mich, so verwunderlich es auch bleibt! Wir beabsichtigen keine lange Verlobung, schon deshalb, um Ihre Frau Mutter nicht zu irritieren und um das Gerede der Leute zu vermeiden, die sich die geehrten Mäuler zerreden würden über das Brautpaar unter einem Dach. Zu Ostern mag dann die Bombe platzen, das heißt, mögen die Verlobungsanzeigen in die Welt gehen, dann am nächsten Sonntag die Verkündigung von der Kanzel, drei Wochen später die Hochzeit! Aber seien Sie nicht böse, Sie lade ich nicht ein, Änne!
Nun aber habe ich ordentlich gebeichtet, liebe Freundin. Leben Sie wohl! Mein Weg führt mich zwar an Dresdens Nähe vorbei, aber – ich habe wenig Zeit übrig, und dann, 250 nun den andern Grund kennen Sie – das Herz tut mir immer noch ein wenig weh in Ihrer Nähe.
Leben Sie wohl! Ich wünschte, ich hörte einmal von Ihnen, daß Sie glücklich geworden sind – Sie wissen, was ich meine.
Immer Ihr treu ergebener
Dr. Lehmann.«
Die alte Dame hatte, während Änne las, Hut und Mantel angelegt, ein Körbchen an den Arm genommen und wartete nur noch auf Mitteilung über den Inhalt des Schreibens, bevor sie ging, für den morgigen Tag einzukaufen.
Änne sah sie freundlich an. »Mutter ist wohlauf«, sagte sie, »und er ist studienhalber auf ein paar Tage nach Berlin gereist.«
»Kommt er nicht mal hierher?« fragte Tante Emilie.
»Nein, Tante, er hat keine Zeit. Willst du jetzt gehen? Ich hätte dich gern begleitet, aber ich bin ein wenig müde, und wenn auch die Probe ausfällt, durchsingen möchte ich meine Partie doch noch einmal.«
»Nun, dann auf Wiedersehen«, nickte die alte Frau. Damit trippelte sie hinaus, und nun war Änne allein. Sie hielt den Brief des jungen Arztes noch in der Hand, aber ihr Kopf ruhte an dem Polster des hohen altmodischen Lehnstuhls, und ihr Blick schweifte über Dächer und Baumwipfel fort bis zu den fernen Höhenzügen, die im Duft des sinkenden Abends verschwammen. Sie seufzte und schüttelte unmerklich den Kopf. Seit ein paar Tagen quälten sie plötzlich Zweifel und bange Ahnungen. Wenn ihm bis jetzt nichts gelang, gelingt's wohl nimmermehr – sie hätte ihn doch nicht ohne eine Hoffnung auf die Zukunft hinausgehen lassen sollen – –!
Wenn sonst dieser quälende Gedanke kam, dann hatte sie ihn noch immer mit dem alten frischen Mut in die Flucht geschlagen, heute wollte ihr das nicht mehr gelingen. Herrgott, innerhalb vier Jahren kein Lebenszeichen! Wenn jemand das wüßte, er würde sie belächeln ob ihres standhaften Wartens. Aber, wachsen denn auch Ämter und Anstellungen gleich Pilzen im Walde für jemand, der sich die nötigen Vorkenntnisse erst erringen muß, und sei es für das geringste Metier, oder sei es für ein Handwerk?
Nein! Nein! Und nun fing sie wieder an zu überlegen, an welche Küste der Sturm des Schicksals ihn wohl verschlagen haben mochte. Ach, vielleicht war er untergegangen, hatte es nicht vermocht, mit seinen schwachen Kräften das Boot zu steuern? Dann lächelte sie – ach, der Heinz Kerkow, einer 251 von denen, die nur zu wollen brauchen, um ein Ziel zu erreichen, der nur nötig gehabt hatte, wieder wollen zu lernen, der ging nicht unter, der nicht, trotz allem und allem! Und wenn ihn weiter nichts aufrechterhielt, sein trotziges Herz hielt ihn über Wasser! Sie wußte, daß er ihr beweisen würde, kein Feigling, kein Schwächling zu sein. Und während sie dieses dachte, mit Wangen, die tiefgerötet waren vor innerer Erregung, hatten ihre Finger den Bindfaden des kleinen Paketes aufgeknüpft, das graue Papier entfernt, und nun nahm sie aus seiner weißer Umhüllung ein Buch heraus. Auf dem einfachen braunen Kalikoband stand mit großen goldenen Buchstaben quer über dem Vorderdeckel:
»Im Kampf um das Lebensglück.«
Sie hob das Buch näher empor, schlug es auf und las das Titelblatt: »Im Kampf um das Lebensglück. Wahrheitsgetreue Skizzen von einem Schiffbrüchigen. Zehntes Tausend.«
Wer schickte ihr denn das Buch mit dem seltsamen Titel? Sie wandte ein zweites Blatt um, und plötzlich stand das Herz ihr still vor großem freudigen Schreck.
Verse! Die alte energische Handschrift, die sie aus den wenigen Zeilen, die er einst an sie geschrieben hatte, genau, ach so genau kannte! Sie war aufgesprungen in mächtiger Erregung, sie blickte in ihrem Stübchen umher, als könnte sie es nicht fassen, und dann sank sie wieder zurück in den Stuhl und versuchte zu lesen. Aber die Hände zitterten ihr so, daß sie das Buch nicht zu halten vermochte. Sie legte es auf die Fensterbank, beugte sich tief auf die Blätter, und im letzten Tagesschein las sie mit überströmenden Augen . . .
Und Ännes Kopf lag plötzlich auf dem Buche, sie weinte, weinte seit langer Zeit zum erstenmal wieder – vor Glück. Dann saß sie, das Buch an sich gepreßt, und ließ die Dunkelheit ihr heißes Gesicht verschleiern. Diese Stunde wog alle die langen traurigen Jahre des Wartens auf, in ihrem Überschwang von Hoffnung und Seligkeit. Sie dachte nicht darüber nach, was aus ihm geworden war. Sie fragte nicht: Wann kommt er? Sie war wie berauscht.
Tante Emilie fand sie noch im Dunkeln. »Aber, Kind, was soll denn das heißen?«
Und dann beleuchtete die herbeigeholte Lampe ein erglühendes Gesicht und Augen, die in einem Schimmer erstrahlten, wie die alte Frau sie nur einmal gesehen hatte vor Jahren, damals als Änne auf den Schloßball ging, kurz bevor sie sich mit Günther so Hals über Kopf verlobte.
252 »Kind« fragte die Tante, »ist dir etwas geschehen?«
Aber Änne schüttelte den Kopf. »Nichts Tante. Nur gelesen habe ich etwas und muß auch weiter lesen.«
Und sie setzte sich zum Tisch und fuhr fort in der Lektüre des Buches, und als Tante Emilie zum Abendessen mahnte, wurde das Mädchen zum erstenmal in ihrem Leben ungeduldig. Die alte Frau zog es ganz gekränkt vor, ihr Schlafzimmerchen aufzusuchen und die lesetolle, unbegreifliche Änne allein zu lassen.
Und das Mädchen las und las. Es waren Schilderungen aus Heinz' eigenem Leben, aus denen Änne mit pochendem Herzen erfuhr, daß er gleich ihr in der Kunst den verlorenen Herzensfrieden wiederzufinden gesucht hatte. Und wie frühzeitig, schon in Breitenfels hatte er den Grund zu seinem jetzigen Erfolge gelegt! Wie unrecht, wie bitter unrecht hatte sie ihm damals getan, als sie dem Schwergeprüften gesagt hatte, er solle zu ihr wiederkommen als ein Mann der Arbeit! Er war ein solcher aus eigener Kraft schon gewesen, ehe ihn das seelische Siechtum befiel. Aber sie konnte die Tränen trocknen, denn was nun folgte, war die Schilderung eines rüstigen und erfolgreichen Schaffens. Da Heinz der Liebe, die sein Glück bedeutete, sicher war, arbeitete er mit Lust und Freude, und es war ihm dann auch gelungen, in der Redaktion einer angesehenen Zeitschrift eine sichere und geachtete Lebensstellung zu erringen. Nun stand er auf eigenen Füßen, und jetzt wollte er kommen, sie zu fragen, ob sie ihm folgen wolle.
Es war in der ersten Morgendämmerung, als Änne vor Tante Emilies Bett stand und mit blassem Gesicht und leuchtenden Augen sagte: »Heute mußt du früher aufstehen, Tantchen, heute kommt mein Bräutigam!«
Die gute alte Seele fuhr ganz verstört empor, sie dachte, das Mädchen phantasiere. »Kind! Ach, du Barmherziger, ich hab' dir's ja schon gestern angesehen, als du aus dem Konservatorium kamst!«
Da erzählte ihr Änne die Geschichte des kleinen Pakets, und Tante Emilie mußte nun glauben, obgleich sie's schier unglaublich dünkte. Und wie rasch konnte sie aus den Federn kommen, wie eifrig fragte und mutmaßte sie jetzt! Aber Änne antwortete kaum, nur ihre Blicke baten: Laß mich, ich bin zu glücklich, als daß ich reden könnte! Sie hatte im Konservatorium melden lassen, daß sie heute nicht unterrichten könne, den ganzen Tag nicht. Dann hatte sie Toilette gemacht.
»Weißt du denn, wann er kommt?« erkundigte sich Tante Emilie.
»Nein«, betonte das Mädchen ruhig.
253 Die alte Dame wurde ärgerlich. »Und so ins unbestimmte hinein alle diese Geschichten? Wenn er nun gar nicht kommt?«
»Er kommt«, antwortete sie, und Tante Emilie ging kopfschüttelnd auf den Markt, um noch einiges für das Mittagsessen zu besorgen. Als sie zurückkehrte und mit einem großen Strauß Chrysanthemen in das Zimmerchen trat, ließ sie die Blumen in freudigem Schreck fallen. Mitten im Zimmer stand ein großer, schlanker Mann und hielt Änne umfaßt, und ihr Kopf lag an seiner Brust.
Er war gekommen!
Im Hause der Frau Rat herrschte schreckliche Aufregung. Es ist auch keine Kleinigkeit, wenn man verreisen will, ohne je über das Weichbild des Städtchens hinausgekommen zu sein. Gar kein Wunder, daß die Vorbereitungen einige Tage dauerten und daß Frau Rat in ihrer nervösen Gereiztheit zu spät einzutreffen fürchtete zur Verlobung.
Lieschen Weidner ging mit rotgeweinten Augen umher, denn Frau Rat hatte mit solch furchtbarer Bestimmtheit von der Verlobung des Doktors mit Änne gesprochen, daß sie an der Treue ihres heimlich Verlobten zu zweifeln begann, um so mehr, als er ihr noch nicht geschrieben hatte.
Und nun war der mächtige Reisekorb gepackt, morgen in aller Frühe sollte sie beginnen, die Fahrt. Lieschen Weidner hatte eine Menge Wurst, Schinken und Büchsen mit eingekochten Früchten eingepackt. In solcher Hungerwirtschaft wie die der beiden Frauen in Dresden würde der Doktor sich nicht wohl fühlen, behauptete Frau Rat. Wollte Gott, die Reise wäre nur erst überstanden!
Die alte Dame saß in der Sofaecke, und um sie her auf allen Stühlen und Tischen lagen Gegenstände bereit für morgen: Fußsack, Körbchen und Taschen verschiedenen Inhalts; ein Plaid, in den eine Flasche Rotwein eingeschnallt war, sorgsam in Zeitungspapier eingewickelt; Regen und Sonnenschirm – es schien, als ob die alte Dame ein ganzes Jahr ins Ausland reisen wollte.
Das Dienstmädchen und Lieschen Weidner bekamen eben noch die letzten Befehle, besonders was die Einrichtung des Zimmers anbetraf, in dem Änne wohnen sollte. Die Mutter wollte sie gleich mitbringen, denn ein verlobtes Frauenzimmer gehöre ins Haus. Das kleine blonde, sonst so rosige Lieschen stand bleich am Ofen und hörte zu. In ihrer Demut glaubte sie der imponierenden Überzeugungstreue der Frau 254 Rat und hielt den Kuß und die wenigen Liebesworte des Doktors für eitel Falschheit und Betrug.
Aber da fuhr sie plötzlich zusammen. Wie Flammen schlug es über ihr Antlitz, und mit zwei Sprüngen war sie aus der Stubentür, die sie weit aufließ – draußen war ein Schritt erklungen, ein Schritt – so ging nur einer! Dann lehnte sie wankend in dem Rahmen der Tür, denn da stand neben ihm eine schlanke Dame, Änne May in eigenster Person, und an ihr vorüber eilte sie ins Zimmer mit dem Ausruf: »Mutter, liebe Mutter!«
Also doch!
Aber da kam er lachend herüber, und ohne weiteres das bebende Mädchen an sich ziehend, rief er der Frau Rat zu, um deren Hals Änne die Arme geschlungen hatte: »Nun, Frau Rat, ist der stolze Augenblick gekommen, da Sie ›segnen‹ können, aber bitte, mich und meine kleine Braut gleich mit, denn mit Ihrer gütigen Erlaubnis will Lieschen Weidner meine Frau werden.«
Frau Rat saß starr und steif. In ihrem Kopfe drehte sich alles, sie hörte nur noch, daß Änne flüsterte: »Aus deinem Hause, aus unserer alten lieben Heimat soll er mich holen.« Aber die alte Dame fand nicht die Kraft zu fragen: Wer denn? – »Bin ich denn wahnsinnig geworden?« stieß sie hervor. »Da steht er ja und hat die andere im Arm!«
Und dann trat in ihren Gesichtskreis eine fremde und doch so bekannte Erscheinung, ein großer, schlanker Mann, auf dessen ernsten Zügen ein ganz jugendliches, glückliches Lächeln lag.
Wer war denn der – sie kannte ihn doch? Heinz Kerkow – großer Gott, und – doch nicht! Der Mann war ja weiß an den Schläfen! Und den wollte Änne – – Das also war der, auf den sie gewartet hatte? Sie versuchte aufzustehen und wehrte Ännes Umarmung, aber da traf sie ein Blick, der in Tränen schimmernde Blick ihres Kindes. Sie sank zurück, und nun trat er näher und küßte die Hand der alten Frau.
»Darf meine Braut hierbleiben, bis ich sie in mein Heim führen kann?« fragte er.
»Ich muß erst ein Wort mit Ihnen reden, Herr von Kerkow«, scholl es verzweifelt zurück. »Änne hat nichts, gar nichts, und das ewige Arbeiten hält sie nicht aus!«
Änne lachte plötzlich laut und herzlich. »O du törichtes Mütterchen!« rief sie, »er will mich ja gar nicht arbeiten lassen, wiewohl ich's so gern täte! Nichts weiter soll ich sein wie seine Frau, wie du es immer gewünscht hast für mich, und 255 wenn ich singe, soll's nur noch zu meinem und seinem speziellen Vergnügen sein.«
Frau Rat fragte nicht mehr, sie begann langsam Mut zu fassen. Er sah so fein aus, so vornehm – der hatte sicher geerbt! Und sie küßte feierlich ihre Tochter auf die Stirn und tat einen tiefen Seufzer der Erlösung – – gottlob, daß sie nicht zu reisen brauchte! Die Emilie, die da so still an der Tür stehengeblieben war, und der die Rührungstränen über das Gesicht liefen, die würde es wohl wissen, die wollte sie ordentlich ausfragen nachher. Den Doktor aber, den hielt sie am Ärmel fest, gerade als er mit der kleinen seligen Braut hinaus wollte. »Warten Sie nur – mich so anzuführen! Die ganze Geschichte haben Sie ins Werk gesetzt.«
»Weiß Gott, nicht!« verteidigte er sich, »ich erblickte die Herrschaften ganz zufällig auf der Bahn in Halle, wo der Dresdener und der Berliner Zug sich treffen.«
Sie blickte noch immer unzufrieden.
»Schwiegermama«, bat er, »seien Sie gut! Sie müssen sich mit uns vertragen, denn wenn Fräulein Änne in ein paar Wochen hinauszieht nach der neuen Heimat, dem großen Berlin entgegen, dann haben Sie nur noch uns, auf die Sie recht nach Herzenslust böse sein können, denn Tante ist feierlich invitiert, die junge Häuslichkeit verschönen zu helfen.«
Na, das fehlte noch! dachte die Rätin, wenn eine mitgeht, bin ich das! Und laut sagte sie: »Nach Berlin? Kauft euch doch hier an!« wandte sie sich an Kerkow, »Sie hätten doch überhaupt hierbleiben können, die schöne Wohnung da droben und gar nicht viel zu tun!«
»Das erlaubt mein Beruf nicht, liebe Mutter. Aber in jedem Sommer kommen wir, und da hole ich mir frische Kräfte zu meiner Arbeit.«
»So?« fragte die alte Dame enttäuscht, »arbeiten tun Sie?«
»Ja, gottlob!« sagte er stolz und zog Änne an seine Seite, »ich kann arbeiten.«