Wilhelmine Heimburg
Trudchens Heirat
Wilhelmine Heimburg

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66 Das Weihnachtsfest war vorüber, und der dritte Festtag mit Tauwetter und Regen gekommen. Er nahm die leuchtendweiße Schneedecke von der Erde, als sei sie eben auch nur ein Festtagsschmuck gewesen, und für die gewöhnlichen Tage der schwarze Erdboden gut genug.

Frau Baumhagen saß recht verdrießlich in ihrem Zimmer am Fenster und schaute über den Markt hinweg. Sie hatte etwas Kopfweh und überdies – heute lag so gar nichts vor, kein Theater, keine Gesellschaft, nicht einmal ein Whist; und gestern war es bei Jenny sehr langweilig gewesen. Zu guter Letzt hatte sie sich über Gertrud ärgern müssen, die sich gegen alle Gewohnheit lebhaft mit ihrem Tischnachbarn unterhalten hatte, jenem Fremden, der ihr damals in der Kirche nachgelaufen war. Es war eine Ungeschicklichkeit von den Kindern, ihr den Platz an seiner Seite zu geben.

»Einen Brief, Frau Baumhagen.« Sophie brachte ein Schreiben in einfachem, weißem Umschlag.

»Ohne Poststempel? Wer hat es abgegeben?« fragte sie, die Handschrift betrachtend, die ihr völlig fremd erschien.

»Ein alter Diener oder Kutscher, ich kenne ihn nicht.«

Kopfschüttelnd erbrach Frau Ottilie Baumhagen den Brief und las. Mit hochrotem Gesicht stand sie dann auf und rief: »Gertrud! Gertrud!«

67 Das junge Mädchen kam sofort herüber in das Zimmer der Mutter.

Die kleine lebhafte Frau war schon an der Klingel gewesen und befahl der eintretenden Sophie: »Rufe die Jenny und meinen Schwiegersohn, aber rasch sollen sie kommen, rasch! – Gertrud, ich bitte dich, was sind das für Überfälle! ich muß mich erst sammeln, erst –«

»Mama«, bat das Mädchen leicht erblaßt, »laß uns beide allein sprechen – weshalb Jenny und Artur? –«

»Weißt du denn, worum es sich handelt?« rief die erregte Frau.

»Ja!« erwiderte Trudchen fest und kam durch das Zimmer bis zum Lehnstuhl, in den die Mutter sich gesetzt hatte.

»Mit deiner Einwilligung, Kind – Gertrud?«

»Mit meiner Einwilligung, Mama«, wiederholte das Mädchen, und nun färbte ein helles, klares Rot das schöne Gesicht.

Frau Baumhagen sprach kein Wort mehr, sie fing bitterlich an zu weinen.

»Wann hast du ihm gestattet, an mich zu schreiben?« fragte sie nach einer langen Pause und trocknete sich die Augen.

»Gestern, Mama.«

In diesem Moment steckte Jenny den hübschen, blonden Kopf durch die Tür.

»Jenny!« rief Frau Baumhagen. Wieder 68 stürzten ihr die Tränen aus den Augen, und der eigensinnige Zug um den Mund trat noch schärfer hervor.

»Um Gottes willen, was ist denn geschehen?« fragte die junge Frau.

»Jenny! Kind! Gertrud hat sich verlobt!«

Frau Jenny faßte sich sehr bald. »Mein Gott«, sagte sie leichthin, »ist denn das ein Unglück?«

»Aber mit wem! Mit wem!« rief die Mutter.

»Nun?« erkundigte sich Jenny.

»Mit diesem – dem – gestern – Linden heißt er, Franz Linden! Da steht es schwarz auf weiß – einem Menschen, den ich kaum dreimal gesehen habe!«

Die Augen der jungen Frau richteten sich groß und verwundert auf Trudchen, die noch immer hinter dem Sessel der Mutter stand. »Aber, um Gottes willen«, sagte sie, »wie kommst du zu dem, Gertrud?«

»Wie bist du zu Artur gekommen?« fragte das Mädchen, sich hoch aufrichtend; »wie kommt man überhaupt zueinander? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß ich ihn sehr liebhabe, und daß ich ihm mein Wort gegeben habe.«

»Wann denn, um des Himmels willen?«

»Gestern abend in deinem roten Zimmer, Jenny – wenn du meinst, das Wann tue etwas zur Sache.«

»Aber so ohne jede Vorbereitung, so plötzlich? Was hast du für Garantien, daß er –«

»Mindestens ebenso viele Garantien«, unterbrach 69 Trudchen, blaß bis in die Lippen, die klagende Mutter, »als wenn ich vor kurzem den Antrag des Leutnants von Löwenberg angenommen hätte.«

»Ja, ja, da hat sie recht, Mama«, erklärte Jenny.

»Nun, natürlich!« klang es zurück. »Ich soll gleich ja und amen sagen! Da muß ich erst mit Artur sprechen und mit Tante Pauline und mit Onkel Heinrich. Auf keinen Fall nehme ich die Verantwortung dieses Schrittes allein auf mich.«

»Mama, du wirst nicht in der ganzen Verwandtschaft herumfragen«, sagte das Mädchen mit bebender Stimme. »Du und ich, wir sind allein entscheidend und –« sie schöpfte tief Atem, »ich würde schwerlich durch irgendwelche Einwendung anderer Ansicht werden.«

»Aber Artur könnte sich doch nach ihm erkundigen!« fiel die junge Frau ein.

»Ich danke dir, Jenny, aber spare dir diese Mühe. Mein Herz spricht laut genug für ihn. Wäre ich nicht völlig mit mir im reinen seit Wochen schon, ich stünde euch so nicht gegenüber, wie in diesem Augenblick.«

»Du bist ein undankbares, ein liebloses Kind!« weinte die Mutter, »du denkst mich durch deinen Starrkopf zu zwingen! Mit derselben Ruhe hat mich ja Papa auch immer zur Verzweiflung gebracht. Ich zittere am ganzen Körper, wenn ich diesen festgeschlossenen Mund und diese stillen Augen nur sehe. Es ist fürchterlich!«

70 Trudchen stand noch eine Weile. Dann, ohne ein Wort der Entgegnung, verließ sie die Stube.

»Es ist eine Spekulationsgeschichte«, sagte Frau Jenny gelassen, »das ist unzweifelhaft.«

»Und sie hat es geglaubt, was er ihr vorgeredet hat«, schluchzte die Mutter; »an allem ist diese unglückliche Taufe schuld – so etwas imponiert ihr!«

Frau Jenny nickte. »Da wird sie nun immer und ewig draußen auf Niendorf sitzen, denn abzubringen von ihren Ideen ist sie ja nicht.«

»Nein, Gott verzeihe mir! Sie hat den Baumhagenschen Trotzkopf in vollstem Maße. Ich weiß, was ich drunter gelitten!«

»Hübsch ist dieser Linden«, bemerkte die junge Frau, ohne von dem heftigen Weinen Notiz zu nehmen. »Himmel, was wird diese Geschichte für Aufsehen machen in der Stadt! Sie hätte wahrhaftig noch einen anderen bekommen! Aber habe ich es nicht gleich gesagt, Mama, sie macht noch mal einen ganz törichten Streich. Artur!« rief sie dann dem Eintretenden entgegen, »denke doch, Trudchen hat sich verlobt mit diesem – Linden!«

»Donnerwetter!« entfuhr es Herrn Artur Fredrich. Er sah nicht gerade geistreich aus in diesem Augenblick.

»Sage doch, lieber Sohn, was weißt du von ihm? Du hast doch sicher dieses und jenes gehört im Klub, oder« – Frau Baumhagen hatte das 71 Taschentuch sinken lassen und sah tiefbekümmert den Schwiegersohn an.

»Ist ein scharmanter Junge, aber hier« – er machte die Bewegung des Geldzählens – »faul, oberfaul! Er weiß schon, was er tut, wenn er Trudchen nimmt. Der Tausend – hätte ich so etwas geahnt, es wäre mir nicht eingefallen, ihn einzuladen. Daß dich! Daß dich!«

»Ja, denke, und sie erklärt, sie läßt nicht von ihm«, berichtete Frau Jenny.

»Das glaube ich, ohne daß du es versicherst, sie ist ja deine Schwester. Was ihr euch einmal in den Kopf gesetzt habt – na, ich weiß Bescheid!«

»Artur!« schluchzte vorwurfsvoll die ältere Dame.

»Ich verbitte mir, Artur, daß du immer von Trotz und Eigensinn sprichst in bezug auf mich!« schmollte die kleine Frau.

»Aber liebes Kind, es ist die reine Wahr –«

»Widersprich nicht immer!« rief Frau Jenny energisch, trat mit dem Fuße auf und zog das Taschentuch hervor. Er kannte dieses Manöver und fuhr sich hastig durch die blonden Haare.

»Schön! Was soll ich denn eigentlich?« fragte er. »Was wollt ihr von mir?«

»Deinen Rat, Artur«, stöhnte die Schwiegermama.

»Meinen Rat? Na – sagt ja und amen!«

»Aber er ist so ganz ohne Vermögen, wie ich neulich hörte«, wandte Frau Baumhagen ein.

72 Er zuckte die Achseln. »Pah! Trudchen kann ja einen Mann ernähren. Nebenbei – ich kenne Niendorf zwar nicht näher, aber ich glaube, bei rationeller Bewirtschaftung kann etwas daraus werden. Er scheint der Mann dafür zu sein, und Wolff erzählte erst neulich von einer großen Schafzucht, die Linden anlegen will.«

»Das letztere dürfte allerdings den Ausschlag geben«, bemerkte Frau Jenny ironisch.

»Nein! nein!« erklärte die Mutter schluchzend aufs neue. »Ihr nehmt das alles viel zu leicht. Ich kann mich nicht entschließen, ich habe ja kaum ein paar Worte gesprochen mit diesem Linden. Oh, die unerhörte Dreistigkeit!« Und mit diesen Worten verließ sie den Lehnstuhl und warf sich, dunkelrot vor Erregung, auf die Chaiselongue.

»Da wird wieder eine stimmungsvolle Migräne perfekt«, flüsterte Artur und nahm gelassen eine Zigarre aus seinem Etui.

Jenny antwortete nur mit einem Blick, aber er war niederschmetternd. Sie nahm die Schleppe ihrer Robe in die Hand und rauschte an dem verwunderten Gemahl vorüber.

»Nimm mich doch mit!« sagte er belustigt.

»Jenny, bleib bei mir!« rief die Mutter. »Verlaß mich jetzt nicht!« Und die junge Frau kehrte um, begegnete ihrem Gatten in der Tür und ging mit hochgehobenem Näschen an ihm vorüber, um sich neben die Mutter zu setzen. Oh, er hatte schon 73 noch mehr auf seinem Konto, sie würde sich schon noch revanchieren für sein absprechendes Urteil heute früh am Teetisch, als sie ganz harmlos den Rittmeister von Brelow lobte. Er war sich auch nichts Gutes gewärtig, das sah sie ihm gleich an. »Warte nur!«

»Wie, Mama?« fragte sie dann, »ob ich mit Artur etwas habe? Pah – er ist ein Othello – ein blonder, das sind die Schlimmsten!«

»Ach, Jenny, dies Unglückskind, dies Trudchen.«

»Ja, richtig«, nickte die junge Frau, »die dumme Geschichte mit Trudchen.«

Indessen stand das junge Mädchen vor dem Bilde des Vaters; ihr ganzes Sein war aufgewühlt in Schmerz und Glück. Sie hatte kein Auge geschlossen in der Nacht, seitdem sie ihm verstohlen die Hand gereicht hatte mit dem kaum geflüsterten: Ja! Sie wußte, er liebte sie, sie hatte es sich tausendmal vorgestellt, wie es sein würde, wenn er ihr das sagte, und nun war es ihr doch so unerwartet rasch gekommen. Lieb hatte sie ihn schon lange, schon seit sie ihn das erstemal gesehen hatte, und seit der Zeit war ihr nichts geschenkt worden von all den Tränen und Freuden einer heimlichen Neigung. Sie nahm nichts leicht, nichts halb, und voll und ganz hatte sie sich dem Zauber hingegeben. Wer es nur versuchen wollte, ihn ihr zu nehmen, der mußte ihr das Herz mit herausreißen aus der Brust.

74 Die Tränen liefen ihr, während sie so dastand, in großen vollen Tropfen über das blasse Gesicht, aber um den kleinen, trotzigen Mund zog sich ein Lächeln.

»Ich weiß es ja«, nickte sie flüsternd zu dem Bilde des Vaters hinüber, »dir würde er gefallen, Papa!« Und in seliger Erinnerung klangen ihr die Worte nach, die er gestern gesprochen hatte, von seinem einsamen Hause draußen, von seiner Sehnsucht nach ihr und daß er ihr nichts bieten könne, als eben diese einsame arme Heimat und ein ehrliches Herz. Sein einziger Reichtum wären augenblicklich viele Sorgen.

»Laß mich die Sorgen mit dir tragen, es gibt kein Glück auf der Welt, das größer wäre als dieses«, so hatte sie sprechen wollen. Aber sie hatte doch die Augen niedergeschlagen und ihm nur verstohlen die Hand gereicht. Es wollte kein Wort über ihre Lippen.

Als wäre sie bis jetzt im kalten, tiefen Schatten gewandelt und nun plötzlich hinausgetreten in belebenden köstlichen Sonnenschein, unter blauen Himmel, so blühte und klang es in ihrem Herzen. »Es ist zu viel, zu viel Glück!« hatte sie heute früh beim Aufstehen gedacht. Sie dachte es auch jetzt noch, und die Tränen, die sie weinte, erschienen ihr als gerechtfertigter Tribut einer allzu großen Seligkeit. Wenn jetzt Mama gleich »Ja und Amen!« gesagt, wenn sie gesagt hätte: »Er soll mir ein 75 lieber Sohn sein, bringe ihn mir« – das wäre zu viel gewesen. Dieses Weigern, dieses Mißtrauen, war es nicht eigens geschaffen, damit sie vor Glück nicht übermütig wurde? Es war der Schneesturm, der im Frühling daherbraust und Blatt und Blüten überschauert; aber wenn er vorüber ist, blüht es nicht doppelt schön?

Im Nebenzimmer wurde das Gespräch jetzt wieder lebhafter. Trudchen hörte die klagende, weinende Stimme der Mutter deutlicher wie zuvor. Es berührte sie aufs neue peinlich und unwillkürlich flog ein Blick zu dem Bilde des Vaters, als könne er auch jetzt noch hören, was ehedem seines Lebens Qual gewesen war. Trudchen erinnerte sich ja so vieler Wein- und Jammerszenen in dem nämlichen Zimmer dort. Wie oft war dann des Vaters beschwichtigende Stimme in ihr Ohr gedrungen: »Gut, Ottilie, ja, du sollst deinen Willen haben, aber – schone mich!« Und wie oft war dann durch jene Tür ein blasser Mann getreten und hatte stumm in dem Sofa gesessen, als fände er hier bei seinem Kinde eine Freistatt. Ach! so war es auch gewesen an jenem Tage, an jenem fürchterlichen Tage, worauf es nachher so stille ward, so totenstill.

Ja, da erscholl es wieder, das laute Weinen, die Anklagen gegen den Himmel, der sie zur unglücklichsten Frau gemacht hatte, und sie nun in ihren Kindern noch strafe. Dann war ein Türenklappen, 76 ein Laufen der Dienerschaft, Trudchen meinte sogar den scharfen Geruch der Baldriantropfen zu spüren, die Frau Ottilie Baumhagen bei ihren Nervenanfällen zu nehmen pflegte. Und nun flog die Tür auf, und Frau Jenny kam herein.

»Mama ist ganz elend«, sagte sie vorwurfsvoll, »zum Arzt habe ich schicken müssen und Sophie legt ihr Kompressen auf die Stirn. Ein schöner Tag, wahrhaftig!«

»Es tut mir so leid, Jenny«, bedauerte das junge Mädchen.

»Ja, es kam aber auch wie aus der Pistole geschossen. Ich muß dir ehrlich gestehen, ich begreife dich nicht, Gertrud. Zehn Körbe reichen nicht, die du schon ausgeteilt hast, es war ein Mäkeln und Wählen, und jetzt nimmst du den ersten besten.«

»Den besten jedenfalls«, dachte Trudchen, aber sie schwieg. Die kleine Frau hielt dies irrtümlich für eine Wirkung ihrer Worte. »Sieh mal, Kind«, fuhr sie fort, »überlege es doch noch recht, du – –«

»Jenny, halt ein!« bat das Mädchen mit fester Stimme. »Was gibt dir das Recht, so zu sprechen? Habe ich mir erlaubt, ein Wort über deine Wahl zu sagen? Bin ich nicht Artur freundlich entgegengekommen? Was hat er vor Linden voraus, worin steht er ihm nach? Ich allein habe mir Rechenschaft zu geben über diesen Schritt, denn ich allein trage die Folgen. – Es ist unrecht, einen Menschen beeinflussen zu wollen in einer Sache, die so 77 individuell, so ganz in seinen eigensten Empfindungen steht.«

»Aber, mein Gott, so ereifere dich doch nicht!« beruhigte Frau Jenny; »wir finden eben, er ist keine passende Partie, schon deshalb, weil er gänzlich ohne Vermögen ist.«

Über Trudchens blasses Gesicht flog ein tiefer Schatten. »Ach, laß das Geld aus dem Spiele«, bat sie angstvoll, »störe mir nicht den schönsten Traum meines Lebens – sprich nicht davon, Jenny.«

Aber Jenny fuhr fort: »Nein, davon schweige ich nicht, denn du lebst in Idealen und man muß dir ein wenig die Wirklichkeit vor die Augen halten, damit du später nicht allzusehr aus deinen Himmeln fällst. Bildest du dir vielleicht ein, daß Herr Franz Linden sich so überstürzt hätte, wenn du – na, wenn du nicht gerade Trudchen Baumhagen wärst? Sicher nicht! Ich halte es für meine Pflicht, dir zu sagen, daß sowohl Mama wie Artur und ich der Meinung sind, er habe in erster Reihe an das gedacht, was unser seliger Vater in guten Kapitalien für uns –«

Sie verstummte plötzlich, Trudchen stand vor ihr, hochaufgerichtet und drohend.

»Sei davon ruhig, Jenny«, stieß sie hervor, »ich glaube an ihn und spreche kein Wort der Verteidigung aus! Du und die anderen, ihr mögt so denken, ich kann es euch nicht wehren, kann es euch 78 nicht einmal übelnehmen, ihr –« sie stockte, das bittere Urteil sollte nicht über die Lippen. »Habe die Güte und stelle Mama vor«, sagte sie dann ruhiger, »daß ich ihm mein Wort nicht breche. Ich werde dir so dankbar sein, Jenny – wenn jemand etwas über sie vermag, so bist du es, ihr Liebling.«

Die junge Frau ging fast bestürzt hinaus, sie fand kein Wort dieser Zuversicht gegenüber. Sie hatten sich nie verstanden, die Schwestern. Jenny begriff auch jetzt noch nicht, wie man so lebensunklug und verblendet sein konnte, und dennoch war sie wie vor etwas Reinem, Erhabenem zusammengeschauert, als die klaren Mädchenaugen sie anblickten, die noch Ideale sehen konnten trotz der Prosa und dem Staub des Lebens.

Sie setzte sich wieder in das Sofa. »Mamachen«, flüsterte sie nach einer Pause, während welcher sie nachdenklich ihren kleinen Pantoffel auf der Fußspitze hatte tanzen lassen, »Mamachen, ach Gott! ich glaube, es hilft dir nichts – willst du ein bißchen Eau de Cologne? – die Gertrud ist so fanatisch in ihn verliebt, weißt du, du wirst ›Ja!‹ sagen müssen. Die Enttäuschung bleibt freilich nicht aus.«

Trudchen war mitten im Zimmer stehengeblieben, sie sah der Schwester nach. Sie hatte Mitleid mit ihr. Es mußte doch schrecklich sein, wenn man nicht mehr an Liebe und Uneigennützigkeit glauben konnte. Und sie sah Franz Linden, seine ehrlichen Augen, so klar wie das reine Gewissen selbst. Kann 79 man so aussehen mit einem Nebengedanken, kann man so sprechen mit einer Lüge im Herzen? – Sie hätte auflachen mögen vor seliger Gewißheit. Und wenn sie die Ärmste, die Bettelärmste wäre, er liebte sie doch!

Am Nachmittage fand große Konferenz statt. Um zwölf Uhr mittags war plötzlich Befehl vom Sofa erlassen worden, daß man den Salon stärker heize, das Meißner Kaffeeservice aus dem Schrank nehme und beim Konditor einige Schüsseln bestellen solle. Frau Ottilie wollte Familienrat halten.

Der Duft von Sophiens berühmtem Kaffee zog bis in Trudchens einsames Zimmer. Sie hörte die Türen gehen und dann und wann die Stimme der Tante Stadträtin und Onkel Heinrichs behagliches Lachen. Der Tag nahte seinem Ende, und man schien drüben immer noch nicht zu einem Entschluß gekommen, und Trudchen saß ruhig im Erker und wartete. Er würde auch ruhig sein, das wußte sie. Er hatte ja ihr Wort.

Endlich Schritte – das mußte der Onkel sein. »Na, Jungfer Gertrud!« rief er in das dämmerige Zimmer, »er kam, er sah, er siegte? – Schöne Streiche das! – Deine Mutter ist höllisch fuchsig auf den kecken Eindringling. Er wird alle seine Liebenswürdigkeit nötig haben, um ihre schwiegermütterliche Gunst zu erringen. – Na, da komm herüber, du Trotzkopf, und bedanke dich bei mir, daß sie nachgegeben hat.«

80 »Ich wußte es, Onkel«, sagte sie freundlich, »du läßt mich nicht im Stich.«

Er war ein alter, kleiner Herr mit einem gemütlichen runden Bäuchlein, das er sich so allmählich bei seinen splendiden Junggesellendiners angefüttert hatte; immer vergnügt, besonders nach einem guten Glase Wein. Und da er wußte, welch angenehme Wirkung ein solches auf ihn ausübte, so versäumte er, zum Wohle der Menschheit, nie, dieses Mittel zu gebrauchen, das ihn liebenswürdig und lustig machte. Lachend nahm er jetzt das große, schlanke Mädchen an der Hand, als sei sie noch ein Kind, und führte sie nach der Tür.

»Leben und leben lassen, Trudchen!« rief er; »es ist purer Egoismus von mir, daß ich solchen Dampf dahinter machte. Brauchst nicht zu danken, war nur Scherz. Siehst du, alles kann ich vertragen, nur keine Szene, keine Weiberheulereien, und das versteht deine Mutter aus dem Effeff. So was fällt mir immer auf den Magen, weißt du. – ›Mach doch keinen Sums, Ottilie‹, habe ich ihr gesagt – ›warum soll die Kleine den hübschen Jungen nicht heiraten? Ihr Baumhagenschen Mädel habt's ja, könnt' euch einen Schatz nehmen, lediglich weil er euch gefällt!‹ – O la la! Hier bringe ich das Fräulein Braut!« rief er in das erleuchtete Gemach und ließ das Mädchen vorantreten.

Sie ging mit ihrem leichten Schritt und ernster Miene zu der Mutter hinüber, die in der Sofaecke 81 lag, als sei sie gänzlich mitgenommen von der wichtigen Debatte. Ihr zur Seite thronte die magere Tante Stadträtin im schwarzseidenen Kleid, das Blondenhäubchen auf dem braunen falschen Scheitel und in vollem Bewußtsein ihrer Würde. Neben ihr Jenny. Artur stand am Ofen. Die Damen hatten Kaffee getrunken, die Herren Wein und der bläuliche Rauch feiner Zigarren hing unter dem vergoldeten Stuck der Decke. Die veilchenfarbenen Gardinen waren zugezogen. Es sah sich alles höchst gemütlich an.

»Ich danke dir, Mama«, sagte Trudchen. Frau Baumhagen nickte leise und berührte den Mund der Tochter mit ihren Lippen. »Möge dich dieser Schritt nie gereuen«, sprach sie matt, »ich gebe nicht ohne schwere Besorgnis meine Einwilligung. Nur in Betracht deines unbeugsamen – ja, ich muß es in dieser Stunde sagen – leidenschaftlichen Charakters willige ich ein – um des häuslichen Friedens wegen.«

Um Trudchens Mund flog ein bitteres Lächeln. »Ich danke dir, Mama«, wiederholte sie.

»So mag er denn morgen kommen«, schloß die Mutter mit einem Seufzer.

»Meine liebe Gertrud«, begann die Frau Stadträtin feierlich, »nimm denn auch von mir –«

»Ach was!« unterbrach Onkel Heinrich die alte Dame sehr ungalant, »nun habt Erbarmen zunächst mit mir, aber dann mit dem schmachtenden 82 Jüngling in Niendorf, und schickt ihm Antwort. Es ist schon vorgekommen, daß ein derartiges Warten arges Unheil angerichtet hat. Schauderhafte Geschichten sind dadurch schon passiert, sage ich euch. Setzen wir einmal ein Telegramm auf«, fuhr er fort und zog ein Notizbuch aus der Tasche, riß ein Blatt heraus und borgte sich von seinem lieben Neffen Artur eine Bleifeder.

»Na, was denn nun, Trudchen?« fragte er – zum Schreiben bereit. »›Komm in meine Arme!‹ oder ›Dein auf ewig!‹ oder ›Sprechen Sie mit meiner Mutter!‹ oder – ha, ha, ich hab's: ›Meine Mutter läßt sich sprechen, komme morgen und hole dir ihr Ja! Trudchen Baumhagen.‹ Und hole dir ihr Ja!« buchstabierte er beim Schreiben.

»Ich danke, Onkel«, sagte das Mädchen, »ich will es aber lieber selbst besorgen in meinem Zimmer. Sein Kutscher ist noch drüben im ›Deutschen Hause‹ und wartet.«

Sie hörte noch das herzliche Lachen des alten Herrn über den armen Kerl, der habe schmachten müssen von morgens elf Uhr bis jetzt, dann schloß sich die Zimmertür hinter ihr. Mit bebender Hand zündete sie Licht an und schrieb: »Mama hat eingewilligt, morgen mittag erwarte ich Sie.« Sie strich das »Sie« wieder aus und schrieb nach kurzem Zögern ein großes, energisches »Dich« dafür, und »Deine Gertrud.«

Die alte Sophie, die schon im Baumhagenschen 83 Hause gedient hatte, ehe der Herr heiratete, empfing das Billett. »Den Brief trage ich selbst hinüber, Fräulein Trudchen«, sagte sie, »und wenn's noch schlechter Wetter wär', und wenn ich auch mein Reißen davon kriegte. Da halte ich nun zweier Menschen Schicksal in der Hand, so ein kleines Stückchen Papier. Mög's Glück mit mir gehen, das walte Gott, Fräulein!«

Trudchen drückte ihr die Hand und trat in den Erker und spähte durch die Scheiben, wie Sophie über den Markt schritt. Ihre weiße Schürze flatterte jetzt unter dem Gaskandelaber neben der Hökerfrau und nun unter der Hauslaterne des Hotels. Wenn doch der Alte fahren wollte, so rasch die Pferde laufen können! Jetzt dünkte sie jede Minute zu lang, die er warten sollte.

Da flatterte wieder die weiße Schürze unter der Laterne, aber es ist jemand bei ihr. Trudchen legte plötzlich beide Hände auf das hochklopfende Herz. »Franz!« stammelte sie, und ihre Glieder versagten fast den Dienst, als sie sich wenden wollte. Er selbst hatte gewartet auf Antwort!

»Das ist er! das ist er! Mein Bräutigam!« flüsterten die zitternden Lippen. Die ganze überselige weihevolle Bedeutung des Wortes überschauerte sie. Und leise öffnete Sophie die Tür, und er trat über die Schwelle der zierlichen Mädchenstube. Und ebenso leise schloß sie die Tür wieder hinter ihm. Das alte treue Mädchen hatte 84 nur noch gesehen, wie ihr stolzes Fräulein sich so fest in seine Arme schmiegte und stumm und heiß sich küssen ließ. »Oh, aber so etwas«, sagte sie lächelnd, »ja, die Liebe, die Liebe!«

Dann lenkte sie die Schritte nach dem Saal, aber vor der Tür wandte sie sich kopfschüttelnd wieder um. Sie würden alle gleich hinüberlaufen, und diese seligen Minuten wollte sie dem Trudchen nicht verkürzen. In einer Viertelstunde war's noch Zeit genug, daß er zur »Madam« in den Saal ging. Und sie machte sich irgend etwas auf dem Korridor zu schaffen, um rechtzeitig bei der Hand zu sein, wenn die beiden über allem, was sie sich zu sagen hatten, die Mama vergessen sollten.

Nach Mitternacht erst fuhr Linden heim. Der joviale Onkel hatte noch in aller Eile eine kleine Verlobungsfeier zustande gebracht, bei der er eine längere Rede hielt. Nächstdem hatte Frau Jenny sich am lustigsten gezeigt und sogar schelmisch mit dem Herrn Schwager in spe angestoßen. Frau Baumhagen aber war, nach einer halbstündigen Unterredung unter vier Augen mit dem jungen Manne, ernst und schweigend geblieben und spielte die besorgte Mutter bis zu Ende. Sie nippte kaum am Champagnerkelch, als das Wohl des Brautpaares getrunken wurde.

Franz Linden hatte ihre Kälte durchaus nicht als Beleidigung aufgefaßt. Sie kannte ihn so wenig, und er war da wie ein hungriger Wolf 85 eingedrungen, um ihr Lämmlein zu rauben. Es müßte eigentlich schrecklich sein, eine Tochter herzugeben, meinte er, noch dazu eine wie Trudchen, sein Trudchen. Er war weich gestimmt bis zur Rührung. Er dachte an seine alte Mutter, er dachte daran, wie er noch vor wenig Wochen so düster in die Zukunft gesehen hatte und wie sie nun so sonnig vor ihm lag. Und diese lachenden Strahlen gingen aus von einem Paar blauer Augen in einem lieben, blassen Mädchengesicht. Er wußte selbst nicht, wie schnell es gekommen war, daß er ihr von seiner Liebe gesprochen hatte. Er sah noch das erhellte, purpurrote Gemach gestern abend und den halbdämmerigen Erkerraum. Dort hatte sie in dem wunderbaren Lichte gestanden, das Mondesstrahlen und Kerzenschein gemeinsam schufen. Im Nebenzimmer brannte der Weihnachtsbaum, und das Sprechen und Lachen der Gesellschaft klang herüber. Sie hatte sich umgewandt, als er zur ihr getreten war, und auf ihren Wangen hatte er Tränen bemerkt. Aber sie lächelte doch, als sie seine Bestürzung gewahrte. »Ach, es ist nur, weil mich Weihnacht immer an Papa erinnert. Gestern war er sieben Jahre tot.«

Ein Wort war zum andern gekommen, und endlich fanden sich ihre Hände fest ineinander geschlungen – damals in der Kirche hätte er sie am liebsten gleich festgehalten, die kleine Hand. »Wären Sie böse gewesen, Gertrud?« – Und sie hatte den 86 Kopf geschüttelt und ihn unter Tränen lächelnd angesehen, vertrauend und lieb, das schöne, stolze Geschöpf – seine Braut, bald sein Weib! –

Er fuhr empor aus seinen Träumen. Der Wagen hielt auf dem Hofe vor der Treppe. Dunkel lag das Haus da; nur hinter Tante Rosas Fenstern brannte noch Licht. Er ging wie im Rausche die Stufen hinan und trat in den Gartensaal. Er sah sich um, als wäre er zum ersten Male in dem einsamen Zimmer, so fremd, so verändert kam es ihm vor, so leer und kalt. Und er dachte an die Zeit, da er hier erwartet würde. Es ließ sich nicht ausdenken, dieses Glück!

Da drückte sich leise die Tür hinter ihm auf, und als er sich umwandte, erblickte er, schier spukhaft, Tante Rosa.

»Ich habe auf Sie gewartet, lieber Neffe«, schallte ihm ihre hohe Stimme freudig entgegen, »ich habe den Brief gefunden, den Brief. Gottlob! daß er da ist! Er liegt oben in Ihrem Zimmer. Mir ist eine Last von der Seele genommen, lieber Neffe.« Sie nickte ihm unter der ungeheuren Nachthaube freundlich zu. »Sind lange ausgeblieben; ich bin müde, und nun will ich schlafen. Gute Nacht! Gute Nacht!«

Und sie ging mit leisen Schritten wie eine gespenstige Ahnfrau der Saaltür zu.

»Tantchen!« scholl da seine Stimme hinter ihr drein, so laut und fröhlich, daß sie sich fast betroffen 87 umwandte. Aber da war er schon bei ihr und hatte sie mit beiden Armen umgefaßt, und ehe sie sich's versah, fühlte die ehrbare alte Jungfer einen schallenden Kuß auf ihrer Wange.

»Daß Gott sich erbarme, Linden, sind Sie denn nicht bei Troste?« rief sie.

»Herzenstantchen, ich kann es nicht für mich behalten, ich ersticke daran. So seien Sie doch nicht böse! Wenn ich meine Mutter hier hätte, ich küßte die alte Frau tot vor Seligkeit. So gratulieren Sie mir doch, Trudchen Baumhagen ist meine Braut!«

Tante Rosas halb ärgerliches, halb erschrecktes Gesicht war starr. »Ist's möglich?« fragte sie leise; »und die will hier hereinheiraten in unser altes Haus? Und die Familie hat's zugegeben?«

»Eine Baumhagen – ja! Und sie will hier ins Haus heiraten und die Familie hat's zugegeben, Tante Rosa.«

»Gottes Segen! Gottes reichster Segen!« flüsterte sie, aber sie schüttelte das Haupt und sah ihn ungläubig an. »Schlafen kann ich nun nicht diese Nacht«, fuhr sie fort, »ich freue mich sehr, ich freue mich von Herzen, aber Sie hätten mir's morgen früh sagen können. Nun ist's geschehen. Gute Nacht, Linden; ich freue mich, dem Hause tat die Frau wohl not. Gott gebe, daß eine rechte Hausfrau einzieht!« Sie drückte ihm die Hand und ging.

Auch er ging in sein Zimmer. Auf dem runden Sofatisch brannte die Lampe, und dort lag ein 88 Schreiben. Ach richtig, der verloren gewesene Brief! Er ergriff ihn in halber Zerstreuung. Es war Wolffs Hand. Er legte das Schreiben wieder hin, was konnte der wollen? Irgend etwas Geschäftliches. Sollte er sich die seligste Stunde verderben mit einer unangenehmen, vielleicht einer Sorgennachricht? Mochte der Brief doch warten bis –

Aber schon hatte er ihn wieder zur Hand genommen und öffnete das Kuvert.

Ein langes Schreiben fiel ihm entgegen, und beim Lesen biß er die Lippen aufeinander. »Erbärmlicher Kerl«, sagte er endlich laut, »gut, daß der Brief nicht früher in meine Hände kam. Es wäre nicht so, wie es jetzt ist.« Und als ekele ihn vor der Berührung des Papieres, warf er es mit spitzigen Fingern in den nächsten Kasten seines Schreibtisches. »Schmutzige Seelen, die mit dem Heiligsten Schacher treiben!«

Noch lange saß er still in tiefen Gedanken, und zwischen seinen Brauen stand eine düstere Falte. Dann schrieb er einen langen Brief an seinen Freund, den Kreisrichter, und mählich erhellten sich seine Züge wieder. Er erzählte darin von Trudchen.



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