Wilhelmine Heimburg
Trudchens Heirat
Wilhelmine Heimburg

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185 Die ersten Sonnenstrahlen legten sich wie rotes Gold auf die Spitzen des Waldes, der sich bis zu dem weißen, in Villastil gebauten Hause herandrängte. Riesenwächtern gleich standen vor der massiven Gartenmauer prachtvolle Eichen auf dem Rasengrund. Ein schmaler, wenig betretener Pfad führte zwischen ihnen dahin, wie man ihn findet an Stellen, die eigentlich nicht begangen werden sollen. Noch gaben die stolzen Bäume wenig Schatten. Die Eiche belaubt sich zuletzt; jung und kraus erschienen die Blättchen an den knorrigen Ästen und stachen reizend ab gegen die dunklen Edeltannen jenseits der Gartenmauer, untermischt mit dem zarten, schleierartigen Laub der Birke.

Wie traumverloren lag das Haus in dieser Morgenstille. Die grünen Jalousien waren sämtlich geschlossen, gleich schlafschweren Augen. Auf dem Dache sonnte sich eine Reihe bunter Flüchtertauben. Der Rasenplatz vor dem Hause schien verwildert, kaum noch von dem grasbewachsenen Wege zu unterscheiden, der von der Gitterpforte zum Treppenhause führte. Aus dem Nebengebäude stieg leichter Rauch zum blauen Himmel empor, und eine Katze saß zusammengekauert auf dem hölzernen Bänkchen zur Seite der Haustüre. Kein Laut ringsum, als der jauchzende Triller der Lerchen, die unsichtbar im blauen Äther standen.

Da kam unter den Eichen eine schlanke Frauengestalt daher. Sie ging langsam, und ihre Blicke 186 schweiften bald nach links über die grünende Saat hinweg ins Land hinaus, bald hingen sie an den Bäumen. Sie mußte schon einen weiten Weg gemacht haben. Das feine Gesicht sah müde aus, unter den Augen lagen braune Schatten und der Saum ihres Kleides war feucht wie die kleinen halbhohen Lederschuhe, die unter dem grauen Falbelrock hervorsahen. Sie ging direkt auf das Gittertor zu, faßte mit den unbehandschuhten Händen die rostigen Stäbe und blickte auf das Haus, etwa in der Stellung eines neugierigen Kindes. Aber ihre Augen sahen zu ernst dafür. Neben ihr stand schweifwedelnd ein brauner Hühnerhund und sah sie wie fragend an mit den klugen Augen, aber sie achtete des Tieres nicht, das ihr so treulich gefolgt war. Ihre Gedanken hatten nur ein Ziel.

Sie war nie wieder hier gewesen seit jenem Tage, an dem sie in verzweifelnder Angst hergelaufen, um – zu spät zu kommen. Noch erschien alles wie damals – aber so verlassen. Sie zog die Glocke. Wie schwer das ging! Ja, die hatte niemandes Hand wieder berührt. Jedes Frühjahr und jeden Herbst fuhr zwar Sophie pflichtschuldigst heraus, um die Möbel zu klopfen und die Zimmer zu lüften, von den anderen aber niemand. Frau Baumhagen hatte diese idyllische Marotte ihres Gatten vom ersten Moment an für eine Verrücktheit erklärt, und Jenny nannte das Landhaus die Grillenburg. Sie war einmal hier gewesen und 187 nie wieder, »man verkam ja vor Langweile zwischen den stummen Bäumen!«

Endlich gab die Glocke einen schwachen Laut. Daraufhin erhob sich ein wütendes Hundegebell im Nebenhause, und eine Frau von etlichen fünfzig Jahren im wattierten Unterrock und rotgeblumter Nachtjacke kam aus dem Gebäude. Starr wie ein Wachsbild schaute sie die junge Dame an, dann schlug sie die Hände zusammen und rannte auf klappernden Pantoffeln ins Haus zurück, um sofort mit einem Schlüsselbund wiederzukehren.

»I du Barmherziger!« sagte sie atemlos beim Aufschließen, »das hätte ich mir nicht träumen lassen – die Frau Linden! Haben einen Morgenspaziergang gemacht, gnädige Frau? Dachte schon immer, ob Sie nicht einmal herkommen mit dem Herrn Gemahl – nun sehen Sie nur – das freut mich aber!« und sie lief den Weg voran und schloß die Tür der Villa auf.

»Alles in Ordnung, Frau Linden. Mein Mann hat immer darauf gehalten. ›Paß auf‹, sagte er, ›eines Tages kommt doch einmal jemand von den Herrschaften.‹« Und wieder lief die vierschrötige Person die Treppen vorauf und öffnete ein Zimmer. »Es ist alles beim alten – da steht Ihr Bettchen und da sind auch noch die Bücher. Nur die Tannen und Buchen vor den Fenstern sind gewachsen.«

Die junge Frau nickte. »Bringen Sie mir ein 188 wenig heiße Milch«, sagte sie fröstelnd, »aber recht bald, Frau Rode.«

»Gleich! Gleich!« Und die Alte hastete fort. Trudchen hörte das Klappern ihrer Pantoffeln auf der Treppe verhallen und die Haustür zuschlagen. Und nun war sie allein.

Es herrschte eine kühle, grüne Dämmerung in dem Zimmer, die Buchenzweige drängten sich bis dicht an die Scheiben. Damals war es noch nicht so dunkel hier innen, als sie zuletzt einen Sommer hier verbrachte. Sonst – die Frau hatte recht, sonst war es noch ebenso, der Spiegel im Rahmen von Pflaumenholz zeigte noch immer die bogenspannenden Zentauren in dem gelb und schwarzen Felde der oberen Verzierung. Über dem kleinen altmodischen Schreibtisch hing noch immer der Stahlstich »Paul und Virginie« unter dem Palmenblatt. Die grünen Vorhänge des Himmelbettes waren nicht um die leiseste Schattierung verblichen, das Sofa noch genau so unbequem, der Tisch davor mit der nämlichen Plüschdecke. Hier hatte sie so manche traute Stunde verlebt, in süßer Lenznacht am offenen Fenster, und an stürmischen Herbstabenden, wenn die Wolken am Himmel jagten, der Sturm sich über die Berge stürzte gegen das einsame Haus, der Regen prasselte und der Wald so unheimlich rauschte. Dann waren die Vorhänge zugezogen, im Kachelofen brannte das Feuer, und drüben im gemütlichen Wohnzimmer wußte sie den 189 Papa bei einer L'hombrepartie. Sie hatte die Wirtin hier in »Waldruhe« gemacht, sie war so stolz darauf, in die Küche zu gehen mit dem weißen Schürzchen, in den Keller zu steigen, und die alten Herren ließen sie dann bei Tische ob des wohlgelungenen Wildbratens hoch leben. Die alten, lieben Freunde – da war jetzt nur noch Onkel Heinrich.

Dort auf jenes Lager hatten sie dann auch das ohnmächtige Mädchen getragen, wie sie es an Papas Totenbette gefunden hatten.

Es schüttelte die junge Frau plötzlich wie im Fieber. »Er starb an seiner unglücklichen Ehe«, hatte sie Onkel Heinrich einmal sagen hören – leise, aber sie hatte es doch verstanden.

Mama liebte ihn nicht, Mama hatte einen anderen gern gehabt, und das hatte sie ihm einst gesagt, als es, einer Kleinigkeit wegen, zu Meinungsverschiedenheiten kam. »Mit dem andern wäre ich glücklicher geworden, ich hatte ihn wenigstens lieb – aber, ›es war keine Versorgung‹.«

Trudchen begriff jetzt alles. Sie hatte Papas Charakter, sie war stolz. Oh, diese düsteren Jahre, da sie mit wachsendem Verständnis erkannte, welcher Sonnenschein dem Hause mangelte. »Hätte ich die Kinder nicht«, hatte er einst zornig gerufen, »es wäre längst ein Ende gemacht!«

»Oh, Qual der Hölle, wenn zwei Menschen durch Gott und das Gesetz zusammengeschmiedet sind, die doch am liebsten eine Welt zwischen sich legten! – 190 Unwürdig! unmoralisch! – Hatte er nicht recht getan, der Papa, daß er freiwillig ging – ging für immer? Aber ach, wie schwer ist das Gehen, wenn man liebt, so liebt! – Wie denn? Liebe, Achtung gehören doch einmal zusammen – Einbildung, alles Einbildung!

Sie wurde plötzlich noch um einen Schein bleicher; sie dachte, wie Papa sie geliebt hatte, und sie dachte an die kleine Wiege in der Rumpelkammer zu Hause. Gott sei Dank, es war nur ein Traum, ein Wunsch, ein Nichts – und doch – Oh, diese herzbeklemmende Angst!

Sie ging hinüber an das Bett, sie war so müde. Sie schmiegte den Kopf in die Kissen, zog die Decke empor und schloß die Augen. Und dann standen ihr immer die Worte vor der Seele, wie flammende Schrift, die Worte, die sie heute geschrieben hatte, um sie auf seinen Schreibtisch zu legen. Und sie flüsterte: »Sei barmherzig, gib mich frei! Suche mich nicht auf, laß mir den einzigen Platz, der mir noch gehört!«

Die Frau brachte die heiße Milch und sie trank. Sie wolle schlafen, sagte sie dann, und sie konnte nicht schlafen. Sie horchte immer wieder hinaus, sie meinte Pferdegetrappel zu hören und Wagenrollen. – Ach, nur das nicht!

Und Stunde auf Stunde verrann, unbeweglich lag sie. Sie hatte nicht mehr den Mut sich aufzuraffen. Warum kann man nicht sterben, wenn man 191 will? – Das Mittagläuten im Dorfe war eben verhallt, da kam doch ein Wagen und bald darauf Schritte die Treppe herauf.

Gott sei Dank, er war es nicht! Zur Tür aber steckte Onkel Heinrich sein bekümmertes Gesicht herein.

»Wahrhaftig«, sagte er, »du bist da! – Aber warum denn, Kind, warum denn?«

Sie hatte sich rasch aufgerichtet und stand nun vor dem kleinen Herrn. »Du bringst mir Antwort, Onkel?«

»Ja freilich! Ich wollte aber lieber sonst etwas tun! Wie kommt ihr kratzbürstige Gesellschaft dazu, mich zum Träger eurer liebenswürdigen Botschaften auszuersehen?« Er warf sich ins Sofa, daß das kleine Möbel förmlich aufstöhnte. »Hast du einen Kognak hier?« fragte er, »mir ist's gar nicht recht um den Magen.«

Sie schüttelte stumm den Kopf und sah ihn an aus ihren verdüsterten Augen.

»Ach so«, machte Onkel Heinrich grämlich. »Nun, er läßt dir sagen, wenn es dir Spaß machte, hierzubleiben, sollst du dich nicht genieren.«

Sie zuckte merklich zusammen.

»O la la! Das ist der Sinn – so ungefähr«, verbesserte er und wischte sich über die Stirn mit dem Taschentuch. »Linden sprach eigentlich wenig«, fuhr der alte Herr fort, »er war nur von einem stillen Zorn über deine Flucht. Indessen, er nahm 192 sich sehr zusammen. Er wolle dich nicht hindern, meinte er. Mit Gewalt schleppe er dich nicht zurück in sein Haus. Er wird dir Johanne zur Bedienung schicken und hofft sonst noch jeden deiner Wünsche erfüllen zu können. Er werde sich schon einrichten und – du habest den Irrtum hoffentlich bald eingesehen. Und«, schloß Onkel Heinrich, »soweit wären wir. Nun möchte ich von dir wissen, was jetzt werden soll, wenn du nämlich mit deiner bekannten Charakterstärke nicht zum Einsehen geneigt bist?«

Sie blieb stumm.

»Übrigens leugnet Franz in bezug auf diesen Wolff – alles! Und höre, Trudchen, du warst sonst immer ein recht vernünftiges Frauenzimmer, was ist dir in den Sinn gekommen, daß du diesem alten Esel, der überall als anrüchig bekannt ist, diesem Wolff, mehr Glauben schenkst als deinem Manne?«

Trudchen griff hastig in die Tasche und faßte den Zettel – da war ja der Beweis. Sie machte eine Bewegung, als wollte sie ihn hinüberreichen – aber nein, das konnte sie nicht, sie brachte die kleine zur Faust geballte Hand, die das unglückliche Papier umschloß, nicht hervor.

»Ihr solltet euch da beide ein wenig entgegenkommen, meine ich«, sagte Onkel Heinrich nach einem Weilchen; »ihr habt euch einmal geheiratet und – au fond – was ist's denn weiter, wenn er 193 sich nach deinen Verhältnissen erkundigt hat –?«

Er brach ab vor ihrem dunklen Blick. »Heutzutage ist es gar nicht so etwas Besonderes, wenn man –« stotterte er weiter.

»Das ist es ja nicht, das nicht, Onkel! Höre auf!« sagte Trudchen.

»Ja, ja, ich verstehe dich schon, in dem Punkte sind die Frauen empfindlicher, und mit Recht«, nickte Onkel Heinrich. »Na, mir ahnt, der Name ›Baumhagen‹ wird einmal wieder Stadtgespräch sein im nächsten halben Jahr. Adieu, Trudchen! Kann nicht gerade sagen, daß mich dieser Besuch gefreut hat. Laß dir die Zeit nicht lang werden.«

In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Übrigens, es wird wohl zur Klage kommen. Franz weigert sich, die Forderung dieses Wolff anzuerkennen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Er wird sich nicht weigern«, sagte sie ruhig. »Aber ich bitte dich, Onkel, nimm du die Angelegenheit in die Hand und bezahle den Wolff für seine Bemühungen.« Ihre Augen füllten sich plötzlich mit funkelnden Zornestränen.

»O la la! Soll ich mich auch noch da hineinmischen?« Der alte Herr war aufs peinlichste berührt.

»Ich bitte dich darum, Onkel – ehe es stadtbekannt wird!« Ein Schluchzen erstickte ihre Stimme.

»Ja, meinst du denn nicht, Kind, daß schon leise, 194 leise darüber geflüstert wird? Hm! – Nun, ich will es tun, schon aus Egoismus, Trudchen. Denkst du, mir ist es gleichgültig! O la la, was das für große Tropfen sind! Aber versprichst du mir dann auch fünf gerade sein zu lassen? Wie? Du kannst doch nicht von ihm!«

Die Tränen in ihren Augen schienen förmlich zu erstarren. »Nein!« sagte sie, »aber wir werden uns über die Trennung einigen!«

»Bist du verrückt, Kind?« rief der alte Herr mit dunkelrotem Kopf.

Sie wandte langsam den Blick von ihm. »Er hat ja doch nur mein Geld gewollt, er mag es behalten«, klang es leise an sein Ohr. »Ich war Nebensache, ich!«

»Na, das ist die erste Empfindlichkeit«, meinte der Onkel beschwichtigend.

»Kennst du mich so?« fragte sie und richtete sich in ihrer ganzen schlanken Höhe auf. Ihre verweinten Augen sahen unheimlich entschlossen in die seinen.

Der kleine Herr zog eilig die Tür hinter sich zu. Das war gerade, als ob sein verstorbener Bruder ihn anschaute. In unbehaglichster Stimmung warf er sich in den Wagen. Tausend Wetter, wie war er da wieder hineingeraten durch seine Gutmütigkeit!

Trudchen blieb allein. Einen Augenblick blickte sie ihm nach, dann schlug sie verzweifelt die Hände vor das Gesicht, flüchtete sich auf das kleine Sofa und weinte.

195 Es war gegen Abend. Franz Linden stieg die Treppe hinab, stellte sich auf die Terrasse und pfiff gellend in den Garten hinaus. Er wartete noch eine Weile, dann schüttelte er den Kopf: »Der Köter ist ihr nach«, sagte er leise, »selbst so ein Tier nimmt Partei gegen mich!« – Er trat wieder zurück in den Saal und stieß auf Johanne, die am Büfett hantierte.

»Sie werden also in einer Stunde nach ›Waldruhe‹ fahren«, redete er sie an und sah dabei an ihr vorüber. »Nehmen Sie das Nötige an Wäsche und Garderobe meiner Frau mit. Was sie sonst noch wünscht, steht jeden Augenblick zu ihrer Verfügung.«

Johanne blickte ihn scheu an, das sonst blühende Männergesicht sah so aschfahl aus in der abendlichen Beleuchtung. »Wenn's noch eine halbe Stunde Zeit hätte, Herr Linden – ich will dem Fräulein doch wenigstens noch Bescheid sagen über den Milchkeller.«

»Dem Fräulein? – Ah – so.«

»Ja, dem Fräulein, das seit gestern bei der Tante Rosa zu Besuch ist. Sie erbot sich dazu, Herr Linden, als sie hörte, daß die gnädige Frau fortreiste. Ich weiß ja doch sonst nicht, wie ich abkommen soll. Die Dore ist zu dumm und hat auch zu viel zu tun.«

Ehe er noch antworten konnte, hatte sich leise die Saaltür geöffnet und hinter der wunderlichen Figur der Tante erschien ein brünettes Mädchen mit roten Wangen und blitzenden Augen. Als sie ihn 196 erblickte, machte sie einen etwas unbeholfenen Tanzstundenknicks, und wurde von der alten Dame als Heidchen Strom vorgestellt.

Franz verbeugte sich vor den Damen, stammelte ein paar höfliche Worte und bat um Entschuldigung, wenn er sie verlassen müsse, da er noch Briefe zu schreiben habe.

»Es tut mir so leid«, klagte Tante Rosa, »daß Frau Trudchen nicht zu Hause ist –«

Er nickte ungeduldig. »Sie wird bald wiederkommen«, erwiderte er schon im Gehen.

»Wenn die Heidchen irgend etwas helfen könnte in der Wirtschaft –« schrillte die Stimme der alten Dame ihm nach.

»Bemühen Sie sich nicht«, wehrte er ab.

»Ich tue es so gern!« versicherte Fräulein Adelheid schüchtern.

Abermals eine stumme Verbeugung von seiner Seite, und dann war er mit großen Schritten aus der Tür. Auch das noch!

Hastig lief er die Freitreppe hinab in den Garten.

Er zog noch einmal den Brief aus der Tasche, den er heut morgen auf der Platte seines Schreibtisches gefunden hatte, und las ihn durch. Es waren nicht die sonst so zierlichen Buchstaben. Hart und fest und groß standen sie dort, und doch unsicher wie in zitternder Erregung geschrieben.

Das Blut schoß ihm siedend zum Herzen. »Es wird sich schon finden!« Er steckte das Schreiben 197 wieder ein und nahm ein anderes aus der Brieftasche, das vor einer halben Stunde ein Eilbote gebracht.

»Ich komme soeben von Wolff, mit dem ich ein Arrangement Ihrer fatalen Angelegenheit beabsichtigte. Der Biedermann ist leider seit gestern am Typhus erkrankt und es ist augenblicklich nicht mit ihm zu verhandeln. Ich kann nur bedauern, daß Sie gerade an diesen geraten sind, und verstehe nicht, warum Sie ihn nicht befriedigt haben. Sobald der Gentleman wieder au fait ist, werde ich mir erlauben, im Interesse meiner Familie und vor allem meiner Nichte stillschweigend zu handeln, und bitte Sie, nicht durch ein Vorgehen Ihrerseits die Sache zu verschlimmern. Sie haben Rücksichten zu nehmen!

Ich darf wohl, als alter Mann, Ihnen einen Rat geben? Ich beurteile diese Angelegenheit sehr tolerant, aber eine Frau denkt anders darüber. Gestehen Sie doch offen dem kleinen beleidigten Weibe die Wahrheit, bei ihrem Charakter das einzige, das sie wieder versöhnen könnte. Ich will gern, schon aus naheliegenden Gründen, das möglichste tun, um ihr die ganze dumme Geschichte im mildesten Lichte hinzustellen.«

»Rücksichten!« murmelte er, »Rücksichten auf die Familie!« Dann lachte er auf und ging schneller in den sinkenden Abend hinein. Was sollte er zu Hause, in den leeren Zimmern, an dem unwirtlichen Tisch und mit dem Herzen voller Groll? Kindischer, alberner Eigensinn war es von ihr. Und kein 198 Vertrauen! Womit hatte er verdient, daß sie sofort den Stab über ihn brach, ohne ihn zu hören? Nun, sie würde austrotzen, sie würde wiederkommen, aber – der Zauber war gebrochen, der Duft, der Farbenschmelz war dahin!

Sein Recht mußte er haben, ohne Rücksichten auf die Familie Baumhagen, auf sie, der er die Hände unter die Füße gebreitet hatte in treuer, ehrlicher Liebe. Weher hätte sie ihm nicht tun können, weher nicht, als daß sie dem Schurken mehr geglaubt hatte als ihm, sie, die sonst so besonnen war. – Besonnen?

Er sah noch ihre Augen vor sich, die Augen, in denen tief die Leidenschaft glimmte. Er hatte sie mehr als einmal im Zorn blitzen sehen. Er hörte ihr erschütterndes Schluchzen, ihre vor Bewegung tonlose Stimme, als sie von dem Vater sprach. Er sah sie, wie sie am Hochzeitsabend droben seine Hände stürmisch an die Lippen preßte, eine stumme, beredte Unterwerfung, ein Dank für den Zufluchtsort an seiner Brust. Und nun? Sie war verraucht, diese leidenschaftliche Liebe, unterlegen der ersten Prüfung!

Es dämmerte schon, als er von seinem Gange zurückkehrte. Johanne war fort. Das Stubenmädchen, das er auf dem Korridor traf, erzählte, sie habe ihr Kind mitgenommen und einen Koffer voll Kleider und Wäsche, auch die Bücher, die die gnädige Frau gestern zugeschickt bekommen hatte.

199 Er trat in ihr Zimmer. Der süße Veilchenduft, den sie so liebte, hauchte ihn an, die Decke der Chaiselongue lag noch so, wie sie sie beim Aufstehen heute abgeworfen hatte. Er hielt es nicht aus, die Sehnsucht packte ihn zu gewaltsam und drohte ihn weich zu machen. Er ging wieder hinunter in den Gartensaal. Unwillkürlich behielt er die halbgeöffnete Tür in der Hand – da saß der Amtsrichter am Tische, bestaubt, unordentlich von der Brockentour, und seelenvergnügt. Aber – wie kam diese Fremde dazu, hier zu schalten?

Das frische, brünette Mädchen deckte den Tisch. Sie hatte über das dunkle Kleidchen eine weiße Schürze gebunden, der Latz schmiegte sich ohne Falten an die volle Brust. Sie schob eben mit den runden Armen, die aus den halblangen Ärmeln blickten, eine Platte mit kaltem Fleisch auf des Amtsrichters Platz und setzte die Bierflasche neben das Kuvert. Und sie lachte den kleinen, wegemüden Freund dabei an, daß alle ihre weißen Zähne durch die Lippen blitzten.

Auch das noch, um die Gemütlichkeit vollkommen zu machen! Mochte essen, wer da wollte! Und nun saß er oben in seinem Zimmer, in der Sofaecke. Draußen dämmerte die Frühlingsnacht, und eine Mädchenstimme sang um die Wette mit den Nachtigallen dort unten. Das mußte die kleine, schwarze Adelheid sein. Zuletzt scholl es nur noch verhallend aus der Tiefe des Gartens herauf.

200 Er fuhr erst empor, als der Amtsrichter vor ihm stand.

»Nun möchte ich aber wahrhaftig wissen, Franz, bist du verhext, oder ich? Was ist denn los? Wo ist Madame? Die kleine Schwarze da unten, die wie vom Himmel gefallen scheint, sagte: ›Fort!‹ – Fort? Was heißt das?«

»Fort!« wiederholte Franz Linden. Es klang so wunderlich, daß der Freund stutzig wurde.

»Es ist etwas passiert, Franz. Die Alte, die Schwiegermama hat's angerichtet. Oh, diese Weiber!«

»Nein, nein! Die Sache mit dem Wolff.«

Der Amtsrichter stieß ein gut deutsches Schimpfwort aus, dann setzte er sich neben Linden und schlug ihm auf die Schulter: »Den kriegen wir, Franz«, tröstete er, »und sie wird wiederkommen, muß wiederkommen, sie wird gar nicht darum gefragt. Aber sie hat das Dümmste getan, was sie tun konnte, indem sie davonlief.« Und er begann eine Auseinandersetzung über einen Prozeß, der kürzlich in Frankfurt am Main gespielt hatte, auf Grund böswilliger Verlassung.

Linden sprang empor. »Bleibe mir mit dem Gesetz vom Leibe«, sagte er barsch, »denkst du, ich werde sie mit Gewalt zurückführen?«

»Und wenn sie nicht von selber kommt, Franz?«

»Sie wird kommen«, erwiderte er kurz.

»Und der Ehrenmann, dieser Wolff?«

Franz Linden präsentierte dem Freunde eine 201 Zigarre und nahm selbst eine. Aber er zündete sie nicht an, und indem er sich wieder setzte, sagte er: »Das fragst du? Habe ich mir schon je etwas gefallen lassen, Richard?«

»Nein, aber worauf stützt sich nur der Mann eigentlich?«

Franz zuckte die Achseln. »Ich sagte dir schon, daß er erklärte, als ich ihn quasi hinauswarf, er werde sein Recht zu finden wissen. Übrigens ist der Gentleman krank«, setzte er hinzu.

»Oh, das ist fatal!« bedauerte der Amtsrichter. Er verstummte, denn eben scholl wieder die volle, tiefe Frauenstimme herauf:

Du hast mir viel gegeben, du schenktest mir dein Herz;
Du nahmst mir alles wieder und ließest mir den Schmerz.

»Es muß recht schwer sein, Franz!« flüsterte der Freund nach einer Weile tiefsten Schweigens. »Sehr schwer – ich meine: das Richtige bei den Weibern zu treffen. Wie wirst du dich benehmen? Mit Strenge oder Milde? Schreibst du ihr einen groben Brief, oder dichtest du sie an? Es ist heute so ein Abend, ich könnte selbst Verse machen. Weißt du, Franz, zünde Licht an und laß uns die Zeitung lesen.«

»Richard«, sagte der junge Mann laut und stand auf, »wenn du mir bei der Sache gegen Wolff deinen guten Rat leihen willst, nehme ich ihn dankbar an. Aber laß meine Frau aus dem Spiele, das ist meine Sache allein!«



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