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Die Heimkehr

Am Ende des Platzes entdeckte Frau Erdmann unter schattigen Kastanienbäumen Tische und Stühle. »Hier werden wir Kaffee trinken«, sagte sie, denn das lange Umherwandern auf dem belebten Platze und die heiße Luft machten müde und durstig obendrein. Die andern waren nur zu gern mit dem Vorschlag einverstanden.

Bärbel saß zwischen Gerhard und dessen Vater. Als der Kellner sein Tablett mit Kaffee und Kuchen abstellen wollte, rückte sie, um ihm Platz zu machen, mit dem Stuhl zur Seite. Dabei schaute sie zufällig auf einen der hinteren Tische. Sie fuhr zusammen, denn dort saß Likasch und unterhielt sich mit einem Mann, den Bärbel nicht kannte. Likasch mußte sie ebenso gesehen haben wie sie ihn, aber er tat, als wäre sie ihm völlig fremd. Einen Augenblick lang dachte Bärbel, sie hätte sich getäuscht, als jedoch Likasch sein Gespräch abbrach und unentwegt zu ihr herüberschaute, bemerkte sie die böse Falte zwischen den Augen. Kein Zweifel, es war Likasch.

»Trink nur, der Kaffee ist ohnehin nicht sehr warm«, forderte Frau Arndt auf. »Und hier ist Kuchen für dich.«

»Ja, danke«, sagte Bärbel zerstreut. Während sie trank, meinte Erdmann leichthin: »Du kennst wohl die beiden?«

»Nein, nur den einen. Er wohnt bei uns im Dorfe.«

»Der so ausschaut wie ein Zigeuner?« fragte Gerhard.

Bärbel nickte und sah wieder nach jenem Tisch. Likasch stieß seinen Nachbar mit dem Ellbogen an. Sie tranken ihr Bier aus und gingen. Bald waren sie im Gewühl des Rummelplatzes verschwunden, ohne daß Likasch sich ihr gegenüber zu erkennen gegeben hätte.

»Was hast du, bist du müde? Oder schmeckt dir der Kuchen nicht?«

Frau Erdmann war die plötzliche Veränderung in Bärbels Aussehen aufgefallen, ohne daß sie sich den Grund zu erklären vermochte. »Ihr habt euch sicher vorhin an dem süßen Zeug überfüttert?«

»Ich bestimmt nicht!« rief Gerhard, dem es wieder besser ging.

Bärbel aber hatte das Gefühl, als sei ihr die Freude an all dem lustigen Treiben mitten durchgeschnitten. Über eins war sie sich klar: Likasch würde auf jeden Fall dem Vater erzählen, daß er sie mit der Familie eines Grenzers in Weißwasser gesehen hatte. Darüber half kein Wenn und Aber. Vielleicht lief er spornstreichs nach Panitz. Zuzutrauen war es ihm bei seinem Haß gegen die Grenzer.

Aber er sollte es ruhig tun, sie würde nicht leugnen, denn von den Grenzersleuten hatte sie nur Gutes erfahren, da konnte Likasch reden, was er wollte. Gestern noch hätte sie vielleicht weniger Mut gehabt, ihre Freundschaft mit Gerhard und seinen Eltern zu verteidigen. Heute war es anders. Was ihr Gerhards Vater auf dem Wege durch den Wald erzählt hatte, vergaß sie so leicht nicht, o nein, solche Dinge merkte sie sich gut, die Bärbel, deren Gedanken, wenn es darauf ankam, ebenso flink liefen wie ihre Beine.

 

Unterdes zog der Abend ins Tal. Bald nach Sonnenuntergang wurde es kühl, denn der Sommer ging zu Ende. Als Bärbel heimkam, fand sie ihre Ahnung bestätigt. Likasch saß beim Vater drinnen in der Stube. Bestimmt hatte er von der Begegnung am Nachmittag erzählt, denn Anton Elsner empfing seine Tochter in übler Laune. »Mit wem bist du in Weißwasser gewesen?« fragte er, kaum, daß sie über die Schwelle getreten war.

Likasch kehrte Bärbel den Rücken zu. Ihren Gruß erwiderte er freundlich, tat aber im übrigen, als hätte er kein Sterbenswörtchen verraten.

Bärbel legte ihre Kappe auf die Ofenbank. Sie betrachtete Likasch eine geraume Weile, ehe sie Antwort gab.

»Habe ich dir nicht gesagt, du sollst den Grenzern aus dem Wege gehen!« wetterte der Vater. »Wie kommst du zu den Leuten? Woher kennst du sie?«

»Es scheint eine dicke Freundschaft zu sein«, bemerkte Likasch leichthin. »Sicherlich macht es einem Schmugglermädel Spaß, sich mit so 'nem Grenzer in seiner schönen Uniform sehen zu lassen.«

Er wandte sich um und lachte Bärbel hämisch an.

»Schmugglermädel? Ich bin kein Schmugglermädel!« rief sie empört. »Mein Vater ist fleißig und ehrlich, damit Sie es wissen!«

»Ach?« sagte Likasch und zuckte die Achseln.

Bärbel schoß das Blut in den Kopf. Warum ließ sich der Vater das gefallen? Warum sagte er nichts? Warum saß er nur mit finsterem Gesicht neben dem Zigeuner und schaute sie an, als hätte sie ein Unrecht getan? Nun war es an ihr, dem Manne zu antworten, der Unfrieden ins Haus getragen und im Dorfe redliche Waldarbeiter zu seinen Spießgesellen machen wollte, der fremd war und fremd bleiben würde, und niemals zu ihnen gehörte.

Hätte Likasch ihr nicht das Schimpfwort ins Gesicht geschleudert, vielleicht wäre sie still geblieben oder hätte gewartet, bis der Störenfried weg war. So aber sagte sie ihm, daß es wohl nichts Schlechtes sein könne, einem verunglückten Jungen zu helfen, von den Grenzersleuten erzählte sie, und daß sie oben bei den Zollhäusern ihre freie Zeit verbrachte, nicht erst jetzt, sondern schon seit Wochen, und daß ihn das gar nichts anginge, nur der Vater hätte ihr was zu sagen, nicht er.

Bild: Rolf Winkler

Likasch biß sich vor Wut auf die Lippen. Wie angewurzelt hockte er auf seinem Schemel. Bärbel wurde gewahr, wie sich die Falte zwischen den kleinen Augen vertiefte, bis er aufsprang und auf sie zutrat. »Genug!« fuhr er sie an. »Du willst uns wohl deine Grenzer auf den Hals hetzen, he?«

Bärbels Vater packte ihn am Arm. »Laß das Mädel in Ruhe!«

Likasch erbleichte. »Du hilfst ihr also noch? Da lauf nur bald mit ihr hinauf zu den Zollhäusern und sage, was wir treiben, damit sie uns alle miteinander beim Kragen nehmen. Mach's nur weiter so, Anton, wirst ja sehen, wie weit du's bringst.«

Er riß sich los, langte die Mütze vom Nagel und polterte hinaus. Krachend warf er hinter sich die Tür ins Schloß.

Unheimlich ruhig war es plötzlich. Der lange Uhrpendel schlug hin, schlug her … tack … tack … tack … mitten in die Stille. Mit schweren Schritten durchquerte auch Anton Elsner die Stube, stand dann wortlos am Fenster und sah Likasch nach, der unten auf der Straße stehenblieb, sich zu besinnen schien und wieder kehrt machte. Er kam aber nicht mehr zurück, sondern lief hinunter ins Dorf, wahrscheinlich zum Lindenwirt, denn es war Sonntagabend, und da traf er bestimmt den einen oder anderen seiner Helfer und konnte gleich seine Neuigkeiten mitteilen.

An diesem Abend erzählte Bärbel dem Vater alles, was sie vorhin, als Likasch da war, nur angedeutet hatte. Auch das Gespräch mit dem Grenzer auf dem Wege nach Weißwasser erwähnte sie, zuletzt sogar die lustige Geschichte mit dem steifen Hut und der Butter. Sie lachte wieder, doch der Vater lachte nicht mit. Kaum ein Wort kam über seine Lippen. Ihre viel kleineren Hände hielt er in seiner großen, von Striemen und Narben zerfurchten Rechten. »Hat dich der Grenzer nicht ausgehorcht, was ich tue, wie ich heiße oder noch mehr?« fragte er.

»Aushorchen?« erwiderte Bärbel. »Da kennst du Herrn Erdmann schlecht. Natürlich hat er gefragt, wo wir wohnen und was du bist, aber das war gleich am Anfang, als ich das erstemal hinkam.«

»Später nicht mehr?«

»Nein.«

»Und die Leute waren immer gut zu dir?«

»Ja. Sonst hätten sie mich doch nicht mit aufs Schützenfest genommen. Ach, siehst du, ich habe es vorhin ganz vergessen …«

Bärbel ging zur Ofenbank, wo neben ihrer Kappe in Zeitungspapier eingewickelt eine Wurst lag. Sie wickelte sie aus und hielt sie dem Vater unter die Nase. »Herr Erdmann hat sie in einer Würfelbude gewonnen; ich soll sie dir mitbringen. Gelt, sie riecht fein!«

»Leg sie in den Keller, Bärbel, daß sie nicht verdirbt.«

»Iß doch ein Stück!«

»Nein, heute nicht. Ich … ich habe schon gegessen.«

»Mit dem Likasch etwa?«

Elsner nickte.

»Hat dir's da geschmeckt? Ich würde …«

»Schon gut«, wich er aus, »du wirst müde sein, geh', morgen früh mußt du zeitig zur Schule.« – Bärbel legte die Wurst auf einen Teller und trug sie hinaus. Als sie wieder hereinkam, fiel ihr noch etwas ein. »Vater, du sollst Erdmanns einmal besuchen.«

»So? Wer hat das gesagt?«

»Herr Erdmann, Frau Erdmann«, zählte Bärbel auf, »auch der Gerhard …«

»Das geht jetzt nicht mehr«, entgegnete Elsner und sah vor sich hin.

Es hatte keinen Zweck, ihm zuzureden, er würde es ihr doch abschlagen, solange er es mit dem Likasch hielt, dachte Bärbel, als sie ihm gute Nacht wünschte. Trotzdem fragte sie noch: »Kannst du ihm nicht sagen, er soll fortbleiben?«

»Wen meinst du?«

»Den Likasch.«

»Am liebsten möchte ich's.«

Bärbel wunderte sich über diese Antwort. Weshalb durfte Likasch überhaupt noch kommen, wenn er sich so häßlich benahm? Das Haus gehörte doch ihrem Vater und nicht ihm, und der Vater brauchte dem Zigeuner nur zu sagen, daß es aus sei mit der Freundschaft, die vielleicht ohnehin keine war. Zwar redeten sie sich einander mit du an, aber das machten sie alle so unter sich, die Dorfleute.

Angst konnte der Vater vor ihm nicht haben, denn er war ja bedeutend größer und stärker als Likasch. Es mußte etwas anderes sein, weshalb er es vermied, sich mit ihm zu verfeinden.


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