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Wie ist einem Verbrecher am nächsten Tage zumute? –
Das steht in mehr als tausend Büchern beschrieben. Hätten Sie Philipp Collin gefragt, er würde gesagt haben: Genau wie sonst.
Im Jahre 1906, in dem diese Erzählung beginnt, war Philipp Collin ein schwarzhaariger, mittelgroßer Herr, mit klugen schwarzen Augen, einem kleinen verwegenen Schnurrbart und einem gewinnenden Aussehen. Außerdem war er ein Verbrecher, denn es gab nicht weniger als vier oder fünf Paragraphen im schwedischen Reichsgesetz, die ihn nötigten, jede Begegnung mit den Repräsentanten dieser Gesetze zu vermeiden. Was seine Stellung noch unbehaglicher machte, war, daß auch diverse Stellen des dänischen Gesetzbuches genau auf seine Lage paßten.
Philipp Collin war also ein Verbrecher, nachdem er vorher Jurist gewesen war. Wie war dies zustande gekommen? Das ist eine Frage, die er vermutlich kaum selber hätte beantworten können. Untersuchen wir daher seine Vergangenheit.
Er war von ehrlichen, wenn auch keineswegs armen Eltern in der Gemeinde Dunderyd im Jahre 1875 geboren und in besagter Gemeinde eingetragen, getauft und geimpft worden, obgleich er zu Beginn dieser Erzählung in ganz anderen Teilen der Welt mitbürgerliches Vertrauen genoß. Sein Vater hatte ein Importgeschäft in Le Havre betrieben, seine Mutter war Französin, und Philipp war bei einem Besuche im Heimatland seines Papas geboren. Weder Notwendigkeit noch Erblichkeit hätten Philipp zum Verbrecher machen müssen, denn sein Papa war ein wohlsituierter Herr und seine Mama eine entzückende Frau, deren er noch immer mit Wehmut gedachte. Es ist auch nicht bewiesen, daß das französische Blut an und für sich mehr kriminelle Mikroben enthält als anderes Blut. Der einzige Fehler seiner Eltern war, daß sie zu früh starben; infolgedessen mußte Philipp, der damals ein neunjähriges, starkes und schlaues Kerlchen war, nach Schweden fahren, wo er bei den Verwandten seines Papas erzogen wurde. Das war ein rechtes Kreuz für ihn, und wenn er selbst über seine Vergangenheit philosophierte, dann sah er in dieser Kindheitszeit den Keim seiner künftigen Entgleisung.
Neun Jahre vergingen unter unaufhörlichen Reibereien zwischen ihm und den Verwandten: sie waren geizig, was ihn reizte, da er trotz seiner jugendlichen Jahre wußte, daß nicht sie die Kosten seiner Erziehung trugen; kleinlich, was viele erstickte Flüche bei ihm hervorrief und allerlei weniger schöne Gesten hinter ihrem Rücken; und puritanisch, was schon früh abstoßend auf ihn wirkte. Im Alter von achtzehn Jahren wurde er Student.
Er verließ nun das Kindheitsheim und bezog die Universität mit dem festen Entschluß, sich für die düsteren Schuljahre schadlos zu halten, was er auch wacker durchführte. Sechs Jahre vergingen, in denen er in den flottesten Studentenkreisen verkehrte, selten Vorlesungen besuchte und in dem Rufe stand, verschiedene Dinge zu studieren, hauptsächlich Sprachen. Eines schönen Tages, als seine Erbschaft sich dem Ende zuzuneigen begann, überraschte er die Welt, indem er in einigen raschen Reprisen das Examen eines cand. jur. utriusque ablegte, worauf er mit dem Diplom in der Tasche von der Universität verschwand.
Einige Zeit später erzählte man sich unter Freunden, daß er sich für den letzten Rest seines Geldes in einer der smartem Advokatenfirmen Stockholms eingekauft hatte: aber schon nach einem Jahre schien er die Sache satt bekommen zu haben, und er gründete eine eigene Advokaturkanzlei in einer Stadt, die wir anstatt K... auch gleich Kristianshamn nennen können. Die Konkurrenz war nicht groß, die Firmen am Orte vorsintflutlich geführt, und binnen kurzem beeilte sich die sich zankende Bevölkerung, ihre Angelegenheiten in die Hände des schneidigen jungen Hauptstadtadvokaten zu legen. In ein paar Jahren hatte er sich einen Namen gemacht und schien alle Aussichten zu haben, seine Tage als vermögender Mann zu beschließen, als Mitglied der Advokatenkammer, Ritter des griechischen Erlöserordens und eventuell Reichstagsabgeordneter. Da traten langsam jene dunklen Mächte in Funktion, die unser Schicksal lenken, und Philipp Collin, der unter dem Stern Mercurius geboren war, begann im siebenundzwanzigsten Jahre seines Lebens an ausländischen Börsen zu spielen.
Als Philipp dreizehn Jahre alt war, erschien in England ein Buch von einem schottischen Professor, worin dieser darlegte, daß die Gesetze der Natur ihr haargenaues Gegenstück in der Welt des Geistes haben. Seine speziellen Thesen interessieren uns nicht, aber seine Hauptidee hat viel für sich. Nach dem Gesetz der Trägheit führt zum Beispiel ein Körper x, der von einer Kraft y in Bewegung gesetzt wird, diese fort, bis sie von einer Kraft z aufgehalten wird. Wenn ein junger Mann wie Philipp Collin einen ersten Fehltritt in Form eines zweideutigen Geschäftes begangen hat, einer Anleihe aus den Kassen oder eines gefälschten Wechsels, dann fährt er, wie es scheint, mit Naturnotwendigkeit fort, die Bahn des Verbrechens weiterzurollen, bis er von einer anderen Kraft, sei sie nun ökonomischer, moralischer oder juristischer Natur, aufgehalten wird. Da nun in Philipps Fall die moralischen Kräfte leider recht unbeträchtlich waren und die ökonomischen nur antreibend wirkten – denn das Börsenspiel bei den dänischen Firmen ging alles andere als gut –, fuhr er also damit fort, bis er nahe daran war, von der juridischen Kraft S. G. (Strafgesetz) aufgehalten zu werden. Drei Jahre genügten, um dieses Resultat zu erzielen und eine vielversprechende Zukunft zu zerstören, und wie ging das zu? Er wußte es kaum selbst, und doch wuchs alles folgerichtig aus dem kurzen Brief hervor, den er im Frühling 1901 an die dänische Maklerfirma mit einer Order auf fünfzig galizische Ölbergwerksaktien absandte. Dieses kleine Briefchen brachte einen kleinen Gewinn, und ihm folgte eine lange Reihe anderer an die und von der dienstwilligen dänischen Firma. Verlust und Gewinn folgten einander in immer rascherem Tempo, bis Philipp eines Morgens mit dem Bewußtsein erwachte, kein ganz ehrbarer Mitbürger mehr zu sein. Zwei kleine Paragraphen des Strafgesetzes beraubten ihn des Rechtes, sich als solcher zu betrachten.
Dann folgte eine Zeit unheimlicher Spannung, ein Spiel gegen die Übermacht, bei dem die Einsätze Ehre und soziale Stellung waren. Wie die kleinen Jungen im Frühling von der einen Eisscholle auf die andere hopsen, so hopste Philipp Collin zwei Jahre lang auf den Stücken seines zerschmelzenden Kredites herum, immer ruhig, lächelnd und über Wasser. So gut hopste er, daß kaum jemand seine wirkliche Lage ahnte, als er im September 1904 plötzlich entdeckte, daß keine einzige, noch so schmutzige Kreditscholle übrig war, die ihn tragen konnte, und daß gewisse Gesetzesparagraphen, die in Skarins Ausgabe des Gesetzes ganz klein aussahen, zu drohenden Gewitterwolken geworden waren, die seinen ganzen Himmel bedeckten. Ein einziger Ausweg stand ihm offen, der führte die Südbahn hinunter; und seinen Gläubigern als einzigen Ersatz eine schöne Sammlung Bilder und Kuriosa zurücklassend, verschwand Herr Philipp Collin zu Ende des besagten Monats aus dem Lande, in dem er das Licht der Welt erblickt hatte.
Er verschwand, und niemand kannte seinen Aufenthalt. Es dauerte übrigens fast eine Woche, bis jemand danach fragte. Dann wurde jedoch diese Frage von einer der vier Banken Kristianshamns gestellt; am nächsten Tage wurde sie mit scharfer Betonung von den drei anderen wiederholt, und nach einer Woche von dem Detektivkorps und der Bevölkerung des ganzen Landes. Man nahm eine Untersuchung seines Kontors vor, und seine zurückgelassenen Papiere wurden mit größerem Eifer durchforscht, als wenn sie der literarischen Hinterlassenschaft eines neuen Shakespeare angehört hätten. Es stellte sich heraus, daß die zwei Paragraphen im zwölften Kapitel des Strafgesetzes, mit denen er ursprünglich in Konflikt geraten war, zu fünf angewachsen waren, die sich mit etlichen anderen in Zusammenhang bringen ließen; daß er (mit außerordentlicher Geschicklichkeit) fremde Namen zu eigenem Vorteile gezeichnet, Mangel an Redlichkeit bei der Verwaltung anvertrauter Mittel gezeigt und die Banken und andere alles in allem ungefähr 200 000 Kronen gekostet hatte. Der Löwenanteil schien für unglückliche Spekulationen aufgegangen zu sein, wie groß seine Reisekasse war, war nicht bekannt.
So sind die Vertreter des Gesetzes hier im Lande, sagten die sozialdemokratischen Zeitungen. Nehmt den elenden Verbrecher fest, sagten die Banken, wir wollen sein Blut trinken. Und das Publikum, das beiden recht gab, wartete ungeduldig auf die Nachricht von Herrn Collins Festnahme. Nachdem es ein Jahr gewartet hatte, sah es ein, daß es vergeblich wartete, und die wenigen, die zu diesem Zeitpunkt (September 1905) die Affäre Collin noch nicht vergessen hatten, begruben sie mit einem verächtlichen Achselzucken über die Polizei. Dreitausend Kronen Belohnung lockten noch jene Personen, die Lust hatten, ihn aufzuspüren.
Man denke sich deshalb das Staunen, das zu Anfang des Jahres 1906 in Schweden herrschte, als bekannt wurde, daß ein gewisser französischer Herr Philippe Nicolle, der vor fünfzehn Monaten eine kleine Agentur und Wechselfirma in Kopenhagen gegründet hatte und im Januar 1906 eiligst von dort entwichen war, aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem gesuchten Landsmann identisch war. Volle Gewißheit ließ sich nicht erlangen, aber die innere Wahrscheinlichkeit, der Zollstempel, wie die Herren Detektive sich ausdrücken, sprach dafür. Es stellte sich heraus, daß Herrn Nicolles Aussehen so ziemlich mit dem Herrn Collins übereinstimmte; Herr Collin war bekannt dafür, fließend Französisch zu sprechen, und die Kopenhagener Firmen, die Herrn Nicolles Namen fluchten, waren dieselben, die nach Herrn Collins hinterlassenen Aufzeichnungen ihn »ins Verderben gestürzt hatten«. Was die Details betrifft, gereichten sie vermutlich den dänischen Firmen nicht zur Ehre, denn sie wurden sorgsam geheimgehalten, aber eines war sicher, daß Herr Nicolle mit einer Reisekasse von etwa 70 000 Kronen, in einer Krokodillederbrieftasche verwahrt, Kopenhagen Samstag, 16. Januar 1906, im Auto verlassen hatte. Seine Autotour führte nach Roskilde, von dort gerechnet war sein Weg mit dem des Hamburger Expreß zusammengefallen, aber mit der Ankunft in dieser Stadt hörte Herr Bankier Nicolle auf, Lebenszeichen zu hinterlassen.
Indessen geht 7 Uhr 39 vormittag, eine Stunde nach der Ankunft des Gjedser-Warnemünde-Expreß in Hamburg, der D-Zug nach Paris und Amsterdam; Reisende nach dem letzteren Orte steigen in Osnabrück um und können noch am selben Abend von Amsterdam nach Hoek van Holland weiterfahren, wo ein großer, weißer Turbinendampfer bereit ist, sie nach Harwich in England zu bringen.
Wenn der Leser am Montagmorgen, 18. Januar 1906, im Expreßzug Harwich-London gefahren wäre und dabei sein Frühstück im Speisewagen eingenommen hätte, hätte er einen schwarzhaarigen Herrn von ungefähr dreißig Jahren sehen können, der mit gutem Appetit Schinken, Eier und Marmeladebrötchen aß. Vor ihm stand eine dampfende Teetasse, aus der er hie und da einen tiefen Schluck nahm. Sein Blick war klar und ruhig, er trug den Kopf hoch, und wenn seine Lippen ab und zu zitterten, so war es nur infolge eines unterdrückten Gähnens. Und doch hätte dieser Blick scheu sein sollen, diese Lippen hätten vor Angst beben müssen, denn auf den hochgetragenen Kopf war ein Preis von mindestens 3000 Kronen gesetzt, und sein Besitzer, schon längst von der schwedischen Polizei gesucht, war augenblicklich damit beschäftigt, sich der dänischen zu entziehen.
Philipp Collin – denn er war es wirklich – nahm einen letzten Schluck aus der Teetasse, bestellte einen kleinen Kognak zum Schutz gegen die Winterkälte, und warf dann einen hastigen Blick auf seinen Nachbarn. Denn trotz allem gab es etwas, das, wenn es ihn auch nicht beunruhigte, doch zumindest seine Aufmerksamkeit erregte; dieses Etwas war der graugekleidete Herr, der neben ihm saß und augenblicklich vom ›Daily Chronicle‹ so gut wie verborgen war. Dreimal im Laufe des Morgens war Philipp mit ihm zusammengestoßen und hatte seine scharfen grauen Augen auf sich geheftet gesehen; und obgleich er nicht nervös war, war es ihm doch so vorgekommen, als ob dieser scharfäugige Herr sich allzusehr für sein Tun und Lassen interessierte. Sie waren Kajütenkameraden auf dem Dampfer ›Prinzregent‹ von Hoek nach Harwich gewesen, aber in der Kajüte hatte Philipp den Mann kaum beachtet.
Während er seinen Kaffee in der Bar des Dampfers trank, war ihm dagegen plötzlich im Spiegel hinter dem Bartender aufgefallen, daß ihn jemand im Schutze einer weiten Sportmütze fixierte, und als er sich umdrehte, fand er, daß es der ehemalige Kajütenkamerad war. Darauf war dieser verschwunden, und Philipp hatte ihn erst wieder beim Passieren des Landungssteges gesehen, wo sein scharfes Auge den Mann im Schatten einer Hafenbaracke entdeckte, von wo aus er die Reisenden fixierte und, wie es Philipp vorkam, hauptsächlich ihn. Bei dieser Gelegenheit war Herrn Collin plötzlich der Gedanke gekommen: das ist ein Detektiv! Er hatte indes den Gedanken als unnütz wieder verjagt. Denn ist es ein Detektiv, dachte er, so kann er doch nicht hinter mir her sein – noch nicht! Es wird noch einige Stunden dauern, bis auch nur Herr Lukas Greenberg und die guten Kopenhagener darauf kommen, was sie an mir verloren haben! Aber obgleich über diesen Punkt beruhigt, hatte Herr Collin ein Gefühl des Unbehagens nicht unterdrücken können, als er beim Frühstückstisch im Speisewagen den Mann zum dritten Male auftauchen und am selben Tisch wie er selbst Platz nehmen sah. Dieses Mal hatte jedoch der scharfäugige Herr in dem grauen Anzug keinerlei Miene gemacht, Philipp zu beobachten, sondern nur seinen Schinken verschlungen und war gleich darauf im ›Daily Chronicle‹ versunken.
Nur zu, dachte Herr Collin, während er an seinem Kognak nippte, das ist eine sehr verdächtige Erscheinung, aber mich wird er nicht fangen!
Und während der Zug zwischen den winterlichen, gefrorenen Feldern dahinflog – es war eine bittere Frostnacht gewesen –, versank er in holde Zukunftsträume, wobei er den graugekleideten Detektiv ganz vergaß. Das angenehm fremde Summen leiser englischer Stimmen stieg rings um ihn von den Tischen auf, und aus diesem Summen erhoben sich ein paar amerikanische Stimmen wie der Schrei der Möwen aus dem Murmeln stiller Abendwellen. Alles war neu, in diesem Morgenlicht gesehen. Der Wind und die Winterkälte hatten sein Blut in Wallung gebracht, und während sein Blick hie und da wollüstig die schöne Rundung seiner Brusttasche liebkoste, in deren Innerem eine kleine Krokodillederbrieftasche zirka 70 000 Kronen dänischen Geldes umschloß, zimmerte er Luftschlösser für die Zukunft. Halb flüsternd ging er in seinem wunderlichen Dänisch-Französisch-Schwedisch innerlich seine vergangenen Heldentaten wieder durch. Die Niederlage in Kristianshamn war gerächt, die falschen dänischen Vettern waren gründlich geschlagen, und mit ihrer Kriegsentschädigung in der Tasche zog er jetzt in die Hauptstadt des Geldes ein. Ah, sacré nom, wenn er sich nicht auf deren Kosten bereichern sollte! Denn London – das waren alle Chancen – toutes les chances possibles, und sein Kopf war schon voll von Plänen, die ihm Gold bringen sollten, viel Gold! Vorläufig mußte er im kleinen beginnen, aber so haben es alle Millionäre gemacht. Und was kann ein kluger Mann mit 70 000 Kronen nicht alles anfangen! Alles, sacré nom; wenn er nur geduldig ist.
Herr Collin fuhr auf, als er rings an den Tischen Gold und Silber klirren hörte und sah, daß man schon überall bezahlte. Das Tageslicht strömte matt und blaßgelb durch die Coupéfenster herein, und die Stöße zahlreicher Stationswechsel kündigten die Nähe Londons an. Er bezahlte und ging in sein Coupé. Er zog seinen Ulster an und blieb mit der Reisetasche in der Hand im Gang stehen, während der Zug stoßend in das schmutzige Eastend hineinrollte. Das Licht der blassen Wintersonne sickerte aus dem nebligen Morgenhimmel und fiel wie eine unbeholfene Liebkosung auf diese grauen Wohnstätten der Arbeit und der Not. In den engen Hinterhöfen waren schlechtgekleidete Frauen mit ihren Haushaltungsarbeiten beschäftigt, es wimmelte von bleichen Kindern, und von den Wäscheleinen flatterten graue Fetzen. Plötzlich bog der Zug in ein Gewirr von Schienen ein, rasselte lärmend an leeren Waggons vorbei und blieb mit einem Ruck in Liverpool Street Station stehen. Auf der Station herrschte ein Gewühl wie auf einem Ameisenhaufen. Passagiere, Träger und Zugpersonal riefen alle durcheinander. Philipp, der mit leichter Feldpackung in London einzog, stürzte sich entschlossen in das Gewühl, puffte Personen und bat um Entschuldigung, ohne eine Antwort zu bekommen, wurde selbst gepufft und blieb für einige Sekunden in einem Menschenknäuel stecken. Endlich gelang es ihm, sich an einem grauen Überrock und einer Sportmütze vorbeizudrängen, die er wiedererkannte – der Kajütenkamerad –, und einen Cab zu erreichen. Der Kutscher bekam die Anweisung, zu einem Hotel zu fahren, dessen Adresse er zufällig in einer Zeitung gesehen hatte, und nun rollten sie durch das Tor der Bahnhofshalle.
Also London ... Der Verkehr der Siebenmillionenstadt dröhnte in der winterkalten Luft rings um ihn, während die aufgehende rote Januarsonne ein ungewöhnliches Licht auf die verrauchten Cityhäuser warf. Automobile und Pferdefuhrwerke rollten in zwei lärmenden, gleichbreiten Strömen dahin; Lieferwagen, mit riesenhaften Pferden bespannt, deren Hufe von buschigen Haaren umgeben waren, Motorräder, von den kleinen Jungen gelenkt, die vorne darauf saßen, Omnibusse, zierliche Cabs und mattblinkende Luxusautos. Hie und da begegnete Philipps Cab einem förmlichen Zug von zwei oder drei Lastwagen, gezogen von einer keuchenden, hämmernden Straßenlokomotive; dann erzitterte die ganze Straße unter dem unerhörten Druck, und die Luft vibrierte von dem Lärm des Kolosses. Plakate bedeckten Häuser und Wagen mit ihren bunten, grellen Farben, es roch nach Benzin, Steinkohlenrauch und Tabak, und hie und da drang eine Welle von Speisegerüchen aus der Tür eines Gasthauses.
Philipp sog all dies Neue mit offenen Poren ein. Großstädte hatte er schon viele gesehen, aber nichts glich diesem London. Es lag etwas Großzügiges, Riesenhaftes und Heroisches über dem Ganzen, das seine gallische Phantasie fesselte. London, welcher Klang schon im Namen! London – ah, eine feine Stadt zum Ausplündern, zitierte er halblaut für sich selbst. Ich werde sie ausplündern. Diese Millionen werden für mich arbeiten. Mit meinen 70 000 werde ich London besiegen, und London wird mir Denkmäler errichten und mich Sir nennen.
So dachte Herr Philipp Collin, denn er war stolz auf seine dänischen Erfolge und lächelte dabei sanft dem Gewimmel der Riesenstadt zu. Dann wandelte ihn plötzlich die Lust an, eine Zigarette zu rauchen, er zog sein Futteral und seine Zündhölzer heraus und zündete sich eine Abdullah an. Und dann hielt er mitten in der Bewegung inne, ohne das Zündhölzchen auszulöschen, denn es war ihm mit einemmal zum Bewußtsein gekommen, daß die Bewegung, die er gemacht hatte, um die Zigarette hervorzunehmen, so merkwürdig leicht vor sich gegangen war ... Er sah an sich herab: die zwei obersten Knöpfe seines Reiseulsters waren geöffnet. Und wenn er einer Sache sicher war, so war es, daß er den Ulster zugeknöpft, ihn gut zugeknöpft hatte, bevor er den Zug verlassen hatte. Eine plötzliche, unheilverkündende Ahnung durchzuckte ihn, das Zündhölzchen verbrannte ihm die Finger, und er ließ es mit einem zerstreuten Fluch fallen. Während in seinem Kopf hundert Vermutungen schwirrten, entschloß er sich endlich, eine zögernde Hand nach der Brusttasche auszustrecken.
Sie war leer.
Tod und Teufel! Philipp Collin durchsuchte mit fiebernder Hand seine Kleider, er riß seine Reisetasche auf und untersuchte sie und durchstöberte mit Gebrüll das Innere des Cabs. Danach sah man ihn in die Lederkissen des Wagens zurücksinken, voll ohnmächtiger Wut, bodenloser Verwunderung und der sich rasch vertiefenden Überzeugung, daß er ganz einfach bestohlen worden war. Bestohlen von einem Taschendieb, einem gewöhnlichen englischen Taschendieb! Ja, mit Sicherheit von dem Kajütenkameraden, dem Mann auf dem Boote, den du, o Philipp Collin, in deiner Torheit für einen Diener der Gerechtigkeit hieltest. Ein Diener der Gerechtigkeit! Das war er eben gewesen. Die Strafe für deine Vergangenheit hat begonnen, deine Zukunft ist dunkel, du bist gestrandet, mit einigen elenden Hundertern, in diesem großen, fremden London! In diesem London, das du plündern, dessen Millionen du rauben wolltest! Ha, Philipp Collin, sieh hier deine Lorbeeren! Der einfache Taschendieb hat London gerettet. London lächelt in der Wintersonne, kalt und träumerisch. London ist ruhig. London denkt gar nicht daran, Herrn Collin aus Schweden Denkmäler zu errichten.
Es gibt eine Vorsehung, Philipp Collin! Laß dich warnen.
Mitten in dem fashionablen London liegt Bond Street. Und ungefähr in der Mitte von Bond Street liegt das Haus 118 b. Im Jahre 1906 wohnte da der große Wahrsager El Kabir.
London, das abergläubischer ist als irgendein Negerkral, ist voll von Wahrsagern und Zauberern. Und einer der berühmtesten von diesen war im Jahre 1906 El Kabir, Bond Street 118b.
In der Parterrewohnung des Hauses war ein Schönheitsinstitut, im ersten Stock ein Damenkleidersalon, im nächsten wohnte El Kabir, und dieses zweite Stockwerk verdiente mehr als die beiden anderen zusammengenommen. Und doch arbeiten Damenkleidersalons und Schönheitsinstitute in London nicht mit Verlust.
El Kabirs Wohnung bestand aus vier Zimmern. Das erste war ein Warteraum. Das zweite war das Arbeitsgemach des Magiers, das dritte sein Privatraum, das vierte war ganz klein und diente ihm als Aussichtswinkel; es lag neben dem Arbeits- und dem Wartezimmer und war mit beiden verbunden, obgleich diese Eingänge durch schwere Draperien verdeckt waren. Pentagrammgeschmückte Draperien hingen überall herab, alle Türen und Ecken verbergend; und durch die draperiengeschmückten Türen flutete die elegante und halbelegante Welt Londons in einem gleichmäßigen Strom zu dem großen Magier, der in seinem Arbeitszimmer über den Kristallkugeln träumte. Ein mystischer Räucherduft schwebte durch das Gemach, das von einer mattschimmernden Glaskugel an der Decke erleuchtet wurde; es raschelte unheimlich aus den Mumienschränken, wo der Seher seine geheimen Papyrusdokumente verwahrte; ein alter, grauer Affe starrte regungslos aus einer Ecke, wo er in Gemeinschaft mit seinem Herrn über dem Problem des Daseins brütete. Auf einem Berg von Kissen saß dieser, in Träume versunken, das Kinn in die Hand gestützt, die Nargilehpfeife zwischen den Lippen, und deutete seinen Kunden die Rätsel der Zukunft. Niemand verstand es so wie er, den Kristallkugeln die Geheimnisse zu entlocken, die in ihren Tiefen schlummerten, niemand wußte solche Horoskope zu stellen wie er. Niemand verstand es auch besser, sich dafür bezahlen zu lassen. Zwei bis fünf Guineen war sein Preis für eine gewöhnliche Konsultation und für einfachere Dinge wie schmerzstillende Zaubermittel, Skarabäen und gewöhnlichere Talismane. Aber gegen besondere Vereinbarung gab es nichts, was nicht in der Macht des schwermütig blickenden Orientalen stand: Liebestränke, Verjüngungswasser nach bisher ungedeuteten cyprischen Dokumenten und koptische Beschwörungssäckchen zum Schutze gegen Unglück und böse Geister.
Wenn man Freitag, 19. Februar 1906, einen Blick in die Wohnung des großen Sehers geworfen hätte, so würde man sowohl das Wartezimmer wie den Arbeitsraum leer gefunden haben. Zur Zeit waren keine Besucher da, und der Meister selbst saß in seinem Privatgemach im Gespräch mit einem graugekleideten Herrn, dessen Aussehen an sein eigenes erinnerte. Und im vierten Raum, dem kleinen Aussichtswinkel, stand ein Hindu, das Ohr an ein Loch zum Privatzimmer gedrückt.
Es lag ein Ausdruck großer Spannung über seinen braunen Zügen, und seine schwarzen Mandelaugen starrten nervös in das Wartezimmer.
Dieser Hindu war kein anderer als cand. juris utriusque Philipp Collin, und die Erzählung, wie er dazu kam, da zu stehen, wo er jetzt stand, zeigt wieder einmal die Ironie des Schicksals.
Gerade in dem Augenblick enttäuscht, wo er gesiegt zu haben glaubte, betrogen, geprellt, gestrandet mit kaum tausend Kronen in der Tasche, hatte sich Philipp, nachdem er sich von seiner ersten Betäubung erholt hatte, beeilt, nach Liverpool Street Station umzukehren, um vielleicht noch dort eine Spur des Unbekannten zu finden. Daß es der Mann vom Schiffe war, daran zweifelte er keinen Augenblick. Alles sprach dafür: die Kajüte, die sie zusammen gehabt hatten, wo der Schurke leicht Philipps Brieftasche hatte sehen können, die Begegnungen im Laufe des Morgens und die scharfen Blicke, die er Philipp zugeworfen hatte, schließlich das Zusammentreffen in dem Gedränge der Station. Aber alles Forschen nach dem Taschendieb war vergebens; in Liverpool Street Station war keine Spur von ihm zu finden, und vergeblich durchstreifte Philipp in der nächsten Woche London vom einen Ende zum anderen. Sein Eigensinn und seine Rachsucht waren erfolglos, und er hatte schon angefangen, an andere Auswege für die Zukunft zu denken, als er eines schönen Tages seinen Mann vor sich sah.
Und nicht in einem, sondern gleich in dreizehn Exemplaren!
Das heißt, was er fand, war dessen Porträt (wie Philipp überzeugt war) auf dem Rücken von dreizehn Sandwichmen in Bond Street. Dreizehn Sandwichmen, die für den großen Magier El Kabir Reklame machten. Und in seinen Zügen erkannte Philipp sofort die des gesuchten Taschendiebes.
Nachdem er einem der dreizehn Sandwichmen einen Stockschlag auf die Annoncentafel versetzt hatte, um seinen Abscheu vor dem Mann auszudrücken, dessen Bild er trug, und nachdem er die nötige Polizeistrafe hierfür erlegt hatte, stürzte Philipp zu der angegebenen Adresse, 118b Bond Street. Er wurde von einem Diener empfangen, der ihn fragte, ob er ein Rendezvous habe; er erwiderte mit ironischer Verachtung, sein Rendezvous sei schon über eine Woche alt, und wurde zu dem großen El Kabir eingelassen. Zehn Minuten später wurde er nach einem peinlichen Auftritt etwas ungestüm aus dessen Wohnung hinausgeworfen. Drinnen bei dem Magier hatte er gefunden, daß er insofern einen Irrtum begangen hatte, als nicht der Zauberer selbst, sondern sein ebenfalls anwesender, in Zivil gekleideter Bruder, Mr. Bateson, der gesuchte Verbrecher war. In brühheißem Französisch-Dänisch-Englisch hatte Philipp sein Geld verlangt, ein rohes Lachen zur Antwort bekommen, Drohungen fürchterlichster Art ausgestoßen, worauf er von den muskulösen Brüdern hinausgeschleudert wurde, während er ihnen die unerhörtesten Strafen in Aussicht stellte und schwor, im Notfall Hilfe bei der Polizei zu suchen. Eine Sekunde später wurde noch ein Herr hinausgeworfen; das war El Kabirs Diener, der seine Stelle verlor, weil er Philipp eingelassen hatte. Philipp rettete sich vor diesem in einem Auto, und bevor er noch Piccadilly erreicht hatte, war sein Racheplan fertig.
Am selben Nachmittag enthielten die Zeitungen unter der Rubrik ›Gesucht‹ eine Anzeige, in der ein Platz als Diener bei dem großen El Kabir in Bond Street angekündigt war. Am nächsten Tage wurde für diese Stelle ein schweigsamer, brauner Hindu angenommen, der auf den Namen Faiz Ullah hörte. Nach einer Woche war er der Liebling seines Herrn wie dessen Kunden, und wenig ahnte der erste, daß die braune Haut und die weiten indischen Kleider einen Mann verbargen, der sein Todfeind war, cand. juris utriusque Philipp Collin aus Kristianshamn. Aber so war es. Und während die Tage vergingen, wachten diese schwarzen indischen Augen, die so demütig und treu schienen, mit nie versagender Aufmerksamkeit über alles, was sich im zweiten Stockwerk 118b Bond Street zutrug, und registrierten alle verdächtigen Züge, um sich künftig daran zu erinnern.
Und was Philipp von Anfang an vermutet hatte, nahm in seinem Bewußtsein bald klarere Formen an. Nicht zufrieden mit dem Gewinn des fetten Wahrsagergeschäftes, verwendeten die beiden Brüder die Auskünfte, die sie ihren Kunden entlocken konnten, zu Privatzwecken ganz spezieller Natur. Eine Woche nachdem die junge Mrs. Morris – Philipp hatte ihre Visitenkarte selbst in Empfang genommen – ihr Rendezvous mit El Kabir gehabt hatte, wurde am hellichten Tage in ihrer Wohnung ein kühner Einbruch verübt, wobei Juwelen für mehrere hundert Pfund gestohlen wurden und die Einbrecher eine merkwürdige Vertrautheit mit den Gewohnheiten des Hauses zeigten. Mrs. Morris selbst war abwesend gewesen, und Philipp hatte mit seinen eigenen lauschenden Ohren gehört, wie der Magier ihr geraten hatte, an diesem Tage einen Ausflug zu unternehmen, »zur Vermeidung eines großen Unglücks«.
Denn sooft Philipp einen freien Moment hatte – das heißt, wenn das Wartezimmer leer und Mr. Bateson nicht zu erwarten war –, schlüpfte er in den kleinen schon erwähnten Aussichtswinkel. Von hier aus pflegte auch der Magier seine Kunden insgeheim zu beobachten, bevor er ihnen ein Rendezvous gab. Konnte er ihnen dabei nicht genug von Interesse ablesen, um ihnen zu prophezeien – was nicht so selten vorkam, denn El Kabirs Stellung war früher die eines einfachen Kellners gewesen –, wurde die Sache in Mr. William Batesons Hände gelegt. Dem Kunden wurde eine Zusammenkunft für einen anderen Tag bestimmt, bis dieser durch seine zahlreichen Verbindungen in der unteren Welt die richtigen Details in Erfahrung gebracht hatte. Dann wurde Vergangenheit und Zukunft mit derselben Leichtigkeit von dem großen El Kabir gedeutet; ein neuer Beweis seiner wunderbaren psychischen Fähigkeit wurde zu den vielen anderen gelegt, und das Geschäft ging besser denn je.
In diesem Raume nun stand Philipp, Freitag, den 19. Februar 1906, das Ohr an ein kleines Loch in der Wand zum Privatzimmer gepreßt, den Blick auf das Wartezimmer geheftet, um etwaigen Besuchern rasch entgegengehen zu können.
Denn gegen drei Uhr dieses Nachmittags war Mr. W. Bateson die Treppe heraufgestürmt und, nachdem er gerufen hatte: »Mein Bruder frei, Faiz Ullah?«, in das Arbeitszimmer des Sehers geeilt. Rasch wie ein Pfeil war Philipp auf den Zehen in den kleinen Aussichtswinkel geflogen, um zu lauschen. Einigen geflüsterten Worten im Arbeitszimmer folgte tiefes Schweigen. Die beiden Brüder waren in El Kabirs Privatzimmer verschwunden. Schlau voraussehend, was die Zukunft bringen konnte, hatte Philipp auch in die Wand dort ein kleines Loch gebohrt, und mit dem Ohr daran finden wir ihn jetzt.
»Sie scheint faktisch die Wahrheit gesprochen zu haben«, hörte er die rauhe Stimme des jüngeren Bateson. »Ich bin ihrem Mann den ganzen Morgen nachgegangen und habe, hol mich der Teufel, alle Details bestätigt gefunden. Aber hätte ich ihn nicht selbst in das Kontor am Ludgate Circus gehen und wieder herauskommen sehen, mit der Tasche so prall wie eine Wurst, ich hätte es meiner Seel nicht geglaubt. Man denke sich, 70 000 oder 80 000 in einem gewöhnlichen Cab! Und dabei machen es alle so, hat mir Jamies im Klub gesagt. Ich habe ihn ausgeholt, vorsichtig natürlich. Allgemeiner Brauch, sagte er, daß die Filialen in einem gewöhnlichen Cab abholen lassen. Weiß der Teufel«, fügte Mr. Bateson mit einem Grinsen hinzu, »ob dieser Brauch noch sehr viel älter wird!«
»Nun, was gedenkst du zu tun?« hörte Philipp die Stimme des Sehers und spannte die Ohren aufs äußerste an.
Hier war seine Gelegenheit, hier war seine Gelegenheit, summte es ihm im Kopfe. Die Stimmen dort drinnen senkten sich noch mehr, und nur losgerissene Sätze drangen an sein Ohr.
»Tun? Nachfolgen, wenn es das nächste Mal neblig ist. Er pflegt über das Embankment nach Hause zu fahren, und da habe ich mir eine kleine Überraschung für Mr. John Walters ausgedacht ... Geht nicht? Geht fein mit meinem Auto ... im Nebel ... putz weg ... kannst du dir es besser denken? ... Nein ... immer Dienstag und Freitag, meistens Freitag ... Ja, in Putney, die Filiale ist ja in Putney ... denke dir, vielleicht 70 000 Pfund! ...«
Philipp hörte von draußen Schritte und flog pfeilschnell auf seinen Posten im Wartezimmer zurück. Sein Kopf brummte, und nur mit Aufgebot all seiner Kräfte konnte er zwei Minuten später zwei Damen mit seiner gewöhnlichen orientalischen Ruhe zu El Kabir geleiten. Denn die eine von ihnen war Mrs. John Walters, Adresse Steffens Walk 10, Putney. Und von wem hatten die sauberen Brüder eben gesprochen, wenn nicht von ihrem Mann?
Hier hatte er seine Gelegenheit! Jetzt galt es! Rache, Rache unter allen Umständen, und wenn er die Polizei zu Hilfe rufen sollte, wie er es den Herren Bateson bei seiner ersten Begegnung mit ihnen versprochen hatte.
Am nächsten Tage, der ein Samstag war, bekam er auf sein eigenes Ansuchen den Nachmittag von El Kabir frei und stürzte sich in dunklen Missionen in das Gewühl Londons. In europäischer Kleidung und mit seinem alten Chauffeurdiplom vom königlichen Automobilklub Kopenhagen in der Tasche sehen wir ihn um vier Uhr in eine Garage an der Blackfriars Bridge treten. Eine Stunde später kehrt er nach einer Probefahrt im Auto durch die Straßen Londons dorthin zurück. Eine weitere Viertelstunde später verläßt er den Garagebesitzer, nachdem er seine letzten vierzig Pfund dort deponiert hat, als Sicherheit für ein Auto, das er – wahrscheinlich – nächsten Freitag mieten und ohne Chauffeur selbst lenken wird.
Das zu besingen, was nun folgt, würde eine würdigere Feder verlangen als die meinige. Gerade aus der Garage gekommen, ging Philipp nachdenklich das Embankment entlang, über ein ungelöstes, wichtiges Detail seines Planes grübelnd. Würde Bateson allein sein? Oder würde sein Chauffeur dabei sein? Und würde er in diesem Falle seinen eigenen Plan ändern müssen, oder würde besagter Chauffeur mit sich reden lassen? Und während er noch darüber grübelte, erblickte er plötzlich vor De Keysers Hotel ein großes schwarzes Panhardauto mit tigerartig spinnendem Motor und daneben, im Gespräch mit einem in Leder gekleideten Chauffeur, keinen anderen als Mr. Bateson.
Es war, als hätte Mr. Bateson geahnt, daß sein Feind in der Nähe war, denn in demselben Augenblick, in dem Philipp ihn erblickte, sprang er in das Auto, und dieses flog das Embankment entlang. Seine rückwärtige Laterne war angezündet, und in ihrem Lichte las Philipp die Nummer 12 M 1000.
Mit einem plötzlichen Entschluß stürzte Philipp im Laufschritt dem Feinde nach, aber der Kampf war zu ungleich, und das schwarze Panhardauto wäre schon längst außer Sehweite gewesen, wenn nicht im richtigen Augenblick ein Taxi aufgetaucht wäre. Er sprang hinein und gab dem Chauffeur Order, nachzufahren; aber er konnte nicht lange sitzen bleiben. Gleich hinter Waterloo Bridge bog das Auto 12 M 1000 in eine Quergasse, die nach dem Strand führte, wo der Abendverkehr zu ungeheuren Proportionen angewachsen war. Im letzten Augenblick, ehe noch der an der Ecke postierte Schutzmann den Arm hatte heben können, preßte sich Mr. Batesons Auto auf den Strand, und dann schloß sich die Lücke im Verkehrsstrom wieder hermetisch. Wütend über dieses Pech warf Philipp seinem Chauffeur einen Shilling zu und tauchte unter dem Kopfe eines riesenhaften Ardennerpferdes in dem Abendverkehr des Strandes unter, um seinen Feind zu verfolgen. Auf die Gefahr, jeden Augenblick Automobilrädern oder Pferdehufen zum Opfer zu fallen, gelang es ihm, dem feindlichen Auto bis zur Ecke von Aldwych zu folgen. Der Verkehr war so dicht, daß 12 M 1000 sich immer nur ein paar Räderlängen vorwärtspressen konnte. Endlich schwenkte sein Chauffeur, der infernalisch geschickt zu sein schien, einem Autobus und einem Lastwagen gerade vor der Nase nach Aldwych hinauf; Philipp machte einen kühnen Sprung, rettete sich vor einem blutdürstigen Lipton-Delivery-Auto in ein freundlich summendes freies Autotaxi, und die Jagd wurde unter gleichmäßigeren Verhältnissen Kingsway hinunter nach Holborn fortgesetzt. Auf den Trottoirs von Holborn und Oxford Street zogen tausendfüßige Scharen nach Westen; aus den Stationen der Untergrundbahn wurden die Menschenmassen stoßweise hinausgeschleudert, ganz so wie das Wasser aus einem gebrochenen Leitungsrohr strömt; und zwischen den Trottoirs war die Straße ein einziger Katarakt von Fuhrwerken, über denen der Benzinrauch in weißen Wirbeln sprühte wie der Schaum eines Wasserfalles. Der Abendhimmel darüber war gelbrot, wo er nicht von den Bogenlampen zu grünblau gebrochen wurde.
Plötzlich schwenkte 12 M 1000 in eine Querstraße und hielt; und Philipp fluchte, als er sah, daß seine ganze Jagd ihn nur zu dem wohlbekannten Hause Nummer 118b Bond Street geführt hatte. Mr. Bateson sprang heraus, aber während Philipp seinen Chauffeur bezahlte, bestieg er wieder sein Auto und setzte sich an das Steuer. Mit einem kurzen Wink den ledergekleideten Chauffeur verabschiedend, rollte er fort. Offenbar hatte dieser für den Tag freibekommen. Nach einem Augenblick des Zögerns beschloß Philipp, die Verfolgung des Herrn aufzugeben; der Diener interessierte ihn augenblicklich mehr.
»Auf! Zum Angriff auf seine Tugend!« murmelte Herr Collin und eilte ihm nach. »Bevor die Nacht um ist, muß ich mit ihm im klaren sein.«
Lange vor Mitternacht war er es, und gegen 0.30 Uhr war Mr. Bateson ohne nennenswertes Zögern von seinem Diener verkauft. Lescot – so lautete der Name des Chauffeurs – erwies sich als ein intelligenter junger Pariser, der infolge einer unerledigten Angelegenheit mit M. Lépine genötigt war, im Ausland zu leben, ein Umstand, den Mr. Bateson dazu benutzte, ihn im Notfall zum Gehorsam zu zwingen. Mr. Bateson lenkte fast nie selbst, und Lescot hatte eben erfahren, daß er in nächster Zeit unmöglich freibekommen konnte. Folglich war es ja so gut wie sicher, daß er bei der Ausführung von Mr. Batesons Plänen gegen Mr. Walters mitwirken sollte, und er lauschte mit weit offenem Munde, was Philipp über diese zu erzählen hatte. Vor die Wahl zwischen einem fetten Bissen und lebenslänglichem Zuchthaus gestellt, zögerte er nicht lange. Bevor er und Philipp sich trennten, hatte er Herrn Collin Treu und Glauben geschworen, mit wenig Gewissensbissen, denn er liebte Mr. Bateson ungefähr ebensosehr wie sein neuer Herr.
Und nun kommt die Erzählung von Philipp Collins Rache an den Brüdern Bateson.
Der Freitag des 26. Februar 1906 brach in London mit einem gelbgrauen Nebel jener speziellen Art an, die man dort Erbsensuppennebel zu nennen pflegt. Überall, drinnen in den Häusern wie draußen auf den Straßen, brannten die Gaslaternen und die elektrischen Lampen in rotgelben und grünblauen Dunstkreisen, aber verbreiteten nicht mehr Licht, als wären es Talgkerzen gewesen. Der frühe Morgenverkehr der Straßen wickelte sich im Schneckentempo ab; man sah kaum einen Meter vor sich; und in dem zähen Brei, der die Trottoirs bedeckte, arbeiteten sich die Fußgänger mühsam durch, bei einer unaufhörlichen Begleitung von brüllenden, singenden und hustenden Autohupen. Hie und da tauchte ein Riesenschatten im Nebel über den Köpfen der Wanderer auf, und ein hilfloser Autobus prallte mit einem Krach an den Trottoirrand. Wegweiser und Fackelträger beeilten sich, ihr Geschäft zu beginnen, und sie verdienten gut, denn nur sehr geübte Fußgeher und Kutscher konnten den Weg finden. Nachdem sich der Nebel gegen 8.30 Uhr noch etwas verdichtet hatte, lichtete er sich eine halbe Stunde später wieder, aber hing noch schwer genug über der Stadt, um es allen, die nicht alteingesessene Londoner waren, unmöglich zu machen, sich allein vorwärtszubewegen.
In Bond Street 118b hatte der Tag wenig Besucher gebracht, als Mr. William Bateson gegen 10.30 Uhr die Treppe zur Wohnung seines Bruders hinaufgestürzt kam.
»Faiz Ullah ist fort«, war das erste, womit dieser ihn empfing. »Glaubst du, daß es der Nebel sein kann?«
»Was zum Teufel sollte es sonst sein? Ich kam nur her, um dir zu sagen, daß es heute losgeht. Bin zwanzig Minuten von Putney hierher gefahren – Lescot fährt wie der Teufel. Man könnte beinahe glauben, daß er weiß, um was es sich handelt – well, er wird es auch bald erfahren, Walters ist schon auf dem Wege, ich habe es selbst festgestellt. Also adieu!«
Ohne eine Antwort abzuwarten, stürzte er wieder die Treppen hinunter und warf sich in das wartende Auto. Eine Sekunde später flog 12 M 1000 in rasendem Tempo durch Bond Street. Die Straße war leer, das Risiko also gering, aber an der Ecke zu Piccadilly wurde es gefährlicher. Ein schwerer Lastwagen und ein Luxusauto ließen einen kaum anderthalb Meter breiten Spalt frei, aber ohne auf die Rufe der Motorführer zu achten, flog Lescot mitten zwischen ihnen durch, drehte in dem Umkreise eines Wagenradius und war eine Stunde später beim Piccadilly Circus. Hier wiederholte sich dasselbe Manöver zehnmal im Laufe von ebensoviel Sekunden, worauf das Auto 12 M 1000 mit einem schrillen Triumphschrei in Haymarket verschwand; an Charing Cross vorbei, wo die Polizeikonstabler sich heiser pfiffen und ihre Bleistifte abnutzten, um die Nummer 12 M 1000 aufzuschreiben, flog der kleine Chauffeur Parliament Street hinunter, den Weg über Westminster nehmend, um dem Gedränge des Strand zu entgehen. Unten bei der Westminster Bridge schien es einen Augenblick unvermeidlich, mit einer Straßenbahn zu kollidieren, die plötzlich unter verzweifeltem Glockenläuten im Nebel auftauchte, aber durch eine wunderbare Schwenkung, die Mr. Bateson um ein Haar auf die Straße befördert hätte, vermied er dies und flog unter den Racherufen der Passagiere dem Embankment zu. In dem gelbbraunen Nebel, der, wo sie dahinflogen, Strömungen und Wirbel schuf, sauste 12 M 1000 an den Klubs und dem Temple vorbei. Bei der Blackfriars Bridge verlangsamte es wieder die Fahrt und bog unter unaufhörlichen Signalen in die engen Citystraßen ein. Vor dem Kontor der London and Liverpool Bank am Ludgate Circus hielt es mit einem Ruck an hinter einem wartenden Cab.
»Gut gefahren, Lescot«, sagte Mr. Bateson. »Jetzt wollen wir zusammen was besprechen.«
Wäre er jetzt in letzter Minute aufrichtig oder doch wenigstens freigebig gewesen, nicht unmöglich, daß der kleine Chauffeur ihn gerettet hätte; aber, seiner Gewohnheit getreu, suchte Mr. Bateson ihn mit furchtbaren Drohungen einzuschüchtern und versprach ihm, wenn alles gut ging, zehn Pfund Belohnung. Zehn Pfund, wenn es 70 000 galt! Lescot stieß einen innerlichen Fluch aus, aber hörte aufmerksam seine Informationen an: wenn der Herr, auf den der Cab wartete, aus der Bank gekommen und abgefahren war, dann sollte Lescot nachfahren, in vorsichtiger Entfernung, aber den Cab unter keinen Umständen aus den Augen verlieren. Wahrscheinlich würde er das Embankment hinunterfahren. Wenn Lescot dort drei kurze Pfiffe von seinem Herrn hörte, sollte er seine höchste Geschwindigkeit einschalten, auf den Cab zufliegen, mit ihm zusammenstoßen und ihn, wenn möglich, umstoßen. An dem, was dann folgte, sollte er sich nur insofern beteiligen, als er sich auf gegebene Order wieder in Gang zu setzen und im Nebel zu verschwinden habe.
Lescot sagte zu allem Ja und Amen, und während Mr. Bateson noch sprach, fuhr ein anderes Auto heran und hielt einen Meter hinter 12 M 1000. Und an seinem Volant saß kein anderer als Herr Philipp Collin, etwas verspätet durch einen Wortwechsel mit dem Garagebesitzer. Mr. Bateson warf einen hastigen Blick auf den neuen Ankömmling, aber der Nebel war zu dicht, als daß er etwas sehen konnte, und plötzlich trat ein schwarzbärtiger Herr aus dem Kontor der Bank, eine schwere schwarze Tasche in der Hand. Er stieg in den wartenden Cab, und eine halbe Minute später folgte 12 M 1000 seinen Spuren.
Nun muß man sich die Prozession denken. Zuerst das Cab, die fette, harmlose Taube, die ahnungslos durch den Nebel bimmelt; dann 12 M 1000, der grausame Habicht, vorsichtig der leckeren Beute folgend; zuletzt Philipp Collin – Philipp Collin, der Rächer, der Königsadler, bereit, sich auf den bösen Habicht zu stürzen und die Taube für eigene Rechnung zu retten. Philipps Los war das schwerste. Denn während der Cab nichts Böses ahnte, lugte Mr. Bateson genau nach allen Richtungen aus, und Philipp war gezwungen, sich in so weiter Entfernung zu halten, daß er gerade noch die rückwärtige Laterne von 12 M 1000 sah und sich auf sein Gehör verlassen mußte, um zurechtzukommen.
Jetzt biegen sie in der erwähnten Ordnung nach Embankment ein, zuerst der Cab, dann 12 M 1000, dann Philipp. Das Embankment liegt verlassen; nicht einmal die Bänke, die sonst so viele Obdachlose beherbergen, sind besetzt. Es rieselt trübsinnig von den entlaubten Zweigen der Bäume, und es riecht, als wäre London der Keller der Welt. Aber der Nebel beginnt sich ein wenig zu lichten, und in der Angst, seine fette Beute zu verlieren, gibt Mr. Bateson das verabredete Signal. Drei kurze Pfiffe, Lescot läßt all seine aufgesparte Kraft los, und plötzlich, mit einem Ruck, der Mr. Bateson beinahe rücklings aus dem Auto schleudert, hat 12 M 1000 die zehn Meter genommen, die es von dem Cab trennen. Ein Stoß, ein Krach, ein Dröhnen, wie vom Blitz getroffen fällt der Cab zu Boden, das Pferd liegt zappelnd auf der Seite, und eine schwarze Tasche wird von dem Stoß aus dem Wagen geschleudert und fällt mit schwerem Aufschlagen zu Boden. Rasch wie der Blitz ist Mr. Bateson aus seinem Auto gesprungen und auf die schwarze Tasche losgestürzt, die seine Hände gierig packen. Er ist schon im Begriff umzudrehen und in sein Auto zu springen, als ihm plötzlich jemand vorsätzlich ein Bein stellt. Er stolpert, die schwere Tasche wird ihm aus der Hand gerissen, und er fühlt eine Hand, die hastig seine linke Brusttasche durchsucht. Dann hört er das Sausen eines Autos, das verschwindet, und im selben Augenblick ist ein schwarzbärtiger Herr aus den Trümmern des Cabs hervorgekrabbelt und hat sich mit einem heiseren Brüllen auf ihn gestürzt. In der nächsten Sekunde ist auch der Cabby auf den Beinen, fällt ihn von rückwärts an, und ruft mit schriller Stimme nach der Polizei. Der Nebel lichtet sich noch ein wenig, um einen herbeieilenden Polizeikonstabler, einen umgestürzten Cab, ein Auto, das in seine Trümmer hineingefahren ist, und zwei Herren im Handgemenge mit einem dritten zu zeigen.
Der schwarzbärtige Herr stellt sich keuchend als Vizedirektor John Walters von der Filiale der London and Liverpool Bank in Putney vor und berichtet in Kürze das Vorgefallene. Wie gewöhnlich hatte er sich auch an diesem Tage in das Hauptkontor am Ludgate Circus begeben, um den Kassenvorrat zu erneuern und Rapport abzulegen – es war seine Pflicht, das zweimal in der Woche zu tun, und wie gewöhnlich hatte er einen Cab genommen, was für das Sicherste und am wenigsten Aufsehenerregende galt. Plötzlich war ein Auto mit dem Cab zusammengestoßen, und als er wieder auf die Beine gekommen war, hatte er diesen Herrn vorgefunden, der offenbar der Besitzer des Autos war, nicht dagegen die Tasche, die 45 000 Pfund in Gold und Papieren enthielt. Der verdächtige Mr. Bateson unterbricht ihn und beteuert auf das energischste seine Unschuld, aber trotz seiner Proteste muß er zum nächsten Polizeirevier; die Szene wiederholt sich; Mr. Bateson beschwört seine Unschuld, schiebt alles auf ein Mißgeschick im Nebel und beruft sich auf seinen großen Bruder in Bond Street. Man weiß nicht, was man glauben soll, und einen Augenblick sieht es aus, als sollte Mr. Bateson durchschlüpfen.
Pfui, Philipp Collin, das ist deiner nicht würdig! Soll der elende Verbrecher seiner gerechten Strafe entgehen? Willst du dich damit begnügen, deine 70 000 Kronen wiederzuhaben, wenn auch mit Zinsen? Das ist deiner unwürdig, Philipp Collin! Aber halt! »Man visitiere den Angehaltenen!« sagt der Polizeichef; und ruhig im Bewußtsein seiner Unschuld läßt Mr. Bateson es geschehen. Taschenmesser, Maniküreschachtel, Schlüssel werden aus seinen Taschen geräumt, Taschentücher, Kleingeld, ein noch nicht abgeschickter Brief und eine Füllfeder folgen, alles unverfänglich, und Mr. Bateson lächelt schon triumphierend. Eine einzige Tasche ist noch übrig, die linke Brusttasche, und es zeigt sich, daß sie eine kleine Krokodillederbrieftasche enthält.
»Hallo!« ruft Mr. Bateson erbleichend. »Was ist denn das? Das ist nicht meine Brieftasche!«
»Wie?« sagte der Polizeichef. »Höchst ungewöhnlich, daß ein Gentleman anderer Leute Brieftaschen bei sich trägt. Sie machen ein so eigentümliches Gesicht, was sehen Sie denn so Wunderliches an dieser Brieftasche? Eine höchst gewöhnliche Krokodillederbrieftasche.«
Er öffnet sie, und Mr. Bateson sieht starr vor Verblüffung, was er hervornimmt: einen Plan über das Kontor der London and Liverpool Bank am Ludgate Circus und in Putney und dann Aufzeichnungen über Direktor Walters Gewohnheiten; aber bei dem Anblick der Handschrift tritt kalter Schweiß auf Mr. Batesons Stirne. Denn es ist seine eigene, unverkennbar seine eigene, und doch hat er diese Papiere nie vorher gesehen.
Ha, du roher englischer Taschendieb und Verbrecher! Fängst du nun an, zu sehen, wem du ins Gehege gegangen bist? Fängst du an, den Tag zu bereuen, an dem du Philipp Collins Weg kreuztest? Zu spät, mon ami! Das englische Gesetz, in dessen Schutz du ihm trotztest, läßt nicht mit sich spaßen; das ist eine Sache, über die du nun so manches liebe Jahr nachdenken kannst.
»Das habe ich nicht geschrieben«, stottert Mr. Bateson mit heiserer Stimme. »Ein Anschlag gegen mich ...«
Der Polizeibeamte wirft einen Blick auf den Brief, den man in Mr. Batesons Tasche gefunden hat, vergleicht die Handschrift und zuckt die Achsel.
»Man führe den Gefangenen ab«, sagt er.
Und Philipp Collin lacht, als er die Abendblätter liest.
Der Schlußakt dieser ersten englischen Transaktion Philipp Collins spielte sich sieben Jahre später ab. Denn in Anbetracht der fehlenden Tasche und einiger anderer Umstände bekam Mr. Bateson nur diese gelinde Strafe.
Am selben Tage, an dem er Dartmoor verließ, wurde er zum Direktor gerufen.
»Ein Brief an Sie, Bateson«, sagt dieser. »Er scheint Geld zu enthalten. Er wurde mir vor einem halben Jahre mit der Bitte überreicht, daß ich ihn Ihnen heute übergeben solle.«
Der Gefangene nahm den Brief mit zitternder Hand, riß ihn auf und starrte mit stumpfem Erstaunen zwei dicke Banknotenbündel an, die herausfielen. Endlich gelang es ihm, sich aufzuraffen, und er las den Brief.
»Dear Mr. Bateson«, stand da, »Sie müssen zugeben, daß ich mein Versprechen gehalten habe, welches ich Ihnen vor längerer Zeit in Bond Street gab, ich habe wirklich die Polizei gerufen, und sie hat unsere kleine Angelegenheit in befriedigendster Weise geordnet.
Ich halte immer Wort. Aber da Sie nun Ihr Verbrechen gesühnt haben, hege ich keinen Groll mehr gegen Sie, und als Beweis dafür bitte ich, Ihnen das Einliegende überreichen zu dürfen. Möchte Ihnen dieses Geld auf einer besseren Bahn weiterhelfen als Ihrer alten verbrecherischen!
Ihr ergebener Philipp Collin.«
Mr. Bateson starrte hilflos den Direktor an, der begonnen hatte, die Banknoten zu untersuchen. »Gute Bank-of-England-Papiere«, murmelte dieser. »Aber halt ...« Er trat an das Bücherregal und nahm einen Band der Gerichtssaalprotokolle aus dem Jahre 1906 heraus.
»Was zum Teufel«, rief er plötzlich. »Darum kamen mir die Nummern so bekannt vor! Das sind ja dieselben Noten, wegen denen Sie hoppgenommen wurden – ich meine die größten! Die kleinen sind, wie wir in Erfahrung gebracht haben, an verschiedenen Orten gewechselt worden. Hier haben Sie die Nummern!«
Er begann sie zu lesen, aber Mr. Bateson hörte kaum zu, denn er hatte den Brief umgedreht und auf der Rückseite das folgende Postskriptum gefunden:
»Ich gebe zu, daß Sie die Noten, die ich Ihnen schicke, vielleicht etwas schwer zu wechseln finden werden. Aber diable, was wollen Sie? Man tut, was man kann, um seinen Freunden zu helfen! Noch einmal