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VII
Die blauäugige Lüge

Herr Collin, dessen Schicksale ich in diesen Erzählungen zu schildern versucht habe, war trotz seiner Vergangenheit und seiner bohèmeartigen Existenz ein Mann von sehr regelmäßigen Gewohnheiten. Wenn nicht irgendeine besonders interessante Geschichte oder ein anderes wichtiges Vorhaben ihn daran hinderte, stand er ebenso pünktlich auf, aß, trank und legte sich nieder wie nur irgendein alter Hofrat. Seiner Ansicht nach mußte man sich gewisse Lebensregeln schaffen und genau danach leben, gerade weil ihre Übertretung dann um so größeres Vergnügen bereitet. Nächstdem, immer prinzipientreu zu bleiben, pflegte er zu sagen, gibt es nichts Langweiligeres, als immer prinzipienlos zu leben.

Demzufolge beobachtete Herr Collin wenn auch nicht gerade das staatliche Gesetz, so doch um so mehr seine sich selbst auferlegten Gebote, und niemand konnte mit größerem Eifer als er die jährlichen Gedenktage feiern. Auch seine eigenen beobachtete er, wenn er, wie Phileas Fogg sagte, Zeit hatte, und einen davon versäumte er nie. Das war der 29. September.

War der 29. September Herrn Collins Geburtstag?

Nein, es war der Tag, an dem er im Jahre 1904 nach mißlungenen Spekulationen Schweden verließ, von fünf Paragraphen des Strafgesetzes beschattet. Seither hatte er jedes Jahr an diesem Tage Zwiesprache mit sich selbst gehalten und mit seiner Vergangenheit angestoßen. Und seit er sich in London niedergelassen hatte, pflegte er den Tag in einem der Restaurants zu begehen, wo er am ehesten Aussicht hatte, seine Landsleute zu treffen, manchmal im Oddeninos Imperial in Regent Street, manchmal bei Frascati in Oxford Street.

Am Abend des 29. September 1910 ging Herr Collin langsam durch Tottenham Court Road der Oxford Street zu. Er trug einen Sommermantel und darunter einen Smoking, denn er war auf dem Wege zu Frascati, um seinen gewöhnlichen Gedenkgottesdienst zu feiern. Und um sich besseren Appetit dazu zu verschaffen, hatte er einen Spaziergang durch Regent Park gemacht. Er hatte gehofft, vor einem der Tore ein Taxi zu finden, aber diese Hoffnung war vergeblich gewesen. Es war ein Samstagabend, und nicht ein Taxi, nicht einmal ein Omnibus war zu entdecken. Es war heiß wie in der Sahara, der Staub wirbelte trocken und stechend herum, und es stank nach Tabakrauch, Bratenfett und Benzin. Die Beilagen der Abendblätter flatterten in einer vielfarbigen Serie an den Trottoirrändern. Hier und dort an der Kreuzung einer Gasse ertönten die nasalen Laute eines Leierkastens, der die Dollarprinzessin werkelte.

Etwas ermüdet von dem Spaziergang, schlenderte Philipp über die breiten Quadersteine südwärts. Sein Sinn war weltenweit von dem tristen Londoner Abend entfernt. Vor sein inneres Auge hatte er das Bild des alten Kristianshamn gezaubert, wie er es aus entschwundenen Septembertagen in Erinnerung hatte, als es in mattem Sonnenschein unter einem duftigen Himmel mit leichten, unruhigen Wolken lag. Die Ahornbäume flammten im Park, und die dunkelgrünen Tannen rauschten feucht. Der Boden in den Wäldern ringsherum war voll Pilze, und über die holperigen Landstraßen rollten die Erntewagen, von borstigen Halmen schwer. Er sah das Ganze so deutlich vor sich, daß er lächeln mußte. Das kleine Städtchen träumte unter den aufsteigenden Rauchsäulen im Sonnennebel, die Mühlen am Flusse spiegelten sich im herbstlich dunkeln Wasser, und das Summen der Dreschmaschinen drang aufsteigend und wieder abfallend zu ihm hinein, wie er da in seinem Büro am offenen Fenster saß ...

Plötzlich wurde er aus seinen Träumereien gerissen. Ohne recht aufzupassen, von den Erinnerungen hypnotisiert, die in seinem Innern aufstiegen, war er bis zur Ecke von Oxford Street gekommen und wäre auf ein Haar das Opfer eines tückischen Autobusses geworden. Ein Taxi fuhr dienstbereit ans Trottoir heran, aber er schüttelte lächelnd den Kopf und bog links ab. Nach einigen Schritten stand er vor Frascatis roter Ziegelfassade und ging an dem sich verbeugenden Portier vorbei in das Restaurant, um seine sechste Erinnerungsmesse zu feiern.

Er sah auf die Uhr, es war sieben, aber er hatte noch keinen rechten Hunger. Er rief den Oberkellner, bestellte sein Abendessen, das er in drei viertel Stunden serviert wünschte, und trat in das Café, um sich durch einen Apéritif Appetit zu machen.

Während die Musik, die eben begonnen hatte, den Doppeladler spielte, versank er wieder in Gedanken an Schweden.

Schweden, Schweden, Schweden, Vaterland – wie sagte doch der Dichter? – meiner Sehnsucht Heim, mein All auf Erden ... Hm, das wollte er doch nicht unterschreiben, dazu war er zu sehr Kosmopolit von Geburt und Gewohnheit, und Heimweh im gewöhnlichen Sinne des Wortes belästigte ihn selten. Aber trotz alledem waren es doch viele Fäden, die einen mit dem alten Lande verknüpften, und es gab Augenblicke, wo man sich heiß nach seiner Natur sehnen konnte, nach dem Rauschen in den Nadelwäldern, dem Nachmittagslicht in einem Birkenhain, danach, seine eigene Sprache zu hören ... »Es zieht der Boden mich, mich ziehen die Steine, wo ich als Kind gespielt ...« Die Kindheit, nein, pfui. Die stand in einem Strindbergschen Lichte vor ihm ... Aber die Jugendjahre! Nach diesen sonnigen, herrlichen, törichten Jahren sehnte er sich wirklich, in ihnen stand Schweden in seiner schönsten Gestalt vor ihm. Er hob sein Glas zu einem Trinkspruch auf diese vergessenen und doch unvergeßlichen Stunden und die alten Kameraden: »Edle Schatten, verehrte Familienväter, ich grüße euch. Was würdet ihr übrigens zu mir, dem verlorenen schwarzen Schaf, sagen, was habt ihr gesagt? Vermutlich nichts Schönes!« Er dachte an die Zeitungsnotizen bei seinem Verschwinden, die er in Cafés im Ausland gelesen hatte: Bedauerlicher Vorfall in Kristianshamn – junger, vielversprechender Jurist, der alle Hoffnungen zuschanden macht – dreitausend Kronen für Mitteilungen über Collins Aufenthaltsort (ob das wohl noch besteht?) – keine Spur des entwichenen Schwindlers zu finden ...

Philipp lachte in sich hinein: Spur ... Ohne daß er es merkte, begann die Musik ›Quand l'amour meurt‹ zu spielen, und ebenso unmerklich glitten seine Gedanken in andere Bahnen hinüber. Die Träumereien der Jugendzeit von einem Heim und einem Weib lebten wieder auf, und bei den wollüstig schluchzenden Tönen der Kapelle gedachte er wieder seines eigenen speziellen Glückstraumes. Er saß um die Dämmerstunde in einem großen Salon, von den Wänden blickten die Bilder auf gediegene, etwas altmodische Möbel herab, alles sprach von einem vornehmen, wohlfundierten Bürgerheim. Die Fenster waren auf den Marktplatz geöffnet, der Frühherbsthimmel blickte herein, und ein leiser Wind spielte mit den Notenblättern auf dem Klavier. Ein junges Mädchen saß daran und spielte; sie war schlank und dunkel und hatte bloße weiße Arme. Ihre Finger glitten über die Tasten, und ein mattes Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. Ab und zu warf sie ihm einen Blick zu, voll Weichheit, halb schwermütig, halb lächelnd ... Ihre Augen waren dunkelblau, mit einem leichten Schatten, sie war blaß, und ihre Lippen waren rot ...

Philipp, der, den Kopf in die Hand gestützt, in diese Träumereien versunken war, wurde plötzlich durch eine zaghafte Stimme daraus gerissen, die auf Schwedisch sagte:

»Verzeihung, sind Sie nicht Herr Rechtsanwalt Collin?«

Philipp war ein Mann, der sich unter solcher Kontrolle hatte, daß er selten oder nie durch sein Äußeres verriet, was in ihm vorging. Aber als er diese neun einfachen Worte hörte, erzitterte er in Mark und Bein. Tausend bestürzte Fragen wirbelten in weniger als einer Sekunde in seinem Innern auf: Wer kann das sein? Was soll ich tun? Philipp Collin! Wie lange ist es her, seit ich so hieß? Mit Aufgebot seiner ganzen Seelenkraft gelang es ihm, sein Gesicht vollständig zu beherrschen, und fast unmittelbar nach der verhängnisvollen Frage hob er ruhig den Blick und heftete ihn auf die Sprecherin. Was er sah, war danach angetan, ihm einen neuen Schock zu geben.

Vor ihm stand in grauem Straßenkleid ein schlankes, hochgewachsenes, junges Mädchen mit dunklem Haar, dunklen Brauen, blassem Teint und den herrlichsten blauen Augen. Unter dem aufgeknöpften Jackett des Straßenkleides schimmerte eine ausgeschnittene weiße Bluse, aus der der zierliche Hals sich in tadelloser Rundung erhob. Die blauen Augen waren fragend auf Philipp gerichtet, während ein unsicheres Lächeln den schönen Mund umspielte. Sie ist entzückend, entzückend, rief es in Philipps Innern. Alle entflohenen Jugendträume sind Fleisch und Blut geworden. Und gerade heute abend, wo ich die Erinnerung daran feiere, kommt sie zu mir. Und ich bin Philipp Collin? Wahrhaftig, wenn ich nein sagte, ich wäre nicht wert, es je gewesen zu sein! Und soll ich meine Verbrechen auf ewig in ›Longholmen‹ Gefängnis bei Stockholm. sühnen, ich bin für den Augenblick wieder Philipp Collin.

Er erhob sich mit einem raschen Entschluß, verbeugte sich und sagte lächelnd:

»Ganz richtig. Mein Name ist Philipp Collin, und ich wurde einstmals in Stockholm Rechtsanwalt genannt. Aber ich muß etwas Unverzeihliches gestehen ... ich erinnere mich nicht ... wir haben uns also schon einmal getroffen?«

Sie reichte ihm mit einer Neigung des Kopfes die Hand.

»Sie erinnern sich nicht? Nun, das ist ja auch nicht zu verwundern. Es sind schon Jahre her, seit wir uns einmal auf einem Ball bei Konsul Bloch getroffen haben. Mein Name ist Sigrid Holten.«

»Aber Sie müssen doch damals ein reines Kind gewesen sein?«

»Siebzehn Jahre«, gab sie lächelnd zurück.

Philipps Gehirn machte einen sekundenraschen Überschlag. Stockholm 1899 bis 1900 ... 1910, was, siebenundzwanzig Jahre. Unglaublich, aber offenbar wahr! Sie fuhr rasch fort:

»Sie finden es wohl gräßlich von mir, daß ich Sie so aufsuche – aber Sie wissen ja, die Schwedinnen im Ausland! Und es ist so unendlich lange her, daß ich nicht Schwedisch gesprochen habe. Außerdem waren wir ja wirklich bekannt, obwohl Sie es vergessen haben.«

»Ich werde es mir nie verzeihen«, sagte Philipp. »Morgen werde ich ein Stachelhemd tragen und geschmolzenes Wachs auf meinen entblößten Arm tropfen lassen. Aber ich habe mich noch nicht von meinem Staunen über Sie erholt. Wie konnten Sie sich nach all diesen Jahren meiner erinnern?«

»Ich habe Sie immer in guter Erinnerung gehabt«, sagte sie ruhig, und Philipp zuckte zusammen. Ohne ihm Zeit zu einer Antwort zu lassen, fuhr sie fort:

»Sie sehen so bestürzt aus! Sie sind natürlich entsetzt über meine Zudringlichkeit?«

Philipp beeilte sich, sich in Protesten zu erschöpfen. Plötzlich kam ihm zum Bewußtsein, daß dieses Gespräch, stehend, vor einem Tisch, eigentümlich aussehen müsse, und er sagte rasch:

»Sind Sie allein, Fräulein Holten?«

Sie lachte.

»Ganz so schlimm ist es nicht. Ich sitze mit ein paar englischen Freunden aus der Pension da. Sie sind starr vor Schrecken über meine Kühnheit ...«

Sie zögerte einen Augenblick, dann fügte sie hastig hinzu:

»Es wäre so nett, allein mit Ihnen zu plaudern, aber das geht ja nicht. Wollen – wollen Sie nicht bei uns Platz nehmen?«

Philipps mißtrauisches Herz schlug einen rasenden Trommelwirbel von Protesten. Stürze dich nicht in unnötige Abenteuer! Fürchte die Frauen, auch wenn sie dir Gaben bringen! Fürchte sie, Philipp Collin, auch wenn du die Männer nicht fürchtest. Seit fünf Minuten summte in seinem sonst so klaren, scharfsinnigen Hirn ein einziger lockender Gedanke: Ist es möglich? Weiß sie wirklich nicht, wer ich bin? Gibt es noch jemand, für den ich Rechtsanwalt Collin bin – nicht der durchgebrannte Schwindler und Fälscher? Und sollte dieser Jemand sie sein? Ihre Augen sind so treuherzig – in ihrem ganzen Wesen ist auch nicht der Schatten einer Andeutung, daß sie etwas wissen könnte – aber pah! Lächerlich! Sie muß gehört haben – sie muß wissen ... Ganz Schweden muß davon gesprochen haben ... Aber sie war noch so jung ... Mädchen lesen doch nie Zeitungen ... Vielleicht hat sie doch nichts gehört, vielleicht bin ich für sie noch Rechtsanwalt Collin, mit dem sie auf einem Ball bei Konsul Bloch getanzt hat ... Mitten in dieser Sturmflut von Gedanken begegneten seine Augen plötzlich denen Fräulein Holtens, die ihn mit einem erstaunten Lächeln betrachteten: sie hatte ihn aufgefordert, an ihren Tisch zu kommen, sagten sie deutlicher als Worte, und er hatte noch nicht ja gesagt. Er errötete leicht und beeilte sich zu sagen:

»Fräulein Holten, ich bin der unhöflichste Mensch der Welt, aber Sie hatten mich plötzlich um zehn Jahre zurückversetzt, und ich war im Begriff, mich da zu vergessen. Wollen Sie mich wirklich an Ihren Tisch einladen? Wagen Sie, Ihr Ansehen bei Ihren Freunden so aufs Spiel zu setzen? Natürlich komme ich – wenn Sie die Verantwortung übernehmen wollen.«

»Kommen Sie nur«, sagte sie ruhig und führte ihn zu dem Tisch, wo ihre Freunde saßen. Ebenso ungezwungen nahm sie die Vorstellung vor:

»Ein alter Freund aus Schweden, Mr. Collin – Miss White, Miss Armstrong, Mr. Philpott.«

Philipp verbeugte sich leicht, die Tischgesellschaft noch leichter. Und er nahm mit einem innerlichen Lächeln Platz. Wenn Fräulein Holten neu und verblüffend war, so konnte man das von ihren Freunden nicht behaupten. Im selben Augenblick, in dem er sie sah, hatte er schon drei der Typen erkannt, die dazu verurteilt scheinen, die englischen Boardinghäuser auf ewig zu bevölkern: die ältliche kantige Miss mit den zwei roten Flecken auf den Wangen – die Männerjägerin; die kleine Naive, niedlich, beschränkt, eigensinnig; der ältere Herr schließlich, der die ganzen Mahlzeiten hindurch über Politik, Börsenfragen und Skandale mit der gleichen Sachkenntnis peroriert – der der ›Daily Mail‹ oder der ›Daily News‹ vom gleichen Tage. In diesem Falle hieß die Männerjägerin Miss White, die Naive Miss Armstrong, und Mr. Philpott beseitigte sofort jeden Zweifel an seiner Identität, indem er ein Gespräch über unerwartete Wiedersehen aus verschiedenen Gesichtspunkten einleitete. So allmählich wurde es allgemein, und Philipp nahm nach besten Kräften daran teil. Aber er hatte sein Gleichgewicht noch nicht wiedererlangt: was für wunderbare Fälle von unerwarteten Wiedersehen Mr. Philpott auch erzählte, dies war doch das wunderlichste, das er erlebt hatte. Wer war diese junge Schwedin? War sie die, für die sie sich ausgab? Nach all diesen Jahren sollte sie ihn erkannt haben? Es war richtig, er hatte seit seiner Ankunft in London alle Verkleidungen abgelegt und zeigte meist sein wirkliches Aussehen, aber doch auf jeden Fall ..., und war es möglich, daß ... Sein Gehirn stellte sich zum tausendstenmal die Fragen, die es sich seit einer Viertelstunde unablässig gestellt hatte. Seine Augen hingen an ihr. War dies Schauspielkunst, wie sein mißtrauisches Herz beteuerte, so war sie erstklassig. Nicht mit einer Miene verriet sie, daß er etwas anderes für sie war als ein Jugendbekannter, den sie sich freute wieder zu treffen. Ein Jugendbekannter ... Ich habe Sie immer in guter Erinnerung gehabt ... Philipp erzitterte unwillkürlich. Aber natürlich war das Schauspielkunst. Und gerade heute abend kam sie, wo er in Gesellschaft seiner Erinnerungen die unabänderliche Vergangenheit feierte, wo die Festtafel für die Schatten seiner Jugend gedeckt stand! Plötzlich kam ihm eine Idee, in vino veritas, heißt es doch – und in jedem Fall war der Abend mit ihr etwas anderes wert als die bescheidenen Getränke, die Mr. Philpott seiner Gesellschaft bot. Er erhob sein Glas und sagte mit einer artigen Geste:

»Meine Damen und Sie, Mr. Philpott! Sie haben mir viele seltsame Beispiele von unerwarteten Wiedersehen erzählt. Selbst habe ich auch allerlei in dieser Richtung erlebt, und ich hatte nicht mehr viel von denen erhofft, die mir noch bevorstanden.« Er lächelte innerlich bei dem Gedanken, was für Art von Wiedersehen er meinte. »Sie werden zugeben, daß es um so angenehmer für einen enttäuschten Zyniker, wie mich, ist, plötzlich eine so entzückende Bekanntschaft wie Miss Holten wiederzufinden. Wenn Sie, meine Herrschaften, es nicht übel aufnehmen, möchte ich bitten, diesen Tag in irgendeiner besonderen Weise feiern zu dürfen. Ich hatte selbst die Absicht, hier zu essen – dürfte ich Sie bitten, Sie als meine Gäste zu sehen? Miss Holten, wenn Sie wirklich so erfreut sind, Ihren alten Freund, Mr. Collin, wiederzusehen«, er hielt eine Sekunde inne und betrachtete sie ...

»Hätte ich ihn sonst an seinem Tische aufgesucht?« sagte sie auf schwedisch mit einem kleinen Emporziehen der Augenbrauen. Er hätte die Antwort für seine eigene Person etwas deutlicher wünschen können, aber verbeugte sich leicht und fuhr fort:

»... so bitte ich Sie, ein Wort bei den Damen und Mr. Philpott für mich einzulegen. Ich bin übrigens Ihres Erfolges so sicher, daß ich mich gleich für eine Minute entschuldige, um mit dem Oberkellner zu sprechen.«

Philipp verschwand und kehrte nach einer Minute zu der Gesellschaft zurück, die ohne sichtbares Zögern die Einladung eines so flotten Herrn wie Philipp angenommen hatte. Offenbar, dachte Philipp, ist das Essen in ihrem Boarding-House in dem Stil derjenigen, die ich kenne. Gleich darauf wurde gemeldet, daß serviert war, und Philipp geleitete seine Gäste zu dem Tisch, den er bestellt hatte.

Er betrachtete seine rasch erworbenen Tischgenossen mit einem innerlichen Lächeln. Miss White – die Magere – hatte begonnen, ihn mit hektischer Energie zu beflirten; Miss Armstrong – die Naive – verschwendete schüchterne Blicke; und Mr. Philpott begann mit Schärfe eine Rede zu kritisieren, die Lloyd George am Nachmittag gehalten hatte. In dieser Umgebung nahm sich Sigrid Holten wie eine junge Göttin aus, stolz, frei und selbstsicher. Wenn ihre Blicke zufällig denen Philipps begegneten, lächelte sie so ungezwungen und verständnisvoll, daß sein Herz für einen Augenblick mit seinen Warnungen aufhörte. Treuherziger hätte ihr Blick nicht sein können, wenn er sich auf ihren Bruder geheftet hätte.

Das Souper nahm seinen Anfang. Frascati hatte sich übertroffen: Horsd'oeuvres, Austern, Forelle und Schnepfen, alles war vortrefflich, und auf einen Wink von Philipp wurde unablässig Champagner eingeschenkt. Das Gespräch wurde lebhaft, beinahe lärmend. Miss Whites Augenflirt begann gigantische Proportionen anzunehmen, Miss Armstrong kicherte und plauderte rastlos, Mr. Philpott begnügte sich damit, hie und da eine schwerwiegende Sentenz einzuwerfen. Philipps Blick suchte unaufhörlich Fräulein Holten. In der Sturmflut von Miss Whites Flirt waren ihre klaren, klugen Augen eine Rettungsplanke und ihre langsamen, ein wenig nachdenklichen Antworten eine Oase in Miss Armstrongs Geschwätz. Nach einiger Zeit kam die Unterhaltung, Philipp wußte am besten, wie, auf das Thema: Verbrecher und ihre Festnahme. Unmerklich der Unterhaltung die Richtung gebend, die er wünschte, beobachtete Philipp verstohlen seine junge Landsmännin.

»Ich wünsche sehnlich, daß alle Verbrecher entdeckt würden«, rief Miss White. »Ist es nicht entsetzlich, sich zu denken, wie oft sie entkommen? Denken Sie nur, wenn Crippen nicht ...«

Man hatte eben die spannende Verbrecherjagd über den Atlantischen Ozean verfolgt.

»Ja, denken Sie nur, wie leicht hätte er gar nie entdeckt werden können«, sagte Miss Armstrong.

»Ein wirklich geschickter Verbrecher braucht nie entdeckt zu werden«, sagte Mr. Philpott sehr bestimmt. Diese Ansicht war am selben Morgen von der ›Daily Mail‹ ausgesprochen worden.

»Was meinen Sie, Miss Holten?« sagte Philipp und drehte sein Champagnerglas zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Ich weiß nicht«, sagte sie lächelnd. »Im Ausland habe ich diese Dinge nicht verfolgt, und daheim bei uns zulande haben wir doch keine Verbrecher.«

»Ach, was muß Schweden für ein herrliches Land sein«, sagte Miss White mit einem Seufzer und einem Blick auf Philipp.

»Wenigstens keine richtigen, von denen ich gehört hätte«, fügte Fräulein Holten hinzu, und vergeblich suchte Philipp in ihrer Stimme nach dem Schatten einer falschen Betonung. »Und im Ausland habe ich das wirklich nicht verfolgt. Übrigens weiß ich nicht, ob ich Ihnen zustimmen kann, Miss White.«

»Was?« rief Miss White entsetzt. »Sie wollen nicht, daß alle Verbrecher entdeckt werden?«

»Ich weiß nicht, ich habe über die Sache nicht nachgedacht. Aber ich meine, wenn sie doch den Versuch machen wollen, ein neues Leben zu beginnen ...«

»Ein neues Leben, ein neues Leben!« wiederholte Miss White hohnvoll und trank ihr Champagnerglas aus. »Sie würden also nicht alles tun, was Sie könnten, um der Gerechtigkeit zu helfen, wenn Sie könnten?« (Miss White war vom Champagner leicht umnebelt, und ihr Satzbau litt darunter.)

Fräulein Holten dachte mit einer Traube in der Hand einen Augenblick nach. Dann lächelte sie und zuckte die Achseln:

»Ich bin immer so faul gewesen, Miss White. Ich glaube kaum, daß ich mir die Mühe nehmen würde.«

Es wurde für ein paar Sekunden still, und Philipps Augen hingen an Fräulein Holtens Gesicht. Lag irgendeine Absicht in ihrer Antwort? Unmöglich, es zu sagen, aber es sah nicht so aus. Bei allem, was weibliche Unschuld heißt, es sah nicht so aus! Dann irrte das Gespräch nach andern Richtungen ab, es wurde Zeit zum Aufbruch, und die Gäste dankten mit dem Glase in der Hand ihrem Gastgeber. Fräulein Holten stieß mit Philipp an, indem sie seinen Titel auf schwedisch sagte, vollkommen unbefangen, mit einem klaren Blick ihrer blauen Augen. Wieder erzitterte Philipp, als er seinen alten Namen hörte – halb und halb war die Stimme seines mißtrauischen Herzens verstummt, halb und halb hatte er zu glauben begonnen, daß das Wunder möglich sei. Und in jedem Fall ...

Als sie aufbrachen, richtete er es so ein, daß er sie zum Ausgang begleitete. Miss White und Miss Armstrong gingen mit Mr. Philpott voran.

»Sie meinen doch nicht ...«, begann Philipp mit unsicherer Stimme.

»Nein, das meine ich nicht«, sagte sie kokett. »Dann hätte ich Sie nicht aufgesucht. Wollen wir sagen übermorgen, halb drei Uhr beim Marble Arch?«

Philipp erwiderte mit einer Verbeugung und einem Blick, der, wie er fühlte, zuviel verriet. Es war lächerlich, ein Mann wie er, bezaubert von diesem Mädchen, das er nicht kannte, das er heute abend zum erstenmal sah – Stockholm vor zehn Jahren konnte man doch nicht zählen. War es, weil sie die gleiche Heimat besaßen? War es aus Reiz des Abenteuers? Ihre Treuherzigkeit, die Möglichkeit, daß sie noch an ihn glaubte? Ihre Schönheit? Daß sie wie ein verkörperter Traum aus seiner Vergangenheit auftauchte – und gerade heute abend, wo er ihren Schatten geopfert hatte? Vermutlich alles zusammen. Wie dem auch sein mochte, nachdem er seine Gäste in ein Auto gesetzt hatte, wanderte Rechtsanwalt Philipp Collin heim, und in seinem Kopfe sangen hundert Dinge: blaue Augen ... das ewig Weibliche zieht uns hinan ... ein bleiches, seelenvolles Antlitz ... nie habe ich solches Haar über solchen Augen gesehen ... und eigentlich liebt man ja doch nur die Frauen seines eigenen Volkes ...

Aber Herr Collin. Denken Sie an Simson!

Dann schwanden zwei Tage für Philipp wie ein berückender Herbsttraum. Denn schon am Tage nach dem Souper bei Frascati traf er Fräulein Holten, ob nun durch Zufall oder durch Schicksalsfügung, wieder.

Sie war auf dem Wege zur Westminster-Abtei, allein, und Philipp, dessen Vorsicht am Morgen plötzlich aufgeflammt war, fühlte sie ebenso rasch erlöschen, als er sie nun wiedersah. Sie hatten zusammen die Nachmittagsmesse in dem alten Dom besucht, und als sie nachher durch die Straßen gingen, war sie stiller gewesen als am Abend vorher, aber dabei war ihr Wesen so herzlich, so aufrichtig, so fesselnd gewesen, daß sein Herz mit jeder Minute in seinen Protesten schwächer wurde. Und im innersten Innern dachte er: Wer weiß? Vielleicht weiß sie schon alles, ohne mich deshalb zu verachten! In solchen blauen Augen kann keine Falschheit wohnen!

Lange vor halb drei Uhr stand er am nächsten Tage vor dem Marble Arch, die Minuten zählend und nur vor Furcht bebend, daß sie es sich im letzten Augenblick überlegt haben könnte. Endlich kam sie, ein bißchen verspätet, und sie fuhren auf seinen Vorschlag nach Kew, in den alten herrlichen Park mit dem exotischen Treibhaus. Es war wunderbar. Der feuchte, traubenblaue Herbstnebel lag auf den Bäumen und den weiten Rasenflächen, der Wind, der über sie hinzog, brachte feine Düfte der Vergänglichkeit, und zwischen den Zweigen strömte der Sonnenschein in schweren Flüssen von geschmolzenem Gold herab. Fräulein Holten und Philipp schlenderten durch den Park und das Gewächshaus, und plötzlich, während Philipp ihr stammelnd anzuvertrauen suchte, daß keine Palme in den Treibhäusern schlanker war als sie und keine Pflanze so blaue Blüten trug wie ihre Augen, unterbrach sie ihn mit einer kleinen Grimasse und vertraute ihm an, daß sie hungrig war.

Ihr Götter, sie war hungrig! Dieses bezaubernde Weib, keine Palme war schlanker, kein Baum oder Strauch trug blauere Blüten, war hungrig! Du bist ein Schurke, brüllte Philipps Gewissen seinem Besitzer zu, er gestand es zerknirscht ein, und mit einer Zunge, deren süße Beredsamkeit einst juridische Kollegen bezaubert hatte, linkische Entschuldigungen stammelnd, führte er sie zu dem Auto zurück. »Carlton«, schlug er vor, aber sie erhob sofort Einsprache.

»Das ist so groß! Gibt es nichts, wo wir ein bißchen mehr für uns sein könnten?«

Ein bißchen mehr für uns, jubelte Philipps Herz, ja, ja. »Café Dauphin«, rief er dem Chauffeur zu, und sie fuhren ab.

Und nun gegen sechs Uhr nachmittags saßen sie in einer der kleinen Nischen des Cafés. Schmale Wachskerzen kämpften mit dem Dämmerlicht und spiegelten sich in den lackierten japanischen Schirmen, die sie von der Welt abschlossen. Mattglänzende Früchte, Pfirsiche, große gelbe Birnen und süße, blaue Riesentrauben gaben einen malerischen Hintergrund für das auserlesene Diner, das Philipp durch gute Worte und Händedrücke – denn es war noch lange nicht Essenszeit – herbeigezaubert hatte. Endlich saßen sie beim Kaffee und den Likören, Philipp nahm eine Zigarre heraus und reichte zögernd seinem Visavis sein Zigarettenetui.

»Danke«, sagte sie, »so hier zu zweien.« Und als er ihr ein kleines Wachskerzchen zum Anzünden der Zigarette reichte, streiften sich ihre Finger, und ein süß stechendes Schwert ging durch Philipps Seele.

Philipps Mißtrauen schlief tief, und Philipp selbst war verliebt, toll verliebt.

Plötzlich richtete sie eine Frage an ihn, die ihn zur Wirklichkeit zurückführte.

»Sie finden mich wohl schrecklich aufdringlich«, sagte sie. »Zuerst suche ich Sie bei Frascati auf, und dann lade ich mich ohne weiteres selbst zum Diner ein.«

»Sie sind bezaubernd«, sagte Philipp mit einem träumerischen Blick.

»Die Ursache ist sehr einfach, wenigstens für das letztere«, sagte sie.

»Sie waren hungrig«, sagte Philipp. »Ich werde es mir nie verzeihen, daß ich das vergessen konnte.«

»Dann haben Sie also zwei unverzeihliche Dinge auf Ihrem Gewissen. Sie hatten doch auch mich vergessen, wie Sie vorgestern gestanden.«

»Das ist ebenso unglaublich wie unverzeihlich.«

»Ja, aber nun möchte ich Ihnen noch erzählen, warum ich hungrig war. Bevor wir uns trafen, hatte ich einen langen Spaziergang gemacht. Sie werden sicher nicht erraten, wohin.«

»Bond Street«, schlug Philipp vor.

»Zuerst, und dann zum Scotland Yard – das heißt, ich habe nicht hingefunden.«

Philipp prallte zurück, als hätte sie ihm eine Ohrfeige gegeben, in einer Sekunde lebten alle schlummernden Vermutungen wieder auf. Er hatte die beneidenswerte Gabe, selten mit beiden Augen zugleich zu schlafen oder zu lieben, obgleich er in diesen Tagen dem letzteren so nahe gewesen war als nur möglich. Scotland Yard wiederholte er ein Mal übers andere in seinem Innern mit ironischer Betonung der drei bedeutungsvollsten Silben. Aber sein Gesicht drückte nur höfliches Staunen aus, und sie fuhr hastig fort:

»Sehen Sie, ich wurde nämlich heute morgen bestohlen, während ich Besorgungen machte. Ich war bei Peter Robinson und Liberty und in Bond Street gewesen und vor einer Menge Auslagen stehengeblieben. Da muß jemand die Gelegenheit benutzt haben, mich auszuplündern, denn plötzlich als ich in mein Täschchen sehe, ist es leer.«

»Der ganze Inhalt ausgeleert! Ohne daß Sie es gemerkt haben!« sagte Philipp teilnehmend.

»Nein, ich hatte nicht das geringste gemerkt. Alles war nicht weg, aber ein paar Juwelen, die ich darin hatte ... und eine Uhr ... Man muß es furchtbar geschickt geöffnet haben, so daß ich gar nichts gemerkt habe.«

»Hier in London«, sagte Philipp zerstreut, »ist alles möglich.«

»Aber jetzt sprechen Sie wie Mr. Philpott. Das ist doch tatsächlich passiert ...«

Ihnen? dachte Philipp und unterbrach dann:

»Warum haben Sie mir denn nichts gesagt, als wir uns trafen? Ich hätte Ihnen vielleicht helfen können, wenigstens nur Scotland Yard zu finden.«

»Nein, ich wollte Sie nicht bemühen«, sagte sie ein bißchen ungeschickt.

Philipp betrachtete sie mit gespieltem Vorwurf, und sie fuhr eifriger fort, während sie an der Zigarette rauchte:

»Ich wollte zum Scotland Yard, weil ich einen richtigen Detektiv haben möchte. Ich brauche doch einen richtigen Detektiv?«

»Ja«, sagte Philipp mit verschleierter Ironie, »das ist sicher.«

Die Gedanken brausten nur so durch seinen Kopf: auf der Straße bestohlen, ohne daß sie es gemerkt hat – sehr möglich; ohne es mir gleich zu erzählen – unwahrscheinlich; Juwelen und eine Uhr im Täschchen – noch unwahrscheinlicher. Warum nicht Geld? Ja, Geld nachzuspüren lohnt sich kaum, also Juwelen und eine Uhr, nach denen gefahndet werden kann – von Scotland Yard. Und Scotland Yard kann auch den Dieb verhaften – oder mich beim Rendezvous. Sie kennt ja meine Adresse nicht. Aber warum nicht ein gewöhnlicher Konstabler? Hm, vielleicht glaubt sie nicht, daß das geht, oder sie findet es zu aufsehenerregend ... Oder ist ihre Geschichte wahr? Tue ich ihr unrecht? Niemand könnte es sehnlicher hoffen als ich. Wenn ich recht habe, warum mir von Scotland Yard erzählen? Das weiß ... das Weib! Habe ich recht? Ist es möglich? Ach, mein falsches Herz sagt mir, daß es nur allzu möglich ist – und daß man in meinem Beruf nicht zuviel wagen darf. Tue ich Ihnen unrecht, Fräulein Holten, dann bitte ich Sie ergebenst um Entschuldigung. Und habe ich recht, dann ... dreitausend Kronen! Leben und leben lassen! Wenn die dreitausend noch feststehen, gönne ich Ihnen gerne den Versuch, sie zu gewinnen.

Ohne seine Gedanken zu verraten, hatte Philipp ihr noch einige Fragen über den geheimnisvollen Diebstahl gestellt. Plötzlich kam ihm eine Idee, und er sagte:

»Ja, Sie brauchen unbedingt einen richtigen Detektiv, Fräulein Holten, wenn Sie Ihren Verbrecher fangen wollen. Wissen Sie was? Gehen Sie nicht zu Scotland Yard – die sind so überlaufen, daß sie Ihrem Fall keine fünf Minuten opfern können. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, ich ginge zu einem geschickten Privatdetektiv. Ich habe viel von einem Iren gehört, einem Mr. Kenyon, der phänomenale Sachen geleistet haben soll. Unter anderem hat er die Falschmünzerbande von 1908 festgenommen, die dem Scotland Yard über drei Wochen getrotzt hat.«

»Glauben Sie, daß er sehr teuer ist?« fragte Fräulein Holten.

»Ach nein, gewiß nicht. Er übt seinen Beruf mehr als Amateur aus, für einen interessanten Fall nimmt er vielleicht überhaupt nichts. Ich bin überzeugt, daß er sich für den Ihren interessieren wird, Fräulein Holten. Auf der Straße bestohlen – ohne daß Sie etwas merken, ohne daß Ihnen das Täschchen entrissen wird. Nicht übel.«

»Und er kann meinen Dieb verhaften, wenn er ihn findet?«

»Aber ja, seien Sie ganz ruhig, Fräulein Holten. Er ist ein ebenso richtiger Detektiv wie nur irgendeiner von Scotland Yard. Ich kann Ihnen seine Adresse auf eine Karte aufschreiben.«

»Danke, wenn Sie so freundlich sein wollen ...«

Philipp riß ein Blatt aus seinem Notizblock und schrieb mit zierlichen Buchstaben: Mr. J. Kenyon, 5 Bradford Mansions, W., und übergab es Fräulein Holten, die es in ihr Täschchen steckte.

»Wenn er nach Empfehlungen fragen sollte – man weiß ja nicht –, so berufen Sie sich nur auf Professor Pelotard.«

»Aber ich kenne ja keinen Professor Pelotard«, wendete sie ein.

»Das macht nichts. Ich kenne ihn gut. Und ich nehme mir die Freiheit, Ihnen in seinem Namen die Erlaubnis zu geben. Ich weiß auch, daß Kenyon große Stücke auf den Professor hält.«

»Danke«, sagte Fräulein Holten, und nippte an ihrer Kaffeetasse, während Philipp etwas bleich in sich hineinlächelte.

»Haben Sie die Beschreibung der verschwundenen Sachen gegenwärtig, Fräulein Holten?«

Sie stutzte, offenbar aus ihren eigenen Grübeleien herausgerissen.

»Die Beschreibung? Ja, natürlich.«

Philipp betrachtete sie einige Augenblicke, während die bittern und hoffnungsvollen Gedanken sich sekundenrasch in seinem Innern ablösten. War es möglich? Mußte er ihr nicht unrecht tun? Konnte sie eine angenommene Rolle so gut spielen? Oh, Weib, Weib ... der erste Gedanke, den Loke hatte ... Aber wir wollen sehen. Die Zukunft wird mir bald zeigen, ob ich recht habe oder nicht, und heute ist heute.

Er raffte sich auf und sagte:

»Fräulein Holten, was meinen Sie? Darf ich die Freude haben, Sie zu einem kleinen Theaterbesuch einzuladen? Garrick gibt ein Stück, das interessant sein soll: The Woman in the Case.«

»Danke«, sagte sie und lächelte unmerklich über den Titel. »Sie überhäufen mich mit Freundlichkeiten, Herr Collin, aber ich kann doch nicht im Straßenkleid kommen?«

»Wir nehmen eine Loge für uns«, sagte Philipp. »Ich glaube wahrhaftig, es ist schon acht Uhr. Kellner, die Rechnung und einen Wagen.«

Bevor sie spät abends vor ihrem Boarding-House voneinander Abschied nahmen, kam Philipp ein Gedanke. Während er den Chauffeur bezahlte und sie noch in dem scharfen Licht der Scheinwerfer des Autos stand, sagte er unbefangen:

»Apropos, ich fahre bald wieder nach Schweden zurück.«

Kein Zögern! Ach, kein Zögern! Sie zuckte in unverkennbarem Staunen zusammen und stammelte:

»Wie ... nach Schweden zurück ... Sie fahren nach Schweden zurück?«

»Fassen Sie sich«, sagte Philipp lachend, »morgen verlasse ich Sie auf jeden Fall noch nicht.«

Sie war, als er von seiner Reise nach Schweden sprach, mißtrauisch zusammengezuckt, also kannte sie seine Stellung daheim, also waren seine Vermutungen gerechtfertigt. Oder ... konnte es sein, weil sie ihn nicht verlieren wollte? Ein Beben durcheilte ihn trotz alledem bei diesem Gedanken, und er faßte einen raschen Entschluß.

»Ja, richtig«, sagte er, während das Auto fortfuhr. »Darf ich Sie um etwas bitten, Fräulein Holten?«

»Gerne.«

»Wollen Sie mir versprechen, mich zu benachrichtigen, falls ich Ihnen in dieser Polizeigeschichte irgendwie von Nutzen sein kann? Hier ist meine Adresse – Sie entschuldigen, ich habe keine Visitenkarte.«

Mit einer Füllfeder schrieb er rasch ein paar Zeilen auf ein Abrißblatt.

»Ich bin immer gegen fünf Uhr nachmittags zu Hause, oft länger, und ich stehe jederzeit zu Ihrer Verfügung, Fräulein Holten.«

Mr. F. Collin, 19 Inverness Crescent, NW., las sie und steckte das Blatt in ihr Täschchen zu Mr. Kenyons Adresse.

»Danke«, sagte sie, »aber Sie sind schon zu freundlich gewesen, Herr Collin. Ach, ich müßte mich ja schämen, wenn ich ...«

»Wenn Sie mich in Anspruch nehmen sollten«, ergänzte er rasch. »Im Gegenteil, ich bitte Sie, tun Sie es. Es wird mir nur ein Vergnügen sein, wenn Sie mich im Bedarfsfall aufsuchen oder mir schreiben.«

»Gehen wir noch einen Augenblick die Straße hinunter«, brach sie ab. »Ich brauche ein bißchen Luft.«

Er beeilte sich zuzustimmen, und sie gingen schweigend einige Schritte unter den Bäumen, die ihre Zweige über das Gitter von Regents Park streckten.

Plötzlich blieb sie stehen und wandte sich ihm zu.

»Sie sind sehr freundlich gewesen«, sagte sie. »Ich hatte Sie mir so ganz anders vorgestellt ...«

»Ach, Fräulein Holten, Sie kannten mich doch kaum, einmal in Stockholm, vor zehn Jahren, das ist doch nichts. Aber inwiefern hatten Sie sich mich anders vorgestellt?« fragte Philipp mit klopfendem Herzen. Oh, Weib! Weib!

»Ich weiß nicht«, sagte sie lahm, und ohne irgendeinen Übergang fügte sie plötzlich hinzu:

»Küssen Sie mich ... aber nur ein einziges Mal ...«

Mit schwindelndem Kopf zog Philipp sie ungestüm an sich, von demselben bittern Genuß durchbebt, den er gefühlt, als sie ihn vor zwei Tagen bei Frascati plötzlich mit seinem Namen angesprochen hatte. Aber ach, jetzt war er hundertfach größer, und mit wildbrennenden Händen umfaßte er den schönen Kopf und bedeckte ihren Mund mit Küssen, während sein Blick in die wunderbaren blauen Augen starrte. Es waren seine Jugendträume, seine Vergangenheit, alles, das nie mehr werden konnte, was er auf ihren Lippen küßte. Sie hatte den einen Arm um seinen Hals geschlungen, in dem trüben Licht sah er ihr weiches Lächeln. Oh, Weib, Weib ... und ehe der Hahn krähet ...

Plötzlich riß sie sich los und sagte mit atemloser Stimme:

»Nein, gute Nacht!« Und im nächsten Augenblick war sie mit raschen Schritten in dem zitternden Schatten der Blätter verschwunden. Einige Sekunden, und Philipp hörte ihr Tor mit einem scharfen Knall zuschlagen.

Es war am nächsten Tag gegen fünf Uhr nachmittags, in Inverness Crescent, einem Gäßchen im nordwestlichen London, hauptsächlich von Künstlern und Bohemiens bewohnt. Ateliers und Einzelzimmer waren da ständig zu vermieten. Einzüge kamen jeden Tag vor, ohne daß Möbelwagen die Straße verstellten, Auszüge ebensooft, und selten auf Grund von Kündigung von Seiten der Mieter.

Es hatte darum gegen zwölf Uhr an diesem Tage keinerlei Aufsehen erregt, daß ein einfach gekleideter Herr mit wenig Gepäck sich in Nummer 19 einfand und zwei Zimmer im dritten Stock links mietete. Das einzige, worüber man sich wunderte war, daß er von einem Mann begleitet wurde, der offenbar sein Diener war, Bediente waren seltene Vögel in Inverness Crescent. Der fremde Herr mietete die Zimmer unter dem Namen Collin für einen Monat und ließ seine Sachen sogleich hinaufbringen. Der Portier, der den Zins in Empfang genommen hatte, zog sich in seine eigene Wohnung zurück, ohne sich weiter für den neuen Mieter zu interessieren.

Nun war es fünf, und die Sonne beleuchtete Inverness Crescent mit bleichen, horizontalen Strahlen. Aus den halb geöffneten Fenstern der Straße drang Geplauder und Lachen, während der Tabakrauch leicht ins Sonnenlicht hinauswogte. Alles atmete die Ruhe eines Herbstnachmittags, als die Stille plötzlich von dem schrillen Tuten eines Autos unterbrochen wurde, das auf breiten Gummireifen über den knisternden Kies von Inverness Crescent einbog. Das Tempo verlangsamend, fuhr es die Häuserreihe entlang, bis es Nummer 19 erreichte, wo es stehenblieb. Eine blasse Dame in grauem Straßenkleid und ein rothaariger Herr in tadellosem Sakkoanzug sprangen rasch heraus und verschwanden in der Halle.

»Mr. Collin?« fragte der Herr.

»Dritter Stock, links, Sir«, sagte der Portier, und mit raschen Schritten eilten die Fremden die schmale, teppichlose Stiege hinauf.

Auf dem Flur des dritten Stockwerkes blieben sie stehen, und die blasse junge Dame stützte sich mit der Hand auf das Geländer. Ihre Augen waren unnatürlich geweitet, und ihr Atem ging keuchend. Sie schien die Beute einer ungewöhnlichen Gemütsbewegung zu sein. Einen Augenblick formte sie die Lippen, wie um etwas zu sagen, aber kein Laut kam darüber. Schließlich beherrschte sie ihre Erregung und warf einen um Entschuldigung bittenden Blick auf ihren Begleiter.

»Sie sind sicher, daß Sie alle Papiere haben, die zur Verhaftung nötig sind, Mr. Kenyon?« fragte sie.

»Ja, Miss Holten, ganz sicher. Soll ich klingeln?«

»Bitte«, sagte sie matt und lehnte sich wieder an das Geländer. Wenn Mr. Kenyon Schwedisch verstanden hätte, er würde gehört haben, wie sie zu sich selbst flüsterte:

»O Gott, was habe ich getan? Soll ich es mir noch überlegen? Nein, nein, es ist zu spät, und es war doch recht von mir ...«

Das Klingeln der Glocke klang ganz ferne und hatte kaum aufgehört, als die Türe aufgerissen wurde und ein leichenblasser Mann den Kopf heraussteckte. Als er die Fremden erblickte, prallte er zurück, aber bevor er noch etwas sagen konnte, kam ein Ausruf von Kenyon:

»Lavertisse! By jove, ist das nicht Lavertisse, wie in aller Welt ...«

Aber seine Frage wurde dadurch abgeschnitten, daß M. Lavertisse plötzlich vollständig zusammenbrach. Um nicht umzusinken, mußte er sich krampfhaft an die Klinke klammern, mit der andern Hand griff er sich an die Kehle, als ob er im Begriff wäre zu ersticken, und endlich gelang es ihm, zu stammeln:

»Der Herr ist ... der Herr hat ... der arme Herr ...«

»Was ist denn los?« brüllte Kenyon und packte ihn. »Heraus mit der Sprache, Lavertisse! Was ist mit dem Herrn?«

»Er hat sich das Leben genommen«, schluchzte Lavertisse endlich, während große Tränen über seine Wangen rollten. »Gerade jetzt ... ich kam eben nach Hause ... und fand ihn tot, tot ... der halbe Kopf mit einem Rasiermesser abgeschnitten ...«

Starr vor Überraschung ließ Kenyon die Hand von seiner Schulter sinken und starrte Fräulein Holten an. Sie hatte sich mit einemmal emporgerichtet, aufrecht, stumm, totenblaß stand sie vor ihm, während ihr Inneres ein Gewirr von Gedanken war:

›... sich das Leben genommen ... konnte er geahnt haben? Das ist nicht möglich ... was habe ich getan? Gott, was habe ich getan. Nein, es ist nicht möglich ... ‹

Endlich regten sich ihre Lippen, und mit einem flehenden Blick auf Kenyon, mitzukommen, ging sie an dem schluchzenden Lavertisse vorbei in die Wohnung. Kenyon folgte ihr, eine Beute widerstreitender Gedanken. Was steckte hinter dieser Sache? Frühmorgens hatte er den Besuch dieser entzückenden jungen Dame erhalten, die mit blassem Antlitz, aber kaltem, klarem Blick ihr Anliegen vorgebracht hatte. Es handelte sich um eine Verhaftung. Zufällig hatte sie in London einen durchgegangenen schwedischen Hochstapler erkannt, einen Landsmann, der mehrere Banken um große Summen betrogen hatte, er wurde schon lange gesucht, und eine Belohnung war auf seine Ergreifung ausgesetzt, aber mit unglaublicher Kühnheit hatte er bisher allen Nachstellungen getrotzt. Kenyon hatte einige Einwendungen erhoben – das lag nicht in seiner Branche, besser, Scotland Yard aufzusuchen, aber sie war sehr bestimmt gewesen, geradezu hartnäckig. Scotland Yard sei zu langsam, sagte sie, worauf sie unmittelbar mit naiver Ironie gefragt hatte, ob er denn auch ein richtiger Detektiv sei – der Leute verhaften könne? fügte sie hinzu. Pikiert und von ihrer Schönheit gefesselt, war Kenyon, wenn auch mit Zögern, auf ihren Wunsch eingegangen. Der ganze Tag war damit verstrichen, sich die erforderlichen Papiere zu verschaffen – dank seiner Energie, von ihrem Eifer angespornt, war es in dieser kurzen Zeit gelungen. Sofort nachdem sie den Haftbefehl erlangt hatten, waren sie im Auto nach Inverness Crescent gefahren – wie sie die Adresse des Verbrechers erfahren hatte, wollte sie nicht angeben. Mit seinem scharfen Blick ahnte Kenyon, daß hinter der Sache mehr steckte, als sie zugeben wollte. Und jetzt, als sie herkamen, fanden sie, daß das Opfer sich ihnen entzogen hatte – durch Selbstmord. Seltsame Geschichte, murmelte Kenyon, während er der schlanken Gestalt in das Arbeitszimmer des Verstorbenen folgte.

»Viel Luxus hat er sich jedenfalls nicht gegönnt«, sagte Kenyon halblaut.

Der Raum war groß, mit Fenstern nach beiden Seiten des Hauses, aber enthielt nur einen Schreibtisch, ein paar kleine Rauchtischchen, ein halbgefülltes Bücherregal und einige Stühle. Die Vorhänge waren an allen Fenstern herabgelassen und das Licht matt. Auf einem der Stühle am Ende des Zimmers, einem großen Sessel, saß eine undeutlich erkennbare Gestalt, deren Kopf unheimlich schlaff auf die eine Seite herabhing, er war von ihnen abgewandt und dem Fenster zugekehrt, an dem er saß – ganz, als hätte er in seinem letzten Augenblick noch einen Schimmer des Tageslichtes auffangen wollen, dem er entfloh. Eine Fliege summte in der Totenstille des Zimmers, und in kurzen Zwischenräumen drang Lavertisses Schluchzen herein. Plötzlich, während sie noch stumm in die wunderlich suggestive Szene versunken waren, fuhr Kenyon bei einem Laute zusammen, den er nicht recht erklären konnte, gleich darauf erbleichte er: es war das Platschen eines Tropfens, der langsam von dem hängenden Kopf auf die Wachstuchmatte gefallen war. Die schwüle Luft des Zimmers wurde ihm mit einemmal unerträglich – was war das auch für eine Idee von Lavertisse, die Fenster zu schließen und die Vorhänge zuzuziehen? In der Befürchtung, daß Miss Holten ohnmächtig werden könnte, eilte er zu dem nächsten Fenster und zog den Vorhang zur Seite. Selbst ihm war in dem wunderlichen Halblicht des Zimmers nichts weniger als wohl zumute, und das schwere Aufschlagen des Tropfens auf die Matte hatte ihn mit unbeschreiblichem Ekel erfüllt. Als er das Fenster aufgemacht hatte und sich umwendete, um zu sehen, wie es Miss Holten ging, starrte sie noch immer die undeutliche Gestalt in dem Klubsessel an. Als er einen Augenblick den Blick von ihr wandte, sah er auf dem Schreibtisch ein weißes Kuvert an einen Rahmen gelehnt stehen. Er nahm es, und ein leiser Ausruf weckte Fräulein Holten aus ihrem dumpfen Schweigen.

»Miss Holten«, sagte er mit gedämpfter Stimme, »ein Brief an Sie!«

Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen. Mit ausgestreckten Händen, die so zitterten, daß sie sie kaum bewegen konnte, ergriff sie das Kuvert, das er ihr reichte, und ließ es dann kraftlos wieder sinken.

»Ich kann nicht, ich kann nicht«, murmelte sie.

Kenyon betrachtete sie ängstlich. »Soll ich einen Arzt holen?« fragte er. Er kann vielleicht auch etwas für ihn tun, wollte er hinzufügen, aber unterbrach sich bei der Erinnerung an Lavertisses Worte: der halbe Kopf abgeschnitten.

Miss Holten hielt ihn durch eine plötzliche Bewegung und einen entsetzten Blick auf den Klubsessel zurück.

»Warten Sie«, sagte sie, »später ... zuerst will ich ...«

Ohne den Satz zu beenden, riß sie das Kuvert auf und zog einen weißen Bogen hervor. Mit unsicherem Blick gelang es ihr endlich zu entziffern, was da stand. Die Tinte war rotviolett wie Blut, schien es ihr.

»Liebes Fräulein Holten«, las sie. »Zu Ihnen gehen meine letzten Gedanken, wenn ich jetzt freiwillig Abschied von einem besudelten Leben nehme – dies ist ein Lebewohl und ein Dank!

Denn Sie sind mir eine seconda primavera gewesen, ein zweiter Frühling; an den beiden herrlichen Herbsttagen, die ich Sie gekannt habe, ist meine tote Jugend wieder in mir erwacht – die Jugend, wo die Welt hoffnungsvoll war, wo ich noch das Recht hatte, unter andern Menschen zu weilen und die Liebe eines reinen guten Weibes zu gewinnen. Nehmen Sie meinen letzten Dank dafür!

Denn ach ... Sigrid (ich nenne Dich so, und es macht wohl nichts, wenn ich am Rande des Unbekannten wage, es ohne Deine Erlaubnis zu tun), wenn Du es auch nicht weißt, es ist lange her, seit ich dieses Recht verwirkt habe, das Recht, meinen Mitmenschen unerschrocken ins Auge zu sehen und einmal die Liebe eines guten, unschuldigen Weibes zu gewinnen – eines Weibes wie Du, Sigrid. Mein Leben ist eine Kette von Torheiten gewesen, eine Kette von Verbrechen, sagt das Gesetz, und ich will nichts dagegen sagen. Als Du mich fandest, stand ich zu tief, um an Dich zu denken, und als ich das erkannte, begriff ich zum erstenmal die Tiefe meiner Schmach. Und da faßte ich meinen unerschütterlichen Entschluß. Als Du Dich so froh und arglos meiner Obhut anvertrautest, da zitterte ich und fühlte mich als der von Eden ausgestoßene Mensch. Sooft Du mir in die Augen sahst, sooft ich Dein heiteres Mädchenlachen hörte, zuckte ich zusammen und dachte, wenn sie wüßte, wenn sie wüßte! Und gestern, Sigrid, als ich Dich geküßt hatte, war mein Entschluß gefaßt. Mein ganzes Wesen hungerte nach Dir! Aber das durfte nicht geschehen, ich wollte Deine Reinheit nicht mit meiner Schande besudeln. Bei dem Gedanken, daß Du, ohne die ich nicht leben möchte, mich lieben lernen könntest und dann eines Tages erführest, was ich bin – ein Schwindler, ein steckbrieflich verfolgter Advokat, daß ein Preis von dreitausend Kronen auf meine Ergreifung ausgesetzt war –, bei diesem Gedanken, Sigrid, bäumte sich mein ganzes Inneres auf, und ich sagte: Nein, das darf nicht geschehen! Du hast genug gelebt!

Noch einmal, ehe meine Hand den verhängnisvollen Schnitt macht, nehme ich Abschied von Dir, von Deiner reinen, strahlenden, unschuldigen Weiblichkeit. Lebe wohl! Mögen die Götter Dich beschützen, und vergiß, daß Du einen Deiner Unwürdigen gesehen und gesprochen hast, der Dich liebte.

Philipp Collin.«

Mit unsicheren Augen hatte sie den Brief zu Ende gelesen, diesen Brief, in dem jedes Wort sie wie ein Peitschenhieb brannte, und sie wollte ihn eben wieder in das Kuvert schieben, als sie plötzlich merkte, daß noch ein kleines Kuvert darin lag. Mit zitternder Hand zog sie es hervor und fand es zu ihrem Staunen an Mr. Kenyon adressiert. Sie drehte sich um, um ihn zu rufen, und sah ihn eben auf den Zehen zu dem Sessel mit seinem unheimlichen Inhalt hingleiten. Ohne ein Wort hervorbringen zu können, sah sie, wie er den Vorhang vor dem Fenster zurückzog, und fuhr plötzlich vor einem energisch ausgestoßenen, schallenden irischen Fluch zusammen.

»Mr. Kenyon«, rief sie mit einer Stimme, die vor Tränen bebte, »wie können Sie – wie können Sie, in Gegenwart des Todes!«

»Oder was!« rief Mr. Kenyon. »Was sind das für Witze, Miss Holten? Ist das Ihr eigener kleiner Scherz, oder hat Ihnen Mr. Collin geholfen, mich mit dieser Expedition zum Narren zu halten?«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Fräulein Holten mit eisiger Verachtung, »weder was Sie meinen, noch wie Sie es wagen können, in diesem Ton zu mir zu sprechen, noch dazu vor dem Toten.«

»Dem Toten«, schrie Kenyon außer sich. »Hier haben Sie Ihren Toten, Miss Holten.« Und er schleuderte den zusammengesunkenen Körper aus dem Sessel in die Höhe. Er beschrieb einen meterhohen Bogen durch die Luft und fiel mit dumpfem Aufschlag vor Fräulein Holtens Füßen nieder. Ein Regen von roten Tropfen flog dabei aus dem Kopfe. Beinahe hysterisch starrte sie den schlaffen Körper an, die hilflos fallenden Glieder und den formlosen Kopf, bis sie plötzlich mit einem schrillen Lachen vornüber auf den Schreibtisch fiel: eine Schaufensterpuppe, deren Kopf von eingetränkter roter Ölfarbe triefte, die in fetten Tropfen auf den Boden floß.

»Eine Puppe, eine Puppe ... also kein Selbstmord, also ...« Sie sprang rot vor Entrüstung auf, aber trotz alledem mit einem Gefühl der Erleichterung. Ah, er hatte nur mit ihr gescherzt – mit ihrer reinen, unschuldigen Weiblichkeit. Er hatte sie also durchschaut, während sie ihn so gut hinters Licht geführt zu haben glaubte. Er hatte dieses ganze Melodrama arrangiert, die Wirkung berechnet, sie mit Reue erfüllt, mit Gewissensqualen, mit Tränen, um sie dann durch diese lächerliche Szene zu demütigen.

»Ah, ich verabscheue ihn, ich hasse ihn!« rief sie, und mit einem schrillen Lachen warf sie das Briefchen, das sie in ihrem eigenen gefunden hatte, Mr. Kenyon zu.

»Ein Brief an Sie, Mr. Kenyon, lesen Sie doch!« rief sie, und Mr. Kenyon, der mit vernichtenden Blicken ihre Gemütsbewegung mitangesehen hatte, nahm den Brief und riß ihn auf, ohne ihn anzusehen. Aber nach einem flüchtigen Blick darauf machte er einen förmlichen Sprung auf Fräulein Holten zu und schrie mehr, als er sagte:

»Ah, jetzt fällt mir etwas ein! Jetzt ahne ich, warum der Name dieses Mr. Collin mir so bekannt vorkam. Den ganzen Tag hatte ich das Gefühl, daß ich ihn schon gehört haben muß. Sie hatten doch eine Empfehlung von jemand, nach dem ich zu fragen vergaß, wie hieß er? Antworten Sie.«

Ganz erstaunt starrte sie ihn an, bis sie sich plötzlich erinnerte:

»Eine Empfehlung ... ja, von Professor Pelotard, das heißt, ich ...«

»Professor Pelotard, ah, eine niedliche Sache! Seien Sie so gut und lesen Sie, Miss! Lesen Sie das!«

Sie nahm das weiße Kärtchen und las:

»Dear Mr. Kenyon. Ich habe mir die Freiheit genommen, Ihnen eine junge Freundin, Miss Holten aus Schweden, zu schicken, die mich mit Ihrer Hilfe zu verhaften wünschte. Ich bitte Sie, zu tun, was Sie können, um ihren Wunsch zu erfüllen, und ich versichere Ihnen, daß ich nicht im geringsten ironisch bin, wenn ich sage, daß Sie wahrscheinlich wie die Patrouille der Karabinieri kommen werden – immer zu spät. Denn schon lange habe ich daran gedacht, der Gerechtigkeit zuvorzukommen, wie die Zeitungen sagen, es war auch sonst eine der wenigen Maximen meines Lebens, dies immer zu tun. Heute abend mache ich einem unwürdigen Dasein ein Ende, in dem Sie, lieber Kenyon, einer der wenigen Lichtpunkte waren. Ich wünsche Ihnen eine glückliche Zukunft, opfern Sie manchmal einen Gedanken Ihrem unglücklichen Freund

Professor Pelotard,
alias Philipp Collin.«

Dann kam ein leerer Raum von einigen Zeilen, dem ein zierlich abgefaßtes P. S. folgte.

»Ich will, daß mein Staub am Mälarstrand ruhe, unter dem schwedischen Volke, das ich so heiß geliebt.«

Fräulein Holten sah hastig auf, denn Mr. Kenyon hatte einen Tigersprung auf die Tür zu gemacht.

»Lavertisse«, brüllte er, »zum Teufel, den werde ich doch wenigstens hoppnehmen.«

Mit beträchtlichem Gepolter stürzte er die Treppe hinunter, um nach M. Lavertisse zu fahnden. Aber es war zu spät. Der treue Diener war längst dem Beispiel seines Herrn gefolgt und damit Mr. Kenyon und dessen Handschellen enteilt, unbekannten Schicksalen und Frauen entgegen.

Auf allen Punkten geschlagen, ganz rot vor Erbitterung, kehrte Mr. Kenyon zu dem noch wunderlich niedergeschmetterten Fräulein Holten zurück.

»Und jetzt, Miss Holten«, sagte er barsch, »haben Sie die Güte und steigen Sie in dieses Auto. Wir haben noch ein Wörtchen über den Fall Collin zu sprechen.«

 

*
 


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