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Abenteuer auf nüchternen Magen

I.

Der blaue Zug, der Punkt 14 Uhr 45 von seinem südlichen Ausgangspunkt startete, bedeutete den Gipfel der Schnelligkeit und des Komforts. Er bestand ausschließlich aus fünf oder sechs Schlafwagen und einem Speisewagen, sämtliche von oben bis unten in der blauen Farbe des Mittelmeeres lackiert. In siebzehn Stunden legte der Zug den Weg von den Grenzpfählen Italiens bis zur Hauptstadt Galliens zurück, während andere Expreßzüge dazu zweiundzwanzig Stunden benötigten. Von allen Zügen hatte er die beste Küche, die feinsten Weine und die weichsten Betten. Mit dem blauen Zug reisten alle reichen Leute, die etwas auf sich hielten.

 

Der blaue Zug war hochberühmt zu beiden Seiten des Stromes Okeanos. Von einem Glorienschein umwoben sauste er die Schienen entlang. Selten, wenn überhaupt jemals, erkühnten sich gewöhnliche Sterbliche ihn zu betreten. Der Gedanke, daß eine Reisegesellschaft – eine Reisegesellschaft aus einem Reisebüro – es wagen könnte, ihn zu beschmutzen, dieser Gedanke wäre dem geistigen Vater des Zuges sicherlich niemals auch nur im Traum eingefallen.

II.

Nein, weder dem geistigen Urheber, noch dem Personal des blauen Zuges wäre eine solche Idee gekommen. Darum waren die Gefühle des Oberschaffners an diesem Abend nur mit denen eines rechtgläubigen Mohamedaners zu vergleichen, der eine Schar gestiefelter Ungläubiger in einer Moschee entdeckt.

Es war an einem Abend im März. In Mentone und Monte Carlo hatte der Oberkondukteur Chaptal, goldbetreßt und diskret, einen Fahrgast nach dem anderen empfangen; reiche Leute auf der Flucht vor sich selbst; die Auserkorenen der Erde, die sich eine Weile auf den Marktplätzen der Riviera gesonnt hatten. Nun hielt der Zug in Nizza; neue Reisende strömten über den Fahrsteig und neue Nabobs auf der Flucht von einem Spielplatz zum anderen, gefolgt von Koffern, Zeitungsnotizen und Liebesüberdruß. Herr Chaptal empfing sie würdig, tabakbraun und behandschuht, geleitete sie zu ihren Wagen, erkundigte sich nach ihren Wünschen und nahm diskret Trinkgelder in Empfang. Dies hier war das Salz der Erde, das Salz der Erde reiste.

Aber plötzlich zuckte er zusammen wie der rechtgläubige Mohamedaner, wenn er eine Schar gestiefelter Ungläubiger in der Moschee entdeckt. Über den Bahnsteig kam eine Gesellschaft von fünf Personen. Ihre halbgeöffneten Münder, der Schnitt ihrer Kleider, alles verriet mit unheimlicher Klarheit, was sie waren, eine Reisegesellschaft aus irgendeinem Reisebüro. Sie steuerten direkt auf ihn zu. War es möglich? Gewiß. Die Zielsicherheit ihrer Bewegung verriet, was ihre Absicht war: mit dem blauen Zug zu reisen. Herr Chaptal blinzelte; doch nein, das Bild ließ sich nicht verjagen. Jetzt kam ein Sechster, ein Mann mit rotem Bart, offenbar der Führer der Gesellschaft, auf ihn zu. Herr Chaptal richtete sich zur vollen Höhe auf, aber sein Blick entbehrte der Sicherheit. »Eine Reisegesellschaft« murmelte er mit belegter Stimme.

»Von Cook«, bestätigte der Mann mit dem Rotbart. »Reise nach Paris unter meiner persönlichen Führung. Sechs Halbcoupés, hier sind die Fahrkarten.«

Herr Chaptal nahm stillschweigend die Fahrkarten entgegen. Sie waren in Ordnung. Was konnte er tun? Nichts.

Herr Chaptal setzte sich wie ein Traumwandler in Bewegung. Die sechs Individuen wimmelten um ihn herum wie die Küchlein um die Henne. Sie liefen ihm in den Weg, traten ihm auf die Zehen. Inzwischen entsandten sie Ströme von Fragen und Antworten.

»Was ist besser, Schaffner, vorne oder hinten im Zug zu fahren?« »Kann man im Zug essen?« »Ist dieses hier der feinste Zug in Europa?«

Ihr Wagen war der letzte im Zug. Herr Chaptal schüttelte sich wie um einem Albtraum zu entkommen.

»Jawohl meine Herrschaften, bis jetzt hat dieser Zug als der feinste in Europa gegolten. Hier ist Ihr Wagen. Anton, weisen Sie den Herrschaften ihre Plätze an. Angenehme Reise.«

Aus den anderen Waggons beobachtete das Salz der Erde mit einem Ausdruck von Heiterkeit und Geringschätzung, wie ihre sechs Mitreisenden schwerfällig den blauen Zug erklommen, und Herr Chaptal gab mit bitterem Lächeln das Zeichen zur Abfahrt. Nicht einen Fünf-Frankenschein als Dank für seine Reisewünsche.

III.

Ein Mensch, der eben gezwungen wurde, einer Cook-Gesellschaft im blauen Zug Platz anzuweisen, ist wie ein Chinese, der dabei ertappt wird, wie er die Wahrheit spricht: er hat sein Gesicht verloren. Darum reagierte Herr Chaptal kaum, als der Zug das nächste Mal anhielt und zwei Herren ihre Fahrkarten vorzeigten.

Es war in Cannes, dem Winterquartier des englischen Hochadels. Aber zwei Personen, die weniger den Eindruck machten, in diese Stadt zu gehören, hatte Herr Chaptal noch nie gesehen. Der eine von ihnen war fünfzig bis sechzig Jahre alt; er trug einen weiten Radmantel; die Samthosen waren von dem gleichen faltenreichen Modell wie die der französischen Kolonialsoldaten. Auf dem Kopf hatte er ein zuckerhutförmiges Gebilde mit breiter Krempe. Sein Begleiter war etwa zwanzig Jahre jünger und seine Bekleidung zeigte, daß einige Gerüchte von den Modeeinfällen des vergangenen Jahrhunderts bis zu ihm gedrungen waren. Er trug einen flaschengrünen Überrock mit Samtaufschlägen. Der Rock war aufgeknöpft und darunter sah jenes nunmehr selten gewordene Kleidungsstück hervor, das man Salonrock nennt, in jener aussterbenden Farbe, die flohbraun heißt. Der ältere Herr hatte den braunen Teint von der Farbe der Walnüsse, einen grauen, wallenden Bart und funkelnde Samtaugen. Die Nase seines Begleiters war scharf wie der Schnabel des Habichts, die Augen in seinem olivgrünen Antlitz hellgelb wie Bernstein.

»Zwei Pfandleiher«, murmelte Herr Chaptal, »zwei Pfandleiher oder zwei Straßensänger.« Aber bedrückt von dem ersten Erlebnis des Nachmittags führte er sie zu ihrem Wagen, dem vorletzten im Zuge. Erst in diesem Moment fiel ihm etwas an den Fahrkarten auf. Jeder der neuen Fahrgäste hatte für sich ein ganzes Abteil reserviert. Zwei Pfandleiher oder Straßensänger und jeder ein Abteil!

Die letzte Annahme konnte die richtigere sein, denn auf der Schwelle seines Abteils blieb der ältere der beiden stehen und zitierte mit tönender Stimme etwas, das wie Verse erklang:

»Prächtig die Halle, geziert mit prangenden, bunten Geweben,
Schlüpfrig von Mark und von Fett der steinegepflasterte Boden,
Denn auf dem flammenden Herde briet ein gewaltiger Ochse.«

»Sie haben zwei ganze Abteile belegt, meine Herren?« fragte der Oberkondukteur und rieb sich die Augen.

»Können Sie das nicht aus unseren Fahrkarten feststellen?« fragte der ältere Fahrgast freundlich.

»Aber –«

»Kein aber«, schnauzte ihn der jüngere an. »Wie steht es mit der Sicherheit in diesem Zug?«

Herr Chaptal wurde ironisch. »Was befürchten Sie, mein Herr? Eine Entgleisung, einen Zusammenstoß? Gewiß, wir fahren rasch, aber so –«

»Und warum nicht einen Überfall?« knurrte der Mann mit dem flohbraunen Salonrock und schob sanft, aber bestimmt den Schaffner hinaus. Herr Chaptal zog sich mit gerunzelter Stirne zurück. Überfall! Haha! Es würde ihm Spaß machen, die Leute zu sehen, die es wagen sollten, den feinsten Zug Europas anzugreifen! Und noch mehr Spaß würde es ihm machen, zu sehen, welche Beute sie bei einem Pfandleiher im flohbraunen Salonrock und einem Straßensänger in Pluderhosen machen konnten! Auch wenn diese in reservierten Abteilen fuhren! Gewiß – in den anderen Abteils, da gab es Beute, wenn sich jemand erfrechen sollte, an den Zug der Auserwählten Hand zu legen. Da gab es keine Dame, die nicht von Ringen und Ohrgehängen funkelte – falls man besagte Ringe und Ohrgehänge nicht etwa in einer schweren Juwelentasche mit sich trug. Wahrlich, da gab es Beute! Wenn irgendein Überfall erfolgen sollte, dann würde er sicherlich nicht gegen die Abteile fünf und sechs im fünften Wagen gerichtet sein. Eher von dort seinen Ausgang nehmen.

Eine Minute, ehe der Zug Cannes verließ, kam ein letzter Reisender und belegte einen Platz im dritten Wagen. Es war ein rothaariger Engländer mit blauen Augengläsern und verschlossenem Wesen. Seine Fahrkarte lautete auf den Namen Kenyon.

IV.

Der Zug verfiel in jenes Hundert-Kilometer-Tempo, das er nun mit wenigen Pausen bis Paris einhalten sollte. Die Sonne sank. Als der Zug einen Augenblick in Saint Raphael hielt, warteten drei Herren auf dem Bahnsteig. Der Schaffner empfing sie mit einem Gefühl der Genugtuung. Das hier waren wenigstens Leute von Welt.

»Hier ist der Wagen, Lavertisse! Eilen Sie, Graham! Der Zug hält nur dreißig Sekunden. Drei Halbcoupés im Wagen fünf. Bitte, Schaffner, hier sind die Fahrkarten.«

Professor Pelotard und Begleitung, stellte Herr Chaptal fest. »Wagen fünf, die drei ersten Halbcoupés. Bitte meine Herren!«

Von neuem flog der Zug dahin. Aber er hatte die Station noch nicht völlig verlassen, als Mr. Graham sich an den Schaffner wandte.

»Wo ist er? Vorne, rückwärts?«

»Wer denn, mein Herr?«

»Der Speisewagen natürlich.«

»Ah der Speisewagen!« Herr Chaptal, der eben einen Zwanzigfrankenschein als Trinkgeld zu sich nahm, starrte auf die umfangreiche Gestalt des Engländers. »Der erste Wagen nach der Lokomotive. Aber die erste Serie ist noch nicht ausgerufen.«

»Die erste Serie ist noch nicht ausgerufen? Macht nichts, ich esse à la carte. Lavertisse, Professor, kommen Sie oder kommen Sie nicht?«

»Ich komme! Ich komme!«

Philipp Collin und seine Freunde bahnten sich langsam einen Weg durch die schwankenden Korridore. Verschiedene Herren mit blasiertem Antlitz, verschiedene Damen mit Ringen- und Juwelentaschen wandelten den gleichen Weg. Plötzlich kam eine rückläufige Bewegung, eine Ebbe in diese Flut. Die dem Ziel zunächst waren, traten den Rückzug an, andere folgten ihrem Beispiel, bis der ganze Strom an den Dreien vorbeizufluten begann. Was war los?

Man hörte Ausrufe: Das ist doch unglaublich! Haarsträubend! Daß die Direktion so etwas zugibt!

Was war geschehen? Endlich waren sie am Ziel angelangt. Durch eine geschliffene Glasscheibe blickten sie in einen langen Wagen, der leer zu sein schien. Zwei Reihen von Tischen erstreckten sich verlockend nach rückwärts. Weiße Tücher schimmerten, Silber und Kristall blinkte unter rotbeschirmten Lämpchen. Alles war zum Gastmahl gedeckt, doch kein Gast saß an den Tischen.

Ein Kellner in weißer Jacke bewachte den Eingang.

»Wir wünschen drei Plätze! Jetzt sofort.«

Das Gesicht des Kellners zeigte Langeweile, als er die Antwort gab: »Bedauere, meine Herren, das ist unmöglich.«

»Es sind doch eine Unmenge Tische leer.«

»Gewiß, aber ich kann Ihnen trotzdem keine Plätze anweisen, alles ist besetzt.«

Der Tonfall des Kellners zeigte, daß er diese Auskunft nicht zum erstenmal gab. Aber Mr. Graham war nicht der Mann, der sich mit Rätseln abspeisen ließ, wenn er ein Diner erwartete.

»Wie kann denn alles besetzt sein, wenn der Wagen leer ist!« rief er.

»Der Wagen ist nicht leer, mein Herr. Sie werden das bemerken, wenn sie Ihre Augen etwas anstrengen.«

Mr. Graham strengte seine Augen an und nun bemerkte er, was er gleich hätte bemerken können. Ein Tisch im Hintergrund des Wagens war besetzt. Daran saß ein Herr mit wallendem, grauen Bart und funkelnden Samtaugen. Sein Gegenüber war ein Herr mit Habichtsnase und gelben Augen. Vor ihnen standen zahlreiche Flaschen und Gläser.

Soeben eilte ein weißbekleideter Kellner aus der Küche herbei, mit einem silbernen Tablett, auf dem eine Suppenterrine dampfte. Graham stieß ein Brüllen aus.

»Diesen wird serviert! Warum? Und warum wird niemandem anderen serviert, wenn der ganze übrige Wagen leer ist?«

»Darum, weil der Herr mit dem grauen Bart den Wagen direkt von der Direktion gemietet hat, für eine ganze Stunde. Er kann es nämlich nicht vertragen, wenn ihn andere Menschen essen sehen. Er hat der Gesellschaft alles bezahlt, was sie in dieser Zeit an allen Tischen verdienen könnte. Außerdem bezahlt er an das Personal Trinkgelder. Außerdem eine Extravergütung für alle Fragen, die wir beantworten müssen. Sind Sie zufrieden, mein Herr?«

Mr. Graham war so weit davon entfernt, zufrieden zu sein, daß Philipp Collin eingriff. »Noch eine Frage. Wer ist er? Ein italienischer Hirte oder ein russischer Gesellschaftsreformator?«

»Alles, was ich weiß«, sagte der Kellner mit schlecht verhehltem Gähnen, »ist der Name, der auf der Bestellung stand: Alkyon Argyropoulos.«

»Ein Grieche«, rief Philipp.

»Schon möglich«, gab der Kellner zu.

»Und der Mann, der im gleichen Raum mit Herrn Argyropoulos speisen darf?«

»Sein Sekretär. Wünschen Sie später Plätze, meine Herren?«

»Und ob«, donnerte Mr. Graham, aus seiner Betäubung erwachend. »Drei Plätze, wenn der Elende fertig ist. Und sagen Sie dem Koch, er soll –«

Der Kellner blätterte in seinem Heft. »Wenn Herr Argyropoulos fertig ist, kommt die erste Serie. Für die ist alles besetzt. Dann – haben wir die zweite Serie, für die ist alles besetzt. Aber für die dritte Serie –«

Das Antlitz Mr. Grahams senkte sich drohend wie eine Gewitterwolke gegen das seine herab: »Kellner, wann kommt die dritte Serie?«

Der Kellner griff nach der Klinke und murmelte mit unsicherer Stimme:

»Sobald wir Marseille verlassen haben, mein Herr.«

»Und wann«, sagte Mr. Graham, während er sein Antlitz tiefer hinabbeugte, wie um besser zu hören, »wann sind wir in Marseille?«

Der Kellner hatte die Klinke erfaßt. »Um halbzehn Uhr abends, mein Herr!« Und er flog wie ein Pfeil in den Speisewagen.

V.

Was dient mehr dazu, die schwarzen Sorgen zu vertreiben, als Gespräche mit Freunden und der Austausch weiser Gedanken? Mit Gewalt war Mr. Graham in sein Abteil zurückgebracht worden. Seine beiden Freunde saßen bei ihm und versuchten, mit den Fächern der Worte die Wolken auf seiner Stirne zu vertreiben. In der sich verdichtenden Dunkelheit draußen flogen rötliche Gebirgsgegenden vorüber.

»Was sagen Sie zur Landschaft, Graham?« erkundigte sich Lavertisse.

»Es sollte eine Gesetz geben, daß jeder Zug zwei Speisewagen führen muß.«

»Sie sollten doch Cicero lesen«, sagte Philipp Collin, »er hat eine ausgezeichnete Abhandlung geschrieben über die Kunst, Schmerzen zu ertragen.«

»Wie kann sich dieser Mensch nur erlauben, auf einen ganzen Wagen Beschlag zu legen.«

»Lieber Graham, die Zeiten ändern sich ebenso wenig, wie wir. Solange Lukullus Geld hat, wird er immer in der Lage sein, privat bei Lukullus zu speisen …«

»Der ein Lukullus! Finden Sie, daß er wie ein solcher aussieht? Finden Sie – ha, da ist er! Jetzt werde ich aber –!«

Mr. Graham erhob sich. Durch den Gang kam, mit dem spitzkegeligen Hut auf dem Kopf, von Mantel und Bart umwallt, sein Feind. Dessen Lippen bewegten sich, als zitierte er Gedichte, und seine Augen schweiften in weite Fernen. Hinter ihm schritt sein Sekretär im flohbraunen Salonrock. Das Gerücht von ihrem Kommen war ihnen vorausgeeilt; an jeder Coupétür drängte man sich, um sie zu sehen.

Mr. Graham trat aus seinem Abteil. »Ein Wort mit Ihnen, mein Herr«, rief er. »Wenn Sie glauben, daß man –«

Herr Argyropoulos hörte nichts. Mr. Graham erhob die Stimme:

»Mein Herr, in diesem Falle lassen Sie sich sagen, daß ein solcher –«

Endlich schien der Millionär zu hören. Er wandte Mr. Graham sein strahlendes Antlitz zu und sagte mit einer Stimme, tönend wie Erz:

»Bald hat der Erdteil Helas' gesamte Weisheit erworben,
Gallien, sprachlich bewandert, erzog sich treffliche Redner.
Ultima Thule selbst läßt einen Rhetor sich kommen.«

Er war vorbei. Mr. Graham wurde von seinen Freunden in das Abteil gezogen.

Sie waren zu sehr in Anspruch genommen, um einen rothaarigen Herren mit blauen Augengläsern zu bemerken, der sie aus einem etwas entfernten Abteil beobachtete. Allmählich verließ dieser sein Abteil und stellte sich in die offene Tür, mit dem Rücken gegen die drei. Er holte einen Taschenspiegel hervor und während er anscheinend seine Krawatte ordnete, musterte er sie lange und genau. Dann fing er an, in einer Zeitung zu lesen. Doch es hatte den Anschein, als ob er den Äußerungen der drei Freunde mehr Interesse widmete als den Ansichten der Zeitung.

Philipp Collin sagte: »Feiner Zug zum Plündern. Oder? Was meinen Sie, Lavertisse?«

Lavertisse erwiderte: »Wie Sie wissen, mache ich nur ehrliche Geschäfte, Professor.«

Mr. Graham sagte: »Jetzt gehen die Leute zur ersten Serie.«

Lavertisse trat in den Gang und begann auf und ab zu gehen. Der Engländer verschwand hinter seiner Zeitung, während Lavertisse seinen Spaziergang in den anschließenden Wagen fortsetzte. Als er von dort zurückkam, hatte er einige Neuigkeiten mitzuteilen.

»Sagen Sie, Professor, haben Sie nicht den gleichen Eindruck wie ich, daß das hier ein Luxuszug ist, wie nur irgendeiner in Europa?«

»Gewiß.«

»Und wissen Sie, wer im letzten Wagen fährt?«

»Nein.«

»So wahr ich lebe – eine Reisegesellschaft von Cook! Eine unverfälschte Cookgesellschaft! Sie haben großkarierte Kleider an und Sonnenbrillen und glotzen die anderen Fahrgäste an, als ob sie sie verschlingen wollten!«

Mr. Graham murmelte zwischen den Zähnen: »Ein schöner Luxuszug, in dem man vor Hunger umkommt!«

»Im nächsten Wagen«, setzte Lavertisse fort, »habe ich einen Fahrgast gesehen, den ich kenne: den Koch aus dem Restaurant Cesarini. Sie wissen doch, das große Hotel am Triumphbogen. Und wissen Sie, was er sagte?«

»Nein.«

»Daß der griechische Millionär in Cannes bei ihm gewohnt hat, und daß er bei Cesarini in Paris wohnen wird. Vielleicht ist er, wie Sie sagen, ein Lukullus.«

Die erste Serie war vorbei. Gesättigte Nabobs kamen rauchend aus dem Speisesaal zurück. Der Gong ertönte, und die zweite Serie begann. Ungefähr in deren Mitte blieb der Zug einige Minuten in Marseille stehen und verfiel dann von neuem in sein dahinsausendes Hundert-Kilometer-Tempo.

Auch die zweite Serie ging zu Ende. Jeden Augenblick konnte der Gong zur dritten Serie rufen. Mr. Graham erhob sich von seinem Sofa. Fast gleichzeitig begannen die Bremsen zu arbeiten, die Räder knirschten, das Holz der Abteilwand ächzte und Mr. Graham wurde auf seinen Sitz zurückgeschleudert.

Draußen schimmerte im Nachtdunkel eine kleine Station, unverständliche Rufe hallten. Laternen wurden geschwenkt, man hörte die Lokomotive fortdampfen und wiederkommen. Was war los?

Der Zug setzte sich mit einem Ruck in Gang und ein Schaffner kam durch den Korridor. Er blieb an jeder Coupétüre stehen, und an jeder Türe entledigte er sich derselben Botschaft: »Meine Damen, meine Herren, ein bedauerlicher Unglücksfall. Explosion und Feuersbrunst in der Küche. Der Speisewagen ist abgekoppelt. Ich bedauere es, meine Herrschaften, aber vor morgen früh ist keine Gelegenheit mehr zu speisen.«

Erst eineinhalb Stunden später gelang es, Mr. Graham zu Bett zu bringen. Seine letzte Bewegung war die einer geballten Faust gegen den Wagen, in dem eine gewisse Person vermutlich bereits den Schlaf des ungerechten Mammons schlief. Seine letzten Worte waren:

»Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Wir sind noch nicht quitt!«

VI.

Der Zug raste durch die Nacht. In seinem Abteil, an einem Ende des Wagens sitzt der Abteilsschaffner zusammengekauert. In einer Tasche hat er die Fahrkarten der Passagiere, in einer anderen die Schlüssel zu den Abteilen, zu elektrischem Licht und Wärmeleitung. Er wacht, während das Salz der Erde schläft. Aber wenn der Wächter zu wachen vergißt, wer wacht dann? Vielleicht Leute, die schlafen sollten, aber anstatt dessen auf lautlosen Filzpantoffeln durch die Gänge schleichen. Was also, wenn der Kondukteur nicht wach ist? Oder wenn er erst aufwacht, sobald die lautlosen Schritte dicht neben ihm sind? Dann kann es geschehen, daß ein Schwamm, befeuchtet aus einer braunen Apothekerflasche ihm auf Nase und Mund gedrückt wird. Der Schwamm sorgt für noch besseren Schlummer, als er sonst erhofft werden könnte; für einen Schlummer, während dessen man ihm möglicherweise alle Schlüssel aus der Tasche nehmen könnte.

Das Licht im Korridor wird gelöscht, um niemanden zu wecken; das Geräusch einer Türe, die man vorsichtig öffnet, wird vom Dröhnen der Räder übertönt; und fast alle Menschen schlafen mit dem Kopf nächst der Coupétüre – das will heißen, gerade recht in Reichweite des Schwammes. Gewiß, unternehmende Leute könnten allerhand ausrichten. Sie könnten Zeit finden, einem ganzen Wagen Besuch abzustatten – ja, vielleicht – warum nicht – einem ganzen Zug.

Als der blaue Zug am nächsten Morgen an seinem Ziel eindampfte, war es ein Dornröschenzug. Um halb sechs Uhr morgens hatte er Dijon passiert. Von seiner Türe aus hatte der Oberschaffner – leicht kenntlich an seiner Mütze und seiner Uniform – »alles in Ordnung« signalisiert; kaum eine halbe Minute später war der Goldexpreß weiter durch die Morgendämmerung gesaust.

Als er zweieinhalb Stunden nachher zum erstenmal wieder stehen blieb, auf dem Lyoner Bahnhof in Paris, da gab es im ganzen Zug mit Ausnahme des Lokomotivführers keinen wachenden Menschen. Der Oberschaffner schlief in seinem Abteil im letzten Wagen, die Unterschaffner schliefen in ihren Verschlägen, alle Fahrgäste schliefen in ihren Betten – alles schlief und nichts fehlte, nur das Geld und der Schmuck sämtlicher Fahrgäste.

Polizisten und Ärzte wurden gerufen, Fahrgäste und Personal wurden einer nach dem anderen aus der Betäubung geweckt, untersucht und verhört. Niemand wußte etwas, niemand hatte irgendetwas in seinem Besitz. Irgendeinmal im Laufe der Nacht, vermutlich spät nachts, mochten eine oder einige Personen den Oberschaffner im letzten Wagen betäubt, ihm seine Schlüssel genommen und sich Zutritt in die Coupés verschafft haben. Aber wer war es gewesen? Das wußte niemand. Wo befanden sich die gestohlenen Sachen? Das konnte niemand sagen. Nur eines war sicher: keiner von den Reisenden oder vom Zugpersonal fehlte und bei keinem von ihnen war etwas zu finden. Das wurde bei der außerordentlich gründlichen Leibesuntersuchung festgestellt. Allmählich durften sich die Fahrgäste entfernen, nachdem jeder von ihnen zuerst Namen und Adresse angegeben hatte.

Philipp Collin und seine Freunde blieben auf dem Platz vor dem Bahnhof stehen und starrten sich an. »Wieviel haben Sie, Graham?«

»Nichts.«

»Und Sie Lavertisse?«

»Keinen Heller – und Sie selbst Professor?«

»Ebensoviel.«

»Wer kann das gewesen sein?«

»Ja, wer kann das gewesen sein!«

Mr. Graham murmelte zwischen den Zähnen hervor: »Ich weiß, wer es war. Dieser sogenannte Millionär. Wenn man imstande ist, Menschen, die Hungers sterben, das Brot aus dem Munde zu reißen, dann –. Was meinen Sie, Professor, wann bekommen wir das nächste Mal etwas zu essen?«

Mr. Graham bekam keine Antwort, denn in diesem Augenblick stürzte der rothaarige Engländer, Mr. Kenyon, aus der Bahnhofshalle auf die drei Freunde zu. Er legte Philipp Collin die Hand auf die Schulter und rief mit erregter Stimme:

»Da bin ich also noch zurecht gekommen! Diesmal habe ich Sie auf frischer Tat ertappt, mein lieber Professor! Denn Sie werden es doch wohl nicht wagen, zu leugnen, daß Sie und Ihre Freunde den blauen Zug geplündert haben!«


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