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Philipp Collin blickte den Detektiv an. Es gab keinen Zweifel, daß er das meinte, was er sagte. Zugegeben, seine Anschuldigung war lächerlich – aber mit der französischen Polizei ist nicht zu spaßen, wenn ihre Neugierde einmal erregt ist. Zwei Polizisten in schwarzen Pelerinen gingen vor dem Bahnhof auf und ab.
Mr. Kenyon hob bereits die Hand, um ihnen zu winken. Sollte etwas geschehen, dann mußte es rasch geschehen!
»Haben Sie wirklich die Absicht, mich verhaften zu lassen, Mr. Kenyon?«
»Darauf können Sie Gift nehmen.«
»Wegen Plünderung des blauen Zuges?«
»Vor allem deswegen. Versuchen Sie nicht erst einen Ihrer alten Kniffe!«
»Ich versuche keine Kniffe, aber ich würde es ungern sehen, daß Sie sich in geradezu heilloser Weise blamieren.«
Mr. Kenyon wurde rot. »Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, daß wir den blauen Zug nicht geplündert haben, und daß man uns ebenso bestohlen hat wie alle anderen Reisenden. Sehen Sie her!« Philipp Collin drehte seine Brieftasche um. »Das ist mein Kassenbestand.«
Lavertisse und Graham folgten seinem Beispiel. »Hier der meine!«
Mr. Kenyon lachte höhnisch. »Bah! Sie zeigen mir drei leere Brieftaschen vor und meinen, daß ich Ihnen glauben soll! Selbstredend haben Sie die Diebesbeute bei irgendeinem Komplicen versteckt. Und jetzt genug der Reden!«
In einer Beziehung glich Mr. Kenyon den Djinns aus Tausendundeiner Nacht. Er liebte es, mit seinen Opfern zu debattieren. Aber es war klar, daß er an dem Meinungsaustausch genug hatte. Mit festem Griff packte er den Professor am Arm und winkte den Polizisten.
Philipp Collin besaß noch zwei nicht sehr starke Karten. Würde er dazu kommen, sie auszuspielen, bevor die Polizisten eingriffen?
»Mr. Kenyon, Sie haben wohl bemerkt, in welchem Wagen wir gefahren sind?«
»Nur Ruhe. Wagen Nummer vier.«
»Und die Plünderer des Zuges sind im letzten Wagen gefahren! Wie können wir es dann gewesen sein?«
Die Polizeibeamten waren drei Schritte weit entfernt. Sie sahen abwartend auf Mr. Kenyon – aber Mr. Kenyon sah an ihnen vorbei auf die Bahnhofsuhr. Einige Augenblicke vergingen, in denen die Zeiger der Uhr stillzustehen schienen.
»Die Zugplünderer sind im letzten Wagen gefahren?« sagte er schließlich langsam. »Was wissen Sie davon?«
»Das ist doch logisch! Es war der einzige Wagen, in dem sie nicht Gefahr liefen, von zwei Seiten überrascht zu werden. In diesem Wagen fuhr der Oberschaffner, und in diesem Wagen fuhren die Zugplünderer; sie begannen ihre Arbeit mit dem Überfall auf den Schaffner.«
Jemand kam die Bahnhofstreppe herab. Ein Mann in Uniform mit gekränktem und erhitztem Gesicht – Chaptal, der Oberschaffner des blauen Zuges. Philipp Collin hatte einen Augenblick lang eine Leere im Gehirn gefühlt; nun verspürte er eine neue Eingebung. Schlug auch diese fehl, dann war alles verloren.
»Ich bin zwar kein Detektiv, aber wenn einem alles gestohlen wurde, dann möchte man doch gerne wissen, wer diesen Streich ausgeführt hat –«
»So?« sagte Mr. Kenyon ironisch. »Ich will edelmütig sein. Ich gebe Ihnen fünf Minuten für den Beweis, daß nicht Sie es gewesen sind!«
»Zehn!«
»Meinetwegen zehn. Aber damit Sie es nur wissen: die beiden Herren dort drüben behalten Sie im Auge, ebenso wie ich selbst.«
»Es gibt also drei, die mich im Auge behalten. Ausgezeichnet! Dann können Sie mich doch wirklich beruhigt zehn Minuten lang mit dem Schaffner dort plaudern lassen!«
Herr Chaptal kam vorbei und grüßte mit der sichtbaren Bemühung, zu lächeln. Das Trinkgeld segnend, das er am Vorabend geopfert hatte, winkte ihn Philipp herbei.
»Guten Tag. Peinliche Geschichte für uns alle – für Sie nicht am wenigsten, das kann ich mir denken. Was verlieren wir? Ein paar Päckchen Tausendfrankenscheine und etliche Diamanten. Aber was verlieren Sie? Ihren Namen, Ihren guten Namen, Herr Chaptal!«
Herr Chaptal gab mit einem diskreten Fluch zu, daß es sich so verhielt. »Wer nur diese Schurken hätte«, knurrte er.
»Wer sie hätte!« stimmte Philipp bei. »Aber wenn Sie mir ein wenig helfen wollten – ich weiß nicht, warum wir sie nicht finden sollten!«
Vier Minuten der Frist waren vergangen.
»Wieso?« fragte der Schaffner eifrig.
»Sie haben gestern die Fahrkarten der Reisenden für die Nacht übernommen. Sagen Sie mir nun: Hatten Sie heute früh alle Fahrkarten beisammen?«
»Natürlich! Dasselbe hat die Polizei gefragt.«
»Und woher wissen Sie, daß Sie alle hatten?«
»Weil die Zahl der Fahrkarten, die ich hatte, mit der Zahl der Fahrgäste übereinstimmte – und weil ich ein Protokoll führen muß.«
»Und Sie haben gestern natürlich das Protokoll geschrieben?«
Der Schaffner zog die Augenbrauen zusammen.
»Natürlich!«
»Denken Sie einmal nach, ich plaudere nichts aus. Wenn Sie mir die Wahrheit sagen, dann müssen Sie deshalb nicht zur Polizei gehen und gestehen, daß Sie gestern kein Protokoll geschrieben haben.«
Der Schaffner errötete heftig.
»Sie müssen keine Angst haben. Sie haben gestern vergessen, das Protokoll aufzunehmen und heute wissen Sie nicht, ob eine Fahrkarte fehlt.«
Sechs Minuten waren vergangen. Herr Chaptal faßte einen Entschluß.
»Ich weiß nicht, woher Sie es wissen«, murmelte er, »aber Sie haben recht!«
»Es fehlte eine Fahrkarte? Und ein Reisender im letzten Wagen?«
Herr Chaptal riß die Augen auf. »Wie können Sie das erraten?«
»Kümmern Sie sich nicht darum. Wem gehört die Fahrkarte?«
Herrn Chaptals Stimme wurde beinahe tragisch.
»Die Fahrkarte, wenn sie fehlt, gehört einer – Cook-Gesellschaft.«
»Einer Cook-Gesellschaft im blauen Zug? Ja richtig, ich habe sie ja selbst gesehen. Wie viele Personen waren es?«
»Sechs – glaube ich, aber der Gesellschaftsführer sagt, es waren nur fünf – und heute waren es nur fünf!«
Achtundeinehalbe Minute waren vergangen. Philipp Collin stellte es fest, und ohne zu zittern fuhr er fort. »Noch eine Frage, Herr Chaptal: Haben Sie sich zwischen Lyon und Dijon schlafen gelegt?«
Wie vom Winde verweht verschwand alles Wohlwollen aus dem Antlitz des Oberschaffners. Er war einem Unglücksfall zum Opfer gefallen! Gewiß! Aber er stand zu lange im Dienst der Gesellschaft, als daß sich jemand erlauben durfte, ihm Pflichtversäumnis vorzuwerfen!
»Herr Chaptal«, sagte Philipp langsam, »als der Zug Dijon passierte, hat ein Mann in Uniform ›Alles in Ordnung‹ signalisiert. Die Polizei ist der Meinung, Sie waren das, weil Sie selbst es behaupten – und Sie behaupten es – weil Sie fürchten, man könnte Ihnen Fahrlässigkeit vorwerfen. Aber wenn Sie signalisiert haben, dann waren Sie ja im Einverständnis mit den Verbrechern, das läßt sich leichter beweisen, als daß zweimal zwei – vier ist. Waren Sie nun derjenige, der signalisiert hat? Oder haben Sie zwischen Lyon und Dijon geschlafen?«
Noch fehlten einige Sekunden auf zehn Minuten.
»Ich –«
»Haben Sie geschlafen oder haben Sie wach gelegen?«
Zehn! Philipp stieß einen Seufzer aus und wandte sich dem Detektiv zu.
»Mr. Kenyon, ich muß Ihnen sicherlich über das eben Gehörte keine Erläuterungen geben. Der blaue Zug wurde heute Nacht zwischen Lyon und Dijon geplündert. Die Verbrecher reisten in Form einer Cook-Gesellschaft. In Dijon stieg einer von ihnen mit der Beute aus, während einer seiner Komplicen die Uniform des Schaffners anlegte und dem Stationspersonal ›Alles in Ordnung‹ signalisierte.«
Mr. Kenyon strich sich über die Stirn. »Cook«, sagte er, »eine Verbrecherbande, die mit Cook-Fahrscheinen reist, unmöglich!« Er erwachte aus seinen Gedanken und winkte einem Auto. Die beiden Herren in Pelerinen rückten näher.
»Sollen diese beiden Herren mitfahren?« fragte Collin.
Mr. Kenyon gab dem Auto ein Zeichen, zu warten. »Ein Wort mit Ihnen, Professor, bevor es sich entscheidet, wieviel wir im Auto sein werden.«
Philipp nickte. Die Schlacht war allem Anschein nach schon verloren gewesen. Da sie noch nicht verloren war, war sie so gut wie gewonnen.
»Sie behaupten also«, begann Mr. Kenyon, »das Opfer eines noch größeren Schwindlers zu sein, als Sie selbst einer sind?«
»Ungefähr!«
»Daß Sie im Augenblick keinen Heller haben?«
»Sehr richtig!«
»Und Sie haben niemand, an den Sie sich in einer solchen Lage wenden könnten?«
»Nein, nicht einmal das Konsulat.«
»In diesem Fall, lieber Professor, frage ich Sie eins: Was gedachten Sie und Ihre Freunde zu unternehmen, wenn ich nicht aufgetaucht wäre?«
»Schon bevor Sie kamen«, erwiderte Philipp Collin, »habe ich einen Entschluß gefaßt, die Zugplünderer zu finden und ihnen mein Geld wieder abzunehmen.«
»Großartig! Professor Pelotard als Detektiv, der Kollegen verhaftet. Es wäre ewig schade, solche Pläne zu durchkreuzen. Ich gedenke es jedenfalls nicht zu tun. Haben Sie verstanden?«
»Sie meinen, wir könnten also so lange frei herumgehen, bis es uns gelingt, unsere Absichten auszuführen – ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen, natürlich. Nicht wahr?«
Der Detektiv nickte mit ironischer Zustimmung.
»Eines verstehe ich nicht«, fuhr Collin fort. »Wie wollen Sie uns kontrollieren?«
Der Detektiv lachte trocken.
»Sehr einfach, ich lasse Sie nicht aus den Augen. Ich folge Ihnen, wo Sie stehen und gehen.«
Herr Collin applaudierte »Bravo! Und wenn die französische Polizei uns erwischt und Sie mitgefangen, mitgehangen werden?«
Mr. Kenyon lachte grimmig. »Ich bin bei der Polizei gut angeschrieben. Was gedenken Sie zuerst zu tun?«
»Ich gedenke, zu frühstücken. Sie wollten uns doch zu einer Autofahrt einladen? Wenn das Auto zum Hotel Cesarini fahren kann, wird es mir ein Vergnügen sein, Sie zu einem kleinen Essen einzuladen.«
Mr. Graham, der bis dahin kein Wort gesprochen hatte, hob den Kopf wie ein erprobtes Schlachtroß beim ersten Trompetenstoß.
»Lunch! Bei Cesarini! Das erste vernünftige Wort, das ich heute höre. Chauffeur, fahren Sie wie der Teufel!«
Am Eingang des Riesenhotels griff Kenyon nach Herrn Collins Arm und sagte mit gerunzelten Augenbrauen:
»Nochmals, mein lieber Professor, Sie sind sich doch darüber klar, daß es mein Ernst ist! Bei dem nächsten Versuch, mir einen Streich zu spielen –«
Philipp Collin reichte ihm die beiden Handgelenke hin. »Verhaften Sie mich oder verhaften Sie mich nicht! Aber Sie können nicht gleichzeitig mit mir eine Verabredung treffen und mich bedrohen. Sie sagen, ich muß ehrlich leben. Schön! Der Flug der Vögel scheint etwas ähnliches anzudeuten. Gehen wir jetzt in den Speisesaal und sehen wir nach, ob die Eingeweide der geschlachteten Tiere dasselbe verkünden –«
Mr. Kenyon blieb an der Türe stehen. »Aber Sie haben ja kein Geld!«
»Welche Bemerkung für einen Gast! Hier ist der Weg zum Speisesaal! Einen Augenblick.«
Philipp wechselte rasch einige Worte mit einem Hotelangestellten und schob seine Gäste vor sich in den Speisesaal des Hotels Cesarini.
»Was sagten Sie zu diesem jungen Mann?« fragte Kenyon mißtrauisch.
»Ach nichts! Ich fragte nur, ob ein Gast, der hier erwartet wird, schon eingetroffen ist.«
»Einer Ihrer Freunde?«
»Das kann man eigentlich nicht sagen. Ein Mann, den ich heute morgen im Zug gesehen habe. Oberkellner, können wir die Speisekarte haben?«
Ein sich verbeugender Oberkellner legte Speise- und Weinkarte vor. Mit gesenkter Stimme gab Philipp einige Aufträge.
»Ich habe ein richtiges solides Gabelfrühstück bestellt«, teilte der Gastgeber mit. »Nicht wahr, Graham, wir benötigen etwas Stärkendes?«
Mr. Graham bejahte die Frage, indem er die Brötchen des Gedecks mit Salz bestreut hinunter schlang.
Der Kellner brachte Ham-and-eggs, geröstete Nieren, gebratene Makrelen, Käse und Toast. Allmählich erlahmten die Kräfte Mr. Grahams und der Kaffee kam.
»Und nun«, sagte der Detektiv mit malitiöser Genugtuung, »der Clou der Mahlzeit!«
»Gestern abend im blauen Zug, da hatte ich Geld in Hülle und Fülle, aber konnte nichts zu essen bekommen, weil ein Millionär den ganzen Wagen für sich allein reserviert hatte. Heute habe ich gegessen, aber ich habe kein Geld, zu bezahlen. Das Leben ist tatsächlich voller Ironie, Mr. Kenyon!«
»Wann gedenken Sie dann die Rechnung zu bezahlen?«
»Ich weiß nicht, ob es Ihnen schon aufgefallen ist: in allen großen Hotels des Kontinents geht man davon aus, daß ein Gast, der im Speisesaal des Hotels ißt, im Hotel wohnt. Vor der Mahlzeit fragt der Kellner, welche Zimmernummer der Gast hat und alles Bestellte wird auf die Zimmernummer geschrieben. Infolgedessen müssen wir nicht erst auf die Rechnung warten, Mr. Kenyon.«
Der Detektiv sah ihn scharf durch seine Augengläser an. »Sie haben dem Kellner eine Zimmernummer angegeben?«
»Jawohl. Haben Sie das nicht bemerkt?«
»Wohnen Sie im Hotel?«
»Nein!«
»Dann haben Sie das Frühstück auf das Zimmer eines anderen Gastes schreiben lassen?«
»Ich habe das Frühstück jener Persönlichkeit aufschreiben lassen, die mich und meine Freunde daran hinderte, zu essen, als wir hungrig waren und bezahlen konnten.«
Kenyon erhob sich halb vom Tisch.
»Dem Millionär? Dem Griechen?«
»Jawohl. Ich wußte, daß er in diesem Hotel wohnen würde. Das ist Lavertisses Verdienst. Ehe wir den Speisesaal betraten, fragte ich beim Portier nach der Nummer seines Zimmers. Herr Argyropoulos hat mich um mein Mittagessen gebracht, er hat mich dafür mit einem Frühstück bewirtet. Wir sind quitt!«
Kenyon stierte seinen Gastgeber unverwandt an. »Sie unglaublicher Schwindler! Natürlich muß ich Sie arretieren – aber –«
Philipp Collin unterbrach ihn. »Haben wir jetzt nicht ernstere Verpflichtungen, Mr. Kenyon? Was bedeutet ein Frühstück, das zufällig auf ein falsches Zimmer geschrieben wird? Wenn wir die Zugplünderer gefangen haben, will ich eventuell das Frühstück bezahlen.«
»Wenn Sie das erreichen«, knurrte der Detektiv mit sichtlicher Selbstüberwindung, »verspreche ich Ihnen, vorläufig dieses Frühstück auf das gleiche Konto zu schreiben, wie Ihre anderen Heldenstücke.«
»Und wenn ich es nicht erreiche?« ergänzte Philipp, »dann weiß ich auch, was geschieht. Wir werden anderswo zu Mittag essen als bei Cesarini.«
Lavertisse stieß einen Ruf aus. »Sehen Sie her, das habe ich zwischen dem Futter und dem Stoff meiner Westentasche gefunden!« Er zeigte einen Fünfzigfrankenschein.
»Das ist schön, Lavertisse, legen Sie das als Trinkgeld für die Bedienung auf den Tisch. Das ist sicherlich mehr, als sie von dem Millionär bekommen hätte.«
Philipp Collin blieb in der Halle vor einer Autokarte von Frankreich stehen, maß einige Entfernungen ab und begann nachzurechnen: »Spätestens in einer Stunde müßte er hier sein. Kommt er nun in einem eigenen Auto oder hat er sich ein Auto gemietet?«
»Was murmeln Sie da in sich hinein?«
»Ich denke nur laut, Mr. Kenyon. Wohin kann er sich wenden, wenn er nach Paris kommt? Da kann man nur Vermutungen anstellen. Dieses Unternehmen war ganz genau vorbedacht. Das Sprichwort sagt, daß der Verbrecher den Ort der Tat umkreist. Sagen wir doch ebensogut: die Opfer der Tat. Man weiß, wo das Opfer wohnt. Ha ha! Wo das Aas ist, versammeln sich die Geier – und wer kommt denn dort, wenn nicht das Aas? Lavertisse, Graham, Mr. Kenyon! Es ist Zeit, zu verduften. Herr Argyropoulos hält seinen Einzug in das Hotel.«
Der Türhüter des Hotels »Cesarini« hatte Gelegenheit, sich über den Eifer zu wundern, mit dem drei Herren plötzlich dem Ausgang zustrebten. Sie hatten es sich anscheinend in den Kopf gesetzt, das Gesetz der Physik umzustoßen, welches ausschließt, daß mehr als ein Körper gleichzeitig den gleichen Raum einnehmen kann. Ihren Spuren folgte ein vierter Herr mit schwarzem Schnurrbart, der sich über ihre Eile herzlich zu belustigen schien. Auf der Straße angelangt, blieb er stehen. Die drei anderen Herren wandten sich voll Ungeduld um.
»Beeilen Sie sich doch, Professor!«
Herr Collin schüttelte den Kopf. »Ich warte auf ein Auto.«
»Warum versteifen Sie sich darauf, hier stehen zu bleiben?«
»Erstens, weil ein gewöhnliches Auto etwa sieben Stunden von einem bestimmten Punkt nach Paris braucht, und zweitens, weil da wo das Aas ist, sich auch die Geier versammeln.«
»Aber wenn der Millionär in den Speisesaal geht, um zu frühstücken, dann wird doch alles –«
»Er ißt nicht im Speisesaal! Der Kellner im Speisewagen sagte, er kann es nicht vertragen, andere Menschen essen zu sehen! Er speist in seinen Zimmern und nichts wird entdeckt. Bevor ich die Halle verließ, habe ich mich beim Portier nach einer wichtigen Sache erkundigt. Die Kontrollbuchstaben der Autos von Dijon sind B G. Solange ich nicht ein Auto mit diesen Buchstaben hier anrollen sehe, weiche ich nicht von diesem Fleck.«
»Erwarten Sie etwa die Zugplünderer hier?«
»Jawohl!«
»Was gedenken Sie zu tun, wenn sie sich zeigen?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Wollen Sie sie verhaften lassen?«
»Vielleicht.«
Mr. Kenyon sah den Professor unschlüssig an. Anscheinend fragte er sich, ob man ihn wohl zum besten hielt. Eine Viertelstunde verging, ohne daß sich etwas ereignete. Leute strömten in das Hotel und Leute strömten aus dem Hotel, aber keiner kam, um Rechenschaft für das Frühstück zu fordern. Autos mit schönen Frauen und stattlichen Männern blieben stehen und rollten vorüber, aber keines von denen, das stehen blieb, trug die Kennzeichen B G. Als eine halbe Stunde verflossen war, unterbrach Philipp das Schweigen.
»Sagen Sie mir, Lavertisse, Sie waren doch im letzten Wagen. Haben Sie sich diese Cook-Gesellschaft näher angesehen?«
»Nein. Wer sieht sich denn schon eine Cook-Gesellschaft näher an?«
»Richtig! Selbstredend haben sie deshalb diese Verkleidung gewählt!«
Mr. Kenyon schnaubte: »Eine Cook-Gesellschaft als Zugplünderer! Wie konnte ich nur einen Augenblick an diese Geschichte glauben! Wenn die Gesellschaft nicht bald in Sicht kommt, mein bester Professor, dann muß ich zu meinem Bedauern –«
»Hier!« rief Philipp Collin. »Habe ich mir's nicht gedacht! Lavertisse! Graham! Verlaßt mich nicht, was auch geschehen mag!«
»Vergessen Sie mich nicht«, erinnerte der Detektiv. »Wer Sie auch verlassen mag, ich jedenfalls nicht! Aber was haben Sie denn gesehen?«
Philipp Collin streckte die Hand aus. Ein graugrünes, bestaubtes Tourenauto rollte langsam die Straße entlang. Die Kontrolltafel zeigte die Nummer B G 859.
Immer langsamer glitt das Auto vorwärts. Sein Insasse, ein Herr mit Sonnenbrille und dunklem Bart betrachtete aufmerksam die Umgebung, erhob sich und ließ den Chauffeur halten. Gleichzeitig gab er hastig ein Zeichen nach dem Gehsteig zu, überreichte dem Fahrer einige Noten und ging auf das Hotel zu. Ein anderer Herr näherte sich eilends dem Wagen. Er trug eine Sportmütze und einen Reise-Ulster; ebenso wie bei dem früheren Fahrgast war sein Antlitz von einem starken Bart umgeben. Bevor er noch an das Auto herangelangt war, stand Philipp davor.
»Chauffeur, ich nehme den Wagen!«
Im nächsten Augenblick war der Herr im Reise-Ulster herangekommen. »Dieses Auto gehört mir!«
»Verzeihen Sie, aber das Auto gehört mir. Ich habe soeben den Chauffeur gemietet.«
»Und ich habe dem Chauffeur vom Gehsteig aus gewinkt. Nicht wahr, Chauffeur?«
Der Fahrer sah von einem zum anderen. »Dieser Herr ist zuerst gekommen«, sagte er und zeigte auf Philipp. »Aber ich habe auch gesehen, wie der andere Herr vom Gehsteig aus gewinkt hat.«
»Jawohl, das habe ich!« rief der Mann im Reise-Ulster.
»Das hat er«, bekräftigte der frühere Fahrgast des Autos, der zurückgekehrt war. »Sie müssen sich ein anderes Auto nehmen, mein Herr.«
»Denselben Rat gebe ich Ihnen«, sagte Philipp. Ohne weiteres schob er Mr. Graham in das umstrittene Fahrzeug. Lavertisse kam auf einen Wink von ihm nach. Wütend drangen die beiden anderen Herren auf ihn ein.
»Das geht zu weit, mein Herr! Sie werden das Auto sofort räumen!«
»Niemals!« rief Philipp wütend und schob Mr. Kenyon hinauf. »Das Auto gehört mir und ich beabsichtige, damit zum Concordiaplatz zu fahren. Wollen Sie mir das Recht dazu streitig machen, dann müssen sie sich schon an die Polizei wenden, verstanden? Zum Concordiaplatz! Fahren Sie, Chauffeur!«
Das Auto flog davon. Die ganze Episode hatte kaum drei Minuten gedauert. Lavertisse und Graham blickten ihren Chef verständnislos an. Mr. Kenyon erholte sich langsam von der Überrumpelung.
»Was sind das für Streiche? Waren das die Zugsplünderer? Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?«
»Sehen Sie nur!« flüsterte Philipp.
Mr. Kenyon wandte sich um. Das Tourenauto, das sie mit solcher Mühe erobert hatten, sauste die Champs Elysées entlang. In dem quirlenden Strom von Wagen und Benzindämpfen erblickten sie fünfzig Meter hinter sich ein Mietauto mit zwei Fahrgästen. Jeder von ihnen hing bei einem Fenster hinaus. Ihre Gesichter waren unverwandt dem Auto B G 859 zugekehrt. Es waren die beiden Herren, die Philipp Collin das Recht auf das graugrüne Tourenauto streitig gemacht hatten. Kein Zweifel, Philipp und seine drei Begleiter wurden verfolgt.
Sie bogen jetzt mit hundert Meter Vorsprung auf den Concordiaplatz ein. Philipp rief dem Chauffeur zu, stehen zu bleiben und sprang heraus. Die anderen folgten seinem Beispiel.
»Hier, Chauffeur!«
Sie sahen, wie er dem Chauffeur drei Zehnfranken-Scheine gab und hatten kaum noch die Möglichkeit, sich zu wundern, woher diese Scheine kamen, als er sie schon in den Schatten einer Statue zurückzog.
»Seht! seht!« flüsterte er.
Im gleichen Augenblick fuhr das Mietauto an das graugrüne Tourenauto heran. Zwei Herren sprangen heraus, gaben dem Fahrer einige Münzen und stürzten sich ohne Zögern in das Auto B G 859. Sie riefen dem Lenker ihren Auftrag zu und das Auto sauste davon.
»Die haben es aber eilig!« sagte Philipp. »Wenn sie eine gewisse Entdeckung gemacht haben werden, dürften sie es ebenso eilig haben, zurückzukommen. Tauschen wir die Rollen! Chauffeur, zum Hotel Cesarini!«
Er drängte seine Begleiter in das freie Auto. Abermals sausten sie die Straße entlang, diesmal in umgekehrter Richtung. Plötzlich zog Philipp ein schwarzes Ding hervor – ein Wachstuchfutteral, das eher wie ein Reise-Necessaire als wie eine Brieftasche aussah. Zärtlich streichelte er es mit der Hand.
»Ist das nicht ein schöner Anblick?« sagte er.
Mr. Kenyon fing an, sich zu erholen. »Was bedeutet das?« stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Was ist das für eine Brieftasche?«
Philipp Collin fuhr fort, die Brieftasche mit den Augen zu liebkosen. »Sie ist groß genug für einen Millionär«, sagte er. »Sie gehört auch einem Millionär, zumindest teilweise. Es ist das Corpus delicti, der Raub aus dem blauen Zug.«
Der Detektiv starrte ihn an. »Sie gestehen ein, daß Sie den Raub vom blauen Zuge in der Hand halten? Sie haben die Brieftasche natürlich ganz unvermutet in Ihrem Sack gefunden!«
»Nicht in meinem Sack und nicht unvermutet. Ich habe sie da gefunden, wo ich mir gedacht habe, daß sie sein würde – in dem grauen Auto.«
Der Detektiv setzte sich auf. »Erzählungen!«
»Nein, keine Erzählungen. Denken Sie doch nach, dann werden Sie einsehen, wie logisch die Angelegenheit ist. Zwischen Lyon und Dijon wird der Zug geplündert – Wagen für Wagen. Als der Zug in Dijon hält, gibt einer der Plünderer in der Uniformjacke und der Mütze des Oberschaffners das Signal ›Alles in Ordnung‹. Ein anderer springt mit der Beute heraus. Warum sie nicht alle zusammen hinausgesprungen sind, ist wohl ebenso klar wie, warum sie nicht zusammen mit der Beute nach Paris fahren wollten. In Dijon mietet sich der Mann mit der Diebesbeute ein Auto und fährt nach Paris. Ein eigenes Auto konnten sie nicht verwenden, da sie ja im Voraus nicht wissen konnten, wann und wo sie mit der Plünderung des Zuges fertig sein würden. Während der Autofahrt nach Paris sortiert der Mann die Beute und verbirgt das Beste daran in dieser Tasche. Der größte Teil davon stammt von Herrn Argyropoulos. Zweifellos war auch das Attentat seinetwegen erfolgt. In Paris handelt es sich nun darum, die Beute jemand anderem zu übergeben. Der Mann, der in Dijon ausstieg, konnte ja verfolgt werden. Dazu hatten sie sich nun einen sehr einfachen Weg ausgedacht: Der Mann aus Dijon sollte mit dem Wagen an einem vereinbarten Punkt halten, hier aussteigen und im Gewühl verschwinden. Einer seiner Freunde sollte einsteigen, die im Auto versteckte Beute übernehmen, ein Stück weiterfahren, aussteigen und verschwinden. Auf diese Weise sind alle Spuren verwischt, und alles wäre so gegangen, wie sie es sich dachten, wenn nicht –«
»Wenn nicht Sie dagewesen wären«, schnaubte der Detektiv. »Wollen Sie behaupten, daß Sie sich das alles schon vorher ausgeklügelt hatten?«
»Nein. Ursprünglich wußte ich nur, daß der Mann aus Dijon im Auto hier herkommen und seine Freunde an einem vereinbarten Punkt treffen würde. Schwierig war es nun, zu erraten, wo dieser Punkt sein könnte. Doch wo wird man am wenigsten bemerkt – wo das Gewühl am größten ist, und wo ist das Gewühl größer als vor einem Riesenhotel? Darum und weil Herr Argyropoulos bei Cesarini wohnt, und weil die Geier die Nähe des Aases lieben, kam mir der Gedanke, die Begegnung könnte möglicherweise vor Cesarini stattfinden. Endlich kam das Auto. Der Mann, der darin saß, gab ein Zeichen und sprang heraus und ein anderer eilte hinzu, um einzusteigen. Da erfaßte ich den Zusammenhang! Daß ich richtig vermutet hatte, erkannte ich, als sie mich beinahe mit Brachialgewalt daran hindern wollten, das Auto zu nehmen. Natürlich vermuteten sie nichts anderes, als daß ich ein Choleriker wäre, der einfach seinen Willen durchsetzen wollte – und am Concordiaplatz konnten sie ja ihr Auto wiederbekommen. Sie bekamen es auch – aber nicht das hier!«
Neuerdings liebkosten Philipps Augen das schwarze Wachstuchfutteral. Mr. Kenyon starrte abwechselnd ihn und die Brieftasche an. »Sie haben sie im Auto gefunden?«
»Jawohl. Gut verborgen an der Stelle, wo ich sie vermutete: Zwischen Sitz und Rückenlehne. Und nun möchte ich mir gestatten, Ihnen, Mr. Kenyon die Diebsbeute aus dem blauen Zug zu übergeben. Ich habe mir gestattet, das zurückzunehmen, was man mir und meinen Freunden genommen hatte. Hier ist der Rest – bitte sehr!«
Er reichte ihm das Futteral. Der Detektiv öffnete es und erblickte eine Flut von Banknoten, Ringen und Armbändern.
»Sie spielen den Detektiv ausgezeichnet, Herr Professor, aber Sie begehen einen Fehler: Sie spielen zu gut. Denken Sie nicht, daß ich diese Finte durchschauen könnte?«
»Was ist das für eine Finte, die Sie durchschaut haben, Mr. Kenyon?«
»Sie waren selbst derjenige, der auf das Auto aus Dijon gewartet hat – als Anführer der Verbrecher. Nun wollen Sie sich von mir freikaufen, indem Sie die Diebesbeute zurückgeben. Aber so wahr ich hier in diesem Auto sitze –«
»Lavertisse! Graham!« sagte Philipp, »ich meine, wir haben genug von dieser Gesellschaft! Eins, zwei, drei –«
Schon vorher hatte Lavertisse auf ein Augenzwinkern Philipps hin dem Chauffeur durch das Fenster eine Weisung gegeben, und das Auto war in eine stille Quergasse eingebogen. Plötzlich fühlte sich Mr. Kenyon von sechs starken Armen ergriffen, der Wagen verlangsamte seine Fahrt, eine Tür wurde geöffnet, und bevor der Detektiv noch wußte, wie ihm geschah, taumelte er über die Straße, das schwarze Wachstuchfutteral in der Hand.
Und ehe sich das Auto in Bewegung setzte und verschwand, hörte er Herrn Collin rufen:
»Das gestohlene Gut habe ich herbeigeschafft – die Zugplünderer können Sie selbst finden. Und bezahlen Sie für alle Fälle das Lunch bei Cesarini! Das nächste Mal ist die Reihe an mir, Sie einzuladen.«