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Es war die Stimme von Herrn Berglund, die auf der anderen Seite des Kistenstapels in gedämpftem Tone sagte: »Ich kann Ihnen versichern, Herr Ström, es ist nicht mehr eine Frage von Wochen oder Monaten, nein, knapp von ein paar Tagen. In jedem Augenblick kann es über uns losbrechen. Es hat keinen Sinn, zu behaupten, so was darf und kann nicht geschehen. Haben wir nicht schon das Unmöglichste erlebt? Ein Kind muß ja sehen, wohin das führt. Die Roten sind im Begriff, die Stadt mit ihren Horden einzukreisen. Der nächste Zug nach Norden ist vielleicht schon der letzte. Ich reise heute abend. Zur Kriegsschule und zum Bauernheer nach Österbotten hinauf. Heute früh war ich beim Chef, um mich zu verabschieden. Er ist solche Abreisen jetzt ja gewohnt. Aber ein feiner Kerl ist er doch, das muß ich schon sagen. Vollen Lohn für die ganze Zeit, der Arbeitsplatz wird offen gehalten, und außerdem noch Unterstützung für die Familie, wenn einer verwundet wird. Ich möcht mal wissen, ob in irgendeinem anderen Geschäft hier in der Stadt ...«
»Aber zum Kuckuck, hier wird ja alles leer!« empörte sich Herr Ström, der Lagerverwalter. »Der eine reist, und der andere reist, und bald haben wir keinen einzigen Christenmenschen mehr hier im Lager, bloß noch diese roten Banditen. Wohin soll das führen, frage ich Sie! Der Dienst kommt vor allem anderen, der Dienst!«
»Nein, das Vaterland! Herr Ström.«
Der Lagermeister brummte irgend etwas, aber das konnte man nicht mehr verstehen. Die Schritte verhallten in der Richtung gegen die Zementabteilung und kamen dann noch einmal auf der anderen Seite hinter der aufgestapelten Kistenmauer zurück; es sprach jedoch keiner. Nur der Lagermeister schnaufte ab und zu wie ein wütender Hund.
Onni Kokko stand da und hielt in der einen Hand eine Bratpfanne, in der anderen ein großes Knäuel Holzwolle. Er war damit beschäftigt, eine neu angekommene Sendung auszupacken. Jetzt um die Mittagszeit war es leer im Eisenlager, aber der Lagermeister hatte sicher vergessen, daß er ihn gebeten hatte, Sonnabends, wenn viel auszupacken war, später zu essen. Auf einmal verstand er auch, warum so viele Angestellte in der letzten Zeit schweigend und ohne Erklärung aus dem Geschäft verschwunden waren. Österbotten, Kriegsschule ... Und heute wollte Herr Berglund reisen.
Er legte die Bratpfanne oben auf den Stapel zu den anderen und setzte sich im Schutze des hohen Kistenberges in die aufgehäufte Holzwolle. Er mußte nachdenken. Nicht mehr Wochen oder Monate, kaum noch Tage ...
Da plötzlich hörte er wieder Schritte auf der anderen Seite, und bevor er sich besinnen und aus seiner weichen Grube hoch kommen konnte, schwenkten die beiden Herren um die Ecke zu ihm ein. Er erhob sich, griff an die Mütze und watete zu seiner Kiste. Aber obschon er eine ganze Weile darin herumgrub, blieben die beiden Herren dort unbeweglich stehen. Sie starrten zu ihm herüber, ohne daß einer ein Wort sagte. Etwas Unbehagliches lag in der Luft.
Durch den Haufen von lockerer Holzwolle, den er an einer Seite der Kiste aufgetürmt hatte, schielte er zu ihnen hinüber. Herr Berglund war etwas rot im Gesicht, während das fette Antlitz des Lagermeisters bleicher als sonst erschien, und dazu riß er bestürzt die Augen auf, als wolle er nach seiner Gewohnheit sagen: der leibhaftige Satan ...
»Hast du ... lange hier gesessen?« fragte Herr Berglund.
Da zog Onni die Mütze ab, klopfte die gröbste Holzwolle von seinen Kleidern und ging auf sie zu. »Herr Berglund«, sagte er, »ich bin kein Angeber. Und der Lagermeister kann meinetwegen unbesorgt sein.«
*
Auf dem gewohnten Wege wanderte er von der Stadt heimwärts. Kalt und grau begann die Dämmerung sich herabzusenken, und der Schnee war von dem gleichen schmutzigen Grau wie der Himmel. So eigentümlich still war es überall, als ob die Menschen sich verborgen hielten und auf etwas warteten ... Wo blieb die übliche Arbeiterkarawane aus der Stadt, der langsame Marschtritt schwarzer Gestalten durch den Schnee? Er sah sich um. Nein, heute schien niemand zu kommen, und doch war es gerade die Stunde. Er war allein auf dem Weg. Außer ihm nur ein paar alte Weiber, die eine Waschbütte schleppten und miteinander zeterten.
Und wo blieben die Pfiffe und Geräusche von der Bahn? Er stand, horchte und wartete.
Die Züge fuhren nicht.
Sollte Herr Berglund so schnell recht behalten haben? Dann war der selbst auch nicht mehr mitgekommen.
Alles schien unter dem Druck irgendeiner Erwartung zu stehen. Ihm war, als sei er selbst samt der ganzen Welt in einen gewaltigen Sack eingeschnürt, in dem man sich weder zu rühren wagte, noch rühren konnte. Aber der Sack mußte platzen – beim Satan und hundert Russenregimentern, der sollte platzen! Ein Loch würde er hineinstoßen; mit Zähnen und Messern wollte er ihn aufschlitzen! So ging es nicht weiter. Er für sein Teil mußte hinaus, hinaus aus dem Sack!
Er setzte seinen Weg fort, er lief beinah. In seinem Hirn rang ein alter Schmerz, den er allein kannte, mit etwas unbekanntem Neuen, für das er noch keinen Namen wußte. Er hatte es eilig, nach Hause zu kommen. Dort sollte der Kampf entschieden werden. Dort sollte der Sack platzen.
Nun tauchte in der Ferne auf dem Weg ein schwarzer Haufen Menschen auf. Er sah, es waren Männer in Reihen zu vieren. Sie marschierten auf die Stadt zu. Schon von weitem waren die Gewehre erkennbar, die sich über den schwankenden Hüten gegen den Schneehintergrund abzeichneten. Vier, acht, sechzehn, vierundzwanzig ...
Er trat zur Seite, um sie vorbeizulassen. Alle trugen rote Binden am Arm. Da waren Piilonen und Hellman und Mäkinens Lauri – da waren Bekannte und Unbekannte drunter. Wie merkwürdig fahl und unheimlich ihre Gesichter erschienen, und alle sahen starr geradeaus in die Luft, nach der Stadt hin. Einige klapperten mit den Zähnen. Ob sie froren? An der Spitze des Zuges marschierte ein Russe in zerfranster Schaffellmütze und schlug mit gezogenem Revolver den Takt: eins-zwei, eins-zwei ...
Gleich hinter ihnen folgten noch zwei Rotgardisten. Der eine war Kalle Mäkinen. Sie führten zwischen sich einen barhäuptigen Gefangenen, den ersten Buchhalter vom Bahnhof.
Kalle ging ganz dicht an ihm vorbei und gab seinem baumelnden Gewehr einen Stoß, daß der Kolben Onni in die Seite traf. Dann wendete er sich um und spuckte einen langen Strahl nach ihm, aber der wurde vom Winde weggeführt und verfehlte sein Ziel. – Allmählich war Wind aufgekommen, immer heftiger fauchte er, wirbelte den Schnee auf und summte in den Telephondrähten. Schattend senkte sich die Dunkelheit darüber.
Was für ein merkwürdiger Samstagabend war das zwischen den Häusern und Hofplätzen! Jede Hütte glich einem überkochenden Kessel. Das brodelte und zischte in ihnen von saftigen Flüchen und schrillem Weiberlachen; die dünnen Fensterscheiben zitterten und klirrten und ließen den Lärm ins Dunkel hinaus. Türen flogen auf, Stiefelabsätze und Büchsenkolben dröhnten hastend wie Trommelwirbel über die Treppen, schwarze Gestalten tauchten in den Türen auf und verschwanden. Hier und da standen Wachtposten, Gewehr bei Fuß, und sogen an dicken Zigaretten, aus denen der Wind sprühende Funken riß.
Im Vereinshaus ächzte der Boden unter Marschtritten. Eine wütende Stimme brüllte Kommandos: »Eins-zwei, eins-zwei ... Halt!« Dann folgte das dumpfe Poltern aufgesetzter Gewehrkolben.
Onni Kokko hastete vorbei.
Als er zu Hause die Stubentür öffnete, traf sein erster Blick auf den Russen. Aber er wollte heute abend alles ertragen, und so setzte er sich geduldig hin und sah zu, wie man zu Ehren dieses schmierigen Feldwebels ein Freudenfest feierte.
»Eigentlich ist dies das Verlobungsessen für deine Schwester«, sagte die Mutter. »Was für einen bedeutungsvollen Tag wir dazu gewählt haben, will ich dir erklären. Von heute ab beginnen nämlich auch in diesem Sauland hier bessere Zeiten.«
»Prost, Prost, bess're Sseiten!« rief der Russe. Er schwenkte eine große Kognakflasche, und der Schweiß rann über sein gerötetes Gesicht. Selbst Onkel Isak nickte ihm beinah freundlich zu, setzte die Flasche an und ließ ein wohlgefälliges »Äh!« vernehmen. Anna hatte ihr feinstes Sonntagskleid an, mit einer blutroten Schleife an der Brust; sie klatschte wie besessen in die Hände und fiel ihrem dreckigen Feldwebel um den Hals. Quer über den Tisch weg küßten sich die beiden, daß es nur so knallte. Da brummte Onkel Isak etwas verlegen und guckte weg, aber die Mutter lachte bloß.
Nach einigen weiteren Schnäpsen sprang der Russe auf, nahm sein Gewehr aus der Ecke, stellte sich etwas schwankend mitten in die Stube und begann Griffe zu kloppen. Dann hantierte er am Gewehrschloß, warf sich hin, schrie und schauspielerte. Er spähte zum Ofen hin: »Weiße Deibeln – batsch! – adjee ...« Hinterher stießen sie wiederum auf eine merkwürdige Sache an, die Onni nicht verstand. – »Kommunismus, Urrah!« schrie der Russe.
All das sah er sich geduldig mit an; und als die Mutter sich zu ihm wendete und sagte: »Na, Onni, 's wird Zeit, daß du hingehst und dich auch wie alle anständigen Menschen in die rote Garde einschreibst«, da antwortete er nur: »Das eilt wohl nicht so.«
Kurz nach Mitternacht raffte sich der Russe schwankend auf und verabschiedete sich. »Ich geh' mit und begleite ihn noch ein Stückchen«, sagte Anna. Das hieß, daß sie erst im Morgengrauen nach Hause kommen würde.
Der Russe nahm aber sein Gewehr nicht mit, als er ging. Es blieb in der Ecke stehen, und daneben auf dem Fußboden lag eine rote Armbinde.
»Gehörst du zur roten Garde, Onkel?« fragte Onni vorsichtig.
»Ich gehör' nicht gerade zu den Leuten, die Gefallen dran finden, auf Menschen zu schießen«, antwortete Onkel Isak. »Aber siehst du, mein Junge, hier geht es jedenfalls um unsere Klassenidee. Und nun wollen wir mal lieber schlafen gehen.«
Onni sah ihn mit einem seltsamen Blick an, in dem sich Zärtlichkeit und Mitleid stritten. Er schien etwas sagen zu wollen, aber Onkel Isak merkte es nicht.
Er hatte sich auf die Bettkante gesetzt und zog die Stiefel aus. Die Mutter war schon drinnen in der Kammer. Die Wanduhr tickte ihre eintönige Weise, Minute um Minute. Onni Kokkos Herz pochte immer heftiger.