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IV.
Die schwarze Sybilla.

Noch graute der Morgen nicht, als aus einer Hintertüre des gräflich Cedernsteinschen Palastes ein Mann hervortrat, einen schnellen Blick auf die Fenster des ersten Stockwerks warf und dann rasch durch den Garten schlüpfte. Er hatte offenbar das Bestreben, nicht gesehen zu werden. Das war nicht schwer, denn es war noch dunkel, und die Bewohner lagen noch im tiefsten Schlafe.

Der Mann nahm einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete die kleine Pforte in der Mauer und trat in eine enge, dunkle Gasse, die auf der einen Seite von der Parkmauer, auf der anderen von niedrigen Häusern gebildet wurde. Die Gasse mündete in eine breitere Straße, an deren Ecke eine Gaslaterne brannte. Im Lichtschein erkannte man in dem frühen Wanderer trotz seiner Vermummung den Grafen Wallram von Cedernstein.

Warum schlich er so allein durch die Straßen? Sein ganzes Gebaren machte den Eindruck, als befinde er sich auf einem Wege, den nicht jedermann kennen sollte, oder als ob er über das Ziel seiner Wanderung selbst noch im unklaren sei. Bald blieb er stehen, bald hastete er weiter. Mehrmals wechselte er die Straßenseite und kehrte sogar einmal wieder eine kleine Strecke zurück. Endlich aber ging er in weiten und eiligen Schritten weiter bis vor die Stadt. Hier schlug er einen Pfad zur Linken ein und gelangte in eine einsame Gegend, wo nur einzelne Häuschen zerstreut in Gemüsegärten lagen.

Es mochte wohl selten geschehen, daß ein so vornehmer Mann sich in diese einsame Gegend verlor. Wallram von Cedernstein schien jedoch hier ebenso genau bekannt zu sein, wie in den vornehmen Vierteln der Stadt. Er gelangte an eine dichte Dornenhecke, höher als alle anderen Einfriedungen, und überragt von einer Plankenbekleidung. Das enge Türlein war immer verschlossen, und niemals sah man einen Menschen herauskommen. Es gab aber Bewohner innerhalb der geheimnisvollen Umzäunung. Tagsüber sah man zur Mittag- und Abendzeit eine dünne Rauchsäule emporsteigen. Auch wußten neugierige Nachbarn zu erzählen, daß daselbst in einem niedrigen Häuschen eine alte Frau wohne, die den Garten wohl in Pflege halte. Wer sie war und wie sie hieß, das hatte noch niemand erfahren. Man nannte sie die schwarze Sybilla, weil sie immer schwarze Kleider trug und sich mit einem unergründlichen Geheimnisse umgab.

Gerade dieses Geheimnisvolle war aber auch schuld daran, daß man den Garten mied. Da man die Heimlichkeit nicht begriff, so stellte man sich unwillkürlich etwas Schlimmes vor, ja die Gemüsebauern behaupteten, der leibhaftige Gottseibeiuns treibe sein Wesen dort. Lange hatte niemand gewußt, wem das verschlossene Grundstück zugehöre. Bei der neuen Katasteraufnahme hatte sich jedoch herausgestellt, daß es Eigentum des Grafen von Cedernstein war. Die schwarze Sybilla hatte den Landmessern ohne Widerstand die Türe geöffnet, ihnen sogar einen Kaffee verabreicht und bei dieser Gelegenheit die wenigen Wohnräume gezeigt. Nur ein Zimmer war verschlossen geblieben, aber darauf hatten die Männer nicht das geringste Gewicht gelegt.

Vom Teufel war keine Spur zu finden, im Gegenteil machten die blanken Stübchen einen recht angenehmen Eindruck. Der Kaffee war tadellos, und die schwarze Sybilla gab sich als eine gebildete Frau und angenehme Gesellschafterin.

Einer der Landmesser, den die Neugierde plagte, mehr zu erfahren, fragte, ob sie auch wisse, welche sonderbaren Gerüchte über sie rundgingen.

»Ich habe davon gehört,« gab sie lächelnd zur Antwort, »aber es lohnt sich nicht der Mühe, dagegen zu sprechen. Es ist immer so in der Welt gewesen, daß man etwas Absonderliches hinter denen sucht, die sich von der Öffentlichkeit zurückziehen. Ich kenne die Menschen, weil ich lange genug unter ihnen gelebt habe. Ich machte dabei so viel bittere Erfahrungen, daß ich kein Verlangen trug, länger bei ihnen zu bleiben. Mein gnädiger Herr hat mir einen Zufluchtsort gewährt, und ich fühle mich in meiner Einsamkeit wohl. Der Garten gibt mir alles, was ich nötig habe. Draußen würden nur alte Wunden wieder aufreiben. Darum bleibe ich hier innen, solange mein gnädiger Herr mir die Zufluchtsstätte nicht kündigt.«

Die Landmesser nahmen nach dieser Zeit die schwarze Sybilla gegen die übeln Nachreden in Schutz. Der Volksglaube hatte sich indessen so fest eingenistet, daß er auch jetzt noch nicht verschwand.

Graf von Cedernstein stand vor dem kleinen Pförtchen, zog einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete, trat rasch ein und schloß wieder hinter sich zu. Das Grau der Morgendämmerung hellte sich auf, und die Sträucher und Bäume traten aus dem Dunkel der Nacht hervor. Cedernstein warf einen flüchtigen Blick über die Beete, die alle wohlgepflegt und mit den schönsten Gemüsen bestanden waren. Eine schwarz gekleidete Frau hockte nicht weit vom Hause auf dem Boden und schien mit dem Ausjäten von Unkraut beschäftigt.

Der Graf trat auf sie zu und sprach in gedämpftem Tone: »Guten Morgen, Paula! Schon so früh bei der Arbeit?«

Beim Tone dieser Stimme erhob sie sich rasch, nahm eine ehrfurchtsvolle Haltung an und antwortete: »Gnädiger Herr, bei diesem abgeschlossenen Leben ist der Aufenthalt im Garten doch wenigstens eine Erweiterung des Gefängnisses, und da treibt es mich schon früh vom Lager in das Grüne.«

»Du bist also des Lebens in dieser Einsamkeit satt?«

»Gnädiger Herr,« antwortete Paula, »Sie haben mich aus bitterer Armut in eine Lage versetzt, in der es mir an nichts gebricht. Die Sorge ist mir fremd gewesen und die Arbeit, die ich notwendig allein verrichten muß, hilft mir auf die glücklichste Weise über die Einsamkeit hinweg. Warum sollte ich also klagen?«

»Du willst nicht geradezu sagen, daß Du unzufrieden bist, aber in Deinen Worten lag nichtsdestoweniger eine Klage.«

»Ach, gnädigster Herr, der Mensch kann nur schwer von seiner Art lassen. Er ist eben ein geselliges Wesen.«

Der Graf schien diese Antwort sehr ungern zu hören, denn er machte eine heftige Bewegung und schaute ihr stirnrunzelnd ins Gesicht. »Paula,« sprach er, »Du hast vergessen, welche Vergangenheit hinter Dir liegt und welches Uebereinkommen wir trafen.«

»Es ist mir noch alles sehr wohl erinnerlich, Herr Graf. Noch heute gedenke ich der Stunde, in der mich mein Vater verstieß, weil ich eine ihm verhaßte Ehe geschlossen hatte.«

»Weil Du den armen Spalding genommen,« sagte der Graf. »Ich habe seine Handlung nie recht begriffen. Spalding war doch ein wirklicher Künstler.«

Paulas Augen leuchteten bei dieser Unterbrechung auf und glänzten in der Freude der Erinnerung. »Ja, gnädiger Herr,« fuhr sie fort, »sein Name hatte im In- und Auslande einen geachteten Klang und seine Kunstwerke erfreuten sich eines hohen Rufes, Sie wurden mit Gold aufgewogen, so daß Spalding trotz seines Fleißes nicht imstande war, allen Bestellern gerecht zu werden. Wir lebten zufrieden und in Freuden. Ja, ich vergaß allmählich den Fluch, den mir mein Vater nachgeschleudert hatte, als ich ihm bekannte, daß ich mich mit Spalding habe trauen lassen.«

Cedernstein ging mit Absicht darauf aus, alle Schrecken der Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Darum fragte er: »Wie war es mit diesem Fluche? Es ist meinem Gedächtnisse entfallen.«

»O Herr,« antwortete Paula, »wäre er auf Ihr Haupt gefallen, Sie würden sich seiner bis in den Tod erinnern. Um dem väterlichen Zorne zu entfliehen, war ich nach Amerika ausgewandert. Dort war Spalding mein Gatte geworden. Spalding wollte, daß wir in der Neuen Welt blieben, die uns reichlich nährte. Es trieb mich jedoch in die Heimat zurück. Auf die Dauer vermochte ich des Vaters Ungnade nicht zu ertragen. Die sichere Zuversicht beseelte mich, wir würden nicht allein Verzeihung, sondern auch den väterlichen Segen erhalten. Hatten nicht die amerikanischen Blätter Spaldings Ruhm auch nach Europa hinübergetragen? Kaum hatten wir nach einer stürmischen Ueberfahrt das heimatliche Gestade erreicht, so eilte ich dem väterlichen Hause zu. Sehnsucht und Hoffnung beschleunigten meine Schritte so sehr, daß Spalding mir kaum zu folgen vermochte.

»Jetzt hatte ich das Haus erreicht und flog die Treppe hinauf, während Spalding draußen weilte, bis ich ihn holen würde. Ein alter treuer Diener, der mich noch auf den Armen getragen, der mein Vorhaben ahnen mochte, flüsterte mir zu: Paula, drinnen ist große Gesellschaft. Ich glaube, der Augenblick ist nicht gut gewählt.

»Ich überlegte nicht, was ich tat. Eilig stürzte ich vorwärts, wähnend, der Vater werde mir vor all den Leuten eher verzeihen, als wenn ich ihn allein träfe. Konnten nicht gute Freunde unter den Gästen sein, und mußten sie nicht meine Bitten unterstützen?

»Als ich eintrat und eiligen Laufes an die Tafel kam, wendeten sich alle Blicke auf mich. Die Damen entfärbten sich. Unter heftigem Schluchzen fiel ich meinem Vater um den Hals und rief: Vergebung, Vater, ich kann nicht ohne Deine Liebe leben!

»Mein Erscheinen kam ihm so überraschend, daß er sich im ersten Augenblicke nicht fassen konnte. Mir schien es, als wenn seine alte Liebe wieder aufkeime, und ich stieß einen lauten Freudenschrei aus. Wie hatte ich mich getäuscht! Mit einem gewaltsamen Griffe machte er meine Hände von seinem Nacken los, schleuderte mich von sich und sprach mit einer Eiseskälte, die mein Herz wie mit eisernen Krallen zusammenpreßte: ›Was willst Du hier? An mir hast Du keinen Teil mehr! Deine Briefe haben mir gesagt, was geschehen ist. Wohlan, Du hast Dich von meinem Herzen losgerissen, und so soll es bleiben. Betritt meine Schwelle nicht mehr!‹

»Auf die Knie warf ich mich vor ihm hin und flehte um Verzeihung. Im Saale herrschte Totenstille. Die Gäste erwarteten wohl, daß das Vaterherz sein Kind wieder aufnehmen werde, und ich glaubte es selbst. Niemals ist eine Täuschung größer und schrecklicher gewesen. Seine Lippen wurden blau, seine Augen unterliefen mit Blut, und mit vor Wut bebender Stimme rief er: ›Hinaus aus meinem Hause! Ich verfluche Dich für Zeit und Ewigkeit. Du hast mein Vaterglück zermalmt, darum sollst du keine Ruhe auf Erden haben. Wenn ich Dich mit einem Worte aus Not und Elend, aus Ketten und Banden retten könnte, es sollte nicht geschehen. Hinaus, fort von meinem Angesichte!‹

»Ich lag vernichtet am Boden und war unfähig, mich zu erheben. Eine mitleidige Dame aus der Gesellschaft hob mich auf und führte mich hinaus.«

»Spalding brachte mich wieder aufs Schiff, und wir fuhren nach Amerika zurück. Ich hatte eine schwere Krankheit zu überstehen, aber ich genas wieder. Die allheilende Zeit und Spaldings aufopfernde Liebe schwächte den schrecklichen Fluch in meiner Erinnerung ab. Der Himmel schenkte uns ein Söhnchen, den Willibald. Der Segen ruhte auf seinem kleinen Haupte. Er schien das Talent seines Vaters geerbt zu haben, denn kaum konnte er einen Stift halten, so begann er zu zeichnen. Spalding glaubte in väterlichem Stolze, Willibald werde eines Tages seinen Vater in Schatten stellen. Da brach neues Unglück über uns herein: Spalding starb. Wir hatten große Einnahmen gehabt, aber im Taumel des Glückes keine Ersparnisse gemacht. Kaum konnte ich so viel zusammenbringen, um unsere Überfahrt nach Europa zu bezahlen.

»Noch einmal wollte ich das harte Herz meines Vaters zu erweichen suchen. Als ich im Hafen angekommen war, fehlte mir jedoch der Mut, denn alle, die mit ihm in Berührung kamen, berichteten mir, daß sein Haß sich noch nicht gemindert habe.

»Meine Mittel waren zur Neige gegangen. Ich besaß nicht mehr so viel, um mir und meinem Söhnchen ein Mittagessen zu kaufen. Meinen Stolz beugend, suchte ich eine reiche Jugendfreundin auf. Bei ihr hoffte ich eine Zuflucht zu finden, aber sie tat kalt und fremd. Meinem Kinde drückte sie wie einem Bettelknaben eine Silbermünze in die Hand und schickte uns fort. Ich durfte ihr nicht einmal das Geld vor die Füße werfen, denn wir verlangten kein Geld, sondern Brot.

»An demselben Tage wurde mir die Nachricht, mein Vater sei plötzlich erkrankt, und man erwarte sein Ende. Jetzt, dachte ich, wird er den Fluch von dir nehmen und eilte an sein Sterbebett. Er schaute mich mit stieren Augen an, aber er erkannte mich nicht mehr. Sein Geist war schon umnachtet. Eine Stunde später war er eine Leiche. Ich glaubte sterben zu müssen. Mein Vater war hinübergegangen, ohne mir ein versöhnendes Wort zu sagen!

»Bekannte tadelten meinen Schmerz und rieten mir, mich vielmehr zu freuen. Die Not habe ein Ende. So niedrig war meine Gesinnung nicht. Die Erbschaft tat mir allerdings not, wenn ich mit meinem Willibald nicht zugrunde gehen sollte. Als die Siegel abgenommen wurden, erwies sich meine Hoffnung als eitel. Die gesamte Nachlassenschaft war so mit Schulden überladen, daß die Gläubiger selbst die hinterlassenen Kleider meines Vaters verkaufen ließen. Böse Zungen behaupteten, mein Vater habe sein Vermögen absichtlich verschleudert, um mich in Armut und Elend zu halten. Ob es wahr ist, weiß ich nicht. Ich erinnere mich aber noch wohl, wie die Verzweiflung über mich kam, wie ich ans Wasser hinablief, um meinem Leben ein Ende zu machen. Wenn die Mutter tot ist, dachte ich, die Mutter, auf deren Haupt ein so furchtbarer Fluch ruht, dann wird man sich des Kindes erbarmen.«

»Und Du stürztest Dich wirklich in den Strom,« unterbrach sie der Graf. »Das Glück wollte es, daß ich gerade in der Gondel eine einsame Wasserfahrt machte. Ich hörte Deinen Schrei und sah Dich fallen. Rasch ruderte ich die Gondel an den Ort, wo das Wasser über Deinem Haupte zusammengeschlagen war, und ich zog Dich herein.«

»Ja, Herr, als ich meine Augen aufschlug, lag ich in der Gondel. Eine unsägliche Freude durchzuckte mich, daß ich noch lebte. Im nächsten Augenblicke jedoch, als ich mich erinnerte, daß meinem Willibald nur zu helfen sei, wenn seine fluchbeladene Mutter von der Erde scheide, da rief ich: Warum ließen Sie mich nicht sterben?«

»Es war ein erschütternder Auftritt, Paula,« sagte Cedernstein. »Nur mit Mühe vermochte ich Dich zu beruhigen. Bei Deinem Kinde fandest Du die Liebe zum Leben wieder. Der Knabe war aufgeweckt und zeigte entschiedene Anlage zum Zeichnen. Es machte ihm nicht die geringste Mühe, mein Bild zu zeichnen.«

Paula erinnerte sich noch jenes glücklichen Augenblickes, wo sie so unermeßlich stolz auf Spaldings Ebenbild gewesen war. »In dem Kinde steckt ein großer Künstler,« hatte der Graf gesagt. »Er zählt jetzt sieben Jahre. Wenn die Mutter ihm nicht durch einen voreiligen Entschluß die Jugend vergällt, kann der Knabe mit zwanzig Jahren ein berühmter Mann sein. Ueberlassen Sie mir das Kind. Ich will für seine Zukunft sorgen und auch die Ihrige sicherstellen.«

»Welch ein unsägliches Glück mich durchbebte, als Sie diese Worte sprachen,« fuhr Paula fort, »kann ich nicht in Worte kleiden. Sie knüpfen eine harte Bedingung daran: Trennung von Willibald solange Sie es für gut finden würden. Ich fügte mich, weil es die Zukunft meines über alles geliebten Kindes galt. Herr Graf, zanken Sie nicht mit der Mutter, weil das Herz sich nicht länger unterdrücken läßt. Zehn Jahre sind seitdem vergangen, ich habe mich streng an meinen Eid gehalten, nicht nach meinem Sohne zu forschen und mich hier lebendig zu vergraben. Ich fürchte, ich kann es nun nicht länger mehr. Auch fürchte ich, daß die Nachbarn endlich wissen wollen, was die schwarze Sybilla in ihrer Einsamkeit macht. Unverwandt starren sie mich an, sobald sie meiner ansichtig werden und rufen mir zu: Schwarze Sybilla, Du hast einen Bund mit dem Teufel!«

Cedernstein zuckte zusammen. »Tun sie das?« fragte er.

Sie nickte und Tränen quollen aus ihren Augen.

»Gehen wir ins Haus,« sprach er hastig. »Die Sonne steigt, und ich möchte nicht gesehen werden.«

»Haben Euer Gnaden gefrühstückt?« fragte sie drinnen.

»Nein, Paula, gib mir eine Tasse schwarzen Kaffee.«

Während sie den Kaffee bereitete, ging er mit sich zu Rate. Anfangs befand er sich in einer fieberhaften Aufregung. Nach und nach aber lieb dieselbe nach, und er schien zu einem Entschlusse gekommen zu sein.

Als er den Kaffee geschlürft hatte, ging er in das Zimmer, das zu seinem ausschließlichen Gebrauche bestimmt war und wovon er den Schlüssel in der Tasche hatte. Aufmerksam beschaute er das Schloß und seine Sicherung. Es war unverletzt. Er öffnete die. Fenster und stieß die verschlossenen Läden auf. Die Sonnenstrahlen beleuchteten einen kahlen Raum. Aufmerksam betrachtete Cedernstein den Fußboden. Die sämtlichen Nägel der Bretter waren tief in das Holz getrieben und die Oeffnungen hier und dort verkittet. Nachdem der einsame Besucher die Türe sorgfältig verschlossen hatte, kratzte er an einer Stelle den Kitt mit dem Messer weg und zog mit leichter Mühe die Nägel heraus. Unter dem Brette nahm er ein ziemlich umfangreiches Päckchen auf und barg es in seinen Kleidern. Als er das Brett wieder in seine Stellung gebracht hatte, verließ er das Zimmer, schleuderte den Schlüssel über die Hecke in den Nachbargarten und kehrte in die Küche zurück.

»Paula,« sprach er, »ich sehe ein, daß Du auf die Dauer ein so abgeschlossenes Leben nicht ertragen kannst. Ich werde deshalb auf eine Änderung bedacht sein. Willibald hat seine Zeit gut benützt. Er wird bald mit seinen Schöpfungen an die Oeffentlichkeit treten können. Ich habe jedoch meine Gründe, zu wünschen, daß es nicht in Europa geschieht. Gedulde Dich noch zwei Monate. Dann werde ich Euch Zusammenführen, aber es muß dann auch sogleich die Abreise nach Amerika erfolgen. Ich werde Euch mit genügenden Mitteln versehen.«

Sie stieß einen Freudenruf aus und küßte seine Hand. Nach seinen Gründen fragte sie nicht. Cedernstein hatte vom ersten Augenblicke an eine sonderbare und geheimnisvolle Art gehabt, aber sie wußte ja, daß alles zu Willibalds Bestem geschah. Manchmal hatte sie freilich gedacht, es sei durchaus nicht nötig, daß Mutter und Kind in so langer Trennung voneinander lebten. Sie hatte sich gefügt, weil er nur unter dieser Bedingung ihr und dem Knaben seine Teilnahme zuwenden wollte. Was hätte sie beginnen sollen, wenn der Graf sich von ihr abgewendet und sie und das Kind dem Elende preisgegeben hätte?

»Nach Amerika,« sagte sie. »Es ist mir lieb, denn dort habe ich die glücklichsten Tage meines Lebens genossen. Es werden ja noch Freunde von Spalding leben, durch die Willibald Verbindungen anknüpfen kann. Tausend, tausend Dank, Herr Graf.«

Nach dieser folgenschweren Unterredung kehrte Graf Cedernstein zur Stadt zurück, nahm eine Lohnkutsche und lieh sich mitten in die volkreiche Altstadt fahren. Dort lag eines seiner Häuser. Es enthielt die alte Familienbücherei, die aber keinem Menschen nützte, weil der Graf um keinen Preis zu bewegen war, ein Buch zu verleihen oder jemand in die verfallenen Gemächer eintreten zu lassen.

»Dort befinden sich die alten Urkunden über das Geschlecht derer von Cedernstein,« sagte er, »und darein lasse ich niemand Einsicht nehmen.«

Cedernstein hieb den Wagen warten, trat ein und schloß die Türe hinter sich zu. Nachdem er mehrere Räume mit alten vergilbten Möbeln durchschritten hatte, gelangte er in einen groben Saal. Die Wände waren bis unter die Decke mit Büchern besetzt, lauter alte schweinslederne Bände mit verblichenen Goldtiteln. Daß sie für die Jünger der Wissenschaft verschlossen waren, konnte man schon aus den dichten Spinngeweben entnehmen, die von der Decke und den Gestellen herabhingen. In zehn Jahren schien kein Besen und kein Spinnenkopf in diesen Räumen gewaltet zu haben. Als der Graf über die dröhnenden Dielen schritt, wirbelte der Staub in die Höhe und tanzte in den Sonnenstrahlen.

Cedernstein achtete nicht darauf. Er öffnete mehrere Türen und kam an ein wohlverschlossenes Zimmer. Der Raum war nicht groß, machte aber durch zahlreiche Handzeichnungen, die die Wände zierten, einen freundlichen Eindruck. Fenster hatte das Zimmer nicht, das Licht fiel von oben ein. An einem Tische saß, über einen Stein gebeugt, ein junger Mann, eifrig mit Zeichnen beschäftigt.

»Guten Tag, Willibald!« grüßte Cedernstein freundlich, »laß sehen, wie weit Du mit Deiner Arbeit gekommen bist!«

Willibald, ein frischer Jüngling mit klaren Augen und offenem Blick erhob sich und zeigte ihm mit einem verzeihlichen Stolze seine tadellose Arbeit. Der Graf neigte sich über dieselbe, prüfte jeden Strich und gab seine Zufriedenheit zu erkennen.

Dann legte er ein Papier vor ihm nieder und sprach: »In wie viel Zeit kannst Du damit fertig werden?«

Willibald überschaute die Arbeit und antwortete: »Mindestens vier Wochen werden darüber hingehen.«

»Ich gebe Dir acht,« entgegnete der Graf, »aber das Original muß bis ins kleinste erreicht werden.«

»Das versteht sich ja von selbst, Herr Graf. Was hätte die Kunst auch für einen Wert, wenn sie nicht genau wiederzugeben imstande wäre. Ich muß bekennen, daß ich solche kleine Kritzeleien, bei denen man sich gar nichts denken kann, nicht gern mache. Ein hübsches grobes Landschaftsbild ziehe ich doch bei weitem vor.«

»Mag sein, lieber Willibald,« entgegnete der Graf, »aber ich halte gerade auf diese Art von Zeichnungen viel.«

»Wozu dienen solche Dinge denn?« fragte Willibald.

»Muß denn alles zu etwas dienen?« antwortete Wallram ausweichend.

»Es sei Dir genug, daß ich gerade solche Sachen wünsche, und ich will sie gemacht haben, ohne daß ein Mensch etwas davon erfährt. Vergiß darum Deines Eides nicht. Eidbruch ist ein schweres Verbrechen und wer ihn begeht, verdient die schwersten Strafen.«

»Was ich versprochen habe, das halte ich,« sprach Willibald. »Meine Zunge ist durch ein Wort so gut gebunden, wie durch einen Eid.«

»Das ist die Sprache eines jungen Mannes, der Kenntnis von seinem eigenen Werte hat. Also in längstens zwei Monaten! Verwende Deinen ganzen Fleiß auf diese Arbeit. Wenn sie nach Wunsch ausfällt, wirst Du nach dieser Frist mit Deiner Mutter zusammentreffen und für immer bei ihr bleiben. Ihr werdet dann in Dein Geburtsland gehen und dort im Überflusse leben. Du wirst Kunstwerke schaffen, einen berühmten Namen bekommen und zu den ersten Männern des Jahrhunderts gerechnet werden.«

Willibald ergriff freudig bewegt die Hand des Grafen und bedeckte sie mit Küssen. »Ich werde meine Mutter sehen und bei ihr bleiben!« rief er entzückt. »Wie glücklich werde ich sein! Ich konnte es nie einsehen, warum ich so lange fern von ihr bleiben mußte. Täglich habe ich mich gefragt, wozu diese Maßregel notwendig sei. Jetzt aber will ich nicht mehr grübeln, sondern rüstig schaffen, damit ich die Zeit der Trennung möglichst abkürze.«

»Mein Sohn,« unterbrach ihn der Graf, »ich habe Dein letztes Ölgemälde gesehen und bin in der Tat über Deine Fortschritte erstaunt. Wie ich Dir damals sagte, werde ich alles, was Dein Fleiß geschaffen hat, an mich nehmen und Dich fürstlich belohnen. Es muß jedoch bei unserer Absprache bleiben, daß Du gegen niemanden, auch gegen Deinen Lehrer niemals erwähnst, wer Dein eigentlicher Wohltäter ist.«

»Damit hat's gute Wege,« antwortete Willibald. »Der gute Fiedler fragt gar nicht mehr danach. Da er allmonatlich sein Kost- und Lehrgeld erhält, so kümmert ihn das andere nicht. Er ist ja ohnehin der Welt abgestorben und, wie er selbst sagt, hat er seit vierzig Jahren keinen Baum mehr gesehen.«

»Geh' jetzt nach Hause,« sprach Cedernstein: »morgen mit Sonnenaufgang aber finde Dich wieder hier ein und beginne Deine neue Arbeit.«

Beide verließen zusammen das unbewohnte alte Gebäude. Draußen aber schlugen sie verschiedene Wege ein. Wilibald eilte hastigen Schrittes durch mehrere Straßen. Vor einem spitzgiebeligen Hause blieb er stehen und zog die Klingel. Er mußte mehrmals klingeln, denn Magdalena, Fiedlers Magd, Köchin und Haushälterin in einer Person, hörte sehr schlecht und ließ sich auch nicht gern in einer einmal angefangenen Arbeit stören. Fiedler erhielt niemals Besuch. Darum wußte sie genau, daß nur Willibald da sein konnte, und der konnte schon etwas warten.

Der Jüngling fügte sich stets mit Geduld darein. Heute aber wurde es ihm doch zu lange, denn es drängte ihn, seinem Meister zu erzählen, wie bald er seine Mutter wieder sehen werde. Das Warten hatte aber auch wieder sein Gutes, denn es fiel ihm ein, daß Cedernstein alles, was zwischen ihnen vorfiel, mit dem Schleier des Geheimnisses bedeckt haben wollte. Fiedler durfte ja nicht einmal wissen, was er in den Stunden tat, die er außerhalb des Hauses zubrachte. Es ging bald auf Rechnung von Gesang- und Musikstunden, bald auf Spaziergänge und Erholungen. Die Wahrheit von der Sache aber war, daß er Singen und Musizieren aus sich selbst lernte und alle freie Zeit auf die geheimen Arbeiten für den Grafen verwendete.

Magdalena kam endlich und wunderte sich, daß er zu so früher Stunde zurückkehrte. Willibald ging an ihr vorüber in das Zimmer seines Meisters, das mit dem seinigen durch eine offene Türe verbunden war.

Fiedler, der infolge einer Lähmung nicht Herr über seine Beine war, sah in einem niedrigen Rollwägelchen und fuhr sich selbst durch das Zimmer. Vor dem letzten Bilde Willibalds machte er Halt und beschaute es mit prüfendem Blicke. Er war so sehr darein vertieft, daß er den Eintritt seines Zöglings nicht bemerkte. »Wahrhaftig, er wird ein ganzer Kerl, oder vielmehr er ist es schon,« sagte er in lautem Selbstgespräche. »Bei mir kann er nicht lange mehr bleiben, er ist mir jetzt schon über den Kopf gewachsen. Mit all meiner Plage und Mühe bin ich niemals imstande gewesen, solch ein Bild zu malen. Und was habe ich eigentlich getan, um ihn zu dem zu machen, was er geworden? Nichts, rein gar nichts, als hier und dort ein Wort hingeworfen oder einen Pinselstrich gemacht. Der Junge ist aus sich selbst herausgewachsen, Kommt Willibald zu einem wirklichen Meister, dann wird er bald alle überstrahlen.«

Als Willibald dieses Lob hörte, bebte ihm allerdings das Herz vor Freude und er hätte dem lahmen Meister um den Hals fallen mögen. Er kam sich aber auch wie ein unbefugter Lauscher vor und schämte sich, ertappt zu werden. Rasch verließ er deshalb das Zimmer und machte sich in seinem Schlafkämmerchen zu schaffen.

»Die Alten sterben ab,« dachte Fiedler bei sich, »und die Jungen blühen auf. Es gab eine Zeit, wo auch ich von Ruhm und Reichtum träumte, wo ich es den Besten meiner Zeit zuvortun wollte. Wie umgaukelten mich da bunte Bilder einer schönen Zukunft, wie fühlte ich meine Schwingen wachsen! O, ich hätte das hohe Ziel erreicht, wenn nicht diese Lähmung über mich gekommen wäre und die freie Bewegung meines Körpers gehemmt hätte!«

Seufzend strich sich der Maler mit der Hand über die Augen und starrte lange schweigend vor sich hin. Dann fuhr er in seinem Selbstgespräche fort: »Warum brachte der rätselhafte Unbekannte den Knaben gerade zu mir, dem Krüppel und – Unvollendeten? Sind nicht bessere Meister da? Warum führte er ihn nicht an eine frische, Leben sprudelnde Quelle? – Und warum ist alles, was ihn betrifft, in Dunkel und Geheimnis gehüllt? Ich habe oft darüber nachgedacht, aber ich kann seine Absichten nicht entschleiern. Freilich, es ist ja auch nicht meine Aufgabe!«

Wiederum entstand eine lange Pause, aber er wurde die Gedanken nicht los und murmelte weiter: »Sonderbarere Bedingungen sind wohl niemals gestellt worden: Du sollst den Knaben wie dein eigenes Kind aufziehen, ihn in deiner Kunst ausbilden und einen tüchtigen Maler aus ihm machen. Er soll indes keine Schule besuchen, auch im Lesen, Schreiben und anderen Wissenschaften keinen Unterricht erhalten.

»Aber, mein Herr, warf ich ein, niemals wird der ein rechter Künstler werden, der sich nicht wenigstens ein bescheidenes Maß von Bildung erworben hat.

»Ich mache dies zu einer unumstößlichen Bedingung, fuhr der Unbekannte mich heftig an. Bei der geringsten Zuwiderhandlung ist der Vertrag gebrochen, und ich nehme den Knaben wieder zu mir.

»Ich war damals in einer sehr bedrängten Lage. Es fehlte mir sogar an Brot, um meinen Hunger zu stillen. Eine Menge Goldstücke und das Versprechen auf reiche Belohnung machten mich willfährig. Was tut nicht die Not! Wer hat je von einer solchen Bedingung gehört? Der Fremde sagte zwar: Der Knabe soll seine ganze Geistesfähigkeit auf einen Punkt vereinigen und durch nichts, auch nicht durch die Wissenschaft von demselben abgezogen werden. Später wird er das Versäumte schnell nachholen und in wenigen Monaten erlernten, wozu andere Jahre gebrauchen. So sprach er und ich bin seinen Anordnungen nachgekommen, trotzdem ich die Absicht bis auf den heutigen Tag nicht verstehe. Hier liegt ein Geheimnis vor, das um keinen Preis ergründet werden soll. Es kann nicht lange mehr dauern, so wird Willibald selbst empfinden, was ihm not tut. Dann werden auch diese tadelnswerten Bestimmungen fallen müssen.«

Magdalena kam herein und störte Fiedler in seinen Betrachtungen. Auf dem Speicher hatte der Sturm ein Fenster eingeschlagen, die Hoftüre klemmte sich, es war kein Mehlvorrat mehr da, die Waschleinen fielen in Stücke – –. Sie hatte noch mehr solcher Unglücksbotschaften, über die Fiedler endgültig entscheiden sollte.

»Ach was,« gab er verdrießlich zur Antwort. »Was zerbrochen ist, das lasse machen. Was fehlt, das schaffe an, aber laß mich in Ruhe. Du weißt ja wohl, daß ich mich um solche Dinge nicht kümmere.«

Magdalena entfernte sich und knurrte: »Diese Farbenmenschen sind alle gleich. Sie kümmern sich um nichts, als um ihren Pinsel. Freilich, es sieht bei den meisten auch danach aus! Wenn der Fiedler mich nicht hätte, wäre er lange ausgewirtschaftet. Gott, wie viel Leichtsinn gibt es doch auf dieser Welt!«


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