Johann Gottfried Herder
Abhandlung über den Ursprung der Sprache
Johann Gottfried Herder

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Ich schmeichle mir, daß, wenn mein würdiger Gegner noch lebte, er einsähe, daß sein Einwurf, etwas mehr bestimmt, selbst der stärkste Beweis gegen ihn werde und daß er also unwissend in seinem Buche selbst Materialien zu seiner Widerlegung zusammengetragen. Er würde sich nicht hinter das Wort »Vernunftfähigkeit, die aber noch nicht im mindsten Vernunft ist« verstecken; denn man kehre, wie man wolle, so werden Widersprüche! Ein vernünftiges Geschöpf ohne den mindsten Gebrauch der Vernunft oder ein vernunftgebrauchendes Geschöpf ohne – Sprache! Ein vernunftloses Geschöpf, dem Unterricht Vernunft geben kann, oder ein unterrichtfähiges Geschöpf, was doch ohne Vernunft ist! Ein Wesen ohne den mindsten Gebrauch der Vernunft – und doch Mensch! Ein Wesen, das seine Vernunft aus natürlichen Kräften nicht brauchen konnte und doch beim übernatürlichen Unterricht natürlich brauchen lernte! Eine menschliche Sprache, die gar nicht menschlich war, d. i. die durch keine menschliche Kraft entstehen konnte, und eine Sprache, die doch so menschlich ist, daß sich ohne sie keine seiner eigentlichen Kräfte äußern kann! Ein Ding, ohne das er nicht Mensch war, und doch ein Zustand, da er Mensch war und das Ding nicht hatte, das also da war, ehe es da war, sich äußern mußte, ehe es sich äußern konnte usw. – Alle diese Widersprüche sind offenbar, wenn Mensch, Vernunft und Sprache für das Würkliche genommen werden, was sie sind, und das Gespenst von Worte »Fähigkeit« (Menschenfähigkeit, Vernunftfähigkeit, Sprachfähigkeit) in seinem Unsinn entlarvt wird.

»Aber die wilden Menschenkinder unter den Bären, hatten die Sprache? Und waren sie nicht Menschen?«Süßmilch S. 47. Allerdings! Nur zuerst Menschen in einem widernatürlichen Zustande! Menschen in Verartung! Legt den Stein auf diese Pflanze, wird sie nicht krumm wachsen? Und ist sie nicht demungeachtet ihrer Natur nach eine aufschießende Pflanze? Und hat sich diese geradschießende Kraft nicht selbst da geäußert, da sie sich dem Steine krumm umschlang? Also zweitens selbst die Möglichkeit dieser Verartung zeigt menschliche Natur. Eben weil der Mensch keine so hinreißende Instinkte hat als die Tiere, weil er zu so mancherlei und zu allem schwächer fähig – kurz! weil er Mensch ist, so konnte er verarten. Würde er wohl so bärähnlich haben brummen und so bärähnlich haben kriechen lernen, wenn er nicht gelenksame Organe, wenn er nicht gelenksame Glieder gehabt hätte? Würde jedes andre Tier, ein Affe und Esel es so weit gebracht haben? Würkte also nicht würklich seine menschliche Natur dazu, daß er so unnatürlich werden konnte? Aber drittens blieb sie deswegen noch immer menschliche Natur; denn brummte, kroch, fraß, witterte er völlig wie ein Bär? Oder wäre er nicht ewig ein strauchelnder, stammlender Menschenbär und also ein unvollkommenes Doppelgeschöpf geblieben? Sowenig sich nun seine Haut und sein Antlitz, seine Füße und seine Zunge in völlige Bärengestalt ändern und wandeln konnten, sowenig, lasset uns nimmer zweifeln! konnte es die Natur seiner Seele. Seine Vernunft lag unter dem Druck der Sinnlichkeit, der bärartigen Instinkte begraben; aber sie war noch immer menschliche Vernunft, weil jene Instinkte nimmer völlig bärmäßig waren. Und daß das so gewesen, zeugt ja endlich die Entwicklung der ganzen Szene. Als die Hindernisse weggewälzet, als diese Bärmenschen zu ihrem Geschlecht zurückgekehrt waren, lernten sie nicht natürlicher aufrecht gehen und sprechen, als sie dort, immer unnatürlich, kriechen und brummen gelernt hatten? Dies konnten sie immer nur bärähnlich; jenes lernten sie in weniger Zeit ganz menschlich. Welcher ihrer vorigen Mitbrüder des Waldes lernte das mit ihnen? Und weil es kein Bär lernen konnte, weil er nicht Anlage des Körpers und der Seele dazu besaß, mußte der Menschenbär diese nicht noch immer im Zustande seiner Verwilderung erhalten haben? Hätte sie ihm bloß Unterricht und Gewohnheit gegeben, warum nicht dem Bären? Und was hieße es doch, jemand durch Unterricht Vernunft und Menschlichkeit geben, der sie nicht schon hat? Vermutlich hat alsdenn diese Nadel dem Auge die Sehkraft gegeben, dem sie die Starhaut wegschaffet. Was wollen wir also aus dem unnatürlichsten Falle von der Natur schließen? Gestehen wir aber ein, daß er ein unnatürlicher Fall sei – wohl! so bestätigt er die Natur!

Die ganze Rousseausche Hypothese von Ungleichheit der Menschen ist, bekannterweise, auf solche Fälle der Abartung gebauet, und seine Zweifel gegen die Menschlichkeit der Sprache betreffen entweder falsche Ursprungsarten oder die beregte Schwürigkeit, daß schon Vernunft zur Spracherfindung gehört hätte. Im ersten Fall haben sie recht, im zweiten sind sie widerlegt und lassen sich ja aus Rousseaus Munde selbst widerlegen. Sein Phantom, der Naturmensch, dieses entartete Geschöpf, das er auf der einen Seite mit der Vernunftfähigkeit abspeiset, wird auf der andern mit der Perfektibilität, und zwar mit ihr als Charaktereigenschaft, und zwar mit ihr in so hohem Grade belehnet, daß er dadurch von allen Tiergattungen lernen könne – und was hat nun Rousseau ihm nicht zugestanden! Mehr, als wir wollen und brauchen! Der erste Gedanke: »Siehe! das ist dem Tier eigen! Der Wolf heult! Der Bär brummt!«, schon der ist (in einem solchen Lichte gedacht, daß er sich mit dem zweiten verbinden könnte: »Das habe ich nicht«!) würkliche Reflexion; und nun der dritte und vierte: »Wohl! das wäre auch meiner Natur gemäß! Das könnte ich nachahmen! Das will ich nachahmen! Dadurch wird mein Geschlecht vollkommner!«, welche Menge von feinen, fortschließenden Reflexionen! da das Geschöpf, das nur die erste sich auseinandersetzen konnte, schon Sprache der Seele haben mußte! schon die Kunst zu denken besaß, die die Kunst zu sprechen schuf. Der Affe äffet immer nach, aber nachgeahmt hat er nie, nie mit Besonnenheit zu sich gesprochen: »Das will ich nachahmen, um mein Geschlecht vollkommner zu machen!«, denn hätte er das je, hätte er eine einzige Nachahmung sich zu eigen gemacht, sie in seinem Geschlecht mit Wahl und Absicht verewigt, hätte er auch nur ein einziges Mal eine einzige solche Reflexion denken können – denselben Augenblick war er kein Affe mehr! In aller seiner Affengestalt, ohne einen Laut seiner Zunge, war er inwendig sprechender Mensch, der sich über kurz oder lang seine äußerliche Sprache erfinden mußte – welcher Orang-Utan aber hat je mit allen menschlichen Sprachwerkzeugen ein einziges menschliches Wort gesprochen?

Es gibt freilich noch Negerbrüder in Europa, die da sagen: »Ja vielleicht – wenn er nur sprechen wollte! – oder in Umständen käme! – oder könnte!« – Könnte! das wäre wohl das beste. Denn die beiden vorigen »Wenn« sind durch die Tiergeschichte gnugsam widerlegt – und durch die Werkzeuge wird, wie gesagt, bei ihm das Können nicht aufgehalten! Er hat einen Kopf von außen und innen wie wir, hat er aber je geredet? Papagei und Star haben gnug menschliche Schälle gelernet; aber auch ein menschliches Wort gedacht? – Überhaupt gehen uns hier noch die äußern Schälle der Worte nicht an; wir reden von der innern, notwendigen Genesis eines Worts, als dem Merkmal einer deutlichen Besinnung – wenn aber hat das je eine Tierart, auf welche Weise es sei, geäußert? Abgemerkt müßte dieser Faden der Gedanken, dieser Diskurs der Seele, immer werden können, er äußere sich, wie er wolle; wer hat das aber je? Der Fuchs hat tausendmal so gehandelt, als ihn Äsop handeln läßt; er hat aber nie in Äsops Sinne gehandelt, und das erstemal, daß er das kann, wird Meister Fuchs sich seine Sprache erfinden und über Äsop so fabeln können als Äsop jetzt über ihn. Der Hund hat viele Worte und Befehle verstehen gelernt, aber nicht als Worte, sondern als Zeichen, mit Gebärden, mit Handlungen verbunden; verstünde er je ein einziges Wort im menschlichen Sinne, so dienet er nicht mehr, so schaffet er sich selbst Kunst und Republik und Sprache. Man siehet, wenn man einmal den Punkt der genauen Genese verfehlt, so ist das Feld des Irrtums zu beiden Seiten unermeßlich groß! Da ist die Sprache bald so übermenschlich, daß sie Gott erfinden muß, bald so unmenschlich, daß jedes Tier sie erfinden könnte, wenn es sich die Mühe nähme. Das Ziel der Wahrheit ist nur ein Punkt! Auf den hingestellet, sehen wir aber auf alle Seiten: Warum kein Tier Sprache erfinden kann? kein Gott Sprache erfinden darf? und der Mensch, als Mensch, Sprache erfinden kann und muß?

Weiter mag ich aus der Metaphysik die Hypothese des göttlichen Sprachenursprunges nicht verfolgen, da psychologisch ihr Ungrund darin gezeigt ist, daß, um die Sprache der Götter im Olymp zu verstehen, der Mensch schon Vernunft, folglich schon Sprache haben müsse. Noch weniger kann ich mich in ein angenehmes Detail der Tiersprachen einlassen, da sie doch alle, wie wir gesehen, total und inkommensurabel von der menschlichen Sprache abstehen. Dem ich am ungernsten entsage, wären hier die mancherlei Aussichten, die von diesem genetischen Punkt der Sprache in der menschlichen Seele in die weiten Felder der Logik, Ästhetik und Psychologie, insonderheit über die Frage gehen: Wie weit kann man ohne? – Was muß man mit der Sprache denken? – eine Frage, die sich nachher in Anwendungen fast über alle Wissenschaften ausbreitet. Hier sei es gnug, die Sprache als den wirklichen Unterscheidungscharakter unsrer Gattung von außen zu bemerken, wie es die Vernunft von innen ist.

In mehr als einer Sprache hat also auch »Wort« und »Vernunft«, »Begriff« und »Wort«, »Sprache« und »Ursache« einen Namen, und diese Synonymie enthält ihren ganzen genetischen Ursprung. Bei den Morgenländern ists der gewöhnlichste Idiotismus geworden, das Anerkennen einer Sache Namengebung zu nennen; denn im Grunde der Seele sind beide Handlungen eins. Sie nennen den Menschen das redende Tier und die unvernünftigen Tiere die Stummen. Der Ausdruck ist sinnlich charakteristisch, und das griechische αλογος fasset beides. Es wird sonach die Sprache ein natürliches Organ des Verstandes, ein solcher Sinn der menschlichen Seele, wie sich die Sehekraft jener sensitiven Seele der Alten das Auge und der Instinkt der Biene seine Zelle bauet.

Vortrefflich, daß dieser neue, selbstgemachte Sinn des Geistes gleich in seinem Ursprunge wieder ein Mittel der Verbindung ist. Ich kann nicht den ersten menschlichen Gedanken denken, nicht das erste besonnene Urteil reihen, ohne daß ich in meiner Seele dialogiere oder zu dialogieren strebe; der erste menschliche Gedanke bereitet also seinem Wesen nach, mit andern dialogieren zu können! Das erste Merkmal, was ich erfasse, ist Merkwort für mich, und Mitteilungswort für andre!

– Sic verba, quibus voces sensusque notarent
Nominaque invenere –
Horat.

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