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Lieber Eduard!
Es ist nun höchste Zeit, dass du es erfährst. Wie oft wollte ich es dir sagen und konnte nicht. Du musst es wissen. Ich will dirs schreiben. Es ist vielleicht gemein, dass ich erst jetzt spreche. Aber du selbst bist schuld, dass ich es bisher nicht konnte.
Als wir uns zum ersten Mal sahen auf dem Sommerfest vor drei Jahren, sagtest du, ich sähe einem flachshaarigen Kinde ähnlich, das unter deinem Fenster mit seinen Gespielen immer Ringelreihen tanzte. Dies Kind, das ich nie gesehen habe, hat mir Gewalt angetan. Seit du mich ansiehst, bin ich so »rührend«, so »töricht«. Das Kind ist nun in mir. Ich selbst? – Nein, glaube nicht, dass ich dir Komödie vorgespielt habe. Ich konnte nicht anders, es war mir ganz natürlich. Verstehst du das?
Du bist edel, ich liebe dich, ich werde dir immer für alles dankbar sein, auch wenn du mich jetzt vielleicht verlässt. Du hast mich geschont wie ein krankes Tier. Du hast nie meine Schwäche ausgenutzt und bist doch ein Mann. Aus all dem Zufall von Worten, Kleidern, Mienen, Frisuren, Gedanken, Gebärden, aus all meinem Gestern und Heute hast du ein Ding gemacht. Und das – bin ich. Bevor ich so war, gab es mich gar nicht. Vielleicht habe ich vorher nur in deinem eigensinnigen Schädel gesessen.
Du, kein Verführer kann so Gewalt antun wie du Tugendhafter. Keine Mutter kann so über ihr Kind wachen. Und ich liebe dich für diese Gewalt, aber – ach Liebster ich darf dir keinen Vorwurf machen. Es gibt nichts Köstlicheres im Himmel und auf Erden als deinen Handkuss. Aber nun kommt das, was vielleicht nur Zufall war; und mir ist so furchtbar bange, dass du es nicht verstehst. Und verstehst du's nicht, dann ist alles aus, dann muss ich fortgehen von dir.
Zufall vielleicht – oder doch was anders. Du hast mir von den keuschen Frauen der Stadt Babylon erzählt, die einmal im Tempel der Göttin sich preisgeben mussten dem, der irgend woher kam. An diesen Tempel habe ich oft gedacht. Vergib mir Liebster. – Nun muss ich erzählen. 70
Es war im zweiten Jahre unserer Bekanntschaft am Fastnachtdienstag, du trugst eine blaugraue Mönchskutte, in der alle deine Bewegungen lang und gelassen waren. Aber bald wurdest du nervös, hastig, deine Hand tat mir weh, dein Kuss machte meine Lippen bluten. Du hast später manchmal von dieser Nacht gesprochen und gesagt, ich wäre damals anders gewesen als sonst, böser, verführerischer.
Ich trug ein grünseidenes Sommerkleid, ein Erbstück aus dem Schrank der Großmutter. Du meintest, es wäre die altertümliche Farbe, die so seltsam wirkte zu meinem Hals und Haar. »Du bist so fern und viel zu nah«, sagtest du. Das Kleid war übrigens für Krinoline gearbeitet und machte mir Hüften. Mir war etwas ängstlich zumut in dieser Seide, die meine natürliche Gestalt veränderte. Alle Blicke, die meine Taille streiften, taten mir weh.
Um Mitternacht wolltest du fort vom Fest. Du batest mich, dich nicht allein zu lassen. Wir fuhren zu dir. Du gabst mir dein Schlafzimmer, und als ich im Bett lag, kamst du herein und setztest dich zu mir, um mich in Schlaf zu schwätzen, was du so gut kannst. Aber du warst nicht ruhig wie sonst. Deine Blicke waren voll Fieber. Dann knietest du, und legtest deinen Kopf in meinen Schoß. Deine Schultern zuckten vor Schmerz. Du tatest mir leid, wie ein Kind der Mutter leid tut. Ich streichelte dein Haar. Aber da richtetest du dich auf, sahst mir ins Auge und fragtest: »Olga, hast du nicht einmal zu mir gesagt: Dir kann man ganz vertrauen? Ist das noch wahr? Kann man mir noch vertrauen?« Ich zog dich in meine Arme und küsste deine Stirn – und dann gingst du ins Wohnzimmer hinüber.
Die Kerze brannte noch und gab so liebes Licht. Das grüne Kleid lag auf dem Stuhl in grotesken Falten. Wie lauter Hüften waren die Falten. Ich konnte nicht schlafen. – Leise stand ich auf. Ich mochte dich nicht wecken, du armer Lieber – nein, mir war bange vor deinem Erwachen, ich wollte davon und ich hatte ein schlechtes Gewissen. Dass er nur nicht erwacht, dachte ich, zog lautlos das Kleid an und schlich fort.
Ich bin ja oft in der Nacht allein nach Hause gegangen. Mein Gott, in München braucht man sich nicht zu fürchten. In dieser Nacht fürchtete ich mich und wollte erst den kürzeren Weg über Feld vermeiden und lieber in den Straßen bleiben. Aber dann schämte ich mich meiner Furcht und ging mir selbst zum Trotz auf die Wiese. 71
Mit einmal tat was Grelles meinen Augen weh: Es war das Azetylenlicht einer Radlaterne. Unheimlich langsam kam es näher, den Fußpfad herauf. Ich verließ den Weg und ging über Gras und Geröll, um dem, der da kam, nicht gerade vors Rad zu laufen. Mit einmal stand er vor mir. Die Lampe blendete mich. Ich konnte nicht von der Stelle.
»Wohin?« fragte er, dessen Gesicht ich nicht sehen konnte. »Ich muss aufs Fest zurück«, sagte ich hastig. Warum ich das sagte, weiß ich nicht. Er lachte schrecklich: »Unsinn, es ist Aschermittwoch. Du kannst wohl nicht schlafen?«
Woher wusste er das?
Er fasste mit der Linken nach meinem Handgelenk. Mit der Rechten dreht er das Rad so, dass das Licht mich grell bestrahlte. Mein Mantel klaffte: Er sah mein Festkleid. »Verrückte Mode«, sagte er. Die Trivialität seiner Sprache machte mich schwach. »Komm«, sagte er, »wir gehen aufs Fest.«
Nun war ich an seiner Seite, sah sein knochiges unangenehmes Profil mit der niedrigen Stirn, den kleinen tiefliegenden Augen. Nur seine Nase war edel. Und da, wo sie in der Stirn wurzelte, war viel Gewalt.
»Lassen Sie mich los«, rief ich, »ich werde um Hilfe schrein.«
»Warum?« fragte er und fasste mein Gelenk fester. Ich schluchzte. Die Stimme versagte mir wie in einem Traum.
Liebster, ich weiß nicht wie das kam: Ich lief an seiner Hand wie ein Kind, das man mitzieht. Er stieg eine Treppe hinauf in einem Haus, das Rad links und mich rechts. Er stieß eine Tür mit dem Fuß auf, nahm die Lampe vom Rad und stellte sie auf den Schemel. Auf einer Matratze am Boden lag ich. Die Laterne stach mir in die Augen, in die Brust. »Das Licht tut so weh. Hast du keine Kerze?« – »Nein, mach doch die Augen zu –.«
Ein furchtbarer Gasgeruch drang auf mich ein. Mir war als strömte mein Leben aus, aus einem Gashahn, den eine dumme Magd in der Küche aufgelassen hat.
Und dann stand er auf, ging an sein Rad und pumpte den Reifen auf. Die Tränen stürzten mir aus den Augen. Ich konnte mich nicht regen. Da drehte er sich um und machte ein gutmütiges Gesicht, eine Grimasse von Mitleid. Das gab mir Kraft. Ich stand auf, ich lief, ich war im Freien –. 72
Ich jagte durch die Nacht zu dir zurück. Sacht schlich ich ins Schlafzimmer und warf die Kleider ab. Die Kerze brannte noch. Die Tür war angelehnt. Ich öffnete und kam im Hemd an dein Lager. Du, ich hatte einen sehr schlimmen Gedanken. Aber da lagst du so still, so gut. Ich hätte deine Füße küssen mögen, baden mit meinen Tränen, mit meinen Haaren trocknen. Ach, ich bin schlecht, du Unschuldiger. Aber was sollte ich tun?
Ich lag still im Bett und überlegte, wie ich dir morgen alles erzählen wollte. Als die Sonne aufging, kamst du herein, du warst frisch und schön im Morgen. Du nahmst meine Hand, küsstest sie und sagtest: »Olga, verzeih mir das von gestern. Vertrau mir wieder ganz.« – Du hast dich gewundert damals, dass ich so wild weinen musste. Verstehst du nun? Verstehst du, dass ich dir nichts sagen konnte?
Du bist so gut. Du weißt für alles, was mit mir geschieht, nachher immer eine Erklärung. Am Ende sagst du nun, ich hätte nicht gewusst, was ich tat. Mir wäre einfach Gewalt geschehen. – Eduard, wenn ich dir nun noch eins sage, kannst du mich dann noch lieben? Wenn er, der andere, auf der Wiese meinen Arm wieder los gelassen hätte, ach Gott, ich wäre ihm nachgelaufen, glaub ich, wie das Kalb zur Schlachtbank. Verstehst du das, Lieber? Kannst du mich noch lieben?
Olga.