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Die Nacht, die auf diesen bewegten Tag folgte, brachte Helenen einen ruhigen Schlaf. Sie glaubte Alles geschlichtet und wieder auf Jahre hinaus geordnet zu haben. Wenn sie gewußt hätte, daß Walter kein Auge schloß bis gegen den späten Morgen, hätte sie ihm nicht so heiteren Gesichtes nachgesehen, als er seine Wanderung nach dem Landhause des Bürgermeisters antrat.

Er hatte jetzt nur die Lehrburschen draußen zu seiner Hilfe. Der Meister hütete immer noch das Zimmer, Peter Lars ließ sich nicht sehen. Es hieß, daß er im »Stern« übernachtet habe, und seine Absicht schien zu sein, sich eine Zeitlang vermissen zu lassen, um, wenn er endlich wieder käme, mit Dank statt mit Vorwürfen begrüßt zu werden. Doch richtete sich der Alte ganz so ein, als ob er sich ohne den Gesellen behelfen müsse, gab Walter seine Anordnungen, schrieb inzwischen in die Hauptstadt, um neue Hilfe herbeizuschaffen, und ließ alle Habseligkeiten des Burschen ihm in den Stern nachschicken, ohne weiter ein Wort an ihn zu verlieren.

So vergingen drei oder vier Tage. Es war eine beklommene Luft im Hause, kein Lachen, kein munteres Gespräch; die drei Menschen – denn auch Helene war nachdenklich geworden – gingen wortkarg um einander herum. Wenn Walter, der jetzt auch über Mittag draußen bei seiner Arbeit blieb, in der späten Dämmerung nach Hause kam, aß er hastig, was man ihm aufgehoben hatte, und ging dann, Müdigkeit vorschützend, auf seine Kammer, ohne den traurigen Blick des Mädchens zu verstehen. Doch merkte sie wohl, da sein Licht jedesmal tief in den Leuchter eingebrannt war, daß er sich nicht zurückzog, um zu schlafen.

Auch verließ er das Haus nicht darum so früh, weil es ihm keine Ruhe gelassen hätte, an die Arbeit zu kommen. Das Landhaus lag kaum eine Stunde von der Stadt entfernt, da wo der Wald eben anfing und die Gegend hügeliger wurde. Es war ehemals ein fürstliches Jagdschloß gewesen und seitdem durch manche Hände gegangen, zuletzt wenig geschont und von einem guten Oekonomen zu wirthschaftlichen Zwecken verbaut. Der Bürgermeister, der damit prunken wollte, daß er eine Villa besaß, die mehr kostete als eintrug, ließ die Wohnräume im alten Geschmack wieder einrichten. Er dachte daran, den Garten im Sommer dem »Vergnügen der Einwohner« zu öffnen, da der Weg hinaus nur ein mäßiger Spaziergang war. Und doch kam es nicht selten, daß Walter drei volle Stunden darauf verbrachte, während die Lehrburschen in dem sogenannten Muschelsaal, statt ihre Arbeit zu thun, Ball spielten oder im Garten Unfug trieben. – Indessen schlenderte ihr junger Zuchtmeister in den laublosen Waldpartieen umher, in seine Gedanken verloren. Erst die höher rückende Sonne, die jetzt noch in die tiefsten Gründe drang, mahnte ihn endlich, daß man ihn nicht hinausgeschickt hatte, um die Vögel beim Nesterbauen zu belauschen. Er eilte dann quer durch Busch und Hecken dem Hause zu, fuhr die Jungen an mit einer Barschheit, die sie sonst nicht an ihm kannten, und ging so hitzig an die Arbeit, als sollte heute noch das Werk von Wochen zu Stande kommen. Dann plötzlich ließ er den Pinsel wieder ruhn und saß regungslos auf dem Gerüst, irgend einen leeren Fleck der Wand anstarrend, auf den seine Phantasie ein reizendes Gesicht hinzauberte, einen ernsthaften Mädchenkopf, der sich auf weißen Schultern ruhig und vornehm bewegte, und ein Paar schöngeformter Arme, von jenem matten perlenfarbnen Glanz, den die Kunst so schwer nachahmt, der aber einen jungen Künstler seine Arbeit wohl kann vergessen machen.

Ueber diesem Brüten war die halbe Woche ziemlich fruchtlos vergangen, als der Meister eines Morgens ihn zu sich rief und in der Meinung, die Decke des Muschelsaals sei bis auf das Mittelbild fertig, einen alten Kupferstich ihm überlieferte, mit dem Auftrage, die Landschaft, die derselbe darstellte, einstweilen in schicklicher Vergrößerung mit der Kohle auf den weißen Grund des Plafonds zu übertragen. Er selbst wolle gegen Mittag hinauskommen, um zu entscheiden, ob es so bleiben könne. – Es war ein Stich nach Claude Lorrain, eine Architektur im Vordergrunde, an die sich hohe Bäume anschlossen. Mit dem Sonnenaufgang über den Bergen des Hintergrundes dachte der Meister es wohl noch selbst aufnehmen zu können.

Eiliger als sonst machte sich Walter auf den Weg; die Aufgabe lockte ihn, er war im landschaftlichen Zeichnen durch eigene Uebung gewandt, während er das Figürliche immer am liebsten seinen Mitgesellen überlassen hatte. Auch sollte anfangs der Mittelgrund der Saaldecke mit allegorischen Figuren ausgefüllt werden; daran war jetzt nicht mehr zu denken, da Peter Lars so plötzlich verschwunden war.

Eben dachte Walter an diesen leidigen Menschen, über dessen Ausbleiben er von Herzen froh war, als er seine Stimme hinter sich hörte und, sich umwendend, die wohlbekannte Figur des Burschen hastig herankommen sah. Er konnte nicht umhin, stehen zu bleiben und ihn zu erwarten. Eine geheime Neugier trieb ihn auch, den Grund seiner plötzlichen Verbannung aus dem Hause, wovon er nichts Genaueres erfahren hatte, aus ihm herauszuhorchen.

Der kleine schwarze Mensch, der im Reiseaufzug mit Ränzel und Stab daherkam, schien in seiner vergnügtesten Laune zu sein. Sein Mund spitzte sich noch süßer und pfiffiger als sonst, die Augenbrauen zogen sich bis unter den Mützenschirm in die Höhe, die Stimme, mit der er Walter begrüßte, klang hoch und dünn, wie eine lustige Knabenstimme.

Dich habe ich gerade noch sprechen wollen, rief er schon aus der Ferne. Scheiden und Meiden thut zwar weh, aber wenn ich's auch mit dem Meister schriftlich abgemacht habe, dir hätt' ich doch noch so Manches zum Abschied zu sagen, was man nicht gerade in einen Scheidebrief schreibt. Wenn sie dir's also zu Hause nicht verboten haben, mit einem so vogelfreien Menschen dich gemein zu machen, so begleit' ich dich eine Strecke.

Meinetwegen! Aber was hast du nur angestellt, Peter, daß es so plötzlich dahin gekommen ist?

Eine Dummheit, mein wohlerzogener junger Freund, eine rechte Eselei. Aber du wirst's ja wohl wissen. Oder sollten sie dir's verschwiegen haben, weil böse Beispiele gute Sitten verderben?

Die Hauptsache weiß ich freilich, sagte der Jüngling erröthend. Er wußte nichts weiter, als daß der Andere im Rausch sich unehrerbietig gegen Helene betragen; so viel hatte er von der Christel gehört.

Die Hauptsache? höhnte Jener. Eine schöne Hauptsache! Da hab' ich schon andere Hauptsachen in meinem Leben ausgehen lassen, und kein Hahn hat darnach gekräht. Wäre ich nur nicht so dumm gewesen, mich vor der Zeit zu verraten und dann abführen zu lassen, wie einen elenden Spitzbuben – Pest und Hölle! ich hätte meinen Zweck erreicht und könnte jetzt ins Fäustchen lachen, wenn ich auch marschiren mußte. Aber jetzt – was hab' ich jetzt? Abziehen muß ich jetzt mit einer langen Nase, und Andere bleiben zurück und lachen mich aus, und ich verdien's, weil ich einer der elendesten Eselsköpfe bin, die jemals – nun so lache doch, Wohlerzogener! Du siehst, ich bin auf nichts Besseres versessen, als mit meiner Tölpelei mich selber zum Besten zu geben. Ich weiß nicht, was da zu lachen wäre, erwiederte Walter kalt; es reute ihn jetzt, den Burschen überhaupt neben sich dulden zu müssen.

Ja, du bist immer die alte Milchsuppenseele, brummte der Andere. Du hast so ein blondes Gemüthe, wie deine Mutter gehabt haben muß, um sich so leicht anführen zu lassen.

Mensch! brauste der Jüngling auf. Ich werde mir's verbitten, daß der Name meiner Mutter jemals von deinen Lippen kommt, oder –

Und er hob seine große Faust gegen den Schwarzen, der plötzlich stehen blieb und ihn mit einem herausfordernden Blicke maß.

Sachte, mein Sohn! sagte er. Ich weiß wohl, daß auch die beste Milch zuweilen sauer wird. Aber sei ganz ruhig. Ich sehe gar nicht ein, was ich dabei profitiren sollte, wenn ich auch mit dir in Unfrieden auseinander käme. Du hast mich immer anständig behandelt, nobel, wie man zu sagen pflegt. Für den Meister war ich eine Arbeitsmaschine; für unsere angebetete Mamsell ein Ungeziefer; du allein hast mit mir gesprochen wie mit einem Menschen. Und darum will ich dir zu guter Letzt noch einen Gefallen thun, mein Junge, daß du, wenn alle Andern auf mich schimpfen, sagen kannst: er hat auch seine guten Seiten gehabt, der Wurm, die Kröte, der dumme Teufel von einem Ungeziefer.

Mach's kurz, erwiederte Walter. Ich habe mehr zu thun.

Hast du, mein Sohn? Bist jetzt der Obergesell, der Allesmacher, der vor jeden Riß stehen muß? Nu, bis der Meister einen Ersatz findet für Peter Lars, wird's ja auch wohl gehen müssen. Das hat er sich wohl nicht träumen lassen, der Alte, als er dich aus christlichem Erbarmen in sein Haus nahm, daß du ihm einmal für Zwei arbeiten und eine Menge Geld verdienen würdest. Kriegst auch jetzt Zulage, mein Junge, oder denkt der bescheidene Herr an so gemeine Dinge nicht?

Was willst du mit all dem Gerede? sagte Walter ungeduldig. Was geht's dich an, wie mich mein Pflegevater –

Pflegevater! unterbrach ihn der Andere, und seine Augen blitzten von schadenfroher Lustigkeit. – Ja so! Nun für einen Pflegevater hat er sich ganz ordentlich gegen dich betragen. Wenn man freilich bedenkt, was ein rechter und leiblicher Vater seinem Sohn schuldig ist, pah! so ist's nicht weit her, was er für dich thut, zumal nach Allem, was er deiner Mutter schuldig war und – schuldig geblieben ist.

Er sah dem Jüngling fest ins Gesicht, der in einer furchtbaren Erregung vor ihm Stand. Seine Brust arbeitete gewaltsam, die Nasenflügel bebten. Er trat unwillkürlich einen Schritt zurück und lehnte sich an einen der Bäume, die längs der Straße standen.

Ein helles Gelächter kam von den höhnischen Lippen des Schwarzen. Ist's möglich? rief er. Also wirklich keine Ahnung, wie die Dinge stehen? O du heilige Einfalt! Nun, da ist es ja ein wahres Glück, daß ich ein paar Tage im »Stern« logirt und von dem alten Hausknecht, der früher beim Meister gedient, so nach und nach Alles erfahren habe. Dieser wohlerzogene Waisenknabe wäre am Ende Siebzig Jahre alt geworden, ohne seinen eigenen Vater zu kennen.

Der Jüngling stand noch immer wie vom Blitz gerührt; seine Lippen bewegten sich zum sprechen, aber die Stimme versagte ihm.

Was stehst du da wie eine Bildsäule, fuhr der Andere fort, und thust, als hättest du die Trompete des jüngsten Gerichts gehört? Sei nicht länger ein weichherziger Tropf, den jeder kneten kann, wie er will, sondern sieh die Sachen mit gesunden Augen an und nimm dir dein Theil davon, was dir gebührt; so kommt man respectabel durch die Welt, wenn es auch nicht ganz mit rechten Dingen zuging, als man in die Welt kam. Laß uns weiter gehen, ich habe noch den weitesten Weg vor mir, und es eilt mir, das verdammte Spießbürgernest da hinten erst aus den Augen zu haben?

Peter, sagte der Jüngling, indem er sich mühsam bezwang, ist das, was du da sagst, mehr als Geschwätz und Gevatterklatsch?

Frage den Alten selbst, wenn du's nicht glauben willst. Ich möcht' auch wohl sehen, was er für Augen macht, wenn du ihn plötzlich mit Papa anredest. Uebrigens ist die Sache so sicher und gewiß wie's Einmaleins. Und wenn du nur nicht das große Wickelkind wärest, als welches sie dich aufgefüttert haben, hättest du dir's längst an den fünf Fingern abzählen können. Ich wenigstens habe so was gerochen, sobald ich nur die Nase ins Haus gesteckt hatte, und mehr als einmal hab' ich auch darauf gestichelt, und gerade, weil du nicht darauf eingingst, mir gedacht, der weiß Alles, stellt sich aber unwissend und mag seine Gründe dazu haben. Zunächst – man braucht euch nur neben einander zu sehen, um sich zu sagen: da ist 'mal wieder der Apfel nicht weit vom Stamm gefallen. Dieselben langen Gliedmaßen, dasselbe Gestell; von hinten gesehen und in den Kleidern des Alten würde euch nicht der Zehnte unterscheiden. Aber freilich bei ihm ist Alles ins Schwarze oder Aschgraue übersetzt, was bei dir noch gelb und roth und weiß ist. Nun, so viel hast du eben von deiner Mutter mitbekommen. Sie muß eine verdammt saubere Person gewesen sein; der alte Kerl, der Hausknecht, hat sie noch gesehen kurz vor ihrem Tode; da hat er ihr einmal, versteht sich heimlich, Geld vom Meister bringen müssen. Seitdem seh' er sie noch immer leibhaftig vor sich, sagte er, und es sei dem Alten nicht zu verdenken gewesen, daß er sich in sie verschossen; wohl aber, daß er sie hat können sitzen lassen, um seine nachherige Frau zu heiraten, die Schwester unserer angebeteten Mamsell, die ihr aber in keinem Zuge ähnlich gewesen sei, nur ihre Geldkasten, die waren gleich schwer. Und der Meister scheint auch erst zu der jüngeren, der Helene, gekommen zu sein, die hat ihn aber abgewiesen, ein stolzes Frölen war sie schon dazumal; und dann hat er sich an die andere gemacht, die, wie gesagt, nicht hübsch war und auch nicht stolz, und die hat ihn genommen.

Sie hätte ihm wohl auch einen Korb gegeben, wenn sie gewußt hätte, daß deine Wenigkeit damals schon vorhanden war, ja schon die ersten Stiefeln trug, und daß ihr sauberer Hausherr, wenn er seine »Geschäftsreisen« machte, alle Vierteljahr einmal nachsah, wie's in seiner ersten Wirtschaft stand. Das geschah Alles so schlau bei Nacht und Nebel, daß außer deiner Frau Mama und etwa dem alten Hausknecht keine Sterbensseele was davon merkte. Ein verdammter Fuchs, der Alte – entschuldige diese freimüthige Bemerkung. Aber da du selber, obwohl du mit der Zeit ein ganz fixer Junge geworden bist, niemals Unrath gemerkt hast, muß er's doch über alle Maßen pfiffig angestellt haben. Na, endlich ist die Frau denn aber doch dahintergekommen, und nun kannst du denken, was es für einen Mordslärm gegeben hat. So viel hat sie durchgesetzt – und da sie die Schnur vom Geldbeutel hielt, konnte sie's wohl – daß die Geschäftsreisen unterblieben. Dumm, daß sie's that! Denn natürlich, seinen Humor hat es eben nicht verbessert. Und als einmal ein Brief kam – oder war's, daß der Hausknecht mündlich die Nachricht brachte? – deine Mutter liege todtkrank und es sei gar keine Hoffnung, da kannst du wohl denken, daß der Alte nicht mehr mit sich spaßen ließ. Auf und davon und wohl drei Wochen ausgeblieben, auch in der Zeit keinen Brief an die Frau geschrieben, und was konnte er ihr auch schreiben, da er wußte, es freute sie nur, je schlechter es ging? Zuletzt kam er eines Abends nach Hause, da hätte sie nun Ruhe haben können, denn die Andere, deine Mutter, war todt und begraben. Aber nun war's erst vollends schlimm um den Hausfrieden bestellt, denn er brachte ihr eine kleine Ueberraschung von der Reise mit, einen Waisenknaben, Findling oder Pflegesohn, wie man's nennen will, und da mochte sie sich dagegen stemmen und steifen, wie sie wollte, der Junge war einmal in der Welt und sie konnte nichts mehr thun, als ihn schlecht behandeln.

Daß sie das redlich gethan hat, wirst du ja wohl am besten wissen. Der Alte mußte wohl Fünf gerade sein lassen, war auch selten zu Hause, und du scheinst damals schon so ein Lammsgemüth gehabt zu haben, daß du dich nicht gehörig wehren oder auch nur beklagen konntest. Der alte Hausknecht faßte sich einmal ein Herz und sagt' es der bösen Sieben, daß der unschuldige Wurm doch nichts dafür könne, wenn seine Mutter dem Vater besser gefallen habe, als sie. Da hatte er aber die längste Zeit im Hause gedient, und, sagte er, es war mir selber lieb, daß ich wegkam; ich konnte den Jungen nicht so herumstoßen sehen.

Dem Alten sei es auch endlich zu bunt geworden. Da habe er sich seine Schwägerin verschrieben; denn weil die Frau vor Kummer und Zorn krank geworden, sei's im Hause drunter und drüber gegangen. Na, da ist denn unsere angebetete Mamsell erschienen, und wie die das Ding angegriffen, brauch' ich dir ja nicht zu sagen. So, nun ist's 'raus – und er lachte höhnisch vor sich hin – und es ist mir ein besonderes Gaudium, daß ich gerade noch an den alten Johann gekommen bin und ihm bei ein paar Flaschen Franzwein die Würmer aus der Nase gezogen habe. Hab' ich doch dem Alten den Possen spielen können, daß ich dir die ganze heimliche Bescherung vor die Augen gebracht habe. Du magst nun thun, was du willst. So viel weiß ich: wenn ich du wär', ich ließ' mich nicht so als ein vaterloser Lump aufs Gnadenbrod setzen, ich spräche mit dem Alten aus einem andern Ton. Reisen müßt' er mich lassen, thun und treiben, was mir beliebte, und in der Tasche müßt' ich's klingen hören. Warum hat er meine Mutter wegen eines Geldsacks sitzen lassen? Nun wollt' ich wenigstens die Stiefmutter beerben, wie sich's gehört. –

Sie waren bei diesen Reden an den Anfang des Wäldchens gekommen, Walter sagte kein Wort, sondern ging mit schweren Athemzügen und langen Schritten des Wegs, als säße ihm der böse Feind auf den Fersen. Der kleine Schwarze fuchtelte mit dem Stock in der Luft herum und schnitt die wundersamsten Gesichter, die für jeden Andern zum Lachen gewesen wären. Jetzt stand er an einer Stelle, wo die Wege auseinanderliefen, still, lüftete die Mütze, sah zum letzten Mal nach dem Städtchen zurück und sagte:

Ich bin heilfroh, daß es sich zwischen mir und dem Alten nicht doch noch zurechtgezogen hat. Denke dir, ich habe mich herabgewürdigt, ihm heute früh einen Brief zu schreiben, worin ich ihm meine Bedingungen stellte, wenn ich wieder zu ihm gehen sollte; denn daß er mich gerade jetzt nöthig hätte, das wird keiner streiten. Also schrieb ich ohne Umstände und wohl ein bischen allzu unverfroren. Na, er ist mir nichts schuldig geblieben, denn wenn er will, kann er reden und schreiben wie der Bonaparte. Mir auch recht! Ich that's doch nur aus dieser elendigen Ursach', weil ich nämlich von unserer angebeteten Mamsell nicht loskann, sie mag mich noch so viel treten und malträtiren. Pah! wenn ich nur erst weg bin, wird der Schwindel auch vergehen. Aber, was ich dir noch sagen wollte, Freundchen: nimm dir ein Exempel an mir und mach, daß du wegkommst. Du nämlich hast nicht zu fürchten, daß sie dich schlecht traktirt, dafür aber das Gegentheil. Weißt du denn, daß sie dem Aktenfresser, dem Notarius, den Laufpaß gegeben hat? Und weißt du auch, warum? Nur weil sie in deine Vergißmeinnichtaugen verschossen ist, das kannst du mir glauben. Und so wie du nun einmal bist, eine Milchsuppenseele, kannst du Gift darauf nehmen, daß du noch einmal von ihr auf ewige Zeiten ins Haus geschlachtet, ich meine nämlich: geheiratet wirst; reiße die Augen auf, so viel du willst, aber ich will Hans Sauerbraten heißen, wenn's nicht so kommt. Und das wäre denn doch Jammerschade um dich. Erstens weil sie eine Art Tante von dir ist, so ein Kebstante nur, aber alt genug, deine richtige zu sein, und wenn du erst ein kompletter Mann bist, wie unsereins, ist sie schon eine alte Person, und dann macht sie dir mit Eifersucht und allem Teufel die Hölle heiß. Und dann mußt du dein Lebtag hier hinterm Ofen sitzen, statt deine jungen Jahre durch die Welt zu treiben, wie's recht ist und sich gehört. Ich selbst, wenn ich sie gekriegt hatte, hätt's wahrscheinlich hinterher bereut. Aber ich war wenigstens zum Rasendwerden verliebt, und du, mein Junge, wirst dir's eben nur so angewöhnen, wenn ihr's so forttreibt. Na, du wirst ja auch endlich gescheit werden. Denk an mich, ich mein's gut mit dir. Element noch einmal! was machst du für'n Gesicht! Hat dich's denn wirklich alteriren können, daß ich dir zu einem Vater verholfen habe? Der schlimmste ist's noch lange nicht, wenn ich ihn auch nicht sehr zu rühmen habe. Na, nun leb mir wohl, Kamerad, und grüß mir das Nest da unten, und wenn wir uns 'mal irgend wo in der Welt wieder treffen, so hoff ich, soll noch ein Kerl aus dir geworden sein. Schlag ein, mein Junge!

Er hielt ihm die Hand hin; als aber Walter wie abwesend vor sich hin sah und kein Glied bewegte, schwang der kleine Schwarze mit einem halb lustigen, halb grimmigen Fluch seinen Stock und trollte sich pfeifend seiner Wege.

In welcher Verwirrung aller Gedanken der Blonde zurückblieb, ist nicht zu schildern. Aber der Tumult in ihm war von so vermiedenen Seiten angefacht, daß ein Aufruhr dem andern die Wage hielt und eine stille Betäubung eintrat, in der nur dann und wann ein einzelnes Wort von den vielen, die er vernommen, wieder auftauchte und, da aller Zusammenhang fehlte, ihn mehr verwunderte, als beunruhigte. Es kam ihm vor, als habe ihm der leichtfertige Geselle allerlei tolles Zeug, das ihn im Grunde nichts angehe, nur so zur Unterhaltung aufgetischt und er könne nichts Besseres thun, als über all die erlogenen Schnurren hinterdrein zu lachen. Dazu kam es nun freilich nicht. Doch ging er in eben nicht trauriger Verfassung die Waldwege fort bis an das Landhaus, trat in den sonnigen Muschelsaal, dessen hohe Glasthür der warmen Frühjahrsluft weit geöffnet war, und stieg, nachdem er den Lehrburschen ihre Arbeit zugeteilt hatte, auf das Gerüst unter der Decke, wo er nun den alten Kupferstich befestigte und ohne Aufenthalt daran ging, die Umrisse der Landschaft auf die weiße Mauerfläche zu werfen. Da er Uebung im Architekturzeichnen hatte, so stand der Tempel bald ganz schmuck vor den hohen Ulmen und Platanen.

Während dieser ganzen Zeit hatte er nur dunkel und ohne Besinnung an all die Eröffnungen des Peter Lars zurückgedacht, jetzt plötzlich, wie er sein Tempelchen im Ganzen überschaute und dachte, ob der Meister wohl damit zufrieden sein würde, fiel ihm ein, daß der Alte ja herauszukommen versprochen hatte. Da, zu jener Thür herein, würde er kommen. Wie sollte er mit ihm sprechen? wie ihn anreden? Ihn »Meister« nennen, wie bisher?

Das Blut schoß ihm plötzlich zu Kopf und es flimmerte ihm vor den Augen. Er setzte sich auf die Leiter und stützte die Stirn in beide Hände. So überdachte er sein Geschick, was hinter ihm lag und was nun werden sollte. Jedes Wort, das Jener gesagt, kam ihm wieder in den Sinn: er hätte bis auf die Silbe Alles und Jedes niederschreiben können, so tief war ihm auch das Geringste in die Seele gedrungen. Er las die ganze Schrift von Anfang bis zu Ende sich selber wieder vor; nur gegen den Schluß stockte er; was er ihm von der Helene gesagt hatte, schien unmöglich, unbegreiflich. Und doch, was konnte er dagegen sagen? Stimmte nicht so vieles nur dann überein, wenn Peter Lars recht gemuthmaßt hatte? – Das Blut pochte ihm heiß und stürmisch in den Schläfen. Es war ihm unmöglich, die Reißkohle wieder in die Hand zu nehmen.

Eine tiefe Niedergeschlagenheit wollte sich zuerst seines Gemüthes bemächtigen; im nächsten Augenblick überströmte ihn wieder ein wundersam wonniges Gefühl, daß er an sich halten mußte, nicht laut aufzujauchzen. Er sah über die Gerüstbretter hinweg in den sonnigen Park hinaus, wo der Rasen schon überall grünte und an den Zweigen die großen Blätterknospen nur noch einen Tropfen Regen abwarteten, um fingerlang hervorzubrechen. Die Vögel schmetterten in der klaren Luft, und am Dach des vorspringenden Halbrunds, das der Muschelsaal bildete, sah er die Schwalben bauen. Ihm war süß und selig zu Sinne. Er dachte an nichts mehr, nicht wie er den Vater hinfort anreden, nicht was er thun und beginnen wollte, um seinen Lieblingswunsch endlich ins Werk zu setzen und den Pinseln und Farbentöpfen den Rücken zu drehen: nur ihr ernsthaftes Gesicht sah er vor sich; jetzt aber mit seltsam zärtlichem Ausdruck, und die weißen Schultern, und die Arme, und hörte ihre Stimme wie damals, als sie ihn auf die Stirne geküßt und gesagt hatte: Wer so verzogen wird, der kann lachen!

Er merkte es selbst nicht, wie lang er so in den Tag hineinträumte, bis die Lehrburschen ihn daran mahnten, daß es Zeit sei, den Imbiß zu nehmen. Er ließ sie gewähren und blieb oben auf dem Gerüst, da ihn nach Essen und Trinken nicht verlangte. Auf einmal aber fuhr er heftig zusammen, denn er hörte draußen den alten Hausverwalter, einen abgedankten Soldaten, der das Landhaus hütete, auf eine Frage erwiedern: Den Herrn Walter finden Sie im Muschelsaal; er scheint heute in einem Strich fortarbeiten zu wollen, bis es dunkel wird.

Mit bebenden Knieen richtete er sich auf. All seine Fassung hatte ihn verlassen bei dem Gedanken, daß er jetzt zum ersten Mal wissend seinem Vater gegenüber stehen sollte. Aber nicht der ungleiche, schwere Schritt des Meisters kam die Stufen des Pavillons herauf. Die Augen jedoch, die ihn schon durch die hohen Fenster hindurch oben auf der Leiter erspähten, waren ihm nicht minder wohlbekannt.

Helene! rief er ihr entgegen. Was führt dich her? Und im Nu war er von der Leiter und stürzte auf sie zu.

Sie war ihm nie so reizend erschienen, die Wangen leicht geröthet von dem raschen Gang, das dunkle Haar unter dem Hütchen etwas zerweht, die Augen leuchtend von Freude und Munterkeit. Sie hatte ein rothes Tuch leicht umgeknüpft und trug ein sorgfältig eingebundenes Körbchen am Arm.

Nichts da! sagte sie, als er es ihr abnehmen wollte. Das kommt erst hinterher und ist nur die Zugabe. Vor Allem muß ich mich meiner Sendung entledigen: mit dem Tempel und Sonnenaufgang nach Claude Lorrain ist es nichts; dein schöner Fleiß von heute Vormittag war umsonst und du magst nur getrost Alles wieder abwischen. Der Bürgermeister hat geschickt; er will Neapel und das Meer und den feuerspeienden Vesuv seinen Gästen dort über den Kopf malen lassen; der Meister hat nicht wenig gebrummt und gewettert, daß man ihm so abgeschmackt in seine Pläne pfusche. Aber Seine Gestrengen haben bekanntlich ihre eigenen Kunstansichten, und so hilft keine Widerrede. Nun hat, um das Maaß voll zu machen, der Peter Lars einen so ungezogenen Brief an den Meister geschrieben, daß ihm der Aerger wieder auf die Nerven geschlagen ist und er nicht daran denken kann, selbst herauszukommen, wie er vorhatte, und so hab' ich's übernommen, dir vorläufig Bescheid zu sagen. Er wird am Abend noch weiter mit dir darüber verhandeln. Einstweilen also nur Waffenstillstand, das heißt, was die Decke betrifft. Denn im Uebrigen scheint mir der junge Herr hier noch ziemlich im Rückstande zu sein. Es sind da noch manche Liebesgötter, die sich mit Einem Bein behelfen müssen, und die Muschelsammlung zwischen den Blumenguirlanden ist auch ziemlich defect.

Sie ließ ihre lebhaften Augen heiter an den Wänden entlang schweifen, während er vor ihr stand, in ihren Anblick verloren, und kein Wort erwiederte. Ich sehe, mein Freund, sagte sie, daß die Neugier, was dieser Korb enthalte, dich total stumm gemacht hat. Wisse also, daß ich in meiner mütterlichen Fürsorge mir's nicht habe versagen können, bevor ich diese diplomatische Mission übernahm, noch einen Gang in die Speisekammer zu thun, da die Kunst freilich nur nach Brod geht, es aber nicht übel zu nehmen pflegt, wenn sie auch Fleisch und Wein dazu findet. Ich selbst habe mir einen ungewohnten kleinen Hunger unterwegs geholt, und so wollen wir nicht lange warten und unserm Korbe bald auf den Grund kommen. Nur mußt du uns einen Frühstücksplatz schaffen, wo es nicht nach Leimfarben und frischem Kalk, sondern eher nach Veilchen duftet. Komm, nimm deine Mütze. Wir wollen einmal den alten Garten durchwandern, ob wir nicht irgendwo eine schattige Bank finden. Das Uebrige, was wir zur Idylle brauchen, ist ja Alles beisammen.

Er lachte, doch schien er kaum gehört zu haben, was sie sagte. Seine einsilbigen Antworten klangen halb verlegen, halb zerstreut. Wie sie aus dem Saal heraustraten und der graubärtige Hausvogt die alte Soldatenmütze zog und dem stattlichen Paar mit einem gewissen väterlichen Wohlgefallen zunickte, wurde der Jüngling über und über roth, als hörte er ringsum seine tiefsten Geheimnisse von allen Zweigen ausrufen. Er ging neben seiner Freundin, ohne ihr den Arm zu bieten. Den Korb aber hatte er ihr trotz ihres Widerspruchs stillschweigend abgenommen. Sie hing sich statt dessen ihr Hütchen an den Arm. Die Sonne ist noch nicht gefährlich, sagte sie und schlug die Augen fest nach ihr auf. Ihr Gesicht glühte von ungewöhnlicher Fröhlichkeit. – Kommt man sich doch wie aus Kerker und Ketten befreit vor, sagte sie, wenn man einmal die Stadt hinter sich hat. Ich meine, wer hier immer in der einsamen stillen Natur lebte, würde gar nicht alt werden, oder es gar nicht merken, was auf eins herauskommt. Schämte ich mich nicht vor dem würdigen Kriegsmann dort, so glaub' ich, ich finge hier trotz meiner hohen Jahre an zu tanzen; die Vögel machen gerade die rechte Musik dazu.

Komm, sagte er. Was ist Böses dabei? Die Allee dort ist glatt genug.

Sie schüttelte den Kopf. Erst frühstücken, sagte sie; und dann nach Haus! Ich habe da Alles stehen und liegen lassen, daß es ein Graus ist.

Er drang nicht weiter in sie und wagte kaum, sie anzusehen, als sie in den hohen Baumgängen hinschritten. Kein Mensch begegnete ihnen, obwohl der Garten noch sehr im Argen lag. Der Bürgermeister hatte den Gärtner fortgeschickt, da er sich mit ihm über allerlei Neuerungen nicht verständigen konnte. Nun stockte die Arbeit. Man sah überall die Spuren des plötzlichen Abbrechens. Doch war es um so heimlicher in der großen Stille.

Sie kamen plötzlich an die Stelle, wo ein Flüßchen durch den Park lief, das zu einem kleinen künstlichen See sich hatte ausbreiten müssen. Eine hölzerne Brücke hatte ehemals zu der Schwanen-Insel geführt, die man mit hohen Eschenbäumen und einer Einsiedlerhütte herüberwinken sah. Die Brücke hatte erneuert werden sollen, aber mitten im Abbruch war wieder Gegenbefehl von Seiner Gestrengen gekommen, und so führte nur erst ein einziger Balken, frei über die Stützen hinlaufend, ans jenseitige Ufer. Helene stand still.

Ich getraue mich nicht hinüber, sagte sie, obwohl der Balken mich wohl trüge. Ich fürchte mich vor dem Schwindel.

Die Schwanin brütet, sagte er wie für sich. 's ist hübsch zu sehen, wie das Männchen seine Flügel schüttelt, sobald man dem Nest zu nahe kommt.

Bist du drüben gewesen?

Oft. Es hat gar keine Gefahr. Komm, ich will dich tragen.

Wir werden alle beide ins Wasser fallen, lachte sie. Laß uns lieber umkehren.

Nein. Ich muß dir die Hütte zeigen. Es ist ein Tisch darin, wo wir frühstücken können. Nimm du nur den Korb und laß mich machen.

Indem hatte er sie schon aufgehoben, er fühlte die Last kaum, aber der schwanke Steg zitterte unter ihnen, und sie klammerte sich mit den Armen fest um seinen Hals. Mitten über dem rauschenden Flüßchen hielt er an. – Wie wär's? sagte er mit einem seltsamen Ton. Jetzt die Augen zugemacht und Eins – Zwei – Drei – und Alles wär' vorbei!

Sei nicht gottlos! flüsterte sie, und er fühlte, wie ihr Herz klopfte.

Als er sie glücklich drüben am Ufer hatte, hielt er sie noch einen Augenblick schwebend über dem Boden. Ich möchte doch sehen, wie lange ich dich tragen könnte, ohne müde zu werden, sagte er.

Und sie: Ich verlange gar nicht nach dieser Probe. Ich habe schon bequemer gesessen und wollte nur, ich wäre erst wieder hinüber. Aber da ist die Hütte. Wenn die Leute, die schon einmal unter diesen Bäumen gewandelt sind, plötzlich alle daherkämen, es müßte ein toller Maskenspuk sein.

Ich kann ihre Gesellschaft entbehren, erwiederte er leise.

Seltsame Zeiten müssen es doch gewesen sein, fuhr sie nachdenklich fort. Zöpfe und Puder und Galanteriedegen und dann wieder Schäferspiele und Eremitagen. Die Natur rächt sich immer, wenn man sie allzugrob aus dem Hause jagt. Sie schleicht sich dann in irgend einer Verkleidung wieder ein.

Dort sind die Schwäne, sagte er. Nun standen sie von fern und sahen dem schönen Schauspiel zu, wie die Schwanin in tiefer Ruhe auf ihren Eiern saß und der Schwan mit eifersüchtiger Hast in großen Kreisen das Nest umschwamm.

Hörst du, wie er schnaubt und zischt? fragte der Jüngling.

Es klingt unheimlich, sagte sie. Fast wie wenn etwas von menschlicher Leidenschaft in ihm arbeitete. Und der Gegensatz der sanften schneeigen Federn macht es vollends merkwürdig. Ich könnte hier stundenlang den Thieren zuschauen. Aber laß uns in die Hütte gehen. Da ziehen leichte Regenwolken auf.

Wirklich fing es schon an zu tröpfeln, und während sie nun zusammen an dem rohgezimmerten Tischchen saßen, hörten sie den prachtvollen Frühlingsregen auf das Rindendach herabrauschen und ein paradiesischer Wohlgeruch von tausend frisch aufbrechenden Blüthen drang durch die kleinen mit Spinnweb überhangenen Fenster zu ihnen hinein. Sie saßen neben einander auf der einzigen Bank des Hüttchens und sahen, während sie aßen, durch die offenstehende Thür über die Fläche des Sees, der im Regen dampfte und sprühte. Die Vögel waren plötzlich stumm geworden, und sie selber horchten sprachlos auf das Rauschen und Rieseln zu ihren Häupten.

Man sieht gar nicht mehr das andere Ufer, sagte sie. Der Regen fällt wie ein dichter Schleier herab und verbirgt einem die übrige Welt. Im Grunde ist nichts daran verloren.

Es sieht aus, als schwämme unsere Insel mitten im Meer, sprach er, den Blick starr auf die Wasserfläche geheftet. Ich wollte, das Ufer wiche immer weiter zurück und wir trieben endlich in den großen Ocean hinaus.

Du wärest mir ein schöner Robinson, du verwöhntes Kind!

Warum nicht? Hätt' ich nicht Alles, was man zum Leben braucht?

So lange der Korb noch nicht den Boden zeigt und das kleine Fläschchen nicht ausgetrunken ist. Allenfalls könnten wir auch noch dem Schwan die Eier abkämpfen; dann wäre das Lustspiel zu Ende und das Trauerspiel finge an. Ich hab' einmal eins gelesen vom Grafen Ugolin, den sie mit seinen Kindern in den Hungerthurm warfen. Ich möcht's nicht aufführen sehen, geschweige mitspielen.

Er sah unverwandt in das kleine Glas, das sie mitgebracht und ihm vollgeschenkt hatte. Was hilft's, sagte er leise, wenn der Leib satt wird und die Seele dabei verhungert! Lieber umgekehrt; meinst du nicht?

Ich verstehe dich nicht. Du redest seltsames Zeug.

Trink aus dem Glas, sagte er. Es heißt ja, man erräth dann die Gedanken.

Er reichte es ihr, sein ganzes Gesicht glühte, seine Augen wichen ihren verwundert forschenden Blicken aus. Sie nahm ihm das Glas ab, setzte es aber nicht an die Lippen.

Ich wollte, das Mittel hülfe, erwiederte sie. Denn seit einigen Tagen ist ein gewisser junger Mensch, der sonst keine Geheimnisse vor mir hatte, ein Buch mit sieben Siegeln für mich. Aber in diesem Wein wird schwerlich die Wahrheit sein. Das Gescheiteste wäre –

Sie hielt inne, denn plötzlich dämmerte ein Gedanke in ihr auf, den sie noch nicht fernhalten wagte. Er hatte die Augen aufgeschlagen und fest auf sie geheftet. Helene, sagte er, es ist zu viel verlangt, daß man reden soll, wenn einem die Kehle zugeschnürt wird. Aber so viel weiß ich freilich auch, ich muß fort!

Fort? Was fällt dir ein?

Du hast Recht, sagte er dumpf und ließ plötzlich das Auge mit dem Ausdruck einer verzweifelten Trauer zu Boden sinken. – Was fällt mir auch nur ein? Ich weiß es ja nur zu gut, ich kann nicht ohne dich leben!

Das Wort durchbebte sie bis in die Fußspitzen. Halb bewußtlos hielt sie das Glas immer noch in der Hand, ohne zu merken, daß sie den Wein verschüttete. So ist's nicht gemeint, sagte sie. Was sind das für Reden?

Sie wollte aufstehen; er faßte sie plötzlich an der Hand, daß sie zusammenfahrend das Glas fallen ließ. Wohin willst du? sagte er. Bleib! Hier mußt du's hören oder es erstickt mir das Herz im Leibe, daß ich's wie einen todten Stein in mir tragen muß. Wohl ist's so gemeint! Und noch einmal: Ich kann nicht ohne dich leben! Und mag es doch die ganze Welt hören, was kümmert's mich? Ich habe nichts auf der Welt als dich, und ich weiß, wenn diese Insel jetzt ins Meer hinausschwämme, so würdest du mein sein und ich dein in alle Ewigkeit. Kannst du's leugnen? Was ändert's nun, daß die Welt noch um uns ist und daß sie drüber schwatzen können nach Belieben? Können uns die Anderen glücklich oder unglücklich machen? Du hast nach Niemand zu fragen, ich bin ein verlorenes Waisenkind, und wenn ich noch einen Vater haben sollte, mich verlangt nie, vor sein Angesicht zu treten. Warum sollen wir in die Stadt zurück? Könnten wir nicht in die Welt hinaus, übers Meer, in eine Wildniß, wo uns Keiner den Taufschein abfordert, und da leben für einander und glücklich sein und der Welt lachen, die es uns nicht gönnen möchte?

Er hatte ihre Hand fest mit beiden Händen umschlossen, und während ihm die Worte in glühender Hast vom Munde stoben, saugten sich seine Augen an ihren geschlossenen Wimpern fest und er beobachtete angstvoll das Zittern ihres halb geöffneten Mundes. Sie schwieg noch immer. Es summte und dröhnte ihr ums Haupt, sie unterschied nicht genau jedes seiner Worte, aber ihr Sinn drang übermächtig auf ihre Seele ein. – Helene! rief er – im nächsten Augenblick hatte er ihre Hand freigelassen, aber mit beiden Armen in leidenschaftlicher Sehnsucht ihre bebende Gestalt an sich gerissen, und hielt sie schwebend über dem Boden, während sein Mund ihr Gesicht über und über mit stürmischen Küssen bedeckte.

Der Rausch, der ihn hingerissen, währte nur einen Moment. Mit überwallender Heftigkeit entwand sie sich ihm und stand nun glühend und athemlos, mit flammenden Augen ihm gegenüber.

Kein Wort mehr! sagte sie. Danke Gott, daß ich Vernunft für uns beide behalte und diese aberwitzigen Reden für das nehme, was sie sind, für überspannte Phantastereien eines müßigen Kopfes. Wenn ich thöricht genug wäre, diese Kindereien ernst zu nehmen, so dürftest du mir nicht wieder vor die Augen kommen. Selbst die Nachsicht einer Mutter hat ihre Grenzen, und wenn du dir jemals solche Narrheiten wieder einfallen ließest, so hätten wir das letzte Wort mit einander gewechselt. Ich werde dafür sorgen, daß du den Respect nicht wieder so weit vergissest; leider habe ich bisher dir Manches nachgesehen, weil ich auf deine gute Natur zu fest vertraute. Ich sehe, auch du bist nicht viel besser, als andere junge Thoren deines Alters, und das thut mir leid, um dich und mich. Aber es geschieht mir schon recht. Warum bildete ich mir ein, zehn Jahre reichten hin, um einen Menschen kennen zu lernen, zumal wenn man ihn selbst erzogen hat?

Er stand ihr gegenüber, ohne ein Wort hervorzubringen. Wenn die Erde sich unter ihm aufgethan hätte, wäre es ihm gerade recht gewesen. In dem Taumel seiner Gedanken suchte er umsonst ihre Worte mit all dem zu reimen, was er die Tage über erlebt hatte. Hätte er sie anzusehen gewagt, so wäre ihm wohl die Ahnung aufgedämmert, welch ein Kampf in ihrer Seele kämpfte, während sie die vernichtenden Worte sprach.

Es hat aufgehört zu regnen, sagte sie jetzt im gleichgültigsten Ton. Ich muß fort.

Er richtete sich unwillkürlich auf, sie zu geleiten.

Ich finde schon den Weg, sagte sie, und weiß ja nun, daß die Brücke sicher ist. Guten Tag, Walter! Das Körbchen magst du mir durch die Lehrjungen zurückbringen lassen.

Sie war in die Thür der Hütte getreten. Wie alles Laub plötzlich vorgebrochen ist, sagte sie und ihre Stimme klang wieder ruhiger. – Alles hat seine Zeit, und wir können nichts ändern und nichts hindern. Gieb mir deine Hand, mein Junge. Du sollst hier nicht zurückbleiben und Trübsal blasen, weil du bewiesen hast, daß du noch ein rechtes Kind, ein rechter Hans der Träumer bist. Ich bin auch gar nicht mehr böse, und was wir beide an heftigen und häßlichen Worten gesagt haben, wollen wir nur geschwind wieder vergessen. Du wirst bald selbst darüber lachen, wie es mir jetzt schon nur recht närrisch vorkommt. Und wenn du heut Abend nach Hause kommst, bringe ein klares Gesicht mit und den guten Vorsatz, hinfort deine »kleine Mama« zu ehren, auf daß es dir – wie es im vierten Gebote heißt. Gott befohlen, mein Junge!

Sie winkte ihm, der an der Schwelle zurückblieb, noch einmal herzlich mit der Hand; dann wandte sie sich und schritt schwebenden Ganges über den Steg zurück in die Saumgänge des Parks. Er sah ihr unverwandt nach, bis sie verschwunden war. Er ahnte nicht, als er sich in Schmerz, Scham und bitterer Reue auf den Boden warf, daß auch sie, sobald sie im Walde allein war, mit zitternden Knieen still stand und, die Stirn an einen jungen Baum gedrückt, in heftiges Schluchzen ausbrach.

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