Paul Heyse
Spielmannslegende
Paul Heyse

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So trieben sie es über den ganzen Sommer und Herbst, völlig unbekümmert um die Zukunft und zu ihrer eigenen Verwunderung von denen, die sie in Limburg sich feindlich wußten, unbehelligt. Doch brauchten sie noch immer die Vorsicht, ihren Zufluchtsort häufig zu wechseln, den sie in verfallenen Jägerhütten, verlassenen Burgtrümmern und düsteren Wäldern suchten. Sie beluden sich dann beide mit dem geringen Hausrat, der ihnen genügte, und durchzogen bei Nacht weite Straßen, bis sie am Morgen wieder Rast machten. Sie hatten ein Lied, das ihnen auf solcher Wanderschaft zur Herzstärkung diente, das lautete so:

Wer Weiß, woher das Brünnlein quillt,
Daraus wir trinken werden?

Wer weiß, wo noch das Schäflein geht,
Das für uns Wolle träget?

Wer weiß, wer uns den Tisch noch deckt,
Der unsern Körper weidet?

Wer weiß, wer uns den Weg noch zeigt,
Darauf wir wandern müssen?

Wer weiß, wo wohl das Bettlein steht,
Darin mich Gott einleget?

Ach, treuer Vater, das weißt du,
Dir ist ja nichts verborgen.

Ihr Sorgen weicht, laßt uns in Ruh
Denn Gott wird für uns sorgen!

Nun aber war es Winter geworden, die letzte Traube längst in die Kelter gewandert, der letzte Geigenstrich auf einer ländlichen Kirchweih verhallt. Die beiden treuen Gesellen hatten sich gegen die Novemberstürme, die über das Land hereingebrochen, und die schweren Regenschauer, von denen die Wälder troffen, in den dunklen Kellermauern einer hochgelegenen, vor etlichen Jahren niedergebrannten Burg notdürftig geborgen und durften nicht daran denken, einen wirtlichen Unterschlupf zu suchen, da der Jüngere, der doch weicher gewöhnt und gegen rauhes Wetter allzeit durch ein warmes Dach verwahrt gewesen war, in einem bösen Fieber lag und nicht imstande gewesen wäre, eine nächtliche Wanderung zu unternehmen. Auch schien es nach seinem heiteren Gesicht, als sei ihm auf seiner Moosschütte und unter der Decke aus Schaffellen so wohl zumute, wie keinem Fiebernden im weichsten Bett, und er verlangte sich nichts Besseres, als daß sein Freund und Pfleger, wenn er wach und bei Besinnung war, an seinem Lager sitze und ihm zuweilen die Hand auf die Stirn lege. Da das Siechtum nicht sonderlich schwer, nur eine Folge der Erschöpfung zu sein schien, war auch der Bruder getrost und in allerlei Erfindungen, den Kranken zu laben und zu erfreuen, unerschöpflich. Er hatte, nach seiner kunstreichen Gewohnheit, das geräumige Verlies, worin sie hausten, so wohnlich hergerichtet, daß es kaum einem Kerker mehr zu vergleichen war, und ein Lämpchen, das er fleißig mit Öl tränkte, verbreitete einen milden roten Schein noch etliche Schuh über das niedere Lager hinaus. Auch verstand er sich auf die Bereitung gewisser kühlender Kräutersäfte, noch von der Zeit her, da er viel schwerer Darniederliegenden Arzneien gereicht hatte, und so hofften sie mit Gottes Hilfe auch diese Heimsuchung treu und tapfer zu bestehen.

Da nun wirklich eine Besserung eintrat und der Jüngling eines Abends in einen Schlaf verfallen war, der sein bester Arzt zu werden versprach, machte sein Wärter sich auf, um in dem Dorfe unten am Fuß des Burghügels neuen Vorrat an Öl, Brot und Wein und etlichen anderen Dingen, deren sie bedurften, einzukaufen. Er schlug die Decke sorgfältig um den ruhig Atmenden, und nachdem er den Rest seines Öls auf das Lämpchen geträufelt, stahl er sich sacht die verfallenen Stufen hinauf und ging durch die sternlose Nacht eilig die verwilderten Pfade hinab, die ihn zu den Häusern der mildtätigen Bauern führten.

Noch aber war keine Viertelstunde gegangen, da schlichen von der anderen Seite des Berges dunkle Gestalten zu dem Trümmerhaufen heran, eine Handvoll bewaffneter Knechte, geführt von einem Laienbruder aus einem nahegelegenen Kloster, der hier alle Wege und Winkel zu kennen schien. Lautlos, so viel es ihre klirrenden Waffen zuließen, näherten sie sich dem Steintreppchen, das zwischen wucherndem Gerank und wilden Holunderbüschen versteckt war, stiegen in den Keller hinab und fielen alsbald über den Schlafenden her, den sie an Händen und Füßen, eh' er sich besinnen konnte, mit festen Stricken fesselten und durch einen Knebel am Schreien verhinderten. Dann wieder hinauf, den Überwältigten sorgsam in ihrer Mitte tragend, und mit manchem Fluch, daß sie nur den einen Fang getan, und sich beratend, ob sie seinem Gefährten hier auflauern sollten, schlüpften sie auf der unwegsamen Seite wieder hinab, der Straße am Ufer zu, wo sie einen ihrer Gesellen bei den Pferden harrend zurückgelassen hatten. Den fanden sie nun auch an der bestimmten Stelle, nicht aber die vier oder fünf Rosse, die er hatte behüten sollen. Denn da er auf der letzten Rast zu tief in den Krug gesehen, hatte ihn auf seinem Wachtposten der Schlaf übermannt, und irgendein vorüberziehender Gauner, der ihn liegen sah und schnarchen hörte, hatte ihm den lockeren Zügel seines Handpferdes sacht aus der Hand gewunden, sich in den Sattel geschwungen und die ganze Koppel nachziehend in scharfem Trabe das Weite gesucht.

Nun blieb nichts übrig, als einen starken Nachen aufzutreiben und in diesem den Gefangenen rheinabwärts zu schaffen, bis wo die Lahn aus ihren Waldschluchten heraustritt und sich in den großen Strom ergießt. Dort konnten sie sich frischer Pferde bemächtigen. In dem Dörflein unter der Burg aber durften sie sich um ein Schiff nicht umsehen. Denn dort waren die Bauern den beiden Verbannten zugetan, und die Klosterleute, die den Verrat ins Werk gesetzt, wollten doch die üble Nachrede vermeiden, als ob sie es gewesen seien, die den beiden Ausgestoßenen ihre Zuflucht nicht gegönnt, obwohl sie niemand etwas zuleide taten, vielmehr allen Menschen Gutes erwiesen. Also mußten sich die Häscher bequemen, den nächsten Ort stromaufwärts zu suchen und bis dorthin den Gefesselten abwechselnd auf ihren Schultern zu tragen, nachdem der Laienbruder sich von ihnen entfernt. Das war ein saurer Weg, wohl eine Stunde lang durch die stürmische Nacht, während der Fluß mit hochgeschwellten Wogen murrend und schäumend an ihnen vorbeizog, als ob er über die menschliche Gewalttat ergrimmt wäre. Zuletzt erreichten sie ihr Ziel, mieteten ohne viel zu dingen einen großen Fischerkahn mit sechs Rudern, trugen den hilflosen Mann hinein und fuhren mißgelaunt und jeder den andern anklagend die dunkle Wasserstraße hinab.

Sie waren aber kaum eingeschifft, so näherte sich der Älteste der Schar, der ihren Führer machte, dem Gefangenen, hob ihm den Kopf in die Höhe und löste den Knebel aus seinem Munde. Dann, nachdem er die Schnüre an Händen und Füßen gelockert hatte, kauerte er neben ihm nieder und raunte ihm zu, daß er guten Muts sein möge. Ob er ihn nicht wiedererkenne? Er sei ja der alte Wenzel, der Packknecht, der nun dreißig Jahre im Hause seines Vaters gedient. Gerade ihm habe der alte Herr Eschenauer die Ausführung des Handstreichs übertragen, weil er damit sich versichert gehalten, daß nichts Unsanftes geschehen und das Notwendige schonend ins Werk gesetzt werden würde. Sie seien zu Hause tiefbetrübt durch den Tod des jüngeren Sohnes. Nun sei es nicht mehr tunlich erschienen, den einzig überlebenden älteren als einen lebendig Toten zu betrachten, oder etwa zu warten, bis er selbst zur Besinnung kommen und reumütig zu seiner kindlichen Pflicht zurückkehren werde. Der alte Herr habe wohl einen schweren Strauß zu bestehen gehabt mit seinem Trotz und Stolz und dem Worte, das er sich selbst gegeben, von dem entarteten und abtrünnigen Sohne für ewig die Hand abzuziehen. Doch habe der Jammer und das fußfällige Flehen der Mutter endlich seine Halsstarrigkeit gebrochen. Nun solle der junge Herr sich keine schwarzen Gedanken machen. Er dürfe sich des glimpflichsten Empfanges und sehr gelinder Buße versehen, falls er hinfort sich verständig aufführe und nach der Schnur zu leben gelobe. Die ganze Schuld werde man der Behexung durch jenen gottlosen Menschen zuschreiben, die den jungen Herrn wider sein Wissen und Wollen befallen wie eine Krankheit; und wie man niemand zur Verantwortung zieht um das, was er im Fieber gesprochen und getan, so solle ihm auch seine Flucht und sein Landstreichen während dieses Jahres nicht zur Unehre gerechnet werden. Ja, die Tochter des Herrn Schöffen, von Gerhards Mutter befragt, habe zu verstehen gegeben, sie werde, wenn er sich auf Gnad' und Ungnade ergebe, nicht die Unversöhnliche spielen, da er ihr mit all seiner Torheit noch immer besser gefalle, als die ehrbaren jungen Maulaffen, die gehofft an seine Stelle zu treten.

Dies alles hörte der Gefangene, der auf dem flachen Bretterverdeck am Hinterbord des Schiffes saß und nach und nach sich aller Bande entledigt hatte, düsteren Blickes mit an, ohne ein Wort zu erwidern. Das Fieber war, wie es schien, durch die stärkere Erschütterung des Schreckens und Ingrimms plötzlich gebändigt worden, so daß er mit ganz hellen Sinnen in die dunkle Stromlandschaft hinausblickte und seine Lage übersann. Der Fluß ging hoch und ungestüm, die Knechte an den Rudern hatten alle Mühe, das Fahrzeug durch die wilden Strudel hindurchzulenken, so daß ihnen der Atem zum Schwatzen verging. Rechts und links von seinem erhöhten Sitz konnte Gerhard in die weißen Schaumwellen blicken, die neben dem Kiel mit Rauschen in die Höhe sprangen. Seine Stirn brannte ihm trotz der scharfen Nachtluft, sein Mund lechzte nach einem Trunk aus der Schale, die ihm der Freund mit seinen Kräutersäften zu füllen pflegte. Da bogen sie um eine Krümme des Ufers, und Gerhard sah zur Linken den schwarzen Mauerzahn in den Himmel ragen, der allein noch von ihrer Burg sich über dem Berggipfel erhob. In demselben Augenblick hörte er am Ufer drüben eine tiefe Mannesstimme, die er nur allzuwohl kannte. Sie kam dem Schiff entgegen, da der, dem sie gehörte, auf der Uferstraße heranwandelte. Und jetzt hörte er deutlich die Worte:

Wer weiß, wer uns den Weg noch zeigt,
Darauf wir wandern müssen?

Wer weiß, wo wohl das Bettlein steht,
Darin mich Gott geleget?

Ach, treuer Vater, das weißt du;
Dir ist ja nichts verborgen.

Ihr Sorgen, weicht, laßt uns in Ruh,
Denn Gott wird für uns sorgen!

Wie aber der Freund im Schiffe das Lied erkannte, schwoll ihm das Herz so gewaltig, daß er auf einmal die Oberstimme mitsingen mußte, so laut und freudig, wie nie zuvor. Die Ruderer erstaunten, hielten mit der Arbeit inne, wagten aber nicht ihm Stille zu gebieten, da es so feierlich klang, daß ihre harten Seelen davon angerührt wurden, als hörten sie die Frühmette in der Weihnacht. Doch als der letzte Ton verklungen war, rauschte plötzlich der Fluß dicht neben dem Schiffe gewaltig auf; der Sänger auf dem Verdeck war verschwunden, er tauchte aus dem strudelnden Gewoge zur Seite des Kahns einen Augenblick auf, und man sah ihn eifrig nach dem Ufer hin rudern, wo die dunkle Gestalt des anderen Sängers mit einer Gebärde des Entsetzens stehengeblieben war. Die im Kahn riefen sich zu, dem Entfliehenden nachzufahren, und wendeten hastig den Kiel. Es schien aber, als solle die dreiste Flucht gelingen, der Schwimmer gewann einen immer wachsenden Vorsprung, ein wildes, drohendes Geschrei der Rudernden scholl hinter ihm drein – da wurde es auf einmal still über dem Wasser: der Nachen trieb allein die Strömung hinab, der, dem er nachsetzte, war in die Tiefe gesunken, um nicht wieder aufzutauchen.

Erst zwei Tage später, weit unten am Siebengebirge, wurde der kalte Leib ans Land gespült. Da die Kunde von diesem Abenteuer wie ein Lauffeuer sich an beiden Ufern des Rheins verbreitet hatte, erkannte man den Toten sofort und sorgte, daß ein Eilbote es den Seinigen hinterbrachte, die sich trostlos gebärdeten und dem Unglücklichen ein Begräbnis anordneten, als wäre über die alte Liebe und Vertraulichkeit nie ein Schatten gefallen. Herr Eschenauer aber, nachdem er die drei Schaufeln Erde auf den Sarg seines Sohnes geworfen, schritt eilig zum Stadtvogt und mit diesem zu dem Grafen selbst, um ihn anzugehen, daß er aus allen Kräften dazu mitwirken wolle, den Anstifter all dieses Unheils zu greifen und zur Verantwortung zu ziehen. Auch wurde alles, was in der Macht dieser vereinigten Menschen stand, zu solchem Zwecke aufgeboten, die Ufer des Rheins bis nach Köln hinab durchstreift, jeder Trümmerwinkel durchsucht, ja sogar ein hoher Preis auf das Haupt des Verfemten ausgesetzt, der als ein Erzzauberer und Seelenverderber verschrien ward. Alles aber umsonst. Der Bruder Siechentrost mußte entweder wirklich mit den höllischen Mächten im Bunde sein, oder unter den Armen und Niedrigen so gute Freunde haben, daß ihn die Feindschaft der Mächtigen nicht ereilen konnte.

Endlich, im neuen Frühjahr, als das erste maigrüne Laub an den Bäumen sproßte, zog einmal eine Hochzeit durch eines der Seitentäler der Mosel, und der junge Ehemann, da die Welt so schön und lachend vor ihm lag und seine ihm eben angetraute Liebste mit blühenden Wangen und zärtlich funkelnden Augen zu ihm aufsah, konnte sich in seinem Glück nicht länger stumm verhalten, sondern fing an zu singen, eines jener Lieder des Bruder Siechentrost, die längst im Volksmunde heimisch geworden waren:

Wie mochte je mir wohler sein?
In Lieb' ergrünt das Herze mein,
Mein Mut sich tut erneuen.
Mein holdes Lieb, des habe Dank,
Und nimmer wank
Von herzelicher Treuen!

Er hatte aber mit dem Singen kaum begonnen, da ertönte vom Waldrande daher über einen grünen Anger hinweg ein ganz leises Geigenspiel, das ein wenig zitternd, aber völlig rein die Melodie des Liedes wie ein zartes Echo widerhallte. Alsbald stand der ganze Zug still, und sie blickten nach dem Ort, von wo die Musik ertönte. Da sahen sie, von den leichten Schatten der jungen Buchen überweht, an einem uralten hohlen Baum ein graue Figur sitzen, und wie sie sich, immer weitersingend, näherten, um den Spielmann in ihrem Hochzeitsglück nicht unbeschenkt zu lassen, hörte der Saitenklang plötzlich auf, der Spieler ließ das Haupt gegen den Stamm zurücksinken und kehrte die Augen gegen den klaren Frühlingshimmel. Der Bräutigam trat an ihn heran, und berührte staunend mit einem Zweige, den er vom Wege aufhob, die Hand, die das kleine schwarze Instrument noch umspannt hielt. Die Hand fiel herab, die Augen sahen nichts Irdisches mehr, der fröhliche Liedermund war für immer verstummt.


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