Paul Heyse
Unheilbar
Paul Heyse

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Am 13., Abends.

Ich habe es durchgesetzt und bin so froh darüber, wie ich nicht sagen kann. Ich bin heute früh, da ich mir überlegte, daß ich meiner Freiheit auch etwas Muth und Entschiedenheit schuldig sei, mit meinem Buche bewaffnet wieder in den Wintergarten gegangen und habe mich dreist, ohne irgend Jemanden wiederzuerkennen, mitten unter die übrige Gesellschaft gesetzt und Stunden lang nicht aufgeblickt. Die Lebensretterin kam natürlich auch wieder zum Vorschein und ging gleich auf mich zu. Als ich ihr aber kaltblütig sagte, daß mir das Sprechen beschwerlich sei, und daß ich deshalb lesen wollte, stutzte sie denn doch ein wenig, zuckte die Achsein und ließ mich in Frieden. Ich merkte wohl, daß sie es mir höchlich übel nahm. Um so besser!

Nun will ich es alle Tage, wenn ich sonst nichts Besseres weiß, genau wieder so machen. Es ist sogar eine heimliche Genugthuung dabei. Während ich da unter all den Lästigen so still und unangefochten saß, triumphirte in mir mein tapferes und siegreiches Herz, daß es sich nicht hatte unterkriegen lassen. Freilich, ohne einiges schnellere Klopfen war die Schlacht nicht gewonnen worden. Aber auch der Muth will ja gelernt sein.

Und dann ist es so doppelt erquicklich, ernste und schöne Gedanken unserer großen Dichter zu lesen, während rings umher einzelne Worte aus fremden Gesprächen verraten, mit wie dürftiger Speise man sich in der guten Gesellschaft bewirthet.

Ist das nun sehr stolz oder gar eitel gedacht? Ein wenig Stolz wird ein einsamer Mensch sich wohl verzeihen dürfen. Denn es ist ja schon überhaupt eine Anmaßung, sich zurückzuziehen und mit sich allein zufrieden sein. Aber wer sich zum Sterben rüstet, muss der nicht vor Allem an seine Seele denken, und ist das möglich unter dem gedanken- und seelenlosen Geräusch, das man Conversation nennt?

 

Am 15. October.

Sie lassen es mich schon empfinden, daß ich gar nicht nach ihrem Sinne bin. Als ich heute wieder mit meinem Buch auf die Wassermauer kam, etwas spät, da ich den ganzen Morgen an Vater und Ernst geschrieben hatte, waren schon alle Bänke besetzt, bis auf eine einzige, wo ein sehr bleicher und trauriger junger Mann saß, der täglich von seinem Bedienten nach dem sonnigsten Platz der Winter-Anlage halb begleitet, halb geführt wird und die Füße dann immer tief in einen kostbaren Pelz-Fußsack vergräbt. Die Damen, die plaudernd und stickend unter den Lauben saßen, hätten nur ein wenig zusammenrücken dürfen, so war noch Platz genug für meine dünne Person, deren Crinoline noch nie einem Nebenmenschen lästig geworden ist. Aber ich sah deutlich, daß sie sich vornahmen, mich recht in Verlegenheit zu setzen. Ach, wie bitterböse, wie häßlich kalt und unmenschlich können wir ausseihen, wenn wir uns verschwören, einem armen Menschenkinde zu zeigen, daß wir es nicht lieben! Ich erschrak ordentlich vor den steinernen Larven mit den gespannten Augenbrauen und den verzogenen Lippen. Auch wäre ich am liebsten wieder weggegangen; aber ich schämte mich, feige zu sein und es zu zeigen, that vielmehr, als hätte ich gar kein Arg über ihre feindseligen Mienen, und setzte mich ruhig auf die Bank, wo der Kranke saß; es blieb noch immer Raum zwischen uns, selbst für die weite Robe der Frau Gräfin. Da vertiefte ich mich in mein Buch, und obwohl ich gar nicht aufsah, wußte ich ganz genau, mit was für Augen man nach mir blickte, und hätte die liebevollen Anmerkungen niederschreiben können, die unter den Lauben geflüstert wurden. Der Kranke bewegte sich kaum, nur dann und wann seufzte er so verloren vor sich hin. Er dauerte mich recht. Er scheint einer der Kränksten hier zu sein und seine Leiden am schwersten zu tragen. Reich muß er wohl auch sein; ich habe einen sehr schönen Ring an seinem Finger bemerkt. – Wie wir nun so stundenlang neben einander saßen, ertappte ich mich mehrmals darüber, daß mir eine Bemerkung, die ich im Lesen machte, beinahe entschlüpft wäre, nur um einmal das tiefmelancholische Hinbrüten zu unterbrechen, das ihm das Gemüth zu bedrücken schien. Es wäre auch nichts Unrechtes dabei gewesen; aber man hat ja heutzutage dafür gesorgt, daß wir uns so mancher natürlichen Regung schämen. Also schwieg ich und las für mich fort. Da sah ich, daß er einen silbernen Stift fallen ließ, mit dem er etwas in sein Taschenbuch schreiben wollte, und wie er sich mit sichtbarer Anstrengung und schwer athmend danach bückte, kam ich ihm ohne Bedenken zuvor und hob die zierliche Bleifeder auf. Er dankte etwas verwundert; ich fühlte, daß ich über und über erröthete, und als ich in demselben Augenblicke ein Verhaltenes spöttisches Kichern aus der Damenlaube hörte, war es vollends für einige Minuten um meine Ruhe geschehen. Alles, was man über das große Verbrechen, daß ein Mädchen einem kranken jungen Mann einen kleinen Dienst geleistet, sagen konnte, kam mir mit grausamer Klarheit in den Sinn. Und was mochte er selbst denken? Ich hatte ihn flüchtig angesehen und wenigstens kein Lächeln auf seinem schwermüthigen Gesichte wahrgenommen. Und wenn er nach diesem Beweise von geringer Weitläufigkeit mich für eine Kleinstädterin hält, kann ich's ihm übel nehmen, da ich es mir doch nicht übel nehme, nichts Besseres und nichts Schlimmeres zu sein?

Er grüßte mich sehr artig, als ich eine halbe Stunde nachher aufstand und nach Hause ging. Ich war schon wieder so im Reinen mit mir, daß ich den Gruß ohne Verlegenheit erwiederte und mir auch durch die Blicke meiner menschenfreundlichen Vormünderin, die nach mir gekommen und sogleich von den Damen in Beschlag genommen war, durchaus nicht den Appetit zu Mittag verderben ließ. Eben kommt die Suppe. Sie ist leider noch blonder als die Löckchen der guten Dame. Ueberhaupt das Essen – es ist recht schade, daß bei einem Sterbenden die Zunge nicht zuerst das Zeitliche segnet. Nur einmal wieder ein Gericht aus der väterlichen Küche!

 

Abends. Zum ersten Male herbstlicher Wind, der den Pappeln einige Blätter kostet.

Ein Brief von unserm lieben alten Doctor, meinem besten Freunde. Er will Nachrichten von mir haben, wie ich lebe, mich fühle, das Klima vertrage. Er macht sich in Einem Athem Vorwürfe, daß er mir die hoffnungslose Wahrheit nicht verschwiegen, und lobt mich doch wieder über meine standhafte und mannhafte Natur; auch sucht er nicht etwa nachträglich seinen Ausspruch zu drehen und zu deuteln. Er weiß, daß es verlorene Mühe wäre. Nur zuletzt schreibt er: »Vergessen Sie nicht, liebe Marie, daß täglich und stündlich Wunder geschehen, und daß Wissenschaft und Erfahrung uns arme Menschen im besten Falle so weit bringen, uns über Alles oder über nichts zu verwundern.«

Er weiß schon, daß es keines anderen Trostes für mich bedarf, als die Wahrheit zu hören und in der Wahrheit leben zu dürfen, so lange ich noch zu leben habe.

 

Ein paar Tage später. Das Datum ist mir abhanden gekommen. Prachtvoller Herbstabend.

Es war zu viel Wind den ganzen Vormittag, ich habe zu Hause bleiben müssen und war fleißig mit allerlei Schneiderarbeit, denn meine Kleider drücken mich, meine Brust wird immer empfindlicher. Nach Tische ward die Luft stiller; ich ging hinaus, die breite Straße hinunter, die der Rennweg heißt. Eine Menge Kühe und Ziegen wurden hindurchgetrieben, keine Annehmlichkeit der hiesigen Wege. Denn ich zittere jedesmal von Kopf bis Fuß, wenn so ein schwerfälliges gehörntes Haupt mir langsam entgegenkommt, obwohl ich weiß, daß die guten Thiere nicht so dumm sind, wie sie aussehen, und lange nicht so viel Vorurtheil gegen ein alleinstehendes Frauenzimmer haben, als die gescheiten Menschen. Es ist das körperliche Gefühl der Schwäche, die sich hier im Nothfall nicht hinter ein muthiges Herz flüchten könnte, sondern ganz wehrlos dastünde. – Also stahl ich mich an den Häusern hin und kam glücklich durch das westliche Thor, wo die Straße ins schöne, sonnige Vintschgau hinausführt. Ein Seitenweg läuft am Fuß des Küchelberges durch die Weingärten hin; da ging ich langsam fort und freute mich über die schweren blauen Trauben, die oben an den Gittern hingen, über die gewaltigen gelben Kürbisse, die reifen Maisstauden, all den Segen eines südlichen Herbstes. Hie und da arbeiteten die Leute, gefüllte Kufen, hochaufgeschichtete Wagen voll Rebenlaub wurden vorbeigefahren; aber es befremdete mich, daß Alles so still, ohne Sang und Klang geschah. Ich hatte mir die Weinerndte als das rauschendste und glänzendste aller ländlichen Feste gedacht. Doch haben die Menschen hier einen beschaulichen und trägen Sinn; nirgends hört man sie bei der Arbeit singen, und wo es geschieht, sind es Wälsche, die man auf den ersten Blick auch an ihren rascheren Geberden unterscheidet.

Hundert Schritt vom Thore entfernt, an den Berg angelehnt, steht ein einzelnes Gehöft; meine Wirthin hatte mir gesagt, daß man dort Milch frisch von der Kuh bekomme. Da ich nicht sehr gut zu Fuß war, trat ich in das offene Gärtchen und bestellte mir Milch und Brod. Es waren nur wenige Gäste dort, aber dicht neben der Thür unter einem großen Orangenbaum saß der kranke junge Mann, während sein Diener etwas abseits sich ein Glas Wein schmecken ließ. Er selbst hatte seine Milch noch unberührt vor sich stehen, und da ich vorüber wollte, stand er auf, grüßte höflich und bot mir den Sitz an seinem Tische an, weil es dort ganz windstill sei. Zum ersten Male hörte ich ihn ein paar Sätze hinter einander sprechen mit einer tiefen, schwermütigen Stimme, die sehr wohlklingend war. Ich nahm das Anerbieten dankbar an und konnte auch die Milch nicht ausschlagen, ohne ihn zu beleidigen, da er versicherte, daß er durchaus nicht durstig sei.

Wir kamen dann in eine Art Gespräch, das freilich lange Pausen hatte, während deren er immer wieder in sein unglückliches Brüten versank. Nur einmal sah ich ihn flüchtig lächeln; es sah noch trauriger aus, wie die blassen Lippen sich ein wenig öffneten und die weißen Zähne matt vorschimmerten. Wir hatten vom täglichen öden Einerlei der Kranken-Existenz gesprochen, von dem trübseligen Spazierensitzen in der Winter-Anlage. Ich sagte, daß mir dabei immer der Glaskasten meines kleinen Bruders einfalle, in dem er seine Raupen sich verpuppen ließ; die krochen auch so träge und beklommen zwischen ihrem Futter herum, erwarben sich die Zufriedenheit ihres Kerkermeisters, wenn sie eifrig fraßen, besahen sich neugierig, da sie auch so ganz zufällig hier zusammengekommen waren, und spannen sich immer träger ein zu ihrem Winterschlaf, wenn sie nicht etwa die Luft zu drückend fanden und zu Grunde gingen. – Da lachte er traurig auf. Ihr Bild ist viel zu schmeichelhaft, sagte er. Glauben Sie, daß viele von unseren Nebenraupen sich jemals wieder so leicht und frei wie Schmetterlinge fühlen werden, es müßte denn in einer andern Luft sein, als dieser irdischen? – Es kommt darauf an, sagte ich, ob sie, wenn sie wirklich heil und unversehrt aus der Puppe geschlüpft sind, den Glaskasten offen finden, oder ob dann die Hand des Schicksals ihrer wartet, sie nur schlimmer zu martern. Die Meisten können sich ihrer Flügel doch nicht lange erfreuen; sie werden wieder eingefangen und zappeln an der Nadel, und ihre bunten Farben müssen verbleichen und verstäuben.

Darauf erwiederte er nichts, und es that mir fast leid, daß das Gespräch eine so seltsame Wendung genommen hatte. Um ihn von seinen trüben Gedanken abzulenken, erzählte ich ihm allerlei von den närrischen engen und steifen Verhältnissen meiner kleinen Vaterstadt, wo man sich noch im Stil der sogenannten guten alten Zeit das Leben recht freundnachbarlich und gevatterhaft sauer macht, und sagte ihm, wie erlöst und befreit ich mich fühle, seit ich wisse, daß ich unheilbar sei und mir, wie einem zum Tode Verurtheilten, während der letzten Gnadenfrist die Ketten abgenommen worden seien. Er hörte theilnehmend, aber fast ungläubig zu. Als ich dann schwieg und –

 

Am andern Morgen.

Auf eine unwillkommnere Art hätte ich gestern nicht unterbrochen werden können. Meine Thür ging auf, und die barmherzige Schwester, die Lebensretterin, die Dame ohne Nerven stürmte mir geradewegs ins Zimmer mit einem besonders ernsten und feierlichen Gesicht, das nichts Gutes weissagte. Sie nahm sich kaum Zeit, von den steilen Treppen wieder zu Athem zu kommen, setzte sich breit auf das Sopha und fing ohne Umschweife an, mir eine Rede zu halten. Sie mag, wo es sich um leibliche Pflege handelt, hie und da treffliche Dienste leisten; zur Seelsorge hat sie wahrlich keinen Beruf. Denn eine plumpere Art, zarte Dinge anzugreifen, ist mir nicht vorgekommen, und ich bin doch gewiß nicht verwöhnt worden. Ich erfuhr, daß ich große Sünden begangen habe, die nur durch ernstliche Buße und innere Zerknirschung gesühnt werden könnten. Die hochfahrende Art, wie ich das freundliche Entgegenkommen so vieler würdiger Damen abgewiesen und mich recht geflissentlich von der Gesellschaft zurückgezogen habe, sei allenfalls mit der Unzurechnungsfähigkeit einer kranken Laune zu entschuldigen. Daß ich aber mich nicht gescheut hätte, einem fremden jungen Mann mich offen vor Aller Augen zu nähern, ihm unaufgefordert kleine Gefälligkeiten zu erweisen und mich endlich sogar von ihm mit Milch bewirthen zu lassen, ja, seine Begleitung nach Hause anzunehmen, wie gestern geschehen, das sei unerhört, das müsse selbst einem Mädchen ohne alle Erziehung ihr gesundes Gefühl, ihr Sinn für Schicklichkeit und die Rücksicht auf ihren Ruf ein für alle Mal verbieten. Sie würde auch nach diesen Vorfällen keinen Schritt mehr über meine Schwelle gesetzt haben, wenn ihre Gutmüthigkeit es ihr nicht dennoch zu einer Gewissenspflicht gemacht hätte, mich zu warnen, da ich allein stünde und Niemand hätte, mich von einer Verirrung zurückzubringen. Jener junge Mann habe durchaus keinen guten Ruf. Sein Leiden sei die Frucht eines verschwenderischen, leichtsinnigen Lebens, das er mit einem frühen Tode büßen müsse. Wenn er nun, schon mit einem Fuß im Grabe, noch gewissenlos genug sei, ein junges Wesen zu compromittiren, so müßten alle sittlichen Naturen ein solches Betragen aufs Tiefste verdammen und wenigstens das Ihrige thun, ihm sein Opfer zu entreißen.

Ich saß zuerst bei diesen Reden wie versteinert, und das Herz klopfte mir so heftig, daß ich nicht das leiseste Wort hervorbringen konnte. Als sie nun schwieg und mich mit ihren scharfen Blicken wie eine überführte Sünderin strafend ansah, sammelte ich so gut es ging meine Lebensgeister und antwortete, daß ich ihr für ihre Sorge um mich sehr dankbar sei und an der guten Absicht nicht zweifle, übrigens aber mir durchaus keiner Unschicklichkeit oder gar Verirrung bewußt sei und auch meinen Ruf nicht in Gefahr glaube. Ich wisse ganz wohl, was ich zu thun und zu lassen habe und verantworten könne; ich sei nicht der Meinung, daß man, wenn man selber schon mit einem Fuß im Grabe stehe, über jeden unschuldigen freien Athemzug der Welt Rechenschaft schuldig sei, vor deren böswilligem Urtheil man sich ja überhaupt nicht schützen könne. Ich bin nicht nach Meran gekommen, sagt' ich, um mich hier bei einem mir völlig fremden Kreise beliebt zu machen, sondern um meine letzten Tage so zu verleben, wie es für meine Natur wohltätig und erquicklich ist. Und Sie müssen mir schon erlauben, gnädige Frau, daß ich mich in diesem Entschlusse durch Rücksichten, die für Andere taugen mögen, nicht irre machen lasse.

Als ich das heraus hatte, erschrak ich fast vor meiner eigenen Kühnheit, war aber doch froh darüber und dachte: das ist nun das Letzte! Es war es auch wirklich, so hoff' ich wenigstens, denn meine Gönnerin stand auf, nahm eine erhabene Miene an, die freilich ihrem breiten Gesicht und den blonden Löckchen wunderlich stand, und sagte: Leben Sie wohl, mein Kind. Sie sind so selbständig, daß jedes längere Verweilen in diesem Zimmer eine Indiscretion wäre. – Und damit rauschte sie wieder hinaus.

Ich war sie nun los, nicht aber ihre Reden und meine Gedanken. O diese traurige, kalte, kleinliche Welt! Giebt es denn wirklich nirgends einen Fleck auf Erden, wo man einem armen Menschenkinde erlaubte, »nach seiner Façon« zu sterben? Muß man auch den letzten Seufzer in der Schnürbrust aushauchen?

Nein, sie sollen es mir nicht abgewinnen, ich habe sie ja nicht lieb; warum sollt' ich sie nicht verachten dürfen oder wenigstens stehen lassen und ruhig vorbeigehn?

Es mag sein, daß ich nicht sehr besonnen bin. Aber sich besinnen kostet Zeit. Und habe ich irgend Zeit zu verlieren? Ja, wenn ich mit diesen Menschen noch bis ins Unabsehliche fortzuleben hätte, wäre es vielleicht klug, sie nicht zu reizen, mich ihnen unterzuordnen. Klug gewiß, aber doch traurig, und wär' es am Ende wirklich der Mühe werth, diese traurige Klugheit zu üben? Was könnten sie mir im schlimmsten Falle zu Leide thun? Mich allein lassen? Als ob sie mir das nicht zu Liebe thun würden!

Er soll sein Leiden selbst verschuldet haben. Ist er darum weniger beklagenswerth? Vielleicht rührt seine ganze Melancholie nur davon her, daß er sich Vorwürfe zu machen hat, wie meine Heiterkeit von meinem unverschuldeten Schicksale. Wir haben Jeder ein anderes Leben zu verlassen; ich habe nichts zu bereuen, aber auch nichts zurückzuwünschen; er vielleicht Beides. So stirbt Jeder von uns einen anderen Tod. Und nun wäre es ein Verbrechen, noch ein unbefangenes Wort mit einander zu wechseln? Leute, die eine lange Reise zusammen antreten, schließen sie nicht oft die beste Freundschaft, ja Brüderschaft, schon auf der ersten Station? Und man verdächte es ihnen, wenn sie sich freundlich anreden, ehe sie mit einander in den Wagen gestiegen sind?

 

Montag, den 21. October.

Den ganzen Montag zu Hause geblieben, geschrieben, die Jugendbriefe Mendelssohn's gelesen, die viel liebenswürdiger sind, als alle Bilder, die ich von ihm kenne. Ja wohl, man kann eine freie, volle Künstlernatur sein und doch mit ernster Zucht an sich arbeiten. Wenn ich ein Mann wäre, möchte ich nichts Anderes sein, als ein Künstler. Das klingt vielleicht recht überspannt, weil, wer ohne Talente ist, nur die äußere Ungebundenheit einer solchen Existenz, nichts von den inneren Sorgen und Mühen des Berufs sich vorstellen kann. Aber wenn ein Stück der Künstlerschaft im Charakter, in der Seele liegt, die Kraft nämlich, die Freiheit zu bedürfen und zu ertragen, der Ernst und die Helle des Gemüths, der Muth, Großes zu wagen, und die Andacht, zu dem Größten hinaufzublicken – davon wenigstens fühlt' ich genug in mir, um meinen Mann zu stehen und ein ganzes Leben lang gegenüber allen Anfechtungen der Philister mich damit durchzuschlagen. Was hilft mir's nun, da ich ein Mädchen bin und nicht leben soll? Nun, wenigstens ruhig sterben hilft es mir.

Die Briefe haben mir meine Musik wieder nahe gebracht, und es wird wohl keine zu arge Verschwendung sein, daß ich mir ein kleines Clavier gemiethet habe. Das steht nun seit heute früh in meinem Zimmer; ich habe aber so lange nicht gespielt, daß ich mich ordentlich schämte, unter Einem Dache mit Mendelssohn's Briefen seine Lieder ohne Worte so kläglich herunter zu stümpern. Ich will mir Noten zu verschaffen suchen.

Beichten muß ich doch auch, daß ich in helle Thränen ausbrach, nachdem ich die ersten Tacte angeschlagen hatte. Es ist von jenem Gespräch eine wunde Stelle in mir zurückgeblieben, die schmerzte, als ich die erste Musik seit so vielen Wochen wieder hörte. Ich ließ aber die Thränen fließen und spielte mich wieder in Ruhe.

 

Am 22.

Heute bin ich ihm wieder begegnet, was ich die Tage her vermieden hatte. So sehr ich entschlossen bin, meinen Weg zu gehen: um die erste Unbefangenheit haben sie mich glücklich gebracht. Ich traf ihn im Buchladen, als ich mir Musikalien aussuchen wollte. Er fragte mich, ob ich mich kränker gefühlt hätte, da ich nicht auf der Wassermauer erschienen wäre. Ich wurde roth, als ich erwiederte: Nein; ich war nur nicht gestimmt, auszugehen. – Dann sprachen wir über Musik, die er sehr liebt. Ich hatte auch einmal eine Stimme, sagte er lächelnd. Sie ist schon vor mir hinübergegangen. – Als wir dann aus dem Laden traten, wollte ich ihm erst Adieu sagen, um allein nach Hause zu gehen. Dann schämte ich mich dieser armseligen Feigheit und lenkte unsere Schritte geradeswegs nach dem Thore, das sich auf die Wassermauer öffnet. Es war ein prachtvoller Sonnenschein, die Leute hatten die Mäntel überm Arm und nur an einigen verwehten gelben Blättern spürte man den October. Als wir an die Passer kamen, an den Bänken vorbei, wo die gute Gesellschaft saß, freute ich mich meiner fröhlichen Stimmung. Ich machte ihn oft lachen mit allerlei Scherzen, und immer, wenn er lachte, lobte ich im Stillen meinen tapferen Muth, der sich nicht hatte beugen lassen. Ob es euch so viel Freude macht, ihr guten Leute da drüben, sagte ich zu mir selbst, eure Mienen jetzt spöttisch zu verziehen und euch in eure Tugend zu wickeln, wie es mich freut, auf diesem blassen Gesichte, über das der Tod schon seine Schatten wirft, noch einmal ein Abendroth der Heiterkeit auftauchen zu sehen?

Wohl eine Stunde sind wir zusammen auf und ab gegangen, und ich habe gar keine Müdigkeit empfunden. Ich habe mir nun auch sein Gesicht darauf angesehen. Was auch hinter ihm liegen mag, was er sich auch vorzuwerfen hat – Niedriges kann es nicht sein. Seine Züge sind weder regelmäßig, noch was man bedeutend nennt. Aber wenn er spricht, hat er etwas Feines und Sinniges, das ihm wohl steht. Er kann nicht älter sein, als sechsundzwanzig; sein Benehmen ist so leicht und frei, als hätte er immer nur in der besten Gesellschaft gelebt. Ich muß daneben mit meiner kleinstädtischen Toilette und Unweltläufigkeit einen seltsamen Contrast machen.

In der Curliste habe ich nachgesehen, wie er wohl heißen möchte. Ich weiß nur, in welcher Pension er wohnt. Da hab' ich denn herumgerathen, daß es kein Anderer sein könne, als ein Herr Morrik aus Wien, Particulier. Ein seltsamer Stand; ist wohl so viel als »unabhängig« schlechtweg. Dann bin ich auch eine Particulière, mehr als er. Denn von wie Vielem ist er noch abhängig, von seiner Schwermuth, seinem Reichthum, selbst von seinem Bedienten, der ihm den Mantel und Fußsack nachtragen muß!

 

Am 23. Morgens.

Diese Nacht hatte ich viele und lauter sehr nachdenkliche Träume; in einem kam ich mit Halding wieder zusammen, an den ich nun Jahre lang nicht mehr gedacht habe. Auch sprach ich so gleichgültig mit ihm, wie je, fragte nach Frau und Kindern und freute mich, daß sie Alle wohl waren. Dann aber mußte ich, noch immer im Traum, die Betrachtung anstellen, was wohl aus mir geworden wäre, wenn ich damals seine Hand nicht ausgeschlagen hätte. Ich säße jetzt drüben in Amerika, in dem schönen, glänzenden Hause, wäre viel reicher, viel gesunder – denn ich hätte dann die letzten schweren Jahre nicht mit den Eltern zugebracht – und dächte noch lange nicht ans Sterben. Das überlegte ich, als ich die rothwangige Frau sah, die ihn so bald über meine Weigerung getröstet hat. Und in demselben Augenblicke schauderte mir vor einem solchen Glück.

Auch das mag überspannt, anspruchsvoll, undankbar sein. Was hatte ich an ihm auszusetzen, als daß ich ihn nicht liebte?

Viele fanden ihn liebenswürdig. Mir schien er es nur eben zu sehr – für einen Mann. Er hätte die beste, sanfteste, tugendhafteste Frau abgegeben, und gerade darum mich unglücklich gemacht, wenn ich ihn zum Manne genommen hätte.

Es ist mir mehr als einmal begegnet, daß man mir zu verstehen gegeben hat, ich sei für ein Mädchen zu resolut. Lief doch auch die lange Bußpredigt der Lebensretterin darauf hinaus, daß es mir an weiblicher Schüchternheit und Zurückhaltung fehle. Wenn es wahr wäre, so läge die Schuld an meinen Schicksalen, die mich früh auf eigene Füße gestellt, auf mich selbst angewiesen haben. Wem das Leben schmeichelnd entgegenkommt, der mag es wohl an sich kommen lassen. Wer ihm die Stirne bieten muß, der darf mit dem bischen Gottvertrauen und Selbstvertrauen, das in ihm ist, nicht hinterm Berg halten. Aber wenn ich noch ein Zeugniß vor mir selbst bedürfte, daß ich nichts unweiblich Trotziges, nichts Herrisches in meinem Charakter habe, so gäbe mir's meine Abneigung gegen die weiblichen Männer, die eine Frau zu ihrer Stütze bedürfen, und gegen die Frauen, die nur glücklich sind, wenn sie einen Mann beherrschen.


 << zurück weiter >>