Paul Heyse
Unheilbar
Paul Heyse

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Am 26.

Ein paar gleichförmig stille Tage. Ich fühlte mich matt und unlustig zu Allem, blieb zu Hause, da der Rückweg aus der heißen Sonne durch die düsteren Lauben mir jedesmal schlecht bekam, las und spielte ein paar Sonaten wieder durch und merkte wohl, daß auch die Einsamkeit ihre niederschlagenden, schweren Stunden mit sich bringt. – –

Heute bin ich denn wieder ausgegangen, und gleich der erste Mensch, dem ich begegnete, war Herr Morrik – wie er wirklich heißt; einer seiner Bekannten redete ihn mit Namen an. Wir saßen eine lange Zeit zusammen auf einer Bank zwischen den immergrünen Gebüschen der Winteranlage, denn unter den Pappeln war der Luftzug empfindlich. Die übrige Gesellschaft schien sich bereits in das Unerhörte, zwei Todeskandidaten mit einander plaudern zu sehen, gefunden zu haben, und störte uns durchaus nicht. Da hatten wir ein merkwürdiges Gespräch.

Es fing damit an, womit warme und lebhafte Gespräche sonst endigen, mit dem Aussprechen der innersten Gedanken, die man gewöhnlich in der Reserve behält, bis sie, wenn man lange an einander herumgesprochen, und sich immer mehr ins Feuer gestritten hat, endlich aus ihrem Hinterhalt hervorbrechen. Aber ich habe es heute nicht zum ersten Mal an mir erlebt, was man »laut denken« nennt. Zu meinem eigenen Schrecken faßt sich dann das Herz ein Herz und schüttet eine Menge verhaltener und verstohlener Bekenntnisse aus, daß ich mir selber im Sprechen zuhöre und mich wundere, wie ich nur die Kühnheit gehabt habe, dergleichen bei mir zu beherbergen und nun gar vor Fremden hören zu lassen. Es ist ordentlich, als wären zwei Wesen in mir, ein tapferes, gescheites und beredtes, das aber selten zum Vorschein kommt, und ein frauenzimmerlich verlegenes und einfältiges, das, wenn das andere das Wort ergreift, in Einem Staunen und Herzklopfen sitzt und dem anderen doch nicht ins Wort zu fallen wagt.

Was eigentlich den Anlaß gab, ist mir entfallen. Ich weiß nur noch, daß ich, ehe ich mich's versah, mitten in einer eifrigen, fast zornigen Predigt war über die Todesfurcht, die so Vielen um uns her, und auch ihm, der still und blaß neben mir saß, auf dem Gesicht geschrieben stand. Das Meiste, was ich sagte, habe ich wieder vergessen, obgleich es mir selbst, während es mir kam, ganz wohl gefiel und unwidersprechlich schien. Nur das ist mir noch erinnerlich, daß ich über den Göthe'schen Text predigte:

Denn ich bin ein Mensch gewesen,
Und das heißt ein Kämpfer sein.

Nun wohl, wenn wir alle Kämpfer sind und früher oder später bei unserer Fahne hinsinken, warum soll es nur bei denen, die berufsmäßig Waffen tragen, als eine Schande gelten, mit schlotternden Knieen ins Feuer zu gehen? Warum streitet es nicht überhaupt gegen den Corpsgeist und die Waffenehre der Menschheit, sich wehklagend und seufzend ans Leben anzuklammern, wenn die Gefahr nahe rückt? Den Soldaten, der am Vorabend der Schlacht einen Versuch macht, sich vom Heere wegzuschleichen, holt man mit Schimpf und Schande zurück und hält ihm für zu schlecht, ihn in Reihe und Glied mit den Tapferen sterben zu lassen. Und ein Sterbender, der dem Tode Tage, Stunden, Minuten abbetteln möchte, sollte uns nicht unwürdig scheinen, nicht all unsere Theilnahme verscherzen, bis auf einen Rest von achselzuckendem Mitleid mit seiner Schwäche?

Das und Aehnliches sagte ich; mir war zu Muthe, wie einem alten Haudegen, der seinem Regiment vor dem Sturm auf eine Schanze noch einmal recht ins Gewissen reden will. Ich glaube, wenn in diesem Augenblick die ganze Cur-Gesellschaft sich um mich versammelt hätte, um zuzuhören, mein Feuer wäre nur noch gewachsen. Mitten in dieser Feldpredigt that ich einen Blick in die wundervolle Landschaft, die in der Sonne vor uns lag und uns zu fragen schien: Ist es denn so sehr zu verdammen, wenn man die Augen ungern für immer zudrückt, die all das liebgewonnen haben und nicht wissen, wann sie sich wieder aufthun werden, und wie der Tausch ihnen gefallen mag? Aber diese Zwischenfrage brachte mich nicht aus der Fassung; ich hatte meine Antwort schon fertig: Wenn du es einmal genossen hast, so ist es dein für immer. Was hat denn die Zeit zu schaffen mit unserer ewigen Seele? Wenn sie ewig ist, so hört das Beste, was sie hier unten gelebt, geliebt, erkämpft und ersehnt hat, nicht auf, ihr Besitz zu sein, den sie in Ewigkeit vermehren und läutern kann. Und wie wenig reine Glücks-Empfindungen danken wir dem, was wir ein für alle Mal zurücklassen werden? Wie viel Trug mag an unseren liebsten Freuden hangen, muß an ihnen hangen, da wir mitten in ihrem Genusse unsere Unruhe, unsere ewige Bedürftigkeit empfinden! Warum also nicht mit heiterer Stirn von dieser trüben und hastigen Welt Abschied nehmen, wo gerade das stärkste Licht auch den stärksten Schatten wirft?

Ich hätte noch wer weiß wie lange so fortgesprochen, aber ein heftiger Hustenanfall schnitt mir das Wort ab. Da bedachte ich erst, wie Alles wohl auf meinen stummen, traurigen Zuhörer gewirkt haben möchte, und ob es wohlgethan war, ehe ich ihn besser kennen gelernt, mein bischen Lebens- und Todesweisheit vor ihm auszukramen. Mir war sie Arznei, das fühlte ich wohl. Aber wenn seine Natur nicht stark genug war, sie zu ertragen, was konnte ich ihm nutzen? Mußte ich ihm nicht gerade so hart und zudringlich vorkommen, wie die Dame ohne Nerven mir selbst erschienen war? Hatte ich irgend ein Recht, mich ihm hilfreich aufzudrängen?

Aber es war einmal geschehen und nicht wieder zurückzunehmen. Wohl zehn Minuten blieb er noch so in seinen Gedanken, und ich hatte Zeit, mir Vorwürfe zu machen. Dann fing er mit ernster, aber sehr herzlicher Miene an, meine Sorgen zu zerstreuen. Wort für Wort, sagte er, könne er mir zugeben, und es sei ihm tröstlich, da er großen Anteil an mir nehme, mich meinem Geschick so gerüstet und klar entgegengehen zu sehen. Aber die menschlichen Loose seien verschieden. Ich will nicht zu hoch anschlagen, sagte er, daß Sie eine Kraft, die wir mit Recht von einer Schaar gesunder, schlagfertiger Männer unter den Waffen verlangen, wohl mit Unrecht bei Kranken suchen. Ein Soldat, der im Schnee campirt und Tages seine zwölf Stunden marschiren kann, hat ein frischeres Mark und Blut einzusetzen, wenn es gilt, Leib und Leben in die Schanze zu schlagen. Ein Verwundeter, der aus dem Lazareth die Kanonen herüberdonnern hört, wird wohl nicht gerade verächtlich sein, wenn ihn dabei ein Fieberschauer überläuft. Aber es ist auch noch ein anderer Unterschied, den ein Mädchen nicht völlig verstehen kann. Ein Mann, der sich in der Welt umsieht, wird bald inne, daß sie nicht bloß zum Genießen da ist, daß er etwas zu thun habe, eine Aufgabe lösen, eine Lebenspflicht erfüllen soll. Werden Sie nicht zugeben, daß es schmerzlich ist, der Welt den Rücken zu wenden, ehe man auch nur die ersten Anstalten gemacht hat, diese Pflicht zu erfüllen? Und diesen Unterschied dürfen Sie nicht vergessen, liebes Fräulein: der Soldat erfüllt seine Pflicht, indem er stirbt; jeder andere rechte Mann, indem er lebt, falls sein Tod nicht auch ein Opfer oder ein Beispiel ist. Wie soll also derjenige, der bisher nur gelebt hat, um Pflichten zu versäumen, sein Sterben nicht wie eine neue Schuld, eine neue Pflichtvergessenheit empfinden?

Wir haben schon so viel Bekenntnisse mit einander ausgetauscht, fuhr er fort, daß es thöricht wäre, mit einem freilich sehr persönlichen, und das Ihnen ganz gleichgültig sein wird, zurückzuhalten. Sie werden, nach den Gesinnungen, die Sie geäußert, meine dumpfe, unglückliche Stimmung für die Frucht einer unmännlichen Verzweiflung Angesichts des gewissen Todes halten. Etwas günstiger darf ich hoffen Sie gegen mich zu stimmen, wenn ich sage, daß mich meine Leiden schon genug gereift haben, um mir ein Leben, wie ich es bisher gelebt, in müßigen Zerstreuungen, Niemand zur Liebe und Niemand zur Last, in der reinen Selbstsucht, nicht der Mühe werth erscheinen zu lassen, es durch ärztliche Hülfe und dieses gepriesene Klima vielleicht noch zu retten. Meine Vergangenheit ließe mich ruhig sterben; sie war nicht viel Besseres als ein Scheinleben. Aber die Zukunft, die ich mir hatte erobern wollen gerade an dem Punkte, als es zu spät war, als wohl die Erkenntniß kam, aber die Kraft sie im Stiche ließ, die nagt an meiner Ruhe und macht es mir unmöglich, so heiter Abschied zu nehmen, wie Sie. Sehen Sie, ich bin nicht eben schlimmer gewesen, als die Besseren unter Meinesgleichen. Ich habe meine jungen Jahre vertändelt, verreist, verspielt und verschleudert und mir, so lange mein Vater lebte, sogar eingebildet, das sei standesgemäß, und er selbst war dieser Meinung. Ich hatte auch allerlei sogenannte geistige Interessen, mußte jedes Debut eines neuen Schauspielers, Sängers oder Theaterdichters miterleben, sammelte schöne Bilder, spielte in Dilettanten-Quartetten meine Cellopartie gar nicht einmal so übel und galt für einen guten Gesellschafter. Nun starb mein Vater, und sein Vermögen, seine Güter, seine politischen Verbindungen und Verpflichtungen waren plötzlich verwaist. Niemand hatte ein so jähes Ende jemals geahnt. Nun war's an mir, nun war ich ins erste Glied gerückt und sollte meinen Mann stehen – und da war es aus, ehe es angefangen war. Warum es aus war, das ist eine andere Frage; wie viel oder wie wenig Schuld ich dabei trage, gehört ebenfalls nicht hierher. Aber nehmen wir selbst einen Augenblick an, ich sei völlig ohne Schuld und das Unglück über mich gekommen, wie ein Stein vom Dache fällt, werden Sie nicht zugeben, daß ich anders zurückblicke, als Sie, und daher auch mit anderem Herzen vorausblicken darf?

Ich war eben im Begriff, etwas darauf zu erwiedern, was, weiß ich wahrlich nicht, aber es wäre wahrscheinlich auf die Bitte hinausgelaufen, mir mein leichtes Absprechen zu vergeben, als eine alte Frau an uns herantrat, die Rosen zum Verkaufe feilbot. Er nahm einen Strauß und gab ihr einen Silbergulden, den sie fast erschrocken in der Hand hielt; denn man begegnet hier nur dem elenden, zerlumpten Rapier. Er aber winkte ihr, daß schon Alles in Ordnung sei, und legte dann den Strauß zwischen uns auf die Bank. Ein Herr trat zu ihm heran, der ihn zu sprechen wünschte. Da stand er auf, entfernte sich ohne Abschied, kam aber nicht wieder zu mir zurück. Ich bin denn auch bald weggegangen und habe den Strauß liegen lassen. Jetzt bereue ich's. Was haben die armen Rosen verbrochen, daß man ihnen nicht wenigstens noch einen kurzen Flor in einem Wasserglase gönnt?

 

Abends.

Ich bin noch einmal ausgegangen und muß es nur gestehen, einzig um die Rosen. Es kam mir wie eine Sünde gegen etwas Lebendiges vor, sie auf der Bank verdorren zu lassen. Sie lagen noch unangerührt; nun stehen sie ganz frisch und duftend vorm Fenster; die Nachtluft ist aber schon zu kühl, ich muß das Fenster schließen und das Glas mit den Blumen draußen lassen.

Ich will lesen, um meine aufgeregten Gedanken zu beschwichtigen. Der Strauß hat mir den Spruch von jenem Grabstein wieder ins Gedächtniß gerufen:

Und so ist das frühe Welken
Dieser Rose zu beneiden?

Dieses Fragezeichen ist mir aus der Feder geschlüpft; ich habe nun nicht das Herz, es auszustreichen. Wohl ist es eine Frage, ob je ein armer Mensch einen anderen armen Menschen um etwas beneiden darf, und wär' es selbst um den Tod!

 

Am 29.

Mein Geburtstag. Ich habe niemals von ihm Notiz genommen und nie danach gefragt, ob es Andere thaten. Diesem aber, weil es denn der letzte sein soll, wollte ich eine Ehre anthun und ihn zum Abschied, so gut sich's thun ließe, feiern. Ich habe mir die kleinen Mädchen meines Wirthes ganz früh schon hereingeholt und ihnen die Kleidchen geschenkt, die ich für sie genäht habe, auch jeder einen Kuchen und einen Kuß gegeben. Dann bin ich ausgegangen, obwohl es ein sonnenloser, fröstelnder Tag ist. Auf der Treppe begegnete mir Herrn Morrik's Bedienter, der sich nach meinem Befinden erkundigen sollte, da ich mehrere Tage mich auf der Wassermauer nicht hatte blicken lassen. Es freute mich, daß noch Jemand nach mir fragt; ich selbst bin mir so unliebenswürdig erschienen seit dem neulichen Gespräch, daß ich meinte, Niemand kümmere es, ob ich lebe oder sterbe. Unter den Lauben spazierte ich dann lange auf und ab; denn ein Regen strich durch die schmale Gasse, und es war draußen nicht gut sein, da sich auch ein lebhafter Nordwind, den sie hier Jaufenwind nennen, aufmachte und freilich zum guten Theil vom Küchelberg abgewehrt wurde, aber doch dann und wann um die Ecke hereinstöberte.

Ich war so müßig und gedankenlos, so unlustig, daß ich zuletzt vor Langerweile eine Menge Feigen und Pfirsiche kaufte und im Gehen aß, und als ich spürte, daß es nicht sehr gescheit gewesen war bei dem kühlen Wetter, das Uebel noch ärger machte, indem ich mich zu einer Frau unter den Lauben setzte, die Kastanien briet, und auch von denen aß, um mich zu wärmen, mir aber erst recht den Magen damit verdarb.

Das ist nun mein Feiertag. Es geschieht mir aber schon recht. Wie kommt auch ein müßiger Mensch dazu, sich noch eigens Feiertage zu machen? »Saure Wochen, frohe Feste« – das ist freilich was Anderes.

Immer klarer wird es mir, daß er Recht hat und ich Unrecht – nicht nur habe, sondern auch ihm gethan habe. Nur der Herzlose, nur der Selbstsüchtige kann es heiter mit ansehen, wenn er abgerufen wird, ehe er was Rechtes auf Erden gethan hat. Und es war schonend und gütig von ihm, aber doch nicht richtig, daß er einen Unterschied machte zwischen seiner und meiner Sage. Haben wir nicht auch Lebenspflichten? Hat meine Mutter sie nicht bis zum letzten Athemzug erfüllt? Und ich konnte mich hier meiner unnützen Einsamkeit freuen und frohlocken wie ein Kind, das hinter die Schule gegangen ist? – –

Da kommen Briefe vom Vater und meinem Ernst, Geburtstagsbriefe. Ich will sie im Freien lesen. Der Jaufenwind hat im Umsehen die Luft gereinigt, die Sonne scheint wieder so warm, daß ich die Ofenluft nicht mehr ertragen konnte und beide Fenster aufmachen mußte.

 

Nachmittags.

Der Tag ist nun doch gefeiert worden, auf eine seltsame Art, durch eine Versöhnung, die eine neue Entzweiung ist. Weil die unverhoffte Sonne alles, was lebt und webt, in den Wintergarten gelockt hatte, ging ich auf der anderen Seite der Wassermauer immer gegen Westen noch eine gute Strecke fort, bis zu der Stelle, wo die Passer sich in die Etsch ergießt. Da sah ich Herrn Morrik schon von Weitem, wie er mit seinem Bedienten in der Sonne auf einem Baumstamm saß, mich ebenfalls erkannte und aufstand, mir entgegen zu gehen. Ich ward wirklich verlegen, denn es sah fast aus, als hätte ich ihn eigens aufgesucht. Aber nun war nicht mehr umzukehren; und warum auch? War es nicht vollkommen wahr, daß es mich freute, ihm zu begegnen, ja, daß ich ihm sogar etwas zu sagen hatte? Ich war ihm ja noch die Genugthuung schuldig, daß er mich anderen Sinnes gemacht hatte, daß meine ganze todesmuthige Weisheit mir nun wie eine armselige Fieberwallung vorkam.

Ich konnte es kaum abwarten, bis sich die Gelegenheit ergeben würde, ihm diese Geständnisse zu machen, und erschrak förmlich, als er mir zuvorkam mit dem Ruf: Wie froh bin ich, Sie zu sehen, liebes Fräulein! Sie werden staunen, welche Wunder Sie an mir gewirkt haben. Ich habe freilich schon damals, während Ihrer herzhaften Standrede, gefühlt, welchen Eindruck sie auf mich machte. Aber Jeder, wenn er auch erkennt, daß er nicht Recht hat, – er möchte doch gern Recht behalten, und so hab' ich meine schlechte Sache ganz leidlich verfochten. Wir sahen uns dann nicht wieder, und seitdem ist es nachgekommen, und wenige Stunden nur, so war ich vollständig umgewandelt und hätte den höchsten Eid leisten wollen, der Fahne, die Sie so tapfer vorantragen, nie mehr untreu zu werden.

Und was werden Sie nun sagen, erwiederte ich ganz kleinlaut, wenn Sie hören, daß ich selbst fahnenflüchtig geworden bin?

Es ist unmöglich, sagte er lachend – und das war das erste Mal, daß ich ihn nicht nur lächeln, sondern ganz herzlich lachen sah, – oder wenn auch Sie einer menschlichen Schwäche zugänglich wären, so nehmen Sie sich jetzt vor mir in Acht, ich hole den Deserteur, er mag wollen oder nicht, wieder zurück, aber nicht, um ihm den Proceß zu machen, sondern um ihm die Fahne von Neuem anzuvertrauen, unter der ich zu siegen und zu sterben gelobt habe.

Das gab nun einen der spaßhaftesten Wettstreite, die wohl je zwei Menschen ausgefochten haben, jeder verteidigte die Sätze, die er wenige Tage vorher dem Andern aufs Heftigste abgestritten hatte, und Jeder suchte seine frühere Meinung, so schlimm er nur konnte, zu verdächtigen.

Sie müssen mir zugeben, rief er endlich, daß, wie nun auch ein weiser Daniel unsern verwickelten Streit theoretisch schlichten möchte, meine Ansicht, ich meine Ihre frühere, denn doch praktisch im Vortheile ist. Seit ich mich zu ihr bekehrt habe, bin ich so heiter, so ausgesöhnt mit Gott und der Welt, ja, mit mir Selbst, wie – nun eben, wie Sie waren, ehe Sie sich zu meiner Auffassung der Dinge verirrt haben. Es hat sich seitdem in meiner Lage, meinen Leiden und den wenigen Freuden, die mir noch geblieben sind, nicht das Mindeste geändert. Nur die Farbe, die Alles trägt, ist aus einem düsteren Grau ins schönste, lebensfrischeste Roth umgeschlagen. Ich sehe, was dahinter liegt, genau so an, wie vorher; aber wenn ich viel verloren habe, gewinne ich es zurück, wenn ich auch den noch übrigen geringen Rest verliere? Sie hatten so Recht, zu sagen: In jeder Minute kann man ein ganzes Leben erleben! Und mir bleiben noch so schöne Minuten – was sag' ich? Tage – Wochen – vielleicht Monate übrig. Die sollte ich ungelebt lassen?

Auch ist es wohl nicht so weit her, fuhr er fort, mit dem, was ich etwa hätte thun können, und die Welt kann es ruhig missen. Doch wäre es das Unersetzlichste, – ich stehe, wo ich stehe, und kann nur noch vorwärts, und wenn es auch drüben noch etwas zu thun giebt, werde ich mich besser dazu rüsten mit Muth und Zuversicht, als durch jene unfruchtbare Desperation, deren ich mich jetzt vor Ihnen schäme, noch mehr schämen würde, wenn ich Sie auch heute noch so erhaben über alle Menschlichkeiten sähe, wie Sie mir damals erschienen sind.

Ich schreibe hier so trocken nieder, was mir von seinen Worten noch im Gedächtniß geblieben ist; er spricht viel eigentümlicher, schärfer und mit einem Witz, der wie ein belebendes Salz beim Einatmen erfrischt und gar keinen beißenden Nachgeschmack hinterläßt. Es war eine unendlich gute Stunde. Wären wir zwei Männer oder zwei Frauenzimmer gewesen, wir hätten uns, ehe wir uns trennten, die Hände geschüttelt und Brüderschaft geschlossen auf Du und Du. Wenigstens haben wir verabredet, uns täglich auf der Wassermauer wiederzufinden, da wir noch über so Vieles verschieden denken und schwerlich noch in diesem Leben damit fertig werden.

Meine Briefe von Hause find auch erfreulich, Ernst schreibt ganz ungeduldig, daß er mich so lange nicht sehen soll, der arme Junge ahnt nicht, wie lange es dauern wird. Es ist indessen dunkel geworden. Ich will ein wenig musiciren und diesen Festtag schön ausklingen lassen.

 

Am 3. November.

Die guten Tage sind doch seltene Gäste auf Erden. Nur zweimal, seit ich zuletzt schrieb, haben wir, wie wir ausgemacht, uns in den Mittagsstunden gesehen. Als ich vorgestern, wo es neblig und unfreundlich war, in den Wintergarten kam, war er nirgends zu erblicken. Ich sah nur das schadenfroh gespannte Gesicht des kleinen Fräuleins, das sich immer möglichst dicht in unsere Nähe setzt, um etwas von unserem Gespräch zu erlauschen. Die Lebensretterin kam auch, sah mich mit einer kalten, polizeilichen Miene von oben bis unten an, und ich hörte im Vorbeigehen, wie sie zu einer der Damen, recht eigens für mich, die Worte sagte: Der arme Mensch, er muß es nun büßen, daß er so stundenlang gesprochen hat. – Ich zitterte vor Schreck, und es hätte wenig gefehlt, daß ich mich trotz allem, was vorgefallen war, bei der unbarmherzigen Schwester nach ihm erkundigt hätte. Zum Glück schickte er mir Nachmittags seinen Diener, er habe Hausarrest wegen der strengeren Luft – denn über Nacht hat es an den Bergen geschneit – und ich solle mich nur hüten, da die Uebergangszeit in den Winter die gefährlichste sei.

Trotzdem habe ich ihn gestern und heute vergebens wieder draußen gesucht. Wie rasch man sich an einander gewöhnt, wenn man gleich einsam ist unter Vielen! Auch er hat sonst keinen Umgang. Nur auf den Arzt ist er sehr gut zu sprechen. Ich hätte fast Lust, ihn auch einmal zu consultiren, nicht um etwas Neues über mich zu erfahren – da weiß ich ja nur allzu gut Bescheid – sondern um zu hören, ob auch er so unheilbar ist, wie er sich glaubt.

 

Am 5. Abends.

Der Wind ist umgesprungen, wir haben Scirocco, das ganze Etschthal ist verhangen, und ein feiner Regen schlägt weich und warm an die Fenster. Nun haben die Pappeln draußen das Laub schon so stark verloren, daß ich die Umrisse der schönen Mendelspitze ganz deutlich dahinter verfolgen kann. Die Weingärten sind abgeherbstet, die Heerden in den Ställen, es schickt sich Alles zum Winter an, und ich bin froh, warm zu sitzen. Der Vater aber schreibt gar von tiefem Schnee und strenger Kälte, während der Südwind uns noch die Luft Italiens zuträgt und in dem Gärtchen zu meinen Füßen die Rosen so lustig fortblühen, als wüßten sie es besser und glaubten nimmermehr, daß der Schnee von der Muttspitze jemals bis nach Dorf Tirol herunterwandern oder gar auf der Wassermauer sein Wesen treiben könnte.

 

Am 6. Morgens.

Die Rosen scheinen wirklich Recht behalten zu sollen. Die prachtvollste Sonne hat mich geweckt, der Ofen hat Ferien, die grünen Wiesen unter der Niederung leuchten wie im Mai, und vor einer Viertelstunde kam ein Billet von Morrik, daß er den schönen Tag gern zu einem Ausritt über die nächsten Anhöhen benutzen möchte, da ihm das Gehen noch versagt sei, und nun bei mir anfrage, ob ich seine Begleitung annähme; er wolle mich dann um zehn Uhr mit den Maultieren abholen.

Ich habe ohne viel Besinnen ihm geschrieben, daß es mich freuen würde. Jetzt da ich mir's recht überlege – –

 

Abends.

Zum Glück wurde mir das Ueberlegen abgeschnitten, ehe ich vielleicht einen recht überflüssigen, thörichten Gedanken ausgebrütet hatte. Die Wirthin kam mit der Meldung, daß der Herr unten warte, und der Bediente folgte ihr auf dem Fuße, meine Tasche und das Plaid hinunterzutragen. Da galt es, sich tummeln. Ich fand ihn unten schon abgestiegen, um mir in den Sattel zu helfen, und die Freude, ihn nach so langer Pause heiter und ziemlich wohl wiederzusehen, das milde, klare Wetter, die Aussicht, den herrlichen Ritt zu machen, das alles half mir jeden Rest von kindischer Verlegenheit rasch überwinden. Man hat sich daran gewöhnt, uns zu Fuß mit einander plaudern und lustwandeln zu sehen; warum nicht auch zu Maulthier?

Also ritten wir ganz guter Dinge durch die Laubengasse und über die Brücke, wo freilich das liebe Publikum an die Barriere trat, uns mit Blicken und Anmerkungen noch eine Strecke weit das Geleit zu geben. Drüben stieg der Weg zur Linken sanft hinan und lenkte in die Hügelgassen des freundlichen Obermais ein, wo wir uns bald mitten unter den entblätterten Weingärten befanden und an den Häusern vorübertrabend das Stampfen der Trauben in den großen Kufen, das Einfüllen des Mostes in die Fässer, und in den langen, jetzt gelichteten Laubengängen schon wieder die Vorarbeiten für eine neue Erndte im nächsten Jahre zu sehen bekamen. Nichts ist schöner, als einen dieser hochgewachsenen Burschen mit einem Gespann der starken grauen Ochsen eine solche Weinlaube hinauf pflügen zu sehen, wenn er dann die Thiere verschnaufen läßt und sich zwischen ihnen, wie in jenem Robert'schen Erndtebilde, an die Deichsel lehnt, das alles umrahmt von dem Stangen- und Gitterwerk, das hier zu Lande in hoher Wölbung die Reben trägt. Alles hörte auf zu arbeiten, wo wir vorbeiritten, ich voran auf meinem sehr sanften Thier, das der Führer nicht von der Hand ließ, Morrik dicht hinter mir, so daß wir uns unsere Freude an allem Schönen zurufen konnten, sein Diener als Nachtrab hinterdrein. Als wir etwas höher kamen, hielt ich unwillkürlich die Zügel an. Es war zu wunderbar, um daran vorbei zu eilen. Wir hatten das Etschthal tief unter uns, der Fluß blitzte zwischen Sand- und Wiesenstrecken herauf, und die Berge schlossen sich in den reinsten Linien zusammen. Aber was ist davon zu sagen, da sich hier kaum der Pinsel eines Malers richtig auszudrücken wüßte! Wir sagten auch nicht ein Wort zu einander, wir hingen nur ganz gläubig und andächtig in unseren Sätteln und starrten und staunten. Wären die Thiere nicht ungeduldig geworden, wer weiß, ob wir nicht noch an derselben Stelle hielten. Mein sanfter Brauner, der am Ende klüger war, als er aussah, schüttelte nachdenklich den Kopf mit den ansehnlichen Ohren über die närrischen Menschen, die hier nicht vom Fleck wollten, obwohl doch nirgends eine Futterstelle zu entdecken war. Er setzte sich, in der Meinung, daß er unserm Unverstande zu Hülfe kommen müsse, langsam wieder in Bewegung, und die Anderen folgten. Ein reizendes Schloß, das in der Tiefe dicht unter dem waldigen Bergabhange liegt, ein Besitz der Grafen Trautmannsdorf, blieb zu unserer Rechten, auch das Valentins-Kirchlein, das ganz abgeschieden in einem windstillen Seitenthale steht. Unser Weg führte wieder gegen Norden über das Mittelgebirge zu Füßen des Ifingers, der sein Schneehaupt in die reine Herbstbläue erhob. Der ganze Hügelrücken ist wie besäet mit einzelnen Gehöften, dazwischen alte Herrenschlösser, in denen jetzt meist die reichen Weinbauern hausen und in den Sommermonaten kranke Gäste beherbergen. Ich habe die Namen der meisten wieder vergessen; nur der eine von Schloß Rubein hat sich mir eingeprägt. Da stehen außen vor der verwitterten Zinnenmauer schöne, schlanke Cypressen wie Wächter um einen alten Sarkophag und ragen schwarz aus der gelben und grünen Rebenwildniß hervor. Wir thaten auch einen raschen Blick in den Burghof. Wie kühl und heimlich ist es da! Die kleine Pfeiler-Galerie, die Treppchen, die steil hinaufführen, der alte, schon stark entlaubte Nußbaum in der Ecke, über und über mit schwirrenden und singenden Vögeln bevölkert, die von ihrer Weinbeeren-Erndte berauscht und übermütig geworden sind. Ich könnte Seiten lang davon fortschwatzen, wie einzig schön es auf diesen Höhen war. Und nun weiter gegen das Passeierthal hin die sacht ansteigenden Wege unter den edlen Kastanien- und Nußbäumen, bis wo der Blick sich freier aufthut auf Meran hinunter und hinüber nach dem Küchelberg und meiner lieben Zenoburg, bis er zuletzt hängen bleibt an dem hoch vorgebauten Dorfe Schönna und seinem alten Schlösse, dem Ziel unserer Reise.

Als wir ankamen, war es gerade Mittag. Wir waren Beide müde von dem langen Ritt und hungrig und auch einsilbig. Die Fülle des Gesehenen machte uns noch zu schaffen, und hier erst recht hatten wir nicht Augen genug, zu genießen, was aus jedem Fenster in der Nähe und Ferne sich uns aufthat. Ich ging in die Gaststube und saß, während Morrik draußen mit dem Wirth plauderte, ein Weilchen tief erschöpft, glücklich und doch von einer seltsamen Beklommenheit eingeengt, in der kühlen Dämmerung still, mit geschlossenen Augen, um mich wieder zu fassen und zu finden. Das Zimmer hat eine tiefe Fensternische, eine Art Erker, in der, wie ich beim Eintreten flüchtig bemerkte, ein junger Bauer mit einem Mädchen saß bei Wein und Mittagskost. Sie schienen mich so wenig zu beachten, wie ich sie. Morrik kam dann, setzte sich zu mir an den Tisch und war sehr heiter, wenn auch bleicher, als sonst. Die Luft schien ihn angegriffen zu haben. Wir sprachen von gleichgültigen Dingen. Auf einmal steht der Bursch im Erker auf und tritt, das volle Glas in der Hand, an unsern Tisch. Mit Erlaubniß, sagte er, der Herr wird nichts dawider haben, wenn ich auf dem Fräuele ihre Gesundheit trinke. Wir sind ja alte Bekannte. – Dabei trank er, sah mich zutraulich über den Rand des Glases an und hielt mirs dann hin, daß ich auch trinken sollte. Ich nahm das Glas, sah ihn aber verdutzt an; er kam mir ganz fremd vor, dazu schon ein wenig vom Weine erhitzt und in einem muthwilligen Humor, der mich beinahe ängstigte. – Ja, ja, sagte er, als ich schwieg und auch Morrik ihn nicht gerade aufmunternd ansah, mit dem Saltnerhut und dem Dreimonats-Bart schaut der Mensch freilich ein Bissel teufelsmäßiger aus, als so im Feiertagsgewand. Aber wenn's dem Fräuele damals nicht vor mir gegraust hat, wird's ja jetzt um so weniger Gefahr haben, zumal der Herr Bruder oder Schatz da – – Naz, sagte das Mädchen, was schwätzest du da zusammen! Das Fräulein schaut nicht danach aus, als ob es sich fürchtete. Aber 's Weintrinken ist den Kranken verboten, gelt, gnäd'ge Herrschaften? Und der Ignatius meint, es könne gar kein Mensch leben ohne den Wein. O, der ist ein Wüster! Ich hab' schon eine Stunde an ihm gemahnt und gebittet, daß er fortmachen soll; wir haben's nöthig nach Meran zum Handschlag, verstehen Sie, zu unserer Verlöbniß; aber der sitzt und sitzt bis in die Nacht, wo der Wein so den rechten Schnitt hat, und was machen wir hernach für eine Figur vorm Herrn Decan? Reden Sie ihm doch zu, Gnädige!

Ei was! sagte der Bursch, den ich nun freilich allmählich wieder erkannte als meinen Freund von der Zenoburg, siehst du nicht, Liesi, daß die Herrschaften sich auch Zeit lassen? Die da fängt früh an mit dem Regieren wollen, nicht wahr, Herr? Die Weiberleut haben immer Eil, uns in ihre Gewalt zu bekommen. Aber was ein rechter Kerl ist, der macht oft Station, wenn's den letzten Gang geht und läßt sich jede ledige Halbe doppelt schmecken. Sonst hätt' ich gegen die Dirne nichts einzuwenden, sagte er mit einem lustigen und stolzen Blick zu ihr hinüber. Ihre geraden Glieder hat sie und ihre fünf Sinne richtig bei einander, und so von der Gasse aufgelesen ist sie auch nicht. Nur das Auftrumpfen und Besserwissen, das ist ein rechtes Kreuz, aber das muß sich ja der Stärkste aufladen lassen. – Wie seid denn Ihr damit angekommen? wandte er sich zu Morrik. Das Fräulein ist ja so weit ganz sauber, und ich tauschte gleich, wenn sie mich möchte, aber mit dem »Herrn im Haus spielen« wär's da wohl vollends aus. Nun, jeder hat seinen Packen zu tragen.

Ignaz, sagte ich, da Morrik noch immer schwieg und ich fast fürchtete, er möchte den vom Weine redselig Gemachten unsanft zurechtweisen, der Herr ist weder mein Bruder noch mein Schatz. Wir sind hier Beide fremd und haben nur den Weg hier herauf zusammen gemacht. Was du aber vom Regieren sagst, dazu gehört Kraft, und ein armes Frauenzimmer, das sie begraben werden, eh's wieder Frühling wird, hat weder Lust noch Athem dazu übrig. Und nun sei gescheit und geh mit der Liese nach Meran zum Herrn Pfarrer, und laß dir nicht nachsagen, daß du nicht recht bei Verstande gewesen, als du ihr dein Wort gegeben hast.

Das Mädchen, eine sehr frische, derbe Gestalt, mit einem offenen und klugen Gesicht, war nun aufgestanden und hatte den Burschen unter den Arm gefaßt. Ich dank', gnädiges Fräulein, sagte sie, daß Sie mir helfen, den da vom Fleck zu bringen. Sag den Herrschaften behüt' Gott, Nazi, und dann komm! Aber mit dem Sterben, Gnädige, überlegen Sie sich's noch anders! Ich hab' in einer Pension unten in Meran zwei Winter gedient und weiß, es stirbt Mancher nicht, der schon den Sarg bestellt hat, und Mancher denkt, er thu' den letzten Schnaufer, und steigt hernach noch auf die Muttspitz. Es weht ein viel guter Luft hier in Meran, sollt' mich nicht wundern, wenn er selbst einen Todten aufweckte. Adieu, gnädige Herrschaften! Sonst schläft mir Der noch im Stehen ein.

Es schien wirklich Gefahr vorhanden. Der Bursche stand an den Tisch gelehnt und sah wie abwesend zu Boden, nickte jetzt nur träumerisch uns zu und ließ sich gutwillig hinausführen. Ich kann nicht leugnen, daß die ganze Scene mir peinlich gewesen war. Es hatte ihn nicht gerade entstellt, aber all seine Reden, die ich nur so in der Hauptsache wiedergegeben habe, ohne seine derben Ausdrücke, verstimmten mich, ich wußte aber nicht recht, warum. Auch Morrik schien von der Begegnung nicht sehr erbaut. Die Wirthin, die uns das Essen selbst auftrug und ebenfalls allerlei neugierige Fragen stellte, verbesserte unsere Laune nicht sonderlich. Dazu war eine schwere Luft in der niedrigen Stube, zu der der Rauch von der Küche hereindrang. Da nun auch das Essen nicht sehr zu loben war, waren wir Beide froh, bald fertig zu sein, um draußen wieder freier aufzuatmen. Wir gingen die kleinen Steige zwischen den malerischen Gehöften langsam auf und ab, sprachen wenig, aber meine Fröhlichkeit kehrte mir bald zurück.

Ihnen ist nicht wohl, sagte ich, als ich ihn immer noch gedankenvoll neben mir hinschreiten sah.

Doch, sagte er. Ich hätte nichts zu klagen:
Ließen mich Gedanken frei,
Ich wüßte nichts von Ungemach.

Es hülfe Ihnen vielleicht, wenn Sie Ihre Gedanken aussprechen könnten.

Vielleicht würde es dann nur schlimmer. Denn schwerlich würden meine Gedanken gerade Ihnen Freude machen.

Schon Ihr Vertrauen wäre mir ja erfreulich.

Auch wenn ich Ihnen die Besorgniß vertraute, daß Sie mir am Ende doch zu viel Vertrauen schenken?

Ich sah ihn fragend an.

Sehen Sie, fuhr er fort, das Wenige, was Sie von mir lernten, ist vielleicht mein Bestes. Ich bin daher überzeugt, Sie denken viel zu günstig von mir und würden erschrecken, wenn Sie hörten, wie andere Leute, die mich freilich noch weniger kennen, über mich urteilen.

Geht das aber nicht einem Jeden so, fragt' ich, daß er zu hoch oder zu gering geschätzt wird und kaum seine Nächsten ihn in dem richtigen Lichte sehen? Und soll mich das irre machen in meinem guten Glauben an die Dauer eines freundlichen Verkehrs, dem überdies ein so nahes Ziel gesteckt ist?

Er lächelte schmerzlich. Ich habe die bestimmte Ahnung, daß Sie mich überleben werden, vielleicht um viele Jahre, sagte er. Seit ich Sie kenne, hat Ihre Natur sichtbar sich aufgerafft, und wer weiß, ob der Ausspruch Ihres Arztes nicht einst zu dem Uebrigen gelegt werden wird, was falsche Propheten leichtsinnig in den Tag hinein geredet haben. Sie schütteln den Kopf. Es ist besser, dies der Zukunft zu überlassen. Ich aber trage die Weissagung zu deutlich in mir, um sie überhören zu können; und da macht es mir schwere Bedenken, ob ich nicht ein Unrecht an Ihnen begehe, Ihre Gesellschaft, Ihr Gespräch – darf ich sagen: Ihre Freundschaft? – zu genießen, unbekümmert um den Nachtheil, den Ihre Güte Ihnen vielleicht bringen möchte. Sie sind über so Vieles erhaben, was bei aller Erbärmlichkeit denn doch eine Macht ist – wie stark und grausam, das habe ich nur zu traurig erfahren müssen. Und damit es Sie nicht verletze, von einem Manne an allerlei Urtheile und Vorurtheile erinnert zu werden, die sonst einem weiblichen Gemüth am deutlichsten gegenwärtig sind, und die wir bisher in unserem freundschaftlichen Verkehr verachtet haben, müssen Sie wissen, daß ich nicht hier, nicht krank, nicht schon mit einem Fuß im Grabe wäre, wenn ich sorgfältiger bedacht hätte, was man über mich urteilt, und welches Licht – welchen Schatten, sollte ich sagen – ich auf diejenigen werfe, mit denen ich umgehe.

Wir hatten uns auf einen mit Moos und Epheu dicht überwachsenen Stein am Wege gesetzt, von wo man durch die Kastanienbäume die schönsten Berghäupter gegenüber und die Abhänge des Passeier übersah. Kinder, die in die Schule gingen, umstanden uns in einiger Entfernung, die Bauern schritten vorbei, die Kühe wurden an die Wassertröge geführt – er sah und hörte von Allem nichts und sprach leise weiter.

Sie wissen vielleicht nicht, liebe Marie, wie eine in jeder Hinsicht unabhängige Lage auf die Natur wirkt im Guten und Schlimmen. Es ist auch unnötig, hier darüber zu moralisiren. Aber das Eine ist wichtig, daß, wer sich nirgend gebunden fühlt, allzu leicht gering denkt von denen, die sich binden, sei es an Rücksichten oder an Vorurtheile. Ich habe mir's schon einmal nachgesagt, ich war besser, als mein Ruf. Aber weil ich die Menschen und ihre Hülfe, ihre Protection, ihren guten Willen entbehren konnte, glaubte ich auch, ihre gute Meinung entbehren zu können, und lachte dazu, wenn mich die Spießbürger, wie ich sie schalt, schwärzer sahen, als ich mir selber vorkam. Sie neiden mir meine Freiheit, sagte ich. Da ich sonst in Nichts von ihnen abhänge, soll ich mich wenigstens unter ihr Sittengericht beugen. Was wäre die Freiheit, wenn sie uns nicht vor allem innerlich auf uns selbst und unser Gewissen stellte? Und so ging ich meinen Weg und ließ sie reden.

Aber jeder Menschenweg führt am Ende bei Menschenwohnungen vorbei, und wer hier und dort Einlaß begehrt, muß seine Schritte zügeln, daß sie ihn nicht in den Verdacht eines Landstreichers oder Trunkenen bringen. Denn solche läßt kein friedlicher Bürger über seine Schwelle. Ich muß Ihnen keinen langen Roman zum Besten geben. Um es kurz zu sagen; ich lernte ein liebenswürdiges Mädchen kennen; es war vielleicht das erste Mal, daß ich eine wirkliche Freundschaft empfand und Freundschaft erfuhr. Das Fräulein war seit einigen Monaten verlobt mit einem jungen Offizier, dem ich früher wohl in lockerer Gesellschaft begegnet war. Augenblicklich war er abwesend auf einer Dienstreise. Ich bin mir bewußt, daß ich das Haus nicht mehr besucht haben würde, wenn ich etwas wie Leidenschaft für seine Braut in mir entdeckt hätte. So aber gab ich mich dem Reize dieses harmlosen, traulichen Umgangs ohne Bedenken hin, um so mehr, als auch ihr Bruder nichts dagegen einzuwenden hatte. Es war ein angesehenes, wohlhabendes Haus; kleine Feste, bei denen getanzt, Komödie gespielt, Bilder gestellt wurden, versammelten auch während der Abwesenheit des Verlobten viele jungen Leute dort, und die Braut nahm heiter an Allem Theil. Auf einmal aber bemerkte ich, daß der Bruder sich gegen mich zurückhaltend und kalt benahm. Ich war schon Willens, ihn um den Grund zu befragen, als er mir zuvorkam und mir in einem höflichen Briefe seinen bestimmten Wunsch aussprach, daß ich das Haus seiner Eltern nicht mehr besuchen möchte. Es kam natürlich zu weiteren Erklärungen, und ich erfuhr, daß der Verlobte es seiner Braut zur Pflicht gemacht habe, den Umgang mit mir abzubrechen, da ich »ein Mensch ohne Grundsätze« sei. Mancherlei kam dazu, unser Gespräch über diese üble Sache zu erhitzen, und obwohl ich den besten Willen hatte, meiner Freundin jeden Kummer zu sparen, die Dinge nahmen eine ernste Wendung. Die Conversation wurde unter zwei Pistolenläufen fortgesetzt; ich schoß in einen Baum; der Bruder, dem der Kopf mehr als mir brannte, streifte mir die linke Seite. Es war nicht der Rede werth. Aber die mühsam niedergehaltene Aufregung, der kalte Wintermorgen, an dem ich in meinem Wagen, nur notdürftig verbunden, mehrere Stunden weit nach der Stadt zurückfuhr, der nagende Schmerz und Ingrimm, daß ein schönes, reines, menschliches Band so albern zerrissen worden, warfen mich darnieder. Ich stand von einem schweren Entzündungsfieber nur wieder auf, um als unheilbar hierher geschickt zu werden. Und nun begreifen Sie vielleicht, liebe Marie, weßhalb ich es nicht länger leicht nehmen kann, Sie so arglos neben mir hingehen zu sehen, neben einem »Menschen ohne Grundsätze«, der doch wenigstens den Einen allezeit festgehalten hat, nicht auf Kosten eines fremden Glücks das seinige zu suchen.

Ich wußte längst, was ich ihm darauf erwiedern mußte. Wenn Sie mir dies alles anvertraut haben, um meinen Sinn zu ändern, sagt' ich, so kennen Sie mich nicht. Es kann mich nur darin bestärken, daß ich Recht daran thue, auch Ihnen gegenüber von dem Rechte der Wahrheit Gebrauch zu machen, das Sterbenden vergönnt wird. Ich habe noch nichts Gutes im Leben erfahren, das ich mir nicht hätte erkämpfen müssen. Unser freundliches Begegnen ist mir wahrlich so viel werth, daß ich es mir, wenn es mir auch ungesucht zu Theil ward, nicht so leicht streitig machen lasse. Was wäre denn Freundschaft, wenn man nicht den Muth hätte, sie zu bekennen und zu vertheidigen, wenn sie angefochten wird? Wie klein und unwahr müßte ich mir und Ihnen erscheinen, änderte ich nur das Geringste in meinem Betragen gegen Sie weil schlechte oder einfältige Menschen Ihnen Dinge nachsagen, die ich als Lügen erkenne? Auch ich hange von Niemand mehr ab, dem zu Liebe ich vielleicht, weil ich ein Mädchen bin, mein Leben gegen meine Ueberzeugung knechten lassen müßte. Wenn mein Vater einst erfährt, daß ich in meinen letzten Tagen eine gute und feste Freundschaft mit einem Fremden geschlossen habe, wird er von diesem Fremden nur Gutes denken, weil seine Tochter ihm vertraut hat. Also nichts mehr von diesen Bedenken, die Ihnen keine trübe Stunde hätten machen sollen, und wir bleiben, wie bisher, gute Kameraden, nicht wahr, lieber Freund?

Bis in den Tod! sagte er und faßte meine Hand in großer Bewegung. Es gelang mir bald, ihn wieder völlig heiter zu machen, und der schöne, reiche Tag wär rein ausgeklungen, ohne einen wunderlichen Zwischenfall, der freilich nur mir zu denken gab.

Wir ritten schon früh wieder hinunter, da die Sonne so zeitig hinter die Berge tritt. Morrik war sehr aufgeräumt; er sprach alle Augenblick mit seinem Maultier, ihm etwas mehr Sinn für die wundervolle Landschaft zutrauend, als das arme Geschöpf aufbringen konnte; er hielt an den Bauernhöfen und wechselte ein Wort mit Kindern und Müttern; einem zerlumpten, weißbärtigen Alten, der keuchend bergan uns entgegen kam, steckte er im Vorbeireiten einen Guldenzettel an den Hut und freute sich, was er wohl sagen möchte, wenn der nächste Bekannte ihn auf den seltsamen Zierrath aufmerksam machen würde. So kamen wir auf einem näheren Wege zu der Brücke hinab, und ich sah auf einer Bank einen jungen Polen sitzen, der mir schon von früher her bekannt war, nicht im angenehmsten Sinne des Wortes. Ein paar Mal war ich ihm allein begegnet und hatte dann gleich seine schwarzen Augen mit einem so unheimlichen Ausdruck mich anstarren sehen, daß ich immer eilte, an ihm vorbei zu kommen. Er ist offenbar einer der Kränksten, aber sein heftiges Gemüth scheint gegen den Druck seines Schicksals in beständiger Empörung, und dieser innere Kampf verzerrt sein anziehendes und schönes Gesicht. Auch die fremde Tracht, ganz schwarz, die Füße in hohen Stiefeln, die pelzbesetzte Mütze mit der schwarzweißen Feder, das alles macht ihn zu einer auffallenden Erscheinung, die mir schon manchmal in ängstlichen Träumen, immer drohend, aufgetaucht ist. Heute saß er ganz still und schien mich nicht zu gewahren. Morrik war vorauf geritten, da der Brückensteg zu schmal ist für zwei Reiter, und ich mußte dicht an der Bank vorbei, auf der der junge Pole wie im Schlaf hingelehnt saß. Plötzlich springt er auf, fällt meinem Thier in den Zügel, sieht mich ein paar Augenblicke durchdringend an, will etwas sagen, bricht aber in ein krampfhaftes Lachen aus, daß mein Thier scheut und einen Satz macht und mich um ein Haar über die Brüstung geschleudert hätte. – Ehe ich mich besinnen konnte, war er um die Ecke des Weges verschwunden. Der Führer fluchte in hellem Zorn ihm nach; ich hatte kaum Zeit, ihm Schweigen einzuschärfen, denn wir hatten Morrik schon eingeholt, dem ich um keinen Preis von dem räthselhaften Vorfall etwas sagen möchte, ehe ich weiß, ob es ein Wahnsinniger ist, oder sonst ein Geheimniß darunter verborgen liegt.

Ich habe zu viel geschrieben, alle Pulse fliegen mir; diese Nacht werd' ich für den Tag zu büßen haben. Gute Nacht!

 

Am 8. November. Regen und Scirocco.

Nun schon den zweiten Tag die böse Luft, in der kein Kranker sich hinauswagt. Es ist schade. Ich hatte mich darauf gefreut, meinen neugewonnenen Freund über Manches zu fragen, was ich bisher, da wir uns noch nicht so herzlich die Hand gereicht hatten, zurückhielt. Nun muß ich mich gedulden. Seltsam, daß die Einsamkeit, die mir die wahre Lebensluft schien, sogleich wieder nur ein Nothbehelf wird, wenn man wirklich einem verstehenden und mitfühlenden Menschen nahe getreten ist. Ich muß mich mit Büchern und Musik behelfen. Jeden Morgen hat er seinen Diener geschickt, nach meinem Befinden zu fragen. Ihm ist der Ausritt gut bekommen. Ich fühle ihn heute noch in allen Gliedern. Ich will nun nach Hause schreiben und Vater von ihm erzählen. Ich weiß, daß es ihn freuen wird.

 

Am 11. November.

Nun scheint der südliche Winter sein mildes Regiment endlich angetreten zu haben, und die Leute versichern, es werde von Bestand sein. Ich habe schon gestern wieder von zehn Uhr an bis gegen Sonnenuntergang im Freien zugebracht, lange mit Morrik auf der Wassermauer, nicht immer im Gespräch, da auch er, wie ich ihn gebeten, ein Buch mitgebracht hatte, Gedichte eines Amerikaners, Edgar Allan Poe, die er mir mit Lächeln zeigte, als das getreueste Spiegelbild seiner eigenen Stimmung vor seiner »Wiedergeburt«, wie er es nennt. Ich habe sie mitgenommen und ihm dafür meines lieben Rückert »Weisheit des Brahmanen« geliehen, aus der man freilich nur mit den Fingerspitzen naschen kann; aber jede solche Priese – um das ungeschickte Bild todt zu hetzen – erfrischt den Kopf und leitet die unnützen Wallungen ab. Sie haben eine wahre geistige Hausapotheke mitgebracht, scherzte Morrik. Fahren Sie nur fort, mich in die Cur zu nehmen. Der desperate Amerikaner hat mich vollends verpfuscht.

Ueber unseren Ausflug nach Schönna werde viel geschwatzt, sagte er und sah mich an, ob es mir nicht doch vielleicht verdrießlich sei. Thun wir ihnen nicht den Gefallen, es zu merken, bat ich ihn. Und dann waren wir heiter und ließen uns die schöne Sonne nicht von den paar Mücken und Stechfliegen verfinstern.

Wir sind stillschweigend übereingekommen, nie von unserer Krankheit zu sprechen, womit sich die Leute hier trösten oder auch das Herz schwer machen, je nachdem dieses Herz kalt oder warm ist. Aber ich merke wohl, daß er nun die falsche Meinung gefaßt hat, es gehe mir besser, wahrend ich deutlich das Gegentheil fühle, gerade an der Erleichterung, die bei unserer Krankheit einzutreten pflegt, wenn es zu Ende geht. Ich glaube freier zu athmen und bewege mich mit geringerem Aufwand von Willenskraft. Auch esse ich mehr und meine Nächte sind ruhiger, wahrscheinlich vor Erschöpfung, die wächst, obwohl ich die Illusion von Bewegung und Befreiung habe. Wie ich aber heute Nachmittag nach Hause ging – ich esse um drei und war sehr hungrig – fühlte ich recht deutlich, wie es mit mir steht. Es ist Markt in Meran, einer der großen, herbstlichen Fleischmärkte, wo die Lauben in eine lange Reihe von Metzgerbuden verwandelt sind, in jedem Hofe geschlachtet, an jedem Nagel ein halbes Kalb oder Schwein aufgehängt und den Bauern feilgeboten wird, die in großen Schaaren aus dem Vintschgau, Passeier, dem Ultener Thal und den nächsten Gehöften und Einöden zusammenströmen. Andere Buden mit allerlei Waaren, Eisengeräthen, Tuchen, Heiligenbildern, unzähligen Siebensachen stehen auf dem Platz an der Pfarrkirche, und dazwischen schiebt und drängt und stößt sich das Volk, daß man höchstens seines Lebens, aber kaum seines Athems noch sicher ist, denn der Geruch aus den Fleischbänken mit dem schlechten Tabaksqualm vermischt – und sogar zehnjährige Buben habe ich schon mit der dampfenden kurzen Pfeife frei herumgehen sehen – liegt gegen Abend wie ein zäher Nebel über dem Markt, und die Brust muß sehr breit und gut gewölbt sein, die er nicht zusammendrücken soll.

Da ist mir fast ohnmächtig geworden. Auch rührte sich keiner dieser großen Bursche nur um einen Zoll breit vom Fleck. Ein Glück, daß sich mein Freund vom Küchelberg, Ignatius, mit seiner Liesi gerade, da die Noth am größten war, meiner annahm und mich durch die Mauern seiner Kameraden mit einigen derben Ellenbogen-Manövers hindurchführte bis an meine Wohnung. Er war wieder ein wenig vom Wein angeglüht und scheint besser i h n , als sich vor ihm zu hüten. Aber er kam mir doch wie ein rettender Engel, und ich vergab ihm gern allerlei lustige Fragen nach meinem »Bruder oder Schatz«, obwohl ich ihm nicht recht klar machen konnte, daß er weder das Eine, noch das Andere ist und mir doch sehr werth.

Die Wirthin bringt mir mein Vesper, so krankhaft ist mein Hunger geworden, daß ich ihn nicht bis zum Abend beschwichtigen kann. Das sind nun wohl die letzten Feigen dieses Jahres. Gottlob, daß Brod und Schinken nicht auch an die Jahreszeiten gebunden sind! Wenn ich unserem alten Doctor den Streich spielte, hier noch vor dem Frühlinge, und zwar Hungers zu sterben! – –

 

Am 19. November.

Kaum kann ich die Feder halten, so zittert mir die Aufregung dieser Stunde durch Leib und Seele nach. Wie voreilig war die Hoffnung, es werde nun so fortgehen bis ans Ende, wie in dieser sonnigen, friedlichen Woche, wo ein Tag dem anderen glich, Vormittags die leeren Stunden mit Morrik im Wintergarten, der Rest des Tages mit meinen Büchern, Briefen, Handarbeiten und dem Clavier, dessen Ton, wie mir's vorkommt, immer seelenvoller und weicher wird. Und nun das! Und noch dazu, daß ich's mit Niemand aussprechen darf, sondern vor Allen gegen meinen lieben Freund, gegen Morrik, mich stellen muß, als sei gar nichts vorgefallen!

Ist denn auch etwas vorgefallen? Hat mirs wirklich nicht blos geträumt, daß der arme Mensch – ich darf wohl sagen, der Wahnsinnige, obwohl er diesen Verdacht so ernsthaft bekämpfte – mit mir gesprochen hat, Worte, die ich nicht verstehe, mit Blicken, vor denen mir schaudert, wenn mir zuweilen ist, als sprächen sie deutlicher, als seine Worte? Ich hätte meiner Ahnung folgen sollen, die mich seit der Scene an der steinernen Brücke vor dem einsamen Weg am Küchelberg entlang so dringend warnte. Aber ich wußte, daß Morrik nicht auf der Wassermauer sein würde, und es war mir unlieb, dort ohne ihn zu sein, zumal auch Curmusik angesagt war. Es kam auch so in Gedanken, daß ich zum Vintschauer-Thor hinaus war, ich wußte nicht wie; da ist es so warm noch, wie bei uns im Sommer, und man schleppt sich behaglich von Bank zu Bank an den entblätterten Reben-Abhängen hin. Was ich dachte, weiß ich nicht, plötzlich war er wie aus dem Boden aufgetaucht an meiner Seite und faßte meine Hand. Der Schreck war zu heftig, als daß ich auch nur einen Laut hätte ausstoßen können; ich sah ihm aber fest ins Gesicht und sah, wie es auch ihm Mühe machte, die Lippen zu öffnen. Dann fing er an, erst in gebrochenem Deutsch, bald aber in einem heftigen, unaufhaltsamen Französisch sich wegen des Auftritts am Brückensteg zu entschuldigen; er sei einen Augenblick vor Schmerz und Eifersucht seiner Sinne unmächtig gewesen und hätte nachher sich willig die Hand, die den Zügel des Maulthiers gefaßt, abhauen lassen wollen, wenn mich das hätte versöhnen können. Noch immer, während er das sagte, konnte ich mich nicht von ihm befreien. Ich sah den Weg auf und ab – Niemand war zu erblicken. Das gab mir endlich allen Muth und Stolz zurück, ich konnte ihm die Hand entziehen und ihn fragen, was ihn berechtigte, diese Sprache gegen eine Unbekannte zu führen. Darauf schwieg er lange, es arbeitete gewaltsam in ihm, das Gesicht bebte in allen Nerven. Was er endlich sprach, habe ich vergessen, will ich vergessen. Ich hörte es auch mit an, als sei es gar nicht an mich gerichtet. Galt es denn auch mir, die er gar nicht kannte, mit der er nie ein Wort gewechselt hatte? Ist eine Leidenschaft, die sich nur an eine wie ein Schatten vorbeischleichende Gestalt heftet, an eine schon innerlich Abgeschiedene, die nur den Schein des Lebens an der Stirn trägt, ist sie mehr als eine Laune des Wahnsinns, und ist der Walmsinn zurechnungsfähig für seine Worte? Nur daß er Drohungen gegen Morrik ausstieß, das machte mir den Irren gefährlich und mehr als bedauernswürdig. Ich weiß nicht, was ich ihm sagte; aber ich sah, daß es doch Eindruck auf ihn machte. Er nahm plötzlich die hohe schwarze Mütze mit dem Federbusch ab und stand fast demüthig vor mir. Vous avez raison, Madame, sagte er mit tiefem Wohlklang in der Stimme, nachdem sie vorher heiser und scharf geklungen hatte. Pardonnez-moi, j'ai perdu la tête. Dann verneigte er sich tief vor mir und ging querfeldein in die Niederung, wo ich seine dunkle Gestalt noch lange zwischen den Weidenbäumen verfolgen konnte.

Da ich es nun hingeschrieben habe, ist mir, als sähe ich es mit klareren Augen an, und das Mitleiden gewinnt die Oberhand über die Entrüstung. Ist es aber möglich, daß ein Sterbender eine Sterbende mit anderen Gefühlen ansieht, als mit denen einer gemeinsamen, heiteren oder trüben Resignation?

Ich habe mich im Spiegel gesehen und es noch weniger verstanden.

Und auch das wird mir immer ein Räthsel bleiben, wie ein solcher Auftritt möglich ist zwischen zwei Naturen, von denen die eine nicht den leisesten Zug zu der andern spürt, während die andere sich ihr ungestüm zu nähern sucht. Ich weiß wohl, nicht nur das Verwandte zieht sich an, sondern auch die Gegensätze. Aber kann die einfache Gleichgültigkeit überhaupt eine Macht ausüben?

Je länger ich mich darein vertiefe, je klarer wird mir's, daß sein Geist gestört ist. Nun werde ich doch mit Morrik darüber reden müssen; denn wer weiß, was für Scenen ich mich aussetze, wenn ich zum zweiten Mal schutzlos diesem Irren in den Weg komme und der Schreck mir die Besonnenheit lähmt, ihn zu bändigen.


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