Paul Heyse
Unheilbar
Paul Heyse

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Meran, den 6. October 186*

Seit acht Tagen, die ich nun hier bin, keine Zeile geschrieben! Ich war zu erschöpft und aufgeregt von der langen Reise. Wenn ich mich niedersetzte und auf die weißen Blätter starrte, war mir's, als blickte ich in eine Camera obscura. Alle Bilder, die mir unterwegs entgegen geflogen waren, tauchten ganz deutlich und farbig wieder auf und jagten sich wie im Fiebertraume, bis mir die Augen übergingen. Unterwegs fühlte ich auch mehr als ein Mal, daß mir die Thränen nahe waren; aber ich war nicht allein, und von den fremden Herren, die mitfuhren, bemitleidet und ausgefragt zu werden, hatte ich wahrlich keine Lust. Hier ist's anders; ich bin einsam und frei; ich habe es schon erfahren, daß nur die Einsamen frei sein können. Warum schäme ich mich denn auch jetzt noch, zu weinen? Ist es denn nicht traurig genug, daß ich erst einen Blick in alle Schönheiten dieser Welt thun durfte, seit ich weiß, daß es ein Abschiedsblick ist? –

Es wäre wohl besser, ich verschlösse dieses Heft und ließe die Blätter leer. Womit kann ich sie füllen, als mit unfruchtbaren Klagen? Ich hatte es mir schön und tröstlich gedacht, alles niederzuschreiben, was mir in diesem letzten Winter, den ich noch zu leben habe, durch den Sinn gehen würde. Ich wollte meinem geliebten Bruder, meinem kleinen Ernst, der jetzt doch noch zu jung ist, um das Leben und den Tod zu verstehen, an diesem Hefte ein Vermächtniß hinterlassen, das ihm theuer wäre, wenn er später einmal nach seiner Schwester fragte und Niemand da wäre, der ihm antworten könnte. Aber ich sehe wohl, es war ein thörichter Gedanke. Möchte man denn in der Erinnerung eines theuren Menschen fortleben unter dem Bilde der letzten Krankheit? Er soll mich lieber vergessen, als sich diese blassen Züge einprägen, die mich selber erschrecken, so oft ich in den Spiegel sehe.

 

Abends. Schwüle, bedeckte Luft.

Ich habe ein paar Stunden lang am Fenster gesessen. Man sieht da weit in das schöne Etschland hinaus, über die Stadtmauer, die Allee mit den breitästigen Pappeln, die auf dem Steindamme längs der rauschenden Passer stehen, in die Niederung hinein, wo die Heerden zwischen den hundert kleinen Bächen weiden, bis zu den fernen Bergen. Die Luft war ganz still; ich konnte sogar einzelne Stimmen von den Spaziergängern auf der Wassermauer unterscheiden; oder schien mir's nur so? Die Kinder meines Wirths, des Schneiders, sahen neugierig zur Thür herein, bis ich ihnen das Letzte von meiner Reise-Chocolade gab. Wie glücklich sie damit zur Mutter hinausliefen! Ich bin dann ganz heiter und still geworden und habe mir's überlegt, daß ich Unrecht thäte, mich vor meinen Selbstgesprächen zu fürchten. Mögen diese Blätter doch immerhin ein Testament sein – müssen sie darum schon Trauer tragen? Bin ich nicht von Hause, wo ich wie mit hundert Banden eingeschnürt war, mit herzhaftem Entschlusse fortgegangen, noch einmal des Lebens und der Freiheit froh zu werden, und sollte mir jetzt das Zeugniß geben, daß ich nicht verdiente, frei zu sein? Freilich, ich weiß, es ist ein kurzes Glück. Aber um so fester muß ich es halten und mir's nicht durch Schwäche und Versinken in Selbstbemitleidung verkümmern. – –

Die Wirthin hat mir erzählt, daß heute früh ein Meraner Bürger in den besten Jahren, der nie eine Krankheit gehabt, plötzlich gestorben sei. Alle hätten ihm immer ein langes Leben zugetraut, und er selbst sich wohl auch. Bin ich nicht zu beneiden, wenn ich mich mit ihm vergleiche? Er wird eben auch, wie die meisten Menschen, in Mühe und Arbeit hingelebt und gedacht haben, die Zeit, um auszuruhen und sein bischen Leben auch zu genießen, werde endlich einmal kommen, wenn genug er geschafft und erworben hätte. Er hat sein Ziel nicht gekannt; ich kenne das meinige; das ist der Unterschied. Ist er nicht zu meinen Gunsten? Ist es nicht noch lange genug bis zum Frühling, und würde ich diese Gnadenfrist auskosten, wie ich jetzt thue, wenn ich sie nicht kennte? O es ist in Wahrheit eine Gnade, vom Tode nicht überrascht und überfallen zu werden, ihn langsam kommen zu sehen, daß man, Auge in Auge mit ihm, erst noch leben lernen kann! Ich kann es unserm Arzt, meinem lieben, väterlichen Freunde, nie genug danken, daß er mir die Wahrheit nicht verschwieg. Er hat dadurch das Wort, das er meiner sterbenden Mutter gab, mir immer ein Freund zu sein, reichlich eingelöst.

Die Nacht ist nun hereingebrochen; ich kann kaum mehr sehen, was ich schreibe. Habe ich mein Leben lang jemals einen so tiefen Frieden, um mich und in mir, genossen, wie hier in diesem schönen, blühenden, rebenbekränzten Vorhof des Grabes? Nur einen Hauch davon in deine gepreßte, kummervolle Seele, mein armer Vater! Gute Nacht! Und gute Nacht, mein kleiner Ernst! Wer wird dich heute zu Bette gebracht und dich mit Märchen in Schlaf geplaudert haben?

 

Am 6. Nachmittags.

Meine Frau Meisterin hat heute, als sie mir das Essen brachte, mir eifrig zugeredet, nicht immer im Zimmer zu sitzen, es sei so schön auf der Wassermauer, man sehe da so viele Leute, ich müsse mich doch zerstreuen. Ich konnte der guten Seele nicht begreiflich machen, daß es mir lieber sei, mich zu sammeln, als mich zu zerstreuen, daß ich nach fremden Menschen gar kein Verlangen trüge.

Nur daß ich noch zu schwach und müde sei von der Reise und die zwei steilen Treppen mir beschwerlich fallen, hat ihr endlich eingeleuchtet.

Nun sitz' ich wieder und schreibe. Die Stickerei habe ich weglegen müssen; sie greift mir jetzt die Brust an; auch das kleine Töchterchen des Wirthes, dem ich täglich Unterricht in Handarbeiten geben will, mußte ich wieder wegschicken. Es liegt mir auch ein Zweifel im Sinn, der mich erst heute beim Aufwachen, da aber ganz heftig und heiß überlief, und mit dem ich erst ins Reine kommen muß.

Seltsam, daß er mir nicht früher begegnet ist. Ich war so völlig überzeugt, das Rechte zu thun. Ich wußte so deutlich, daß ich Niemand zu Hause fehlen würde, daß mein Vater jeden ungütigen Stiefmutterblick, der mir galt, schwer empfand, daß ich auch für Ernst überflüssig war, seit die Mutter darauf bestanden hat, ihn trotz seiner Jugend in die Pension zu thun, nur um ihn nicht mehr zu sehen und für ihn sorgen zu müssen. Der Vater weinte, als er mich zum letzten Mal an sich drückte. Aber es erleichterte ihm doch das Herz, mich fortreisen zu sehen. Er gönnt mir das Beste; und was kann er für mich thun? – Nun ist es mir dennoch auf einmal nahe getreten, ob ich nicht noch andere Pflichten zurückgelassen habe, ob ein Mensch, so lange er nicht ganz unfähig ist, die Hände in den Schooß legen und einen winterlangen Feierabend genießen darf? – Erst seit ich mich glücklich fühle, seit aller Staub und Druck des kahlen kleinstädtischen Alltagslebens von mir abgefallen ist, frag' ich mich, welch ein Recht ich habe, glücklicher zu sein, als die Tausende, die dem Tode nicht ferner sind, als ich, und doch bis auf den letzten Blutstropfen kämpfen müssen! Und ich schließe hier einen selbstsüchtigen Waffenstillstand mit dem Feinde und feiere ein Fest, als hatte ich den größten Sieg davon getragen? –

 

Am 8. October.

Die Antwort, die ich mir damals schuldig blieb, weil mein armer Kopf sich nicht Raths wußte, ist mir nun zu Theil geworden. Ich bin von meinem ersten Ausgange so zerbrochen und ausgelöscht nach Hause gekommen, als hätte ich einen harten Arbeitstag in Ketten hinter mir. Nein, ich tauge nur noch für das Gnadenbrod, und wenn es mir süßer schmeckt als Manchem, wird mir's ja wohl kein Vorwurf sein. Ich bin auch genügsamer als Mancher.

Und wenn ich Niemand mehr nütze, wem falle ich denn zur Last? Mein kleines mütterliches Erbe, auch wenn ich es nicht angriffe, um es für Ernst aufzuheben, könnte es ihm die Pflicht ersparen, sich mit eigener Arbeit durchs Leben zu helfen? Es wird auch noch davon übrig bleiben, denn wie ich heute erfahren habe, ist der Rest meiner Kräfte armseliger, als ich dachte. Wer weiß, wie kurz mein Winter im Süden sein wird.

Ich werde nicht oft unter die Pappeln hinausgehen. Es war mir nicht wohl unter den armen, schleichenden, hüstelnden, geputzten Menschen, die mit ihren Traubenkörbchen am Arm herumschwankten und mit jeder Beere begierig einen Tropfen Hoffnung einsogen. Die aber, denen die Hoffnungslosigkeit auf dem Gesichte stand, fühlte ich mir noch fremder. Es mag wohlthuend sein, mit Leidensgefährten zu verkehren. Aber wenn das gleiche Schicksal ungleiche Gesinnungen erzeugt, so trennt das, was vereinen sollte, und man fühlt den Abstand der Gemüther um so deutlicher. Keinen habe ich gesehen, dem ich mich getraut hätte von meiner festlichen und dankbaren Stimmung ein Wort zu sagen. Sie hätten mich für eine Ueberspannte, vom Fieber Verstörte, oder für eine Heuchlerin gehalten.

Und kann ich es ihnen übel nehmen? Es ist möglich, daß auch ich den Tod mehr fürchtete, wenn ich das Leben mehr liebte. Warum war das meine nicht liebenswürdiger?

Es können sich auch wohl nur Wenige vorstellen, in welch erhabener Größe und Stille diese Natur auf eine arme Seele wirkt, die zweiundzwanzig Jahre nicht den Fuß aus den Mauern einer kahlen, engen, spießbürgerlichen kleinen Stadt gesetzt hat. Man reist so viel heutzutage. Auch ich wäre wohl früher aus unserer traurigen Einöde herausgekommen, ohne die lange Krankheit der Mutter und dann, als sie gestorben war, meine Mutterpflichten gegen den Kleinen. Nun ist mir dieses wundervolle Thal schon wie ein Jenseits, ein wahrer Garten Gottes, und die ersten Athemzüge darin waren so berauschend, als trügen schon Flügel meine Seele über den Boden hin. Daß sie meinem Körper nicht besser halfen, als ich wieder die enge, steile Treppe hinaufschlich, war freilich schlimm. Aber ich habe ja auch unten nichts zu suchen. Jeder Blick aus dem Fenster ist schon wie ein Ausflug ins Paradies.

Meine Wirthe sind sehr arm, der Mann arbeitet bis in die Nacht hinein, die Frau hat alle Hände voll mit den vielen Kindern zu thun, im Hause sieht es düster und unfreundlich aus. Wie ich zuerst mit dem Hôtel-Diener, der mir diese Wohnung nachwies – wahrscheinlich weil er aus meinem einfachen Anzuge auf meine Kasse schloß – die langen, dunklen Gänge und trüben Höfe durchschritt und die baufällige Stiege hinaufkletterte, über die Flure, auf denen verstaubter Hausrath: alte Spinnräder, Bettstücke, Geschirr und Mais-Vorräthe, bunt durch einander liegt und die Spinnen jahrelang ungestört ihre dichten Gewebe wirken, wurde mir die Brust zugeschnürt, und das Herz klopfte mir so stark, daß ich auf jeder dritten Stufe still stehen mußte. Aber der erste Blick in mein niedriges Zimmerchen, und vollends aus dem Fenster, versöhnte mich rasch mit dem Gedanken, daß dieses meine letzte Wohnung auf Erden sein sollte. Der altmodische Schreib-Secretär mit den Messinggriffen sieht ganz so aus, als wäre er ein Zwillingsbruder von jenem, der im Zimmer meiner lieben Mutter stand, und der Lehnstuhl ist gerade so braun und hoch und schwer, wie der ihre war. Ein paar schlechte Bilder, die mich störten, habe ich gleich weggenommen, und die der Eltern dafür hingehängt. Nun ist mir's, als wäre ich schon jahrelang hier zu Hause.

In der Ecke, auf einer Console von schwarzem Holz, ist ein Crucifix angebracht. Es giebt mir oft zu denken, obwohl ich nicht damit groß geworden bin. – –

Nun habe ich auch meine Bücher bekommen, die mir der Vater nachgeschickt hat, nun fehlt mir nichts mehr. Er hat auch dazu geschrieben, ganz wie ich's erwartete. Den Zug, sich ins Unabänderliche zu fügen, ohne sich zu sperren, habe ich von ihm. Von Ernst sechs Zeilen, er ist höchst vergnügt in der Pension mit seinen neuen Kameraden. Von der Mutter auch einen Gruß; wenigstens steht er im Brief. Der Vater wird ihn wohl ohne zu fragen hinzugefügt haben.

Nun will ich nach Hause schreiben; wie viel lieber thät' ich es, wenn ich wüßte, daß die Briefe nur in Vaters Hände kämen!

 

Am 10. Abends.

Was es doch für seltsame Menschen giebt! Vor einer Stunde, als ich lesend und an nichts Arges denkend am Fenster sitze und mich an der milden Abendluft erquicke – denn die Sonne geht schon um 5 Uhr hinter den hohen Marlinger Berg, und dann ist es noch viele Stunden sommerlich warm, und die örtlichen Berghäupter stehen noch lange im Lichte – klopft es an meiner Thür, was mich immer erschreckt, da es so selten geschieht, und eine kleine, corpulente, mir völlig unbekannte Dame tritt herein, die sich ganz unbefangen mir vorstellt und aufs Herzlichste ihr Verlangen, mich kennen zu lernen, an den Tag legt. Sie habe mich auf der Wassermauer, die ich seit jenem ersten Male noch nicht wieder betreten, gesehen und ein großes tendre für mich gefaßt, da ich offenbar sehr krank und so allein in der Welt zu stehen schiene, und sich gleich vorgenommen, das nächste Mal mich anzureden, in der Hoffnung, mir vielleicht in irgend etwas nützlich zu sein. »Denn wissen Sie, liebes Kind,« sagte sie, »ich selbst, wie Sie mich da sehen, bin nun neunundfünfzig Jahre alt, aber nie einen Tag lang krank gewesen, außer im Kindbett. Meine zwei Söhne und drei Töchter sind auch alle, Gott sei Dank, kerngesunde Menschen, alle schon versorgt und verheiratet. Nun aber habe ich von früh an eine wahre Passion gehabt, armen Menschen, die nicht so gut daran sind, wie ich, zu helfen, Kranke zu pflegen, Sterbenden die letzten Liebesdienste zu erweisen. Mein seliger Mann nannte mich immer die privilegirte Lebensretterin; denn eine bessere Wärterin können Sie sich nicht denken. Ich bin noch aus einer Generation, wo man gar nicht wußte, was Nerven sind; da verschlägt es mir gar nichts, zehn Nächte hinter einander kein Auge zuzuthun; selbst Operationen kann ich mit ansehen, ohne jede Anwandlung von Schwäche. Eben jetzt habe ich eine Freundin hieher begleitet, die es schwerlich lange mehr machen wird. Wenn die Aermste erlöst sein wird, habe ich noch mehr freie Zeit, als jetzt, wo sie mich auch schon immer mit Gewalt nötigt, sie allein zu lassen, um mir Bewegung zu machen. Sollten Sie also irgend eine Stütze, einen Rath, eine Hülfe bedürfen, mein liebes Kind, so wenden Sie sich an Niemand anders, als an mich, das müssen Sie mir gleich aufs Feierlichste versprechen. Daß ich im Uebrigen nicht zugeben werde, daß Sie ihre Tage so wie bisher mutterseelenallein hinbringen, versteht sich von selbst. Ich werde oft kommen, ich mache keine Umstände mit meinen Freunden, und Sie müssen mir's schon zu Gute halten, wenn ich Sie etwas tyrannisire, es geschieht Alles zu Ihrem Besten. Denn auf Nervenleiden verstehe ich mich, wie der beste Arzt; die wollen Zerstreuung, Luft, Anregung. Apropos, wen von den hiesigen Aerzten haben Sie consultirt?«

Ich erwiederte, daß ich mich an keinen Arzt gewendet hätte, es auch nicht Willens sei, da ich genau wisse, daß ich unheilbar sei. Als sie ungläubig den Kopf schüttelte, holte ich das Blatt Papier aus meiner Mappe, auf dem unser Arzt mir wie auf einer Landkarte aufgezeichnet hat, wie weit die Zerstörung in meiner Lunge schon um sich gegriffen habe. Sie betrachtete es ganz sachverständig. Liebes Kind, sagte sie, das ist Alles dummes Zeug; ich kenne die Aerzte, je mehr sie sagen, je weniger wissen sie. Ich möchte eine Wette machen, daß es ganz anders in Ihnen aussieht, als auf diesem Stück Papier.

Ich sagte ihr, daß ich ja alle Hoffnung habe, hierüber klar zu werden, wenn ich auch für die Wette danken müsse, da ich sie doch leider nicht bei lebendigem Leibe gewinnen könne. Sie hörte nur halb zu, wenn ich sprach, fuhr aber eifrig fort, mit einer so kraftvollen Stimme, daß sie mir durch Mark und Bein drang, mir alle möglichen Krankheits-Geschichten, die sie erlebt und die gegen die Unfehlbarkeit der Aerzte zeugen sollten, mit Details zu erzählen, von denen mir endlich wirklich übel ward. Ich hatte noch so viel Muth und Besinnung, sie um Schonung zu bitten. Da stand sie endlich auf, machte beim Abschiede eine Bewegung, als wenn sie mich küssen wollte, schien offenbar befremdet, als ich steif und förmlich ihr nur die Fingerspitzen gab, und rauschte mit stürmischer Eile und der Versicherung, bald wiederzukommen, zur Thür hinaus.

Ich mußte eine halbe Stunde die Augen schließen und still mein Blut wieder ebben lassen, als sie fort war. Aber ein scharfer Geruch von Essig-Aether, der sie umgab und den sie mir als sehr nervenstillend angepriesen hatte, ist noch jetzt im Zimmer, und immer muß ich die kalt zutraulichen Augen und die resolute unbewegliche Miene der Menschenfreundlichkeit in dem großen runden Gesichte vor mir sehen, und nur der Gedanke, daß ich wenigstens heute vor einem neuen Ueberfall sicher bin, ist mir ein Trost. Aber um das Tête-à-tête mit meinem Schicksale, das mir diesen Ort so heimlich machte, bin ich gebracht; ich müßte denn noch deutlicher werden, was ich selbst im Falle einer Notwehr kaum übers Herz brächte.

Was ist doch der Antheil der Menschen! Die Wenigen, die uns lieben, thun uns, wenn wir leiden, mit ihrem Mitgefühl weh, weil wir sehen, daß wir sie traurig machen; die uns nicht lieben, können die uns mit irgend etwas wohl thun? »Nur Bettler wissen, wie Bettlern zu Muthe ist,« habe ich einmal im Lessing gelesen. Aber können Bettler einander Almosen geben?

 

Am anderen Morgen.

Schlecht geschlafen! Ich bin des Gesprächs mit Menschen so entwöhnt, daß ich immer die harte, helle Stimme der barmherzigen Dame hören und mich im Traum aufs Heftigste mit ihr zanken mußte, bis sie mir zuletzt sogar ihre blonde Haartour mit den drei dünnen Löckchen auf jeder Seite ins Gesicht warf, daß ich ganz entsetzt und in Schweiß gebadet aufwachte. Nun muß ich freilich darüber lachen. Was habe ich ihr für unhöfliche Dinge gesagt, unter Anderem sogar, daß ich ihr meine Lunge in Spiritus vermachen würde! Ist man doch ungezogen im Traume!

Nun bin ich eilig in die Kleider gefahren und habe die größte Angst, daß sie mich wieder überfallen möchte. Mein armes, friedliches, kleines Sterbewinkelchen, daß es mir so verstört werden mußte, daß ich auch hier keine Ruhe haben soll! Ich muß wirklich ausgehen, um zu sehen, ob ich draußen irgendwo einen sicheren Versteck ausfindig machen kann.

 

Am Nachmittage.

Ich habe große Dinge hinter mir, einen hohen Berg, ein Abenteuer mit einem wilden Mann, einen berauschenden Trunk Natur und Einsamkeit. Obwohl ich nun so müde bin, daß ich den Arm jedesmal, wenn ich die Feder eintauche, mit einem besonderen Anlaufe meines Willens aufheben muß, bin ich doch innerlich neu gestärkt und habe die schlechte Nacht verwunden und getraute mir jetzt, es mit einer ganzen Kaffee-Gesellschaft barmherziger Schwestern in blonden Haartouren aufzunehmen.

Wie schön mein Grab ist, wie wunderbare Sonnenstrahlen darauf herniederfließen, habe ich längst zu wissen gemeint, und erst heute sind mir die Schuppen recht von den Augen gefallen. Ich glaube im Ernst, was wir im Norden Sonnenschein nennen, ist nur eine Imitation, eine billigere Mischung von Licht und Luft, so eine Art Goldbronze im Vergleich mit dem echten, soliden, unbezahlbaren Golde, das hier verschwendet wird.

Ganz langsam bin ich durch die steinerne, kühle und düstere Laubengasse geschlichen, wo mich immer fröstelt und eine seltsame Angst mir den Athem einschnürt. Dann kommt man auf den kleinen Platz an der schönen alten Kirche. Er war ganz schwarz und roth von den Landleuten aus der Umgegend und Passeier, in ihren kurzen Jacken mit dem rothen Vorstoß, den breiten Hüten und dem ganzen schmucken Sonntagsanzug. Auch sind die meisten schöne, stattliche Leute, die Männer aber viel ansehnlicher, als die Frauen, unter denen ich bis jetzt erst zwei sauberen und regelmäßigen Gesichtern begegnet bin. Weil es einer der vielen Bauern-Feiertage war, standen nach der Kirche Alle in dichten Haufen beisammen. Keiner nahm auch nur die geringste Notiz davon, daß ein fremdes krankes Frauenzimmer sich an seinem groben Ellenbogen vorüberstahl. Und über dem ganzen Platz lag eine dichte Wolke von scharfem Tabaksrauch, daß ich stark husten mußte und lieber hinter der Kirche herum ging, als durch das Gedränge. Alte Grabsteine sind da zwischen den Strebepfeilern eingemauert. Auf einem las ich eine Inschrift, die mich mit ihrer sanften Resignation sehr rührte. Eine Ludovica ist da begraben, schon seit dem Jahre 1836. Die Inschrift, die ich auswendig behalten habe, muß ich noch hier niederschreiben:

Die getrennt und einsam lebten,
Vater, Mutter und die Tochter,
Jetzt hat sie der Tod verbunden.
Wie sie selig sich gefunden,
Wird sie ewig nichts mehr scheiden,
Und so ist das frühe Welken
Dieser Rose zu beneiden.

Der stille, innige Klang dieser Verse begleitete mich noch viele Stunden. Ich ging dann die engen Gäßchen entlang bis zu dem alten Thore, das unter einem verwitterten und von Franzosen-Kugeln genarbten Thurme ins Passeierthal hinausführt. Wie aber da sich Nähe und Ferne vor Einem auftaut, das ist zum Erschrecken schön und groß und fremdartig. Ich saß wohl eine halbe Stunde auf einem Stein dicht neben dem Thor, wo der steile Pfad gerade hinaufführt auf den Küchelberg und zu dem alten Pulverthurme droben, der jetzt ganz friedlich, wie ein ausgedienter Invalide, die Reben-Gärten bewacht. Da sah ich mir gegenüber auf einem Felsen-Vorsprunge, der aus dem Küchelberg ins Thal der Passer hinaustritt, die Trümmer der Zenoburg und überlegte, ob ich wohl die Kraft hätte, mich die breite, aber sehr vernachlässigte Straße bis hinauf zu schleppen, oder mich begnügen sollte, über die steinerne Brücke ans andere Ufer zu kommen, wo man das freundliche Obermais herüberwinken sieht. Eine Frau kam gegangen, die Pfirsiche und Weintrauben im Korb auf dem Kopfe trug. Der kaufte ich einige ab, aß und fühlte mich sehr gestärkt. So machte ich mich auf den Weg, stand alle drei Schritt und sah zur Passer hinab, die so blau und dann wieder mit weißem Schaum tief unter den Brückenbogen durchfließt. Wie kühn und traulich zugleich hangen die Weingeländer an dem schroffen Ufer-Felsen, wilde Feigenbäume mit zahllosen schwarzen Früchten dazwischen, das lebendige Wasser, in Rinnen herabgeleitet, kühlt das Laub und treibt hie und da im Vorbeigehen ein Rad, von der Tiefe herauf heben sich die hohen Stämme der Nußbäume und edlen Kastanien, eine unerschöpfliche Triebkraft und Freudigkeit der Natur, wohin man blicken mag! Besonders auch weidete ich die Augen recht an der kräftigen, bald tiefbräunlichen, bald silbergrauen Farbe des Felsens; und wie malerisch es sich ausnahm, die Menschen in ihrer schönen Tracht den schroffen Küchelberg heruntersteigen oder einen Wagen, vielmehr eine zweirädrige Schleife, mit starken weißgrauen Ochsen bespannt und mit Rebenlaub beladen, von der Zenoburg herabfahren zu sehen, das Alles unter einem Himmel, den ich bisher immer nur für eine schöne Fabel der Maler und Dichter gehalten hatte!

Ich sagte mir im Gehen und Schauen: Dieses ist mein, dies genieße ich und Niemand kann es mir wieder nehmen. Hat die Zeit etwas damit zu schaffen? Wenn ich es, statt eines Augenblicks, ein Jahrhundert lang sähe, würde es darum mehr mein eigen? Warum soll ich also traurig sein, wenn ich einen zweiten Herbst, der nach mir diese Trauben reifen wird, nicht mehr erlebe? Wer weiß, ob nicht an der Freude ihre Flüchtigkeit das Beste ist! Wie könnten sonst die Glücklichen sich langweilen?

Und so ist das frühe Welken
Dieser Rose zu beneiden.

Ich war wohl zu hastig gegangen, als ich Sies und Manches noch bei mir bedachte, und auf der Höhe, vor einem hübschen Hause, mußte ich auf einer Bank Rast machen, wobei mir unwillkürlich die Augen zufielen; denn es war ganz still umher und die Meraner Glocken, die mich unten immer betäuben, klangen gedämpft und einlullend herauf. Es träumt sich gut in der Mittagssonne, wenn das Licht durch die geschlossenen Augenlider dringt und man drinnen die wundersamen Farben und Strahlen durch einander kreisen steht, die nichts Irdisch-Sichtbarem gleichen. So saß ich ein Weilchen und mochte wohl zuletzt eingeschlafen sein, als mich plötzlich etwas Kühles und Feuchtes, das mir die Hand berührte, aufschreckte. Es war nichts Schlimmeres als die Nase eines großen Hundes, der neben seinem Herrn neugierig vor mir stand. Die Erscheinung dieses Letzteren aber war mir in allem Ernste so furchtbar, daß ich gern geglaubt hätte, es sei ein Traum, den ich durch Anrufen und Aufstehen los werden könnte. Es war ein hochgewachsener, bärtiger Mensch, über dessen Alter ich nicht klar werden konnte; die Haare hingen ihm über Stirn und Schultern, er stützte sich auf einen langen Spieß oder Hellebarde, und ein unförmlicher, schwerer Hut, auf dem eine Wildniß von Hahnenfedern, Fuchsschwänzen und wunderlichem Pelzwerk wucherte, saß ihm quer über der Stirn und gab seinen Augen, die, wie ich nachher bemerkte, ganz kindlich in die Welt sahen, einen drohenden Schatten. Ich muß mein Entsetzen wohl sehr lebhaft verraten haben, denn das räthselhafte Gespenst, das wie aus einem mittelalterlichen Grabe der Zenoburg auferstanden schien, fing gutmüthig an zu lachen, wobei zwei Reihen derber weißer Zähne eine ganz kleine Tabakspfeife behaglich festhielten, und sagte mit höflicher Manier, daß ich mich nicht zu fürchten brauche, er sei nur ein »Saltner«, der in den Weinbergen die Wache halte, und da ich in sein Revier gekommen, bitte er sich einen Kreuzer zu Tabak von mir aus. Ich gab ihm in meiner Bestürzung einen halben Silbergulden, stand eilig auf und wollte mich entfernen, da es mir doch in der Nähe des blanken Spießes nicht geheuer war. Aber das Silberstück, das hier so rar ist, oder auch eine Feiertags-Laune machte den Riesen so zahm und zuthulich, daß er ohne Umstände an meiner Seite blieb, und da er merkte, wie mir das Steigen sauer wurde, meinen Arm mit seiner großen Tatze nachdrücklich unterstützte. Ich mußte wohl gute Miene dazu machen, und zuletzt war es mir ordentlich lieb, denn allein wäre ich die letzte Anhöhe, auf der die Burgtrümmer stehen, schwerlich mehr hinaufgeklommen. Es fiel mir auf, wie zurückhaltend er war in seinen Fragen und wie mittheilsam in allem, was ihm selbst betraf. Wenn ich diesen barmherzigen Bruder im Stillen mit der unbarmherzigen Schwester verglich, die mich gestern heimgesucht hatte, wie hoch stand der natürliche Tact dieses Bauern über der zudringlichen Bildung der sogenannten guten Gesellschaft!

Droben war es nun wundervoll; nur die kleine Kirche und ein einzelner Thurm sind noch erhalten, von den übrigen Gebäuden der Burg stehen hie und da einzelne Mauertrümmer, dicht mit Epheu bekleidet, dazwischen wächst das üppige Gras, die Eidechsen rascheln in ganzen Familien über die sonnigen Steinhaufen, Gestrüpp aller Art hängt vom Rande des Gemäuers herab, und tief unten, so daß ein fallender Stein senkrecht in die Wellen stürzt, fließt die wilde Passer in hohlen Felsengängen um den Fuß des Berges. Mein Waffenträger wies mir auf den Höhen gegenüber und nach Süden zu im Etschthale die vielen alten Schlösser, die kleinen Weinbauern-Dörfer, die einzelnen Bergspitzen mit ihren Namen, während ich bequem im hohen Grase saß und der Hund neben mir lag. Dann läutete es Mittag von allen Kirchthürmen; da schwieg er, nahm den dreieckigen Hut vom Kopfe und die Pfeife aus dem Munde, betete still für sich und schlug andächtig das Kreuz. Erst als die Glocken ausgeklungen hatten, bedeckte er wieder das Haupt, that ein paar kurze Züge aus dem Pfeifchen und fragte mich dann, ob ich nicht Hunger hätte. Ich mußte es bejahen und war doch noch zu erschöpft, um schon den Rückweg anzutreten. Ohne ein Wort zu sagen, stieg er mit seinen gewaltigen Schritten den Burgberg hinab und verschwand.

Zehn Minuten darauf kam ein kleines Mädchen mit einer Schüssel Milch, einem Brod und einem Stück Feiertags-Braten eilfertig herauf, spähete überall um nach mir und brachte mir endlich, schüchtern und ohne ein Wort zu sprechen, die sehr willkommene Labung. Ich konnte nur mit Mühe aus dem Kinde herausfragen, daß der Saltner Alles im Hause unten für mich verlangt habe; er habe aber in den Weingütern zu schaffen und könne nicht wiederkommen. Damit lief das Kind wieder hinunter und ließ mich droben in der herrlichen Einsamkeit tafeln. Niemals habe ich einen köstlicheren Schmaus gehalten; ich schämte mich ordentlich, daß ich Alles rein aufaß und hernach nur die leeren Schüsseln den guten Leuten wiederzubringen hatte. Es kostete einige Mühe, ihnen Geld aufzunötigen, möglich, daß der Saltner es ihnen untersagt hatte. Ich habe mich aber auf dem Rückwege vergebens nach ihm umgesehen. Nicht einmal seinen Namen weiß ich.

Ist das nicht ein vollständiges Abenteuer? Und muß ich nicht diesen Tag roth anstreichen?

 

Am 12. October, Morgens.

Ich habe mir heute früh beim Aufwachen überlegt, wie seltsam es doch ist, daß die verschiedenen Stände einander gegenseitig um eine Freiheit beneiden, die in keinem zu finden ist, wo überhaupt noch ein Standesgefühl bewahrt wird. Vielleicht in derselben Stunde, wo ich sehnsüchtige Blicke in das Leben dieser einfachen Menschen that, die unter Reben, Maisfeldern und Maulbeerbäumen ihre Tage so paradiesisch hinleben und von den hundert engen, eingemauerten, kleinstädtischen Rücksichten der sogenannten Gebildeten nichts wissen, wie der Seidenwurm nicht ahnt, wie viel glänzendes Elend sein Gespinnst vielleicht verschleiern wird – in derselben Minute vielleicht schien ihnen die Freiheit einer Städterin, auf eigene Gefahr ihren Tag mit Spazierengehen zu verbringen, wie ein ganz übermenschliches Glück, da sie Stunde um Stunde ihrem harten Tagewerk schuldig sind, und wenn sie Sonntags feiern, sich von der schwerfälligen Sitte, die auch ihre Ruhe einschränkt, so wenig losmachen können, wie sie in der Sommerhitze ihren hundertfaltigen schwarzen Rock mit einem leichteren vertauschen dürften. Die Gebildeten haben freilich den Vorzug, daß sie frei sein können, wenn sie wollen. Aber wird es ihnen denn weniger von Ihresgleichen verdacht, als etwa einem Bauer, der in der Erndte auf die Jagd ginge? Und überhaupt ...

 

Mittags.

Nein, ich ertrage es nicht wieder, und sollte ich der ganzen Welt einen offenen Fehdebrief schreiben; ein Sterbender braucht nicht zu lügen, braucht sich nicht mißhandeln zu lassen und dankbar dazu zu lächeln. Ich bin so zerknickt, zerrieben, in allen Nerven empört, daß ich am liebsten von meinem Fenster aus durch ein Sprachrohr der ganzen Gesellschaft meine feierliche Absage zuriefe, wenn sie jetzt nicht gerade alle bei Tische wären, meine Peiniger! Aber es geschieht noch, so oder so, das seh' ich kommen. Ich lasse mir einen eisernen Riegel vor die Thür machen, der einen Centner wiegen soll, eine eiserne Maske, die ich vorbinde, wenn ich den Fuß über meine Schwelle setze.

Die Wirthin hat mir das Essen gebracht; es mag ruhig kalt werden, ich habe gar keinen Appetit, das Herz klopft mir vor Zorn und Aerger, mir ist todesübel von all dem Geschwätz, das mir drei Stunden lang vor den Ohren gebraust hat, unaufhaltsamer als der Bach, der die Mühle neben der Brücke treibt und doch seinen Lärm wenigstens mit seiner nützlichen Geschäftigkeit legitimiren kann.

Ich habe vergessen, unter allem Guten, was ich dem gestrigen Tage nachzusagen hatte, auch den verfehlten Besuch der »Lebensretterin« anzuführen. Nun hat sie hoffentlich gemerkt, dachte ich, daß ich nicht auf sie warte, wenn ich Luft schöpfen will, und wird das Licht ihrer Barmherzigkeit über dankbareren Geschöpfen leuchten lassen. Ich kannte sie noch nicht! Mitten im Schreiben höre ich ihren Schritt auf der Treppe, werfe das Tagebuch rasch bei Seite und ziehe einen angefangenen Brief aus der Mappe, hinter dem ich mich verschanzen und bis auf den letzten Tropfen im Tintenfasse vertheidigen wollte. Aber sie rannte im Sturm meine armselige Macht über den Haufen. Was Briefschreiben! Was Müdigkeit! Ich sei der Gesundheit wegen hier und Nerven brauchten Ruhe und Zerstreuung – das in Einem Athem! – und wenn ich gestern wie ein unvernünftiges Kind den Küchelberg hinaufgelaufen sei, so sei sie heute gekommen, um der Wiederholung eines solchen Selbstmordes vorzubeugen und mir zu zeigen, was es heiße, curgemäß Luft zu schöpfen. Ja, ja, sie habe mich wohl durchschaut; ich sei gar nicht damit zufrieden, daß sie schon wieder nachfrage. Aber ein junges Mädchen, das allein stehe, dürfe man ja nicht verwahrlosen lassen, und ich solle mich nur einstweilen der Gewalt fügen, ich würde es ihr doch noch einmal danken.

Da setzte ich stumm und in Alles ergeben meinen Strohhut auf und konnte doch auch dem Tone von täppischer Gutmüthigkeit nicht völlig gram sein, obwohl er mir körperlich weh that. Sie schleppte mich unter beständigem Reden nach der sogenannten Winter-Anlage, dem windstillsten Theile der Wassermauer, wo das alte Nonnen-Kloster mit seiner hohen Gartenmauer den Luftzug vom Jaufen her abwehrt und einige Lauben und immergrüne Büsche in der Sonne brüten, auch die Rosenbäume noch über und über in Blüthe stehen. Es war schon sehr voll, die Musik spielte, die ganze Cur-Gesellschaft ging und saß herum, und meine Vormünderin schien es eigens darauf angelegt zu haben, mich »einzuführen«. Ich mußte förmlich Spießruthen laufen durch ein mir ganz gleichgültiges, neugieriges Gewühl von Herren und Damen. Nicht Ein Gesicht, zu dem ich mich hingezogen gefühlt hätte! Nicht Ein Wort, das mir ans Herz gegangen wäre! Dazu die Schwüle unter den Lauben, die zudringlich laute Hornmusik und meine immer wachsende innerliche Auflehnung gegen diese zärtliche Tyrannei – ich gerieth außer mir. Noch empörender als die stumpfe Fühllosigkeit der Gesunden, war mir das Betragen so vieler meiner Leidensgefährten. Da saß eine junge Frau, die, wie ich hörte, sich von Mann und Kindern hatte trennen müssen, um jeder Aufregung aus dem Wege zu gehen. Und doch hatte sie noch Gedanken übrig, meinen einfachen und vielleicht etwas unmodernen Anzug von oben bis unten zu mustern und sich vornehm in ihren weißen Kaschmir-Burnus zu wickeln, als ich mich neben sie auf die Bank setzte. Und jenes junge Mädchen, das mich sogleich wie eine alte Bekannte anredete, um mich in den ersten fünf Minuten die ganze Läster-Schule Merans durchmachen zu lassen, während ihr der Tod aus den Augen sah und ihr Husten mir durchs Herz schnitt! Sind das auch Menschen, oder Wachsfiguren und Automaten, die ihre Künste machen, bis die Feder abgelaufen ist und sie wieder im Kasten liegen müssen?

Es war mir wie eine Erlösung, als aus dem Wirthshause zur Post die Tischglocke läutete und die Meisten aufbrachen, auch meine Beschützerin zu ihrer Kranken zurück mußte. Ich nahm kaum Abschied von ihr, ich konnte nicht mehr sprechen und sprechen hören. So hat sie es denn glücklich erreicht mit ihrer Cur; ich bin so gelähmt, daß ich weder Leib noch Seele mehr lebendig fühle; das ist freilich eine Art Genesung!


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