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Drittes Kapitel.
Hinter den Coulissen

Volborth handelte rasch und entschlossen. Selbst auf die Gefahr hin, seine wahre Stellung zu verraten, verließ er seinen Platz und ging auf eine Seitenthür zu, die hinter die Coulissen führen mußte. Während des Augenblicks, wo er nach der Bühne gesehen hatte, war Restofski aus dem Zuschauerraum verschwunden, aber als er die erwähnte Thür öffnete, fand er seinen Untergebenen in ernstem Gespräche mit dem Hofmusikdirektor. Sowie er seinen Vorgesetzten sah, hellte sich Restofskis Stirn auf, und er reichte ihm den beunruhigenden Brief.

»Was darin steht, kann ich erraten,« sagte Volborth und fügte, dem Musikdirektor zugewandt, hinzu: »Ist nach Beendigung der Ouvertüre ein Fallen des Vorhangs vorgesehen, Herr Frickhaus? Nein? Nun, dann sorgen Sie, bitte, sogleich dafür, daß es geschieht. Dies sind die letzten Takte, und die Sache ist von großer Wichtigkeit. Auf der Bühne befindet sich eine gefährliche Person, die wir entfernen müssen – bevor der russische Chor gesungen wird.«

Zufällig hatte der Direktor Geistesgegenwart. Er winkte einen der Theaterbeamten herbei, gab ihm die entsprechende Anweisung und schenkte sodann seine Aufmerksamkeit wieder Volborth.

»Führen Sie uns auf die Bühne hinter die, von den Zuschauern aus gesehen, rechte Reihe der Sängerinnen. Ich möchte so wenig Aufsehen als möglich erregen.«

»Dann folgen Sie mir,« antwortete Frickhaus. »Ich glaube, ich kann alles so einrichten, wie Sie es wünschen.«

Nach diesen Worten geleitete er die Herren rasch an einen Platz, wo sie Anna Tschigorin durch den Zwischenraum zwischen zwei Coulissen von hinten sehen konnten. In demselben Augenblick verhallte der letzte Ton der österreichischen Nationalhymne, und sie merkten an der plötzlichen Verfinsterung der Bühne, daß der Vorhang gefallen war.

»Wenn wir es geschickt anfangen, können wir sie herausbringen, ohne daß den andern etwas auffällt,« flüsterte Volborth, indem er zwischen den Coulissen hindurch hinter das Frauenzimmer schlich, ihr rasch seine beiden Hände auf den Mund preßte, während Restofski sie mit seinen kräftigen Armen um den Leib faßte und sie von der Bühne herabriß. Mit raschem Verständnis öffnete Frickhaus die Thür eines leeren Ankleidezimmers, und die Verhaftung war ausgeführt, ohne daß eine andre Menschenseele als die dabei Beteiligten etwas gemerkt hatte.

»Nun den Vorhang in die Höhe, und dann lassen Sie den Chor sofort beginnen,« befahl Volborth, und in seiner Besorgnis, keine Störung der Vorstellung eintreten zu lassen, wandte er sich dem finsteren Frauenzimmer, das Restofski festhielt, nicht eher zu, als bis der Entfernung des Direktors die feierlichen Klänge der russischen Nationalhymne beinahe unmittelbar folgten.

»Nun, Anna, sollte es Pistole oder Bombe sein?« fragte er ruhig.

Das Weib, dem er bisher in seiner Eigenschaft als Polizeibeamter unbekannt gewesen war, beobachtete ein trotziges Schweigen, aber ihr Busen wogte und in ihrer Schminke, womit sie ihre dunkeln Züge bedeckt hatte, zog der kalte Schweiß, der über ihre Wangen lief, breite Furchen. Der Schrecken vor dem Schafott oder dem weiten Weg nach Sibirien hatte sie erfaßt!

Indessen war ihr Restofski mit gewandter Hand über die Kleider gefahren und brachte die Waffe zum Vorschein, einen kleinen, aber brauchbaren Revolver, dessen sechs Kammern sämtlich geladen waren.

»Also so sollte es gemacht werden?« fragte Volborth gelassen. »Bleiben Sie bis zum Schlusse des Konzerts hier bei ihr,« befahl er Restofski. »Ich muß an meinen Platz zurückkehren, ehe meine Abwesenheit auffällt; später werde ich wieder hierherkommen und ein kleines Verhör anstellen. Nebenbei, geben Sie mir doch den Brief. Eine anonyme Warnung, nicht wahr?«

»Ja,« antwortete der andre, indem er Volborth den Brief reichte. »Er nimmt den Vorwurf der Unachtsamkeit von meinen Schultern, denn es geht daraus hervor, daß dieser eingefleischte Satan erst im letzten Augenblick auf die Liste gesetzt worden ist.«

Volborth ging hinaus, blieb aber unter der nächsten Lampe stehen, um den Brief zu lesen. Dieser lautete:

»Um Gottes willen, achten Sie auf die Sängerin, der erst heute die Erlaubnis zur Mitwirkung im russischen Chor erteilt worden ist!«

Der Umschlag war an Restofski in der Hofburg überschrieben und war an demselben Nachmittag in Wien zur Post gegeben. Aus der Schrift, die in nachgeahmter Druckschrift und lauter großen Buchstaben ausgeführt war, ließen sich keine Schlüsse auf den Absender ziehen, aber Volborth lächelte düster, als er erkannte, welche große Mühe sich der Schreiber gegeben hatte, seine Handschrift zu verstellen.

»O, diese klugen Pfuscher!« murmelte er. »Die am Tage liegende Schlußfolgerung ist natürlich die, daß die wirkliche Handschrift des Schreibers oder der Schreiberin bekannt ist.«

Als er weiter eilte, begegnete er Frickhaus wieder, und diesem machte er noch einmal die Notwendigkeit unbedingten Schweigens klar, bis sie die Angelegenheit sofort nach Schluß des Konzerts besprochen haben würden.

Gerade als die Russinnen die letzten Takte der Hymne sangen, nahm er seinen Platz im Zuschauerraum wieder ein, und er konnte sich nun seiner nächsten Aufgabe widmen, die in einer scharfen Beobachtung Ilma Vassilis bestand. Noch immer totenbleich, hielt sie ihre Augen auf die Bühne gerichtet, als aber die letzte der sich verbeugenden Sängerinnen verschwunden war, sank sie auf ihren Sessel zurück, und ihre Schultern hoben sich sichtbar. Gleich darauf plauderte sie munter mit ihrem Nachbar.

»Dieser Seufzer der Erleichterung war sehr beredt,« dachte Volborth. »Ihre fieberhafte Aufregung und Angst wegen Restofskis beim Diner, vor allem aber ihr Erschrecken vorhin, weisen ziemlich deutlich auf die Urheberschaft des Briefes hin, und ich müßte mich sehr irren, wenn wir nicht finden sollten, daß unser Freund Boris als eigentlicher Veranlasser des Zwischenfalls von heute abend hinter der Geschichte steckt.«

Nachdem der Anschlag fehlgeschlagen war, worauf alle Anstrengungen des Feindes bei dieser Gelegenheit gerichtet waren, konnte er den Rest des Konzertes in voller Ruhe genießen, denn er wußte, daß für diesen Abend keine weitere Gefahr zu befürchten war. In dem Bewußtsein, daß Anna Tschigorin unter der sicheren Bewachung Restofskis stand, erfreute er sich an jeder Nummer des ausgezeichneten und gewählten Konzerts, allein sowie sich die kaiserlichen Herrschaften zurückgezogen hatten und er die Mitglieder des Gefolges bis an die Thür begleitet hatte, schlich er in den Saal zurück.

»Natürlich werden Sie zunächst wissen wollen,« begann Frickhaus, der Volborth erwartet hatte und ihn in sein Privatzimmer führte, »wie ich dazu gekommen bin, das Frauenzimmer zuzulassen?«

»Ja, und das ist die einzige Frage, womit ich Ihnen lästig fallen muß, Herr Frickhaus,« erwiderte Volborth.

»Die Sache ist so gekommen,« fuhr der Musikdirektor fort. »Wie Sie wissen, war gestern abend Galavorstellung im Opernhause, wobei ich ebenfalls dienstlich beschäftigt war. Zwischen dem ersten und zweiten Akt brachte mir ein Diener die Mitteilung, ein Offizier des russischen Gefolges wünsche mich zu sprechen, und ich begab mich nach der mir bezeichneten Loge. Als ich dort eintrat, überreichte mir ein Offizier, der sich als Hauptmann Dubrowski vorstellte, einen Brief, von dessen Inhalt er nichts zu wissen behauptete, den mir persönlich zu überreichen, ihn aber eine Freundin in Petersburg gebeten habe. Als ich das Schreiben öffnete, fand ich, daß es die Bitte des Impressario der Petersburger Oper enthielt, einer Frau Gregorowitsch zu gestatten, im russischen Chor mitzusingen. Da es mir noch an einigen Stimmen fehlte, kam mir dieses Anerbieten ganz erwünscht, denn ich mußte die Dame nach dieser Empfehlung, die sozusagen von einem Mitgliede des Gefolges Ihres Kaisers kam, für ganz ungefährlich halten.«

»Sehr natürlich,« antwortete Volborth trocken, »allein es wird sich wohl herausstellen, daß die Empfehlung gefälscht ist. Darf ich fragen, ob Sie mit jemand vom Inhalt des Briefes gesprochen haben, bevor Sie die Loge verließen?«

»Ja. Ich hielt es doch für höflich, dem Hauptmann Dubrowski Mitteilung darüber zu machen,« erwiderte der Direktor. »Er schien weder überrascht zu sein, noch sich besonders für die Sache zu interessieren, ja, er machte meinen Erklärungen ziemlich schroff ein Ende.«

»Das kann ich wohl begreifen,« meinte Volborth. »Hörten auch die andern Leute, die in der Loge saßen, Ihre Bemerkungen? Ein ältlicher Herr, der Graf Woronzoff, unser Kammerherr, und zwei Damen, eine sehr starke, nahe an sechzig, und die andre jung und sehr schön waren noch zugegen. Nun, Sie haben mich über mancherlei aufgeklärt, Herr Direktor, und ich brauche Sie nicht weiter zu bemühen, außer mit der Bitte, nach dem Chef Ihrer Polizei zu schicken und ihn bitten zu lassen, mich ohne Verzug im Schlosse aufzusuchen.«

Diesen Schritt hatte der Direktor schon aus eigenem Antriebe gethan, und Oberst Eckersdorf wartete mit ungeduldiger Neugier darauf, die Ursache seiner Berufung zu erfahren, denn der vorsichtige Frickhaus war seinem Versprechen, unbedingtes Schweigen zu bewahren, treu geblieben. In der kurzen Unterredung zwischen dem österreichischen Polizeichef und Volborth, die nun folgte, wurde verabredet, daß Anna Tschigorin sofort heimlich nach dem Hauptgefängnis übergeführt und dort festgehalten werden solle, bis die beiden Regierungen nach Rückkehr des Zaren in seine Hauptstadt sich über die weitere Behandlung des Falles verständigt haben würden.

Indem er die Abführung der Gefangenen dem Oberst Eckersdorf und Restofski überlies, entfernte sich Volborth und schickte ein chiffriertes Telegramm an den Chef der Sektion nach Petersburg, worin er die Verhaftung der Tschigorin meldete und darum ersuchte, jede Bewegung der Fürstin Olga Palitzin zu überwachen. Er habe Grund, zu glauben, daß die Fürstin die Faden einer aus vielen Mitgliedern bestehenden Verschwörung in Händen halte, und daß er, da es wünschenswert sei, deren andre Glieder zu entdecken und dingfest zu machen, für jetzt ihre Verhaftung noch nicht empfehle.

Als er die Hofburg erreichte, war es zehn Uhr, aber trotz der vorgerückten Stunde ließ er sich mit der dringenden Bitte um eine Unterredung beim Fürsten Lobanof melden. Um die häufigen Besprechungen mit den beiden Kaisern zu erleichtern, hatte der russische Minister des Auswärtigen seine Zimmer dicht bei denen des Zaren. Volborth konnte sie deshalb aufsuchen, ohne die Neugier seiner Landsleute zu erregen, und er wurde sofort vorgelassen.

»Nun, Sie Sturmschwalbe!« rief der Minister ihm entgegen, indem er seine Feder aus der Hand legte, »was soll denn das bedeuten? Als Mensch sind Sie mir willkommen: falls Sie mich aber in amtlicher Eigenschaft aufgesucht haben, würde ich es vorziehen, wenn Sie zu Bett gingen.«

»Euer Excellenz Wunsch teile ich von Herzen, denn ich fürchte, daß es während der nächsten zwei Monate für mich nicht allzuviel Bett geben wird,« erwiderte Volborth. »Ich bringe ernste Nachrichten. Anna Tschigorin, mit einem sechsläufigen Revolver bewaffnet, ist heute abend auf der Bühne des Konzertsaales verhaftet worden – gerade noch im letzten Augenblick.«

Hierauf erzählte er, unter welchen Umständen die Verhaftung vor sich gegangen war und welche Maßregeln getroffen worden waren, um den Zwischenfall für jetzt geheim zu halten.

»Das haben Sie gut gemacht,« sagte Lobanof, der ihm schweigend zugehört hatte. »Bei dem Gesundheitszustand Ihrer Majestät ist es von der größten Wichtigkeit, daß sie vor jeder Aufregung bewahrt bleibt. Es wäre schrecklich, wenn ein Thronerbe unter dem Einfluß der Furcht geboren würde. Aber sagen Sie mir, Volborth, ist dies nur der Anfang unsrer Sorgen? Soll in Breslau, in Kopenhagen, in Balmoral und in Paris das Schwert über unserm Haupte hängen? Haben Sie Grund, an eine förmliche Verschwörung zu glauben? Beim Himmel!« fügte der Fürst in steigender Aufregung hinzu, »Sie wollen doch nicht sagen, daß Ihr kleiner Scherz mit dem Adjutanten heute morgen etwas mit diesem Anschlage der Tschigorin zu thun hatte? Der Verlobte der Tochter meines alten Kameraden Konstantin Vassili hat doch nichts mit Hochverrat zu schaffen?«

»Um Euer Excellenz hierüber zu Rate zu ziehen bin ich gerade gekommen,« antwortete Volborth. »Hauptmann Dubrowski steckt bis über die Ohren darin – vielleicht tauben Ohren, aber das kommt auf eins heraus. Wenn Seine Majestät, den Gott erhalte, heute abend ermordet worden wäre, so wäre es Hauptmann Dubrowski gewesen, der die Mörderin in seine Nähe gebracht. Ueber das gegen ihn einzuschlagende Verfahren habe ich meine eigenen Ansichten, aber ich bekenne, daß ich zurückschrecke – nicht vor der Verantwortung, aber vor dem Handeln ohne Rat. Eine sofortige Entscheidung ist erforderlich, aber Granowitsch auf telegraphischem Wege so vollkommen über die Sachlage und die geheimen Strömungen aufzuklären, daß sein Rat von Wert wäre, ist unmöglich.«

»Fahren Sie fort,« sagte der Fürst. »Versetzen Sie mich in die Lage, mir ein Urteil zu bilden, und ich werde Ihnen sagen, wie ich an Ihrer Stelle handeln würde. Mehr kann ich nicht thun.«

Dieser Aufforderung entsprechend, erstattete Volborth, wenn auch in knappen Worten, einen vorzüglichen Bericht über seine Entdeckungen, wie Boris von der Fürstin als Zwischenträger benutzt werde, von der anonymen Warnung, die nur von Ilma ausgegangen sein könne, und wie diese junge Dame wahrscheinlich Volborths wirkliche Stellung durchschaut habe. Obgleich er noch keinen unanfechtbaren Beweis hatte, daß Olga Palitzin mit bekannten Uebelthätern in Verbindung stehe, behauptete er doch, daß er nach den Vorfällen des Abends nicht mehr im Finstern tappe, und daß die Empfehlung Anna Tschigorins durch Dubrowski im Verein mit der Schwäche dieses Herrn für die Fürstin seine Auffassung bestätige.

»So weit kann ich Ihnen folgen,« unterbrach ihn der Fürst, »aber es geht über meinen Horizont, wie Sie zuerst dazu gekommen sind, auf die Fürstin zu achten – mit dem glücklichen Ergebnis, daß Sie mit dem verdächtigen Amerikaner zusammengetroffen und ihre Verabredungen mit Dubrowski gehört haben.«

»Hauptsächlich Instinkt,« antwortete Volborth mit einem Lächeln über des Fürsten scharfes Erfassen von Einzelheiten, »allein vielleicht hat mir ein kleiner Vorfall – vor fünf Jahren – auf die Spur geholfen. Unter den Sachen eines Verdächtigen, eines Menschen in ganz niedriger Stellung, der später verurteilt und nach Sibirien verbannt wurde, hat sich ein Bild von ihr gefunden. Daß die Fürstin mit diesem Menschen in Verkehr gestanden hätte, habe ich nie feststellen können, aber es lag doch immer die Möglichkeit vor, daß eine vornehme Dame einen Liebhaber von geringer Herkunft hatte.«

»Und Sie lassen keine Möglichkeit unbeachtet,« sagte der Fürst. »Nun, was gedenken Sie denn mit Dubrowski anzufangen? Er hat Sibirien verdient – und wenn es auch nur wegen seines Benehmens gegen die liebe Ilma wäre.«

»Daß Sibirien schließlich sein Los sein wird, bezweifle ich keinen Augenblick, aber für jetzt wäre ich geneigt, ihn laufen zu lassen,« erwiderte Volborth. »Ich weiß wohl, daß dieses Vorgehen seine Gefahren hat, aber ihn zu verhaften oder ihn auch nur merken zu lassen, daß er beargwöhnt wird, würde noch größere haben. Jetzt wissen wir, wo wir die Hand auf das Verbindungsglied zwischen den Leitern und den ausführenden Mitgliedern der Verschwörung legen können. Wird Dubrowski beseitigt, so würden wir wieder im Finstern tappen.«

»Sie wollen ihn also an einem so langen Strick laufen lassen, daß er sich und andre hängen kann. Arme Ilma! Konstantin Vassili würde sich in seinem Grabe vor Plewna umdrehen, wenn er wüßte, daß sich der Verlobte seiner Tochter in den Klauen der Sektion befindet,« meinte der Fürst traurig. »Hören Sie mal, Volborth,« fügte er nach einer Pause etwas lebhafter hinzu, »wie wäre es denn, wenn man dem jungen Manne noch einmal Gelegenheit zur Umkehr von seinem Wege gäbe – um des Mädchens willen. Sagen Sie ihm – oder ich will es thun, wenn Sie damit einverstanden sind – welche Folgen seine Schwäche für die Palitzin bereits gehabt hat, und warnen Sie ihn, daß er in Gefahr schwebt, seine Freiheit oder gar sein Leben zu verlieren. Wahrscheinlich würde er vollständig umschwenken, die Fürstin hassen und Ilmas Verzeihung zu erlangen suchen, wenn der Dummkopf erführe, daß er nur als Werkzeug gebraucht wird.«

»Das ist sehr wahr, Euer Excellenz,« antwortete Volborth kalt, »aber ich möchte ihn selbst als Werkzeug gebrauchen – das mich auf die Spur der andern leitet.«

»Und wenn es auch zu des armen Teufels Untergang führt – und ein treues Herz darüber bricht,« bemerkte Lobanof achselzuckend.

»Mit solchen Dingen hat die dritte Sektion nichts zu schaffen,« versetzte Volborth. »In seiner gegenwärtigen Stimmung ist Boris Dubrowski mit einem sehr heftigen Explosivstoff zu vergleichen, und wenn wir offen in dieser Weise mit ihm sprechen, würde der Versuch der Tschigorin wahrscheinlich bekannt werden: und die Kaiserin davor zu bewahren, ist eine gebieterische Pflicht.«

»Dieser Rücksicht gegenüber ist alles andre bedeutungslos,« gab Lobanof widerstrebend zu. »Ich sehe ein, daß Ihr Spiel, die Bauern zu opfern, um die Königin zu retten, richtig ist. Ja, an Ihrer Stelle würde ich dasselbe thun, obgleich ich mir wohl vorstellen kann, daß ich etwas mehr Mitleid mit den Bauern haben würde, als Sie zu haben scheinen, mein Freund. Nun gut; thun Sie, was Sie nicht lassen können. Gute Nacht!«

Bei diesen Worten griff der Fürst zur Feder und nahm seine Arbeit wieder auf, aber er ließ sich nicht träumen, daß er sein eigenes Schicksal besiegelt hatte, als er seiner Hingebung für die Kaiserin gestattete, seine persönlichen Empfindungen zum Schweigen zu bringen.

Sehr zufrieden mit dem Ergebnis seiner Besprechung, entfernte sich Volborth. Daß er des weisen alten Ministers Rat sehr hoch schätzte, kann nicht bezweifelt werden, allein es ist doch fraglich, ob er ihn gesucht haben würde, wenn er nicht den Wunsch gehabt hätte, sich den Rücken zu decken, indem er einen Mann in hoher Stellung ins Vertrauen zog, der seine guten Absichten bezeugen konnte, falls sein Plan, »Dubrowski laufen zu lassen,« etwa gerade das Unglück herbeiführte, das zu verhindern er alle seine Kräfte einsetzte. Daß diese Gefahr bestand, wußte er sehr wohl, aber sie erschien ihm geringer als die, die Fühlung mit den Verschwörern zu verlieren, und er ließ nie aus den Augen, daß er nicht nur damit beauftragt war, das Leben des Zaren und der Zarina zu behüten, sondern auch damit, sie vor dem Schrecken zu schützen, den es im Gefolge haben mußte, wenn sie erfuhren, daß eine Bande von verzweifelten Verbrechern ihnen auf Schritt und Tritt folgte.

Nachdem er die Gemächer des Fürsten Lobanof verlassen hatte, begab sich Volborth nach dem Flügel, wo das Gefolge wohnte, und trat in den Saal. Im Hinblick auf das für den folgenden Morgen in Aussicht genommene militärische Schauspiel und den Anfang der langen Eisenbahnfahrt nach Kiew, erwartete er, daß sich die Mehrzahl seiner Reisegefährten schon in ihre Zimmer zurückgezogen haben werde, und darin hatte er sich nicht geirrt. Nur noch zwei Personen waren im Saale anwesend, und zwar gerade die beiden, die dort zusammen und allein zu finden, er am wenigsten erwartet, wenn auch am meisten gewünscht hatte: Boris Dubrowski und Ilma standen an einem der großen Kamine einander gegenüber.

Wenn er die ehrloseste unter den Arbeiten eines Spions, das Horchen, zu verrichten hatte, empfand Volborth immer etwas wie Selbstverachtung, und deshalb bedauerte er durchaus nicht, daß beide ihn sahen, noch ehe er zwei Schritte von der Thür entfernt war. Allein diese kurze Zeit hatte ihm genügt, zu bemerken, daß sie durchaus nicht den Eindruck eines Liebespaares machten, und er vermutete, er habe einen Zank unterbrochen, dessen Ursache oder wenigstens Gegenstand er selbst gewesen sei.

»Sieh da! Da ist der schreckliche Ränkeschmied!« rief Boris erregt. »Kommen Sie mal hierher, Paul, und hören Sie die Anklage, die das gnädige Fräulein wiederholt gegen Sie erhoben hat. Also vernehmen Sie: sie behauptet, Sie seien ein Polizeispion und hätten böse Absichten gegen mich – ja, Sie hätten es so eingerichtet, daß ich heute zum Dienst kommandiert wurde, damit Sie das Telegramm in die Hände bekämen. Widerlegen Sie diese Anklage, mein Herr, oder machen Sie sich darauf gefaßt, daß Sie mir mit dem Degen in der Hand gegenübertreten müssen.«

Volborth that so, als ob er über diese theatralische Rede, ganz außerordentlich belustigt sei.

»Was? Sie wollen einen Beamten der dritten Sektion, der Ihnen und Ihren höchst geheimnisvollen Verbrechen auf der Spur ist, zum Zweikampfe herausfordern?« rief er, seinen Ton der Stimmung des Adjutanten anpassend. »Das wäre in der That eine neue Art, mit der Sektion anzubinden. – Wenn Sie diese Anklage erhoben haben, gnädiges Fräulein,« fuhr er sodann fort, sich mit derselben theatralischen Feierlichkeit an Ilma wendend, auf deren stolzem Antlitz Trotz und Furcht um die Herrschaft stritten, »so werde ich mich ihm wohl stellen müssen, denn die Höflichkeit würde mir verbieten, irgend etwas in Abrede zu ziehen, was Sie gesagt haben, möchte es mich auch noch so sehr belasten.«

Wie durch Intuition hatte er die Sachlage überschaut. Ilma hatte Boris vor ihm gewarnt, und dieser hatte die Warnung zuerst höhnisch zurückgewiesen und machte sie jetzt ihr ins Gesicht lächerlich. Das paßte ausgezeichnet zu dem Plane, den Volborth sich vorgezeichnet hatte und der darin bestand, die Kluft zwischen den beiden Liebenden so zu erweitern, daß er bei seinem ferneren Vorgehen gegen Boris nicht mehr mit Ilmas Einfluß zu rechnen brauchte. Ob das junge Mädchen diese Absicht durchschaute oder nicht, mag dahingestellt bleiben; jedenfalls machte sie einen wackeren Versuch, sie zu durchkreuzen.

»Hauptmann Dubrowski hat einen Scherz ernst genommen,« sagte sie, »denn es war wirklich nur ein Scherz, als ich ihn bat, sich vorzusehen und seine Briefe und Telegramme nicht gerade Ihnen anzuvertrauen.«

Volborth konnte nicht umhin, Ilmas Fassung und Gewandtheit schweigend zu bewundern. So schändlich ihr Verlobter sie noch eben dadurch behandelt, daß er ihre Warnung in Gegenwart eines Dritten, und noch dazu gerade des Mannes, gegen den sie ihn zur Vorsicht gemahnt, ins Lächerliche gezogen hatte, zögerte sie doch keinen Augenblick, ihre Worte zurückzunehmen, um sich nicht in die Karten sehen zu lassen. Was für ein Opfer das für ein Mädchen ihrer Natur war, wußte Volborth sehr wohl, allein wenn er das auch bewundern konnte, so dachte er doch nicht an Schonung.

»Mein liebes gnädiges Fräulein, bitte nehmen Sie mich nicht ernst,« erwiderte er lachend, »und unsern guten Boris erst recht nicht. Ich weiß sehr wohl, daß mich die Natur meiner Pflichten als Geschichtschreiber zur Zielscheibe des Spottes von euch Höflingen und Soldaten macht, aber da wir gerade von Polizeispionen redeten, will ich Ihnen doch eine reizende Geschichte von Restofski erzählen. Er hat sie mir eben im Vertrauen mitgeteilt, und deshalb muß sie unter uns bleiben.«

Ilma hatte merken lassen, daß sie im Begriffe sei, den Saal zu verlassen; als sie dies jedoch hörte, lehnte sie sich wieder an den Kamin und blickte Volborth mit Augen ins Gesicht, die sich große Mühe gaben, nicht erschreckt auszusehen.

»Na, denn heraus damit, Paul!« entgegnete Boris mit einer Sorglosigkeit, die unverkennbar ungekünstelt war. »Wir werden Sie nicht dadurch in Ungelegenheiten bringen, daß wir Ihre Geschichte weiter verbreiten.«

»Das werdet ihr beide schön bleiben lassen,« kicherte Volborth innerlich, als er mit der Miene eines Mannes, der sich auf Kosten eines Abwesenden lustig machen will, begann: »Einige Augenblicke, bevor die Ouvertüre anfing, wurde Restofski, der sich im Konzertsaale befand, durch einen Lakaien ein Schreiben überbracht, das eben im Schlosse abgegeben worden war. Als er es öffnete, fand er eine anonyme Warnung vor einer Dame, die erst im letzten Augenblick zum russischen Chor zugelassen worden war. Was dieses schreckliche Frauenzimmer im Schilde führen sollte, war zwar nicht gesagt, allein ohne Zweifel schwebten Restofski Dolche, Pistolen und Höllenmaschinen vor und machten ihn sinnlos vor Schreck. Jedenfalls flog er auf die Bühne, griff sich den Leiter des Konzerts und bestand darauf, daß die Dame, eine Frau Gregorowitsch, augenblicklich entfernt werde. Ein unerklärliches Fallen des Vorhangs am Schlusse der Ouvertüre ist gewiß auch Ihnen aufgefallen, nicht wahr?«

Ilma war ruhig geblieben, aber sehr bleich geworden, bei Boris dagegen hatte die Gleichgültigkeit einem schlecht verhehlten Aerger Platz gemacht.

»Fahren Sie fort,« sagte er heiser.

»Nun also, während der Vorhang herabgelassen war, wurde Frau Gregorowitsch ersucht, sich zurückzuziehen, und sowie sie in einem leeren Ankleidezimmer eingeschlossen war, eilte Restofski in die Stadt, um nach dem gewöhnlichen Polizeiverfahren festzustellen, ob die Angaben, die sie über sich gemacht hatte, zutreffend seien. Dabei stellte sich denn heraus, daß Frau Gregorowitschs Charakter und Vorleben tadellos sind, und als er nach dem Schlosse zurückkehrte, blieb ihm nichts andres übrig, als die arme Dame mit demütigen Bitten um Entschuldigung frei zu lassen.«

Als er schloß, sah Volborth seine Zuhörer an, als ob er Beifall erwarte, allein es erfolgte keiner. Allerdings lachte Ilma etwas gezwungen, aber Dubrowskis hübsches Gesicht war von Leidenschaft verzerrt.

»Das war ganz schändlich, ganz schmählich und unerhört!« zischte er mit einem wütenden Blick auf Ilma, der fast eine offene Anklage war, allein es fiel ihm sogleich ein, daß er durch seinen Aerger Volborth sein persönliches Interesse an der Sache verrate, und er verließ mit einem verdrießlichen »Gute Nacht« den Saal.

Aus der Aufnahme, die sein angeblicher Jux gefunden hatte, entnahm Volborth verschiedenes: erstens, daß Boris das Verschwinden Anna Tschigorins von der Bühne nicht bemerkt hatte, woraus man schließen durfte, daß er sie nicht kenne; zweitens, daß Ilma noch vollkommen im Dunkeln darüber gewesen war, ob ihr Warnungsbrief irgend welche Folgen gehabt hatte; und drittens, daß ihr Entsetzen, als sie gesehen, wie Restofski diesen Brief geöffnet hatte, durch die Furcht, er sei zu spät überbracht worden, um noch von Nutzen zu sein, hervorgerufen worden war. Alles dies bestätigte seine Auffassung, daß sie den Warnungsbrief unmittelbar nach dem Zwischenfall mit dem Telegramm abgesandt habe, indem ihr rasch arbeitender Verstand die Einführung der neuen Sängerin, von der sie am Abend vorher in der Oper zufällig gehört hatte, mit der polizeilichen Ueberwachung, worunter Boris zu stehen schien, in Verbindung brachte.

Zum zweitenmal an diesem Tage standen sich die Ehrendame und der Polizeibeamte gegenüber. Volborth glaubte durch seine etwas abgeänderte Lesart des Ereignisses des Abends den Bruch zwischen den beiden ehemaligen Liebenden erweitert zu haben, und er hielt es nicht für nützlich, Dubrowskis Aufregung zu bemerken, während es nicht zu Ilmas Plan paßte, sie gänzlich zu übersehen.

»Boris hat wirklich einen angreifenden Tag gehabt, und er ist heute abend nicht er selbst,« sagte sie, indem sie sich anschickte, sich in ihr Zimmer zurückzuziehen.

Volborth sprang auf, um ihr die Thür zu öffnen.

»Meinen Sie?« fragte er dabei. »Mir kam es so vor, als ob er ganz ungewöhnlich jugendlich und – wie soll ich's doch gleich nennen? – in angeregter Stimmung sei.«

Ilma gab keine Antwort, und Volborth ging ihr nach der Thür voraus, riß diese auf und machte eine tiefe Verbeugung, als die junge Dame an ihm vorbeiging. Dann wandte sie sich plötzlich um und sah ihm gerade in die Augen, als ob sie auf dem Grunde seiner Seele lesen wolle.

»Sie sind ein kluger Mann, Herr Volborth,« sagte sie dabei, »aber ich glaube, ich verstehe Sie.«

»Und Sie, mein gnädiges Fräulein, sind eine kluge Dame, aber ich behaupte nicht, Sie zu verstehen,« erwiderte er, »wenigstens nicht Ihre treue Hingebung für diesen treulosen Wicht,« setzte er für sich hinzu, während er der anmutigen Gestalt nachsah, die den Gang hinabschwebte.

Sodann suchte auch er sein Zimmer auf, aber nicht um zu Bett zu gehen, sondern um bis tief in die Nacht hinein auf ein Telegramm zu warten, für dessen sofortige Aushändigung an ihn Anordnungen getroffen waren, aber die Uhr auf dem Turme der Hofburg hatte schon Vier geschlagen, als die chiffrierte Botschaft ihm endlich überbracht wurde.

»Ihr Telegramm erhalten. Wünsche Glück! Bedaure, daß Olga P. von Petersburg anscheinend nach Brüssel abgereist ist. Amerikanischer Oberst Telaval begleitet sie.

(gez.) Granowitsch.«

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