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Der letzte Tag des Besuches des Zaren in der französischen Hauptstadt war gekommen, aber die Gäste hatten am Morgen noch viel zu sehen und zu thun, so daß es fast zwei Uhr war, bevor die Wagen mit ihrer Ehrenbedeckung von Kürassieren von der russischen Botschaft in die Rue Grenelle einbogen, um zur letzten Feierlichkeit nach Versailles zu fahren.
In Sèvres war ein kurzer Aufenthalt zur Besichtigung der berühmten Porzellanfabrik vorgesehen, und hier erregte das Fehlen Volborths zuerst Aufmerksamkeit. Wie gewöhnlich war es die Bête noire des Polizeibeamten, die Gräfin Vassili, die den Thatbestand aus der Dunkelheit, worin Volborth sie gern gelassen hätte, ans Licht zog. Während das Gefolge auf die in den Brennraum getretenen Majestäten wartete, gab sich die alte Dame ihrem beliebten Zeitvertreib des »Häupterzählens« hin.
»Alle da, außer Paul Volborth,« flüsterte sie, indem sie Boris, der zufällig an ihrer Seite stand, anstieß. »Die Tage dieses Herrn als verzogener Liebling der Gesellschaft sind jetzt wohl gezählt. Kannst du mir erklären, warum er sich mehr herausnehmen darf als wir andern?«
Ilma, die neben ihrer Mutter stand, hörte diese Frage, und ihr Blick suchte unwillkürlich in Dubrowskis Gesicht zu lesen. Zum erstenmal seit Wochen begegneten sich ihre Augen mit einem Ausdruck, der etwas von freundschaftlicher Neigung hatte, und obwohl sie gleich wieder nach einer andern Richtung sah, wartete sie doch gespannt auf seine Antwort.
»Ich bin überzeugt, daß niemand von uns – das heißt, sehr wenige von uns – ahnen, wie wichtig Volborths Arbeit ist,« sagte er, »wie vielerlei zu thun und – zu entdecken er hat, wovon wir uns nichts träumen lassen.«
Der Adjutant verstand die Kunst des leichten Plauderns nur mangelhaft, aber so plump das double entendre auch ausgedrückt war, so erriet Ilma dessen Sinn doch ohne Schwierigkeit.
Volborths Verbindung mit der dritten Sektion war, wie sie wußte, einer der wenigen Punkte, worüber Fortescue Boris nicht aufgeklärt hatte, aber sie erkannte mit einem leisen Herzklopfen, daß seine Antwort eigentlich weniger an ihre Mutter, als an sie gerichtet war, und sie sah darin ein Zugeständnis, daß er die Warnung, die sie ihm in Wien erteilt hatte, endlich beachten wolle. Es freute sie, daß diese Erkenntnis ohne äußere Beweise von selbst in ihm aufgestiegen war – und gerade heute.
Inzwischen rechtfertigte Volborth Dubrowskis Ansicht, daß er sehr beschäftigt sei, mehr als vollständig. So eng und geschickt hatte er den Laden der Witwe Grigot mit Spionen umgeben, daß ihm jeder Schritt der Verschwörer bekannt war, während diese nichts von der Entdeckung ihres Versammlungsortes ahnten. Zu früher Stunde war Serjow beobachtet worden, als er sich infolge einer Zeitungsnachricht nach der Morgue begeben hatte und unverzüglich mit der Nachricht von Delavals Tode nach der Rue Casse-Tête zurückgekehrt war. Zugleich hatte Volborth erfahren, daß der am vorigen Abend seinen Spionen entschlüpfte Mann jetzt kalt, starr und unerkannt auf der Marmorplatte lag.
Sehr bald zeigte sich, daß der Verlust ihres Genossen die Pläne der Nihilisten für den Tag nicht gestört hatte. Die Anzeichen ihrer Thätigkeit wurden vielmehr so auffallend, daß sich Volborth, als er seine Kräfte einteilte, entschloß, sich derjenigen Abteilung anzuschließen, welche in Berührung mit dem Feinde bleiben sollte, während er Restofski den Befehl über den Teil überließ, dessen Aufgabe es war, den Zaren zu umgeben. Da er so eifrig wie nur je darauf bedacht war, nicht nur das Leben seines Herrn zu schützen, sondern auch der Kaiserin den Schrecken eines Anschlags zu ersparen, war es begreiflich, daß er bei dieser letzten Erscheinung seiner kaiserlichen Schützlinge in der Oeffentlichkeit inmitten einer solchen Volksmenge ganz besonders ängstlich war. War dieser Tag erst glücklich vorüber, dann lag, so hoffte er, im schläfrigen Darmstadt eine leichte Aufgabe vor ihm, und dann wollte er seinen Sieg genießen! Wenn er sich ausmalte, wie Restofski Olgas weiße Arme umklammerte, sowie der Zar wieder auf dem Wege nach dem heiligen Rußland war, wurde er ganz ungeduldig.
Solche Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als er sich an diesem sonnigen Nachmittag durch die Menge auf den Terrassen von Versailles drängte. Seit er Weletzki in den Gebüschen von Blairgeldie ergriffen, hatte er die Verkleidung als »Herr Winkel« notgedrungen aufgeben müssen, und jetzt erschien er als Pariser Boulevardier mit einem gewaltigen Schnurrbart und kohlschwarzen Augenbrauen unter der Zahl der wenigen bevorzugten, mit Karten versehenen Schaulustigen, die die Ankunft des Zaren erwarteten. Sie alle – mit denen er es zu thun hatte – Olga Palitzin, Weletzki, Anna Tschigorin, Krasnowitsch und Serjow, waren anwesend, die drei zuletzt Genannten unter der Menge zerstreut und bei Begegnungen so thuend, als ob sie sich nicht kennten, während die Fürstin von dem graubärtigen alten Manne begleitet war, dessen feurige Augen in Volborth die Erinnerung an das Gehölz von Scheptowka am Morgen von Lobanofs Tod wachriefen. Die Fürstin war, wie er bemerkte, sehr schön und ohne einen Versuch, sich unkenntlich zu machen, gekleidet.
Hieraus schloß er, daß Delavals Tod entweder ihre Pläne durchkreuzt hatte und daß infolge dessen keine »Geschäfte« beabsichtigt wurden, oder daß alle ihre Anstrengungen auf einen letzten verzweifelten Versuch gerichtet waren, bei dessen Ausführung, mochte er nun gelingen oder nicht, sie sicher verhaftet zu werden erwartete. Wäre andrerseits Fortescue das Ziel der nihilistischen Pläne für heute gewesen, so hätte sie sich ganz bestimmt einer Verkleidung bedient, einmal, weil die Beseitigung dieses unbequemen Zeugen doch nur ein Nebenzweck war und sie sich ihre Freiheit bewahren mußte, um ihr Hauptziel weiter zu verfolgen, sodann weil der Attaché außerordentlich wachsam gewesen sein würde, falls sie in proprio persona erschienen wäre.
Volborth war sehr erfreut, daß, soweit er feststellen konnte, Fortescue davon Abstand genommen hatte, nach Versailles zu kommen. Die Schmetterlinge der englischen Botschaft waren zahlreich vertreten, aber Spencer war nicht darunter, noch war er sonstwo in der näheren Umgebung des Schlosses zu sehen.
»Ich bin froh, daß er nicht hier ist, obgleich ich mehr als halb erwartet habe, ihn trotz meiner Warnung auftauchen zu sehen,« beglückwünschte sich Volborth. »Bei seiner Liebhaberei für diese Art von Arbeit ist es ja hart für ihn, daß er sich stille halten muß, aber er hat es sich selbst zu verdanken, weil er seine Nase in das Hornissennest in Boulogne gesteckt hat, und ich habe ihm und ›Herrn Winkels‹ kleiner Freundin zu danken, daß wir heute diese einigermaßen sicheren Vorkehrungen hier treffen konnten.«
Als fernes Trompetengeschmetter die Ankunft des Zaren verkündete, sah er mit Wohlgefallen, daß Olga Palitzin und Weletzki von einer Kette unauffälliger Mouchards umgeben waren, die sich bereit hielten, bei der ersten verdächtigen Bewegung hemmende Hände auszustrecken. Allein das Benehmen der Beobachteten lieferte keinen Vorwand zu einer Verhaftung. Von verschiedenen Punkten am Geländer der Terrasse aus erwarteten sie unthätig das Herankommen des kaiserlichen Zuges, ohne einen Versuch zu machen, sich vorteilhaftere Plätze in der Nähe der Treppe zu verschaffen, die von den Garten und dem Anfahrwege heraufführte und für den Einzug der Gäste ins Schloß freigehalten wurde.
So trat also die kaiserliche Gesellschaft, von der auf der Terrasse stehenden Menge ehrfurchtsvoll begrüßt, in das stattliche Heim Louis des Großen ein. Allein erst nachdem Nikolaus und Alexandrowna auf dem Balkon erschienen waren, für die Begrüßung gedankt hatten und wieder ins Innere zurückgetreten waren, atmete Volborth erleichtert auf. Im amtlichen Plan war festgesetzt, daß sich der Zar und die Zarina nach Besichtigung des Schlosses in ihre Gemächer zurückziehen und bis Sieben, der Stunde, wo das große Festmahl begann, ruhen sollten, und in diesem ungeheuren Gebäude, vor dessen sämtlichen Thüren Doppelposten standen, würden sie wohl ebenso sicher sein, als im Winterpalast.
»Jetzt haben wir weiter nichts zu thun, als Madame Olga und Compagnie nach Paris zurückzulotsen,« murmelte Volborth, und nachdem er seinen Untergebenen nochmals eingeschärft hatte, die Verdächtigen nicht aus den Augen zu verlieren, eilte er ins Schloß, um mit Restofski zu sprechen. Als er von diesem gehört hatte, daß unterwegs nichts Auffälliges vorgekommen war, kehrte er nach der Terrasse zurück, wo er fand, daß sich die Menge der eingeladenen Zuschauer rasch zerstreute.
Kaum hatte er seinen Fuß auf die Terrasse gesetzt, als einer seiner Untergebenen auf ihn zugeeilt kam.
»Sie sind alle zusammen in den Garten gegangen,« sagte der Mann. »Die andern sind ihnen gefolgt, und ich bin nur geblieben, um Euer Excellenz Meldung zu machen.«
»Gut,« erwiderte Volborth. »Das sieht aus, wie ein Ausfall aus ihrer Höhle. Lassen Sie uns folgen, mein Freund.«
Als er die Treppe in den breiten Lustgarten hinabstieg, sah er die Fürstin, die sich auf den Arm des Alten mit dem Raubvogelgesicht stützte und ihn anscheinend auf die Schönheit der spielenden Wasserwerke aufmerksam machte. Nachdem sie eine Weile stehen geblieben waren, gingen sie nach dem Parke zu weiter, auf dessen Laubgänge sich die Schatten der Dämmerung herabzusenken begannen. Dem ersten Paare folgten die andern, Anna Tschigorin, Krasnowitsch und Serjow, aber einzeln, als ob sie nicht zusammen gehörten.
Um diese Zeit wurde das russische Gefolge dienstfrei. Zum Teil gelangweilt, zum Teil bewundernd, waren sie pflichtschuldigst durch die Spiegelgalerie, die Gemächer des großen Königs, das Museum und die Kunstsammlungen gewandert, und nun, während sich der Zar und die Zarina ausruhten, waren sie frei bis zur Stunde des großen Festmahles. Boris Dubrowski hatte persönlichen Dienst gehabt und war der letzte, der an der Thür seines Herrschers entlassen wurde, so daß, als er auf den Gang gelangte, wo die den Gliedern des Gefolges angewiesenen Zimmer lagen, seine Gefährten schon verschwunden waren.
Statt den Gang zu betreten, ging er jedoch über die große Haupttreppe ins Erdgeschoß hinab und von dort auf die jetzt fast vollständig verlassenen Terrassen, die er erreichte, ohne angehalten zu werden, da seine Uniform ihm überall ungehinderten Zutritt verschaffte. Das Bild, das sich jetzt seinen Blicken bot, stand in ausfälligem Gegensatz zu dem, das die Umgebung des Schlosses vor zwei Stunden dargeboten hatte. Mit Ausnahme einiger Zurückgebliebenen, die man an den Fingern einer Hand zählen konnte, war die Menge vollkommen verschwunden. Das Brüllen des Viehs auf den freien Weideplätzen, das Krächzen der Krähen über dem erinnerungsreichen Park, waren die einzigen Geräusche, die die Stille unterbrachen, und das alte Schloß, worin im Augenblick wieder ein allmächtiger Monarch wohnte, hätte einem philosophisch angelegten Gemüte wohl Veranlassung geben können, darüber nachzudenken, welche Veränderungen zwei Jahrhunderte in den Angelegenheiten der Menschen hervorzubringen vermögen.
Allein der junge russische Offizier war kein Philosoph, und er hatte an andre Dinge zu denken, als an den großen König und den geschwundenen Glanz von Versailles. Daß er einen bestimmten Zweck verfolgte, der mit einem einfachen Spaziergang nichts zu thun hatte, bewies die lebhafte Gangart, womit er den Garten durchschritt und auf dem nach Grand Trianon führenden Wege in den Park eintrat, wobei er sich immer aufmerksam umsah.
»Dies muß die Biegung sein, die Fortescue meint,« murmelte er, als er endlich an einen Punkt kam, wo sich ein in dichtes Gehölz führender Weg abzweigte. Indem er die breite Fahrstraße verließ, folgte er diesem neuen Wege nach links, bis er auf der einen Seite einen Fußpfad bemerkte, der sich im noch dichteren Unterholze verlor. Jetzt war er seiner Sache sicher und schlug diesen Pfad ein, der ihn sehr bald auf eine von allen Seiten mit Gebüsch umgebene Lichtung führte. In der Mitte dieser Lichtung glänzte ein Marmorfaun, und einige andre Pfade, die auf diesem runden Platze zusammentrafen, gaben ihm fast den Charakter des Mittelpunktes eines Irrgartens.
Nunmehr überzeugt, daß er den rechten Platz gefunden hatte, trat er einige Schritte in den Pfad zurück, auf dem er gekommen war, und wartete. Seine Nerven waren aufs höchste gespannt, und mochte er auch ein sechs Fuß großer Gardeoffizier sein, so fuhr er doch beim leisesten Geräusch zusammen, aber die Augenblicke flogen dahin, und so scharf er auch in die dunkeln Gänge der gegenüberliegenden Pfade hineinspähte, nichts erschien, was die Einförmigkeit seiner Spannung hätte unterbrechen können.
»Hätte ich nicht gesehen, daß Ihre Majestäten in ihre Gemächer gegangen sind, und mit meinen eigenen Ohren gehört, wie sie sagten, sie würden dort bleiben, so könnte ich dies nicht länger ertragen,« sagte er bei sich, nachdem eine Viertelstunde vergangen war. Bald darauf knackte in der Dämmerung eines der zusammenlaufenden Pfade – nicht ihm gerade gegenüber, sondern rechtwinkelig zu der Richtung, aus der er gekommen war – ein Zweig. Im nächsten Augenblick schlenderte Olga Palitzin langsam auf den freien Raum, blieb als scharf umrissene Gestalt in gelbem Gewände stehen und spähte in den Boris gerade gegenüber mündenden Pfad. Während sie dort unter dem Faun stand, war sie ganz allein, aber – ein bedeutungsvolles Geräusch! – wieder knackte ein Zweig in dem Laubgange, aus dem sie gekommen war.
Während der Adjutant mit erwartungsvollen Augen das Weib beobachtete, das ihn zum Narren gemacht hatte, wurde sein Blick durch einen Schimmer in dem gegenüber mündenden Pfade angezogen, und dann stand ihm plötzlich das Herz still. Aus dem Düster des Pfades schlenderten mit sorglosen Schritten zwei Gestalten Arm in Arm auf die Lichtung hinaus – zwei Gestalten, deren ihm wohlbekannte Kleidung ihn fast starr vor Entsetzen machte – der lange graue Ueberrock und die Astrachanmütze des Zaren und das weiße, mit einem rehfarbigen Staubmantel bedeckte Kleid, das die Kaiserin an diesem Tage getragen hatte, machten jeden, Zweifel ein Ende, daß Fortescue einen furchtbaren Irrtum begangen, als er auf die Unabänderlichkeit kaiserlicher Absichten gerechnet hatte. Ihre Majestäten mußten also doch das Schloß verlassen haben, um einen ruhigen Spaziergang zu machen, ehe die Festlichkeit des Abends begann, und nun liefen sie geradewegs in Gott weiß was für einen furchtbaren Hinterhalt ihrer unerbittlichen Feinde.
Boris war kein Feigling, und mit der Notwendigkeit des Handelns kam auch Ruhe über ihn. Er sah, wie Olga vortrat und sich auf die Kniee warf, er sah, wie die Gestalt im grauen Ueberrock wie überrascht etwas zurückfuhr, und er hatte kaum bemerkt, daß noch vier andre Gestalten auf die Gruppe zuschlichen, als er mit einem wilden Fluche schon halb über die Lichtung war und sich zwischen die Mörder und das von ihnen bedrohte Paar warf. Jetzt blitzten Messer, aus dem Schatten hinter den Angreifern sprangen noch andre Gestalten, und gerade als Boris, durch einen Messerstoß Serjows in die Brust getroffen, zu Boden sank, warfen sich Volborth und ein Dutzend Polizeibeamte, russische und französische, auf die Verschwörer. In fünf Sekunden war alles vorüber, Olga Palitzin und ihre Bande waren überwältigt und gefangen.
Barhaupt und weiß bis zu den Lippen trat Volborth vor.
»Gott sei gepriesen, daß Eure Majestäten unversehrt sind!« stammelte er. »Wir haben diese Leute den ganzen Tag über scharf unter Beobachtung gehabt und sind ihnen hierher gefolgt, ohne zu denken, daß Eure Majestäten irgendwo anders sein könnten, als im Schlosse. Restofski hatte den Befehl, Eure Majestäten nicht aus den Augen zu lassen, und ich begreife nicht..«
Allein die stattliche Dame im Staubmantel lag neben dem Verwundeten auf den Knieen und versuchte, bitterlich schluchzend, das Blut mit ihrem Taschentuche zu stillen, und der lange graue Ueberrock und die Astrachanmütze ihres Begleiters wurden ins Gras geschleudert.
»Lassen Sie uns zuerst für diesen braven Mann sorgen, der seine Treue bewiesen hat,« sagte Fortescue, indem er an Ilmas Seite niederkniete. »Ich wollte ihm diese Gelegenheit geben, aber ich hätte nicht gedacht, sie würden Ihr hinhaltendes Verfahren so auf die Spitze treiben, daß die Elenden Zeit hätten, ihre Messer wirklich zu gebrauchen, Paul.«
*
Die Aufzeichnungen, die Volborth dem Schreiber dieser Erinnerungen zur Verfügung gestellt hat, enthalten keinen Hinweis auf seine persönliche Ansicht über diesen ihm von seinem englischen Freunde gespielten Streich. Sie brechen an diesem Punkte etwas schroff mit der kurzen Mitteilung ab, daß die verhafteten Nihilisten insgeheim mit Umgehung aller Auslieferungsförmlichkeiten auf Grund eines stillen Abkommens mit der französischen Regierung nach Rußland geschafft wurden. Aber da der in diesen Blättern unter dem Namen Volborth bekannte Beamte vor kurzem gesehen worden ist, wie er mit Spencer Fortescue im Café Royal in der Regent Street speiste, wobei beide sehr munter waren, liegt es auf der Hand, daß ihre Freundschaft nicht darunter gelitten hat.
Das Gegenteil wäre auch seltsam gewesen, denn dadurch, daß er Volborth gezwungen, früher, als dieser beabsichtigt hatte, zu handeln, waren unbestreitbar die besten Folgen hervorgegangen, namentlich auch für Volborth selbst. Ilmas und des Attachés Verkleidung als Zarina und Zar enthoben die dritte Sektion während des Restes der Reise des größten Teils ihrer Sorgen, denn nachdem die Leiter dieser Verschwörung alle sicher hinter Schloß und Riegel gebracht waren, hatten die Nihilisten weder Zeit, noch die geeigneten Leute zu einer neuen Verschwörung. Dank der raschen Maßregeln, die Volborth traf, wurde der Kaiserin der Schreck erspart, den ihr die Nachricht von diesem Anschlage bereitet haben würde. Nur der Zar selbst und der Generaladjutant wurden davon in Kenntnis gesetzt, daß Dubrowski seine Verwundung bei der tapferen Verteidigung eines Engländers und Fräulein Vassilis erhalten habe. Dubrowski und die Angreifer wären durch die auffallende Aehnlichkeit des Anzugs in den Irrtum versetzt worden, daß der graue Ueberrock und der Staubmantel die kaiserlichen Herrschaften selbst bedeckten. Den guten Willen für die That nehmend, belohnte Nikolaus den Mann, der sein Leben für ihn hatte hingeben wollen, sofort, und Boris, der in Fortescues Pariser Wohnung zwischen Tod und Leben schwebte, wurde durch die Nachricht erfreut, daß er zum Major in der Garde befördert war.
Allein die augenblickliche Gunst des Zaren war keine Gewähr der Straflosigkeit bei etwaigen späteren Enthüllungen Volborths, und Fortescue war noch nicht sicher, ob er alle Zwecke seines freundschaftlichen Planes erreicht habe. Der erste und für ihn wichtigste – die Beseitigung der Gefahr, die über Lauras Haupte schwebte – ging als natürliche Folge aus der Verhaftung der Nihilisten hervor, aber Dubrowskis Befreiung aus den Netzen der dritten Sektion stand noch ebensowenig fest, als seine Aussöhnung mit Ilma. Als er sich Ilmas Mitwirkung sicherte, dachte er einzig und allein daran, daß sich Boris wacker benehmen und dadurch die verlorene Achtung seiner Verlobten wieder gewinnen werde, weshalb er auch der Ehrendame nichts davon gesagt hatte, welche Rolle Boris bei der Verhaftung spielen sollte. Die Verwundung war ein unvorhergesehener Zwischenfall, den er gar nicht in Berechnung gezogen hatte, da er meinte, die Polizei werde zu rasch eingreifen, als daß des Adjutanten Dazwischentreten wirklich notwendig werden würde, und er machte sich heftige Vorwürfe, weil er nicht darauf bestanden hatte, daß Boris ebenso wie er und Ilma ein Panzerhemd trage.
Um demnach die Früchte seiner Diplomatie nicht zu verlieren, schickte er am Tage nach dem Vorfall in Versailles zwei Briefe ab, einen an Laura nach Blairgeldie, der er die Verhaftung bereits telegraphisch mitgeteilt hatte, den zweiten an Ilma, die mit den kaiserlichen Herrschaften nach Darmstadt abgereist war.
Von Laura erhielt er umgehend Antwort, aber am Morgen des siebenten Tages hatte er von Ilma noch nichts gehört. Volborth, der in Paris zurückgeblieben war, um die Verhandlungen mit den französischen Behörden zu führen, kam jeden Tag, doch waren Fortescue diese Besuche gar nicht angenehm, denn sie erinnerten ihn an den Polizeibeamten, der im Krankenhause am Bett des verletzten Einbrechers sitzt.
»Wie geht es ihm heute morgen?« fragte Volborth, der zum siebentenmal gerade in dem Augenblick eintrat, wo der Freund des Kranken sein spätes Frühstück einnahm, während die barmherzige Schwester im Nebenzimmer für ihren Pflegling sorgte.
»Nicht besonders, wie die Schwester meint,« antwortete Fortescue. »Setzen Sie sich und leisten Sie mir Gesellschaft beim Frühstück. Ich erwarte gleich eine Freundin von Ihnen.«
Volborth stellte die nötige Frage mit seinen Augenbrauen.
»Miß Metcalf,« entgegnete der Engländer, woraus der Russe seine Handschuhe auszog und sich mit einer so drolligen Miene der Erwartung an den Tisch setzte, daß Fortescue lachen mußte.
»Sie vergessen, Paul, daß sie nicht Ihre Freundin ist, sondern die des ›Herrn Winkel‹,« sagte er dabei.
»Nein, Sie brauchen mich nicht gerade für blödsinnig zu halten, weil es Ihnen einmal gelungen ist, mich an der Nase herumzuführen,« erwiderte der andre, ohne sich bei seinem Frühstück stören zu lassen.
Bald darauf wurde an die Thür geklopft, und Laura trat ungestüm ein, hatte aber im ersten Augenblick nur Augen für ihren Verlobten.
»Wie hübsch von dir, du guter alter Spencer, mich zu bitten, hierher zu kommen!« begann sie, nachdem sie ihn atemlos umarmt hatte. »Wo ist denn der liebe alte Herr Winkel? Daß der ein so großes Tier bei der russischen Polizei sei, hatte ich mir nicht träumen lassen, aber wenn ich ihn sprechen kann, werde ich schon alles wegen Boris' mit ihm in Ordnung bringen – da du mir gesagt hast, daß er derjenige sei, an welchen man sich machen müßte. Ich dachte, es wäre dieser Volborth, der – O!« rief sie, als sie in diesem Augenblick sah, wie sich der Träger des verhaßten Namens an der andern Seite des Tisches vor ihr verbeugte.
»Laßt mich euch einander vorstellen – Miß Metcalf, Mr. Volborth,« sagte Fortescue lächelnd. »Mr. Volborth ist ein Kollege Herrn Winkels.«
Sofort war Laura nichts als eisige Höflichkeit.
»So?« fragte sie. »In diesem Falle, mein Herr, können Sie mir vielleicht mitteilen, wo Herr Winkel zu finden ist. Ich möchte ihn in einer sehr wichtigen Staatsangelegenheit dringend sprechen.«
»Stehen Sie im Dienste der britischen Regierung, Miß Metcalf?« fragte Volborth mit einer tiefen Verbeugung.
»Nein, aber fast; ich hoffe eines Tages eine Botschaft zu leiten,« erwiderte Laura mit großer Würde.
»Dann werde ich mir die Ehre geben, Herrn Winkel sofort zu Ihnen zu schicken,« antwortete Volborth, ergriff, Fortescue trübselig zulächelnd, seinen Hut und verließ das Zimmer.
»Ein widerlicher Mensch, dieser Volborth,« bemerkte die zukünftige Botschafterin, als er gegangen war, und stürzte sich alsdann in ein lebhaftes Gespräch, worin Fragen wegen der Verhaftung, das Benehmen »Billys« und das Befinden des Verwundeten in reizender Verwirrung durcheinandergemischt waren. Diese Gegenstände waren noch lange nicht erschöpft, als es wieder an der Thür pochte und zwei Personen eintraten: der Briefträger, der einen Brief an Fortescue brachte, und Herr Winkel, freundlich und kindlich wie immer.
»Lies du nur deinen Brief, Spencer; ich will mich an Herrn Winkel machen,« rief Laura, indem sie mit ausgestreckter Hand ihrem alten Freunde entgegenlief, den sie am Knopfloch in eine Ecke des Zimmers zog, während Fortescue den erhaltenen Befehl befolgte und seinen Brief erbrach. Fünf Minuten lang war nichts zu hören, als das leise Bitten des jungen Mädchens, das dann und wann durch ein »Ach so« des Herrn Winkel unterbrochen wurde, worauf überschwengliche Dankesäußerungen und dann tiefes Schweigen folgten.
»Na, Kleine, hast du's in Ordnung gebracht?« fragte Fortescue, als er nach Beendigung seines Briefes aufsah.
»Ja, Herr Winkel ist der reine Engel,« antwortete Laura. »Er will Boris gar nicht in die Geschichte verwickeln. Volborth sei ein Pfuscher, sagt er, und er – Herr Winkel – könne alle Beweise, deren er zur Verurteilung der Mörder wegen des Anschlags in Versailles bedürfe, zusammenbringen, ohne vergangene Dinge zu berühren.«
»Und hier,« sagte Fortescue, indem er sich erhob, »ist ein Brief von Ilma, worin sie sagt, auch sie wolle die Vergangenheit vergessen. Nun laßt uns hineingehen und es unserm Kranken mitteilen.«
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