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Zweites Kapitel.
Ein neues Schwert des Damokles

» Allons, enfants de la patrie,
Le jour de gloire est arrivé:
Contre nous de la tyrannie,
L'étendard sanglant est levé ...
«

( Marseillaise.)

Auf dem breiten Waldpfade, der von einem im Rokokostile erbauten Bergschlosse in die Niederung führte, ritten in der Morgendämmerung zwei Männer. Der ältere von ihnen hatte mehrere Tage auf dem Schlosse zugebracht, um eine Versöhnung mit dem Eigentümer anzubahnen. Sie schien geglückt zu sein, denn der Schloßherr, Graf d' Haunaigue, ritt an der Seite seines Gastes, des Bankiers Türckheim, um ihm das Geleite nach Straßburg zu geben.

Im Tale angelangt, ließen sie die Pferde in eine schnellere Gangart übergehen. Es war dies um so nötiger, als sie die elsässische Hauptstadt noch früh am Morgen erreichen wollten. Nur zuweilen zügelten sie den Trab der Pferde, wenn das von ihnen geführte Gespräch einen besonders wichtigen Gegenstand berührte.

Das Thema, welches das volle Interesse der beiden Männer in Anspruch nahm, handelte von den betrübenden, unheilbringenden Vorgängen in Straßburg, in dessen Mauern ebenfalls das Gespenst der Revolution tobte. Genau nach dem Vorbilde, wie es Paris gegeben hatte, war im halb verwelschten Elsaß der Adel abgeschafft und der Klub der Jakobiner gegründet worden, deren Herrschaft immer gewalttätiger und blutiger wurde.

»Ich habe dies alles kommen sehen«, äußerte der Graf, ein Mann von etlichen vierzig Jahren und ein glühender Royalist, zu seinem Begleiter. »Fern sei es von mir, die Verdienste Ihres Freundes Dietrich zu bestreiten, dennoch gab er durch seine allzu große Freiheitsliebe den Antrieb zu der Schreckensherrschaft, die jetzt über Straßburg und das Elsaß hereinbricht.«

Friedrich von Dietrich war ein Enkel jenes ehrenwerten und doch so unglücklichen Mannes gleichen Namens, der, als letzter deutscher Ammeister, den Fall von Straßburg hatte erleben und die Kapitulationsurkunde unterschreiben müssen. In den Adern seines Enkels Friedrich verleugnete sich das deutsche Blut; er fühlte und dachte vielmehr als Franzose, weshalb er denn auch im Jahre 1789 von Versailles, wo er eine Hofstelle bekleidete, als königlicher Kommissar nach Straßburg entsandt worden war, das mit seiner Landumgebung noch immer nicht so verwelscht erschien, wie man es in Paris wünschte. Zwar hatte das Elsaß alle Fühlung mit Deutschland verloren, die alte Muttersprache aber war geblieben, namentlich auf dem Lande, wo man von den fremden französischen Lauten nichts wissen wollte.

»Das Volk im Elsaß«, fuhr der Graf im Gespräche mit dem Bankier fort, »ist noch nicht reif genug für eine konstitutionelle Monarchie, wo wichtigere Regierungsbeschlüsse an die Zustimmung der Volksvertretung gebunden sind. Dietrich war ein eifriger Anhänger dieser Neuerung, die selbstverständlich die untern Schichten der Bevölkerung in ehrgeizigster Weise kitzelte. Als Baron Dietrich vor drei Jahren zum Maire von Straßburg gewählt wurde, sonderte ich mich mit meiner Partei sofort von seinen vielen Freunden ab. Man schmähte mich deshalb, ich bekam so manches harte Wort zu hören, selbst von Ihnen, Herr Türckheim.«

»Wer hätte aber auch denken können,« suchte sich der Bankier zu entschuldigen, »daß die Dinge in Straßburg eine so schlimme Wendung nehmen und die Jakobiner den Sturz meines vortrefflichen Freundes herbeiführen würden?«

Der Graf lachte grimmig in sich hinein und rief mit großer Lebhaftigkeit: »Seit dem Tage, wo Ihr vergötterter Maire einem Manne, wie Eulogius Schneider, die Einladung, sich in Straßburg anzusiedeln, überschickte, sah ich die Katastrophe voraus. Der Zufall hatte es gewollt, daß ich von der Vergangenheit dieses Straßburger Robespierre durch auswärtige Freunde unterrichtet war. Ich wußte, daß dieser verhaßte Deutsche zwar eine gute Erziehung genossen, trotzdem aber eine leichtsinnige Jugend hinter sich hatte, und daß er, in einer Anwandlung von Reue, zu Bamberg in den Orden der Franziskaner eingetreten war. Der Widerspruch, der zwischen dieser Handlung und dem früheren leichtfertigen Leben lag, trat bald zutage. Der Priester Schneider entwickelte immer mehr und mehr Freiheitsideen, er geriet mit der Theologie in Konflikt und sagte sich schließlich von dem Franziskanerorden wieder los. Ich habe einen Brief von dem Kurfürsten von Köln, worin der hohe Herr mir schreibt, daß er Schneider, der inzwischen Professor in Bonn geworden war, seiner revolutionären Ideen halber seines Amtes wieder entsetzt habe. Was aber tat Euer Freund Dietrich? Er lud diesen Störenfried der bürgerlichen Ordnung, dessen sich seine eigenen deutschen Landsleute entäußerten, nach Straßburg ein. Hätte er freilich geahnt, daß Schneider nur zu bald sein grimmigster Feind und ein glühender Jakobiner werden würde, so wäre die folgenschwere Einladung sicherlich unterblieben.«

»O, Sie haben leider nur zu recht«, versetzte der Bankier Türckheim schmerzlich. »Noch vor Jahresfrist würde niemand geglaubt haben, daß ein Ehrenmann wie Dietrich, der nur das Beste der Stadt gewollt hat, und den ihre Bewohner auf alle erdenkbare Weise geehrt haben, daß ein solcher Mann durch Intrige und niedrige Verleumdungen gestürzt werden könne!«

»Sie haben gesehen, daß sich Schneider mit seinem Anhang damit nicht zufrieden gegeben haben«, lächelte der Graf höhnisch. »Dietrich wurde von der Nationalversammlung in Anklagezustand versetzt und würde unter der Bedeckung von Gendarmen nach Paris gebracht worden sein, hätte er sich nicht dieser Schmach durch die Flucht entzogen.«

»Er war aber Ehrenmann genug, sich wenig Monate später freiwillig in Hüningen zu stellen«, fiel Türckheim rasch ein.

»Und welche Vorteile hatte er davon?« fragte der Graf, mitleidig die Achseln zuckend. »Er wurde von dem Flügeladjutanten des Hüninger Kommandeurs nach Paris gebracht und dort ins Gefängnis der Abtei gesetzt, um nach einigen Wochen nach Straßburg zurückgebracht und abermals eingesperrt zu werden.«

»Vergessen Sie doch ja nicht die Beweise treuer Anhänglichkeit und Verehrung, die dem ehemaligen Maire während seiner Haft zuteil geworden sind!« rief Türckheim und zügelte gewaltsam sein Roß. »Nicht nur strömten seine Anhänger und Freunde tagtäglich zu ihm ins Gefängnis, nicht nur sahen es die Frauen gebildeter Stände als eine Ehre an, für den Gefangenen die Speisen zu bereiten, sondern eine Anzahl Nationalgardisten bildete beim Auftauchen des Gerüchts, daß Dietrichs Leben bedroht sei, in der Nähe des Gefängnisses für ihn eine Sicherheitswache, ja die Häupter der gemäßigten Partei ließen ihm durch Waisenkinder, denen der ehemalige Maire viel Gutes erwiesen hatte, eine Adresse überreichen, in welcher sie ihrem Schmerze über seine Verfolgung und ihrem Abscheu gegen seine Feinde Ausdruck verliehen.«

»Was nützen alle Ehrenbezeigungen, wenn das Leben durch eine mächtige Partei bedroht wird?« äußerte geringschätzig der Graf. »Die Straßburger Jakobiner wußten es beim Pariser Nationalkonvent durchzusetzen, daß Dietrich nach Besançon gebracht wurde, um dort gerichtet zu werden.«

»Vor ein paar Tagen aber erhielt ich die frohe Kunde, daß mein armer Freund durch die Geschworenen des peinlichen Gerichts zu Besançon von der gegen ihn ergangenen Anklage freigesprochen worden sei, und eben dieser glückliche Ausgang veranlaßte mich, eine Versöhnung mit Ihnen, Herr Graf, anzustreben. Gehen auch unsere politischen Anschauungen auseinander, so sind wir doch gemeinsam Freunde der Ordnung und guten Sitte. Als solche aber müssen sich unsere Parteien vereinigen, um gegen den blutgierigen Feind, die Jakobiner, zu Felde zu ziehen. Darauf schlagen Sie ein!«

Damit bot er seine Rechte dem Grafen dar, der ziemlich kühl den warmen Druck erwiderte.

»Hoffen wir,« fügte er in gemessenem Tone hinzu, »daß der Freisprechung Dietrichs nicht eine neue Anklage folge. Noch möchte ich für die Sicherheit seines Kopfes nicht einstehen.«

»Hoffen wir das Beste, mein Freund!« rief der erregte Türckheim. »Die Gegenwart ist so überaus traurig, daß man von der Zukunft ein besseres Los erwarten darf. Mein Himmel, wenn ich bedenke, was der an und für sich kurze Raum eines Jahres nicht alles umzugestalten vermag! Wie Sie wissen, gestattete das reiche Einkommen Dietrichs eine luxuriöse Haushaltung. Seine Gemahlin, eine begüterte Baselerin, lebte gern in Gesellschaft, und ihre Salons waren gesucht. Ich habe köstliche Stunden dort verbracht, mit besonderer Vorliebe gedenke ich aber eines Abends im April des vorigen Jahres. Die Kriegserklärung Frankreichs an Österreich war soeben erfolgt, und dieses Thema wurde natürlich im Salon der Madame Dietrich auf das vielfältigste verhandelt. Unter den Anwesenden war auch ein junger Artillerieoffizier, Rouget de l'Isle geheißen, der zur Zeit der Straßburger Besatzung angehörte. Er verlieh der patriotischen Begeisterung einen überaus beredten Ausdruck, indem er ein von ihm selbst verfaßtes Gedicht aus plötzlicher Inspiration in Musik setzte und unter dem Beifall der Gesellschaft sang. Seit jenem Abend hat das Lied seinen Weg durch ganz Frankreich gemacht. Sie kennen es ja:

» Allons, enfants de la patrie,
Le jour de gloire est arrivé.
«

»Die Marseillaise«, nickte Graf d'Haunaigue, und abermals spielte ein ironisches Lächeln um seine Lippen. »Es ist nur eigentümlich, daß der französische Dichter sich zu seinem Liede eine deutsche Melodie ausersehen hat.«

Türckheim sah den Sprecher verwundert an, der fortfuhr:

»Vor etwa sechzehn Jahren berührte ich auf einer Reise die Kurpfalz und wohnte dort in der Hauptstadt einem Gottesdienste bei, zu dessen Feier der Hofkapellmeister Holzmann eine neue Messe komponiert hatte, sicherlich ohne sich träumen zu lassen, daß der Satz seines ›Credo‹ so und soviele Jahre später den weltlichen Worten eines revolutionären Sturmliedes brausende Fittiche zu leihen bestimmt war. Sie ersehen daraus am besten, mein verehrter Freund, daß unter dem gegenwärtigen Regime in Frankreich alles möglich wird.«

Das Gespräch fand hier seinen Abschluß, denn Türckheim verfiel in ein düsteres Nachsinnen, in welchem ihn der Graf um so weniger störte, als auch ihm allerlei Gedanken über den gegenwärtigen schlimmen Stand der Dinge durch den Kopf gingen. Unwillkürlich gaben die beiden Reiter ihren Rossen die Sporen, so daß es nunmehr in scharfem Galopp auf Straßburg zu ging. Man hatte sich der altehrwürdigen Stadt bis auf Schußweite genähert, als Türckheim, mit der rechten Hand die Augen beschattend, plötzlich begann:

»Täuscht mich das matte Licht des Morgens, oder ist das Kreuz vom Münsterturm verschwunden?«

Der Graf folgte mit seinen Blicken der angegebenen Richtung und erwiderte dann in großer Erregung:

»So wahr ich lebe, das christliche Kreuz ist gegen die Jakobinermütze vertauscht worden! Während Ihrer Abwesenheit, Herr Türckheim, scheinen in Straßburg wichtige Dinge vorgefallen zu sein.«

Die Befürchtung traf leider nur zu sehr ein, wie die beiden Reiter alsbald erfahren sollten.

Pöbelhaufen zogen lärmend und Revolutionslieder singend durch die Straßen, doch verfolgten alle ein und dasselbe Ziel, nämlich den Paradeplatz, wo während der letzten Nacht die in ganz Frankreich eingeführte Guillotine auf hohem Schafott errichtet worden war.

Unsere beiden Reiter, deren Erstaunen immer mehr wuchs, ließen sich willenlos von dem Menschenstrome fortreißen und erfuhren auf dem Wege nach dem Paradeplatz, daß Schneider bei dem Pariser Konvent die Einführung von Revolutionsgerichten im Elsaß durchgesetzt habe, aus seiner bisherigen Stellung als bischöflicher Vikar geschieden und von dem neuen Maire Monet zum öffentlichen Ankläger ernannt worden sei. Der Graf warf einen vielsagenden Blick auf Türckheim, der schwer aufseufzte. Beide Männer kannten die kurze Prozeßart der blutigen Revolutionsgerichte, deren Urteil entweder auf Tod oder Verweisung aus dem Lande lautete. Eulogius Schneider hatte nunmehr sein Ziel erreicht und konnte in der Eigenschaft eines öffentlichen Anklägers einen jeden, der ihm lästig erschien, dem Tribunal überliefern. Niemand konnte sich jetzt mehr sicher fühlen, und das drohende Fallbeil der Guillotine hing als Damoklesschwert über den Häuptern der Straßburger.

Am heutigen Morgen sollte die feierliche Einweihung der Guillotine erfolgen. Zum Opfer waren drei junge Burschen aus der Ortschaft Molsheim ausersehen worden, da sie gegen die Beschlüsse des Munizipalrats rebelliert hatten.

Eine starke Militärabteilung bildete um das Blutgerüst ein Viereck und hatte genügend zu tun, die unübersehbare, drängende Menge kräftig abzuwehren, denn aus allen Ortschaften der Nachbarschaft waren die Einwohner heute nach Straßburg geströmt, um Zeugen des noch ungewohnten blutigen Auftritts zu werden. Doch nicht nur auf dem Paradeplatze selbst drängte sich das Volk, sondern auch die Fenster und die Dächer der umstehenden Häuser waren mit einer neugierigen Menschenschar besetzt. Diese signalisierte von ihrem hohen Standpunkte aus zuerst das Herannahen des Zuges mit den drei Verurteilten, die, um einen tiefern Eindruck auf das Volk zu erzielen, in eine Art von Traueranzug gesteckt worden waren, das heißt schwarze Binden umhüllten ihre Hemdärmel, und ein Flor zog sich über ihre weiße Kopfbedeckung.

An der Spitze des düstern Zuges ritt ein wild aussehender Mann von mittlerer Größe, zu dessen blauem Überrock der Nationalgarde die rote polnische, mit schwarzem Pelz verbrämte Mütze schlecht paßte. Er hatte sie möglichst ungeniert auf das unschöne Haupt gestülpt, von dem langes, schwarzes Haar straff herniederhing. In dem blatternarbigen Antlitz blitzten unter buschigen, rötlichen Brauen zwei kleine Augen, während der große Mund fortwährend zu lächeln schien und einen spöttischen, satirischen Geist verriet. Ein langer Knebelbart, wie ihn die Republikaner zu tragen pflegten, erhöhte nur noch die Häßlichkeit der Gesichtszüge.

Im Zigeunerlager.

Viele Häupter entblößten sich demütig, als der blatternarbige Mann vorüberritt. War er ja doch der von der gesamten Einwohnerschaft gefürchtete Eulogius Schneider, der im Verein mit dem Maire Monet, der ebenfalls dem Klub der Jakobiner angehörte, die Macht in Händen hatte und über Leben und Tod willkürlich zu bestimmen wagte.

Am Schafott angelangt, machte der Zug Halt, und eine der Kreaturen Schneiders, der Schuster Jung, verlas, in seiner Stellung als Munizipalbeamter, mit lauter Stimme das Todesurteil. Mutig bestiegen die drei ersten Schlachtopfer der Revolution im Elsaß das Blutgerüst, und nach dem jedesmaligen Fallen des Beils hob der Scharfrichter das blutige Haupt des Gerichteten in die Höhe, als ein Warnungszeichen für das Volk. Von ein paar Seiten erscholl zwar der Ruf: »Es lebe die Republik!« – im großen und ganzen aber herrschte tiefe Stille. Die Straßburger Bürgerschaft zeigte besorgte Mienen, denn es stieg in ihr die dunkle Ahnung auf, daß nach diesem auf dem Schafott in Straßburg vergossenen Blut der drei Elsässer noch anderes Bürgerblut fließen werde in dem harten Kampfe, den der neue Freistaat zu bestehen hatte.

Noch an demselben Vormittage wurden auf Schneiders Befehl zahlreiche Verhaftungen vorgenommen. Er hatte eine Liste anfertigen lassen, welche die Namen der ihm verdächtig erscheinenden Personen enthielt, und es fiel ihm bei seiner Machtstellung nicht schwer, unter irgendeinem Vorwande die erkorenen Opfer verhaften zu lassen.

Der Graf d'Haunaigue stand auch auf dieser Liste, zumal da er kein Hehl daraus machte, daß ihm die Willkürherrschaft der Jakobiner verhaßt sei. Bisher war er indessen den ihm von Schneider und seinem Anhange gestellten Fallen geschickt ausgewichen. Der öffentliche Ankläger hatte ihn und Türckheim unter der zur Hinrichtung herbeigeströmten Menge bemerkt. Nach der Exekution ritt er auf das Paar zu und sagte mit unheimlich leiser Stimme und funkelnden Augen:

»Es wird Euch freuen, Bürger Haunaigue und Türckheim, daß ihr demnächst Gelegenheit erhaltet, euch als gute Patrioten zu erweisen. Ich kenne eure wohlwollenden Gesinnungen gegen mich und die Sache des Vaterlandes, seid daher gewiß, daß ich euer nicht vergessen werde.« Nach diesen Worten lenkte er sein Pferd ab und sprengte davon.

Die doppelsinnigen Worte des Jakobiners verfehlten weder auf den Grafen noch auf den Bankier ihre Wirkung, und in schwerer Sorge um die Zukunft trennte sich das Paar.

Der Graf d'Haunaigue begab sich, ehe er die Stadt verließ, nach dem ehrwürdigen Münster, um dort als ein guter Katholik seine Andacht zu halten und Gott in heißem Gebete anzuflehen, der blutigen Herrschaft der Jakobiner ein Ziel zu setzen. Als er den Dom wieder verließ, gesellte sich ihm der alte Mesner bei, dem er gewöhnlich eine kleine Gabe zukommen ließ. Der Greis sah heute ungewöhnlich bleich aus und zitterte. Auf die Frage des Grafen, was ihm fehle, antwortete er gepreßt:

»Es geht mit mir zu Ende, Herr, und ich möchte auch gar nicht länger mehr leben, da es in kurzem hier in Straßburg keine Religion und kein Gotteshaus mehr geben wird.«

Der Graf blickte den Sprecher in fragender Verwunderung an, und der Mesner fuhr fort:

»Vor einigen Tagen war der Eulogius Schneider mit seinem Anhange hier, um sich wegen des herrlichen Münsterturmes zu beraten, dessen Höhe ihnen Ärgernis gegeben hat. Er überragt alle Gebäude der Stadt, das ist eben bei den Jakobinern eine Todsünde, die das Wort ›Gleichheit‹ zu ihrem Wahlspruche erkoren haben. Deshalb beschlossen sie auch, den Münsterturm abtragen zu lassen, um den widerlichen Anblick eines die andern überragenden Gebäudes zu beseitigen.« Der zornige Ausdruck des Grafen verlieh dem Greise neuen Mut, und er berichtete ihm daher jetzt mit lauterer Stimme, daß Erwins Bau den Mauerbrechern widerstanden habe und nur das Kreuz oberhalb der Krone verstümmelt worden sei.

»Der alte Riese hat den Jakobinern seine Kraft gezeigt«, lächelte der Mesner triumphierend und rieb sich die magern Hände. »In ihrer ohnmächtigen Wut haben sie ihm freilich einen Schimpf angetan und eine riesige, rot angestrichene Freiheitsmütze von Blech auf das verstümmelte Kreuz gesetzt, aber ich bin gewiß, daß sich der Steinbau noch stolz in die Lüfte erheben wird, wenn die Jakobiner samt ihren roten Mützen schon längst vermodert sind. Mich drückt jetzt nur eine schwere Sorge; ich habe nämlich aus einigen Äußerungen dieser Unmenschen entnommen, daß sie damit umgehen, den Gottesdienst abzuschaffen, die Kunstdenkmäler der Kirchen zu zerstören und in den geweihten Räumen die menschliche Vernunft zur Göttin zu erheben.«

»Vor einem solchen grauenvollen Frevel bewahre uns der Himmel!« rief der Graf mit Abscheu, drückte dem Mesner ein Goldstück in die Hand und stieg zu Rosse.

Etwa um die nämliche Stunde, wo d'Haunaigue der Stadt den Rücken wandte und nach seinem Bergschlosse zurückritt, langten in der Mairie zwei Männer an, die von dem Pariser Konvent als außerordentliche Kommissare nach dem Elsaß entsandt und mit den ausgedehntesten Vollmachten versehen worden waren. Sie nannten sich Saint-Just und Lebas und gehörten zu den vertrautesten Freunden Robespierres. Einer ihrer Hauptzwecke ging dahin, den öffentlichen Geist im Elsaß zu beobachten, die Beamten einer strengen Kontrolle zu unterwerfen, den Verschwörungen der aristokratischen Gegenpartei nachzuspüren und den französischen Geist im Elsaß zu fördern.

Monet begegnete den beiden Gewalthabern überaus freundlich und erfuhr von ihnen, daß sie die Spur zweier Flüchtlinge entdeckt hätten, auf deren Habhaftwerdung der Konvent einen namhaften Preis gesetzt habe.

»Der eine der Flüchtigen ist ein junger Österreicher,« fuhr der beredte Saint-Just fort, »der wahrscheinlich im Interesse seiner Regierung zu Paris spioniert hat und seinen Weg nur deshalb durch das Elsaß nimmt, um Straßburg den Emigranten und der Rheinarmee, die ja beide an der Grenze lauern, in die Hände zu spielen. Er begleitet ein zehnjähriges, als Knabe verkleidetes Mädchen, die Tochter der Marquise de Bruneville, deren Gemahl Ludwig Capet auf dem Schafott gefolgt ist. Als Lebas und ich von Paris abreisten, wurde auch die Marquise verhaftet, und ihr Haupt dürfte inzwischen unter der Guillotine gefallen sein. Das Palais ward streng visitiert und kein Winkel undurchsucht gelassen, da dem Konvent viel daran lag, einige wichtige Dokumente zu bekommen, sowie einen Brief Marie Antoinettes, den sie – wie uns Spione hinterbracht haben – im Temple an den österreichischen Kaiser geschrieben hat. Alle Nachforschungen blieben jedoch ohne Erfolg, und der Konvent ist jetzt überzeugt, daß die Papiere von den beiden Flüchtlingen mitgeführt werden.«

»Sie sollen nicht entwischen, wenn Bürger Saint-Just mir ihre Spur anzugeben vermag«, versetzte Maire Monet mit großer Entschiedenheit.

Die beiden Kommissare teilten ihm nun mit, daß sie die Mietkutsche der Flüchtlinge wenige Stunden vor Straßburg in der Ferne bemerkt hätten. Das Gefährt sei ihnen jedoch bei einer Biegung des Weges wieder aus den Augen gekommen, indessen unterliege es keinem Zweifel, daß die Verfolgten bereits in der nächsten Nacht den Versuch wagen würden, die Rheinbrücke zu passieren.

Monet versprach, die nötigen Maßnahmen zu treffen, um des Paares habhaft zu werden.

Eine Stunde später erschien vor dem gestrengen Maire, dessen Amtstracht eine runde Jacke, die Carmagnole, war, ein wettergebräunter Mann, der im Anfang der Vierziger stehen mochte, und dessen Tracht den Zigeunerhäuptling verkündete. Monet hatte ihn schon zu wiederholten Malen in Straßburg gesehen und sich vorgenommen, bei günstiger Gelegenheit ihn anzureden, denn bei dem Stand der Dinge konnte man die Bande zur Spionage sowie zur Verstärkung des Pöbels brauchen, der sich vor allen für die republikanischen Grundsätze begeisterte. Mit großer Freundlichkeit fragte Monet den Zigeuner daher nach seinem Begehren.

»Unsere Wintervorräte sind aufgezehrt, Bürger,« entgegnete der Häuptling, »wir hungern und frieren und haben nur einen rettenden Ausweg, um aus dieser Not zu kommen.«

Er blinzelte listig den Maire an, der unwillkürlich über die pfiffige Miene lachen mußte und den Zigeuner aufforderte, ihn von seinem Vorhaben in Kenntnis zu setzen.

»Ich will es tun, Bürger,« nickte der Häuptling, »obgleich die Mairie kein Beichtstuhl ist und Ihr kein frommer Pater seid. Wie Ihr wißt, ernähren wir uns redlich durch Pferdehandel, Tierheilkunst und Wahrsagerei; nur im Frühjahre, wenn der Winter uns wieder arm gemacht hat, beginnt's uns in den Fingern zu jucken, der Wandertrieb erwacht, und« –

»Und ihr zieht aus, um die Taschen anderer Leute zu erleichtern«, vollendete Monet lachend, während der Zigeuner die Hände faltete und eine Armesündermiene heuchelte.

»Wahrlich, so ist's, Bürger,« räumte der Häuptling ein, »und es bietet sich uns jetzt eine herrliche Gelegenheit, da drüben, über dem Rheine, im badischen Lande. Drei Tage würden genügen, uns für ein paar Jahre wieder flott zu machen.«

»Ei, so geht doch hinüber!«

»Wir dürfen ja nicht,« widersprach der Zigeuner in weinerlichem Tone, »denn sonst würden wir als Emigranten angesehen werden, und ach, in Frankreich lebt es sich so schön!«

Der schlaue Patron wußte recht gut, daß er durch diesen Ausspruch den Nationalstolz Monets kitzelte, der ihm auch ohne Zögern einen Passierschein ausstellte, der für die ganze Bande galt.

Der närrische Häuptling tanzte vor Freude und wandte sich zum Gehen.

»Du sollst in mir stets einen nachsichtigen Maire finden,« rief Monet ihm nach, »wenn du und dein Stamm uns als echte Patrioten dienen!«

»Bürger, das soll geschehen!« rief der Zigeuner, zügelte seine Schritte und sann eine kurze Weile nach. Plötzlich kehrte er zu Monet zurück und rief, mit der geballten Rechten in die flache Linke schlagend: »Ihr sollt gleich einen Beweis von meiner Anhänglichkeit erfahren, es ist zwar nicht viel, was ich erkundschaftet habe, aber Ihr seht doch daraus meinen guten Willen.«

»Komm zur Sache!« drängte Monet.

»Heute erschien ein Fremder, mit einem Knaben an der Hand, in unserm Lager; er teilte mir mit, daß er aus Paris käme, und dem Wagen, den er in einiger Entfernung stehen gelassen hatte, sah man auch die weite Reise an.«

Der Maire lauschte jetzt gespannt den Worten des Erzählers, der ruhig fortfuhr:

»Der Fremde suchte mich über den Weg auszuforschen, den er nehmen müsse, um das rechte Rheinufer zu erreichen. Ich aber war schlauer als er und gab ihm ausweichende Antworten. Da endlich zog er eine dicke Brieftasche hervor, die mit Assignaten gefüllt war –«

»Befanden sich nicht auch Dokumente darin?« unterbrach ihn Monet hastig.

»I ja, ich glaube wohl. Er händigte mir ein paar dieser Banknoten ein und bat mich, ihm mitzuteilen, wie er es wohl anzustellen habe, um während der nächsten Nacht glücklich über den Rhein zu kommen.«

»Aha ... aha!« rief Monet triumphierend. »Wie lautete deine Antwort?«

»Bürger,« erwiderte der Häuptling und kratzte sich das bärtige Kinn, »ich würde ihm vielleicht den richtigen Weg beschrieben haben, wenn seine Belohnung nicht so winzig ausgefallen wäre. So aber bekam ich einen Mordszorn und – hahaha – sagte ihm, er möge nur diese Nacht, Punkt zwei Uhr, zu dem Hagenauer Tore hereinschleichen und sich dann nach Morgen zu wenden, so werde er an eine Überfahrtsstelle des Rheins gelangen. Er dankte mir kurzweg und verließ mit seinem Knaben unser Lager.«

Monet drehte an seinem langen, bis zum Kinn reichenden Schnurrbarte und entließ den Zigeuner mit den Worten:

»Du hast, ohne es zu wissen, der Republik einen wichtigen Dienst geleistet, der dir nie vergessen werden soll. Bleibe uns mit deinem Stamme so treu gesinnt.«

Unter einer Menge von Kratzfüßen verließ der Häuptling die Mairie, und der pfiffige Ausdruck seines Gesichts nahm noch zu, als er aus der Brusttasche einen kleinen zierlichen Ring hervorholte und den wertvollen Stein in der Sonne blitzen ließ ...

Die Dämmerung hatte sich eben über die Stadt gesenkt, als durch das Spitteltor das lustige Zigeunervölkchen einzog, natürlich in Begleitung seines Häuptlings, der mit komischer Grandezza den herumschnüffelnden Munizipalbeamten, unter denen sich namentlich der Schuster Jung hervortat, den Passagierschein des Maires vorzeigte. Die Unterschrift Monets übte einen eigenen Zauber auf die Rotmützen aus, und ihr herrisches, brutales Benehmen schlug in plötzliche Freundlichkeit um; sie schienen zu erkennen, daß die Zigeuner zu ihren Bundesgenossen gehörten, denn das sonst in politischen Dingen so gleichgültige Volk bekannte heute Farbe und brach sehr häufig in die stürmischen Rufe aus: »Es lebe die Republik!«

Der Schuster Jung, ein gedrungenes Männchen mit gemeinen Gesichtszügen, blickte der nach der Schiffbrücke ziehenden Bande mit großem Interesse nach und äußerte sodann zu seinen Amtsgenossen:

»Der Bürger Monet hat einen feinen Geist, und vor seiner Schlauheit müssen wir uns beugen. Ihm allein ist es gelungen, die Zigeuner auf unsere Seite zu bringen. Ich bin gewiß, daß diese Bundesgenossen uns vortreffliche Dienste leisten werden, namentlich in den Dörfern, wo die Bauern von Freiheit und Gleichheit nichts wissen wollen.«

Jung sollte bald noch einen weitern Beweis von Monets Schlauheit erhalten; der Schuster gehörte nämlich mit zu den Auserwählten, denen der Maire über die Flucht Edelbecks und seines kleinen Schützlings genauere Mitteilung machte und den Befehl erteilte, mit einer starken Wache das Innere des Hagenauer Tors zu besetzen, um des Paares habhaft zu werden. Der größern Vorsicht halber verstärkte Monet auch die übrigen Torwachen und gab allen die gemessene Weisung, jedermann anzuhalten, der während der Nacht eines der Tore passieren würde, und bis zum nächsten Morgen, wo ein Verhör auf der Mairie stattfinden sollte, in strengem Gewahrsam zu halten.

Mit wahren Argusaugen wurde in dieser Nacht Straßburg bewacht. Endlich erschien der Morgen, und bald nahte auch die Stunde, wo die an den Toren verteilten Munizipalbeamten dem Maire Bericht zu erstatten hatten. Gegen alles Erwarten Monets erschienen sie mit leeren Händen, denn niemand war während der Nacht durch eines der Tore gekommen. Alle Vorkehrungen, die Monet im Verein mit den beiden Kommissaren nunmehr anordnete, blieben ohne Erfolg – die beiden Flüchtlinge ließen sich nirgends blicken und schienen vom Erdboden verschwunden zu sein. Die Zigeuner kehrten von ihrem Raubzuge aus dem Badischen zurück, und der Häuptling zeigte große Verwunderung, als er von Monet das Nähere erfuhr. Er gelobte dem Maire indessen, seine ganze Macht und Ortskenntnis anwenden zu wollen, um das Versteck der beiden Flüchtlinge zu erforschen.

Das genügte dem Maire, und die Angelegenheit war damit vorläufig abgetan, zumal da andere, noch wichtigere Dinge die Zeit der Gewaltherrscher Straßburgs in Anspruch nahmen. Die Bilder wechselten rasch, und ein Verhängnis jagte das andere.


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