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Sechstes Kapitel.
Dämmerungen

»Trennt das Geschick des großen Bundes Glieder,
So reichet euch die treue Bruderhand!
Noch einmal schwört's, ihr, meine deutschen Brüder:
Dem Bunde treu und treu dem Vaterland!«

Im Salon des Bankiers Cerf befand sich Besuch, und zwar ein langer, hagerer Mann, dessen eisgrauer Schnurrbart den ehemaligen Militär verkündete. Der Rittmeister Gerling gehörte, gleich Katte und Hirschfeld, zu jenen Offizieren, die aus der preußischen Armee entlassen worden waren; nur erfolgte der Abschied des Rittmeisters aus Gründen, die dem Gerücht nach nichts weniger als ehrenvoll gewesen waren. Alle Offiziere, die mit Gerling in Stendal wohnten, zogen sich von ihm zurück, und er führte ein ziemlich einsames Leben. Von Zeit zu Zeit reiste er nach Magdeburg, wo er mehrere Bekannte hatte, zu denen vor allem auch der Kommerzienrat zählte, in dessen Hause er bei solchen Besuchen regelmäßig abzusteigen pflegte.

Das Gespräch, das die beiden Männer heute miteinander führten, war sehr vertraulicher Art, denn Cerf äußerte:

»Sie werden mich eitel schelten, lieber Rittmeister, aber ich gestehe Ihnen offen, daß ich nach Ehren und Auszeichnungen geradezu lechze. Warum auch nicht? 's Vermögen ist ja da.«

Gerling nickte verständnisvoll.

»Einen Titel habe ich schon,« fuhr der Kommerzienrat fort, »jetzt sehne ich mich nur noch nach einem Adelsdiplom. Es klingt, wissen Sie, um vieles poetischer, wenn man sich nennen kann: von Cerf.«

»Natürlich,« pflichtete Gerling bei, »außerdem kann auf ein geadeltes Wild keine Jagd gemacht werden.«

»Sehr gut, ausgezeichnet!« rief der Bankier entzückt und klatschte in die Hände. »Wollen Sie glauben, lieber Rittmeister, daß ich gern hundert, nein, hundertfünfzig, sagen wir zweihundert Napoleondor opfern würde, wenn –«

»Selbstverständlich,« unterbrach ihn Gerling, »ein Adelsdiplom wäre mit dieser Summe durchaus nicht zu teuer bezahlt. Sie stehen in der Gunst Napoleons, der treue Dienste gern belohnt – machen Sie sich den Kaiser aufs neue verbindlich.«

»Aber wie? Wodurch?« seufzte der adelslustige Bankier.

»Durch irgendeine wichtige Mitteilung.«

»Gott der Gerechte!« rief Cerf und stürzte auf die Tür zu, die während der Rede des Rittmeisters aufgegangen war, um eine Dame hindurchzulassen. »Welch hohe Ehre für mein Haus, gnädigste Gräfin!« fuhr der Bankier unter tiefen Komplimenten und zahlreichen Handküssen fort. Dabei tauschte er mit seiner Frau, die den vornehmen Gast auf dem Vorsaale empfangen und in den Salon geleitet hatte, Blicke befriedigten Stolzes aus.

Louison teilte dem Kommerzienrat mit, daß sie sich entschlossen habe, ihren Besuch bei der Baronin Eschwege bis zum Frühjahr auszudehnen, von Zeit zu Zeit aber nach Magdeburg zu kommen, um sich mit ihren Landsleuten, den Siegern von Jena, in der französischen Muttersprache zu unterhalten.

»Frau Gräfin werden sehen, daß Ihr Entschluß in den hohen französischen Kreisen hier den größten Beifall finden wird!« rief der entzückte Cerf und führte in seiner Galanterie einen Pas nach rückwärts aus, wobei er jedoch dem Rittmeister höchst unsanft auf die Füße trat. »Meine Frau«, fügte er etwas verwirrt hinzu, »würde es sich zur größten Ehre schätzen, die Frau Gräfin mit den Honoratioren dieser Stadt näher bekannt zu machen.«

Louison nahm das Anerbieten an, schlug dagegen eine Einladung des aufdringlichen Bankiers, in seiner »elenden Hütte« ihr Quartier aufzuschlagen, mit der Bemerkung ab, daß sie es liebe, auf dem neutralen Boden eines Gasthauses zu bleiben.

Cerf hatte recht gehabt; die französischen Familien Magdeburgs waren über ihre junge, schöne Landsmännin entzückt, und man machte sich in Einladungen den Rang streitig. Im Hause des Generals Michaud verkehrte die Gräfin mit besonderer Vorliebe, da der alte Herr viel über Napoleons Absichten plauderte und bei dieser Gelegenheit ganz natürlich bedeutend aus der Schule schwatzte, bis seine um vieles jüngere Gemahlin der Plauderhaftigkeit ein Ziel setzte. Auch Raoul d'Haunaigue lernte die Gräfin in dem Kreise Michauds kennen, doch verhielt er sich ihr gegenüber sehr kühl, da sie es gewagt hatte, ihm öffentlich zu widersprechen. Michaud gab nämlich eine große Abendgesellschaft, zu der nur höhere französische Offiziere und Beamte eingeladen worden waren. Während des Tischgespräches ließ man die deutsche Bevölkerung Magdeburgs Revue passieren, und so kamen denn auch Hirschfeld und Johannes an die Reihe.

Der erste fand in Michaud seinen Lobredner, während über Johannes von Raoul der Stab gebrochen wurde. Die Gräfin nahm sich des Geschmähten an, indem sie d'Haunaigue nach den Gründen fragte, die ihm die Berechtigung zu diesem lieblosen Urteile verliehen.

»Sein Familienname«, gab Raoul in heftiger Aufwallung zurück, »genügt einem Elsässer, wie mir, um in ihm einen Franzosenfeind zu erblicken. Der Kaiser hat keine erbitterteren Gegner als diese Ratbods.«

Diese Äußerung eines kaiserlichen Günstlings übte auf alle Anwesenden ihre Wirkung, und Moisez betrachtete von diesem Augenblick an Johannes mit mißtrauischen Blicken. Louison gab sich die größte Mühe, den bösen Leumund zu entkräften, allein das von der Gesellschaft gegen den Fremden gefaßte Vorurteil blieb bestehen.

Zum Glück erfuhren Hirschfeld und Johannes von der Gräfin alles wieder und trafen ihre Maßnahmen danach. Johannes wurde vorläufig nach Stendal zu Katte geschickt; auf diese Weise kam er dem mißtrauischen Moisez aus den Augen. Der Hauptmann verkehrte jetzt viel auswärts und unternahm Streifzüge nach der Altmark, wo viele alte Soldaten lebten, die ehemals dem Regimente Kattes angehörten. Diese Getreuen suchte er nach und nach auf, und es kostete ihn keine Mühe, sie zu überreden, da sie ihm blindlings vertrauten.

Johannes verkehrte während der Anwesenheit Kattes nur mit ein paar Offizieren, dem Hauptmanne von Felsingen und dem Leutnant Tempsky, die zu den Bundesgenossen gehörten und ebenfalls Mannschaften heimlich anwarben, und die Abende brachte Johannes meist im Familienkreise des biedern Bilang zu, der Kattes Hauswirt und seiner Profession nach Zinngießer war. Die vielen Mußestunden, über die jetzt Johannes verfügte, stimmten ihn zu einem ruhigen Nachdenken. Er fühlte, daß er die Eltern von allem unterrichten müsse, ohne dabei seinen Bundesgenossen den Eid der Verschwiegenheit zu brechen. Die Zeit der vaterländischen Begeisterung begann in Deutschland zu dämmern, und Johannes gehörte zu der mutigen Schar, die gern Blut und Leben opferte, um das geliebte Vaterland von dem tyrannischen Joche der Franzosen zu befreien.

Während Johannes sehnsüchtig auf die Antwort der Eltern wartete, entwickelte Hirschfeld in Magdeburg eine außerordentliche Tätigkeit. Durch den Unteroffizier Wolf hatte er die Bekanntschaft des Bürgermeisters der Neustadt gemacht, dessen Herz treu für das Vaterland schlug. Der Ehrenmann, begeistert von dem Plane Hirschfelds, führte ihm alsbald andere zuverlässige Männer zu, unter denen der Kammerreferendarius von Gottschalkowsky, der Baukondukteur Butz und Körners Schwiegersohn, der Leutnant Polstern, bedeutende Rollen spielten. Im Körnerschen Hause kam man an bestimmten Abenden der Woche zusammen, um sich gegenseitig Mitteilungen zu machen. Hin und wieder nahm auch die Gräfin Lübbenau an diesen Beratungen teil, und die Schärfe ihres Geistes sowie ihre feine Beobachtungsgabe traten dabei so glänzend zutage, daß sich die Anwesenden glücklich schätzten, sie zur treuen Bundesgenossin zu haben. Sie war es auch, die den Bürgermeister Körner überredete, gut gesinnte Bürger der Neustadt zu werben und im Keller seines Hauses eine heimliche Waffenniederlage anzulegen.

Die Abschrift der königlichen Kabinettsorder, die Hirschfeld von Romberg erhalten hatte, wirkte über Erwarten und entflammte das deutsche Element in Magdeburg, die Ketten der Tyrannei bei der ersten Gelegenheit zu zerbrechen. Kurz, alles ging nach Wunsch, nur über eine Schwierigkeit vermochte Freund Hirschfeld nicht hinwegzukommen.

Um seinen Plan, Magdeburg von innen zu erobern, in Wirklichkeit ausführen zu können, bedurfte er der Schlüssel, welche die Tore der Festung öffneten. Seinen Nachforschungen gelang es, zu erfahren, daß während des Tages die heißersehnten Schlüssel in den verschiedenen Torwachtstuben hingen, wo man sich ihrer unmöglich bemächtigen konnte. Sobald die Tore abends geschlossen wurden, holte eine Patrouille die Schlüssel ab und brachte sie zum Gouverneur. Der Ort aber, wo Michaud sie aufbewahrte, blieb Hirschfeld trotz aller Bemühungen unbekannt. Um so größer war daher seine Freude, als die Gräfin Lübbenau ihm in seiner Ratlosigkeit zu Hilfe kam.

Es war einige Tage nach Rombergs Abreise, da erschien Gertrud in des Leutnants Zimmer und teilte ihm mit, daß eine vornehme Dame ihn zu sprechen wünsche. Hirschfeld ging mit dem Mädchen nach der Schraderschen Wohnstube, wo ihm die Gräfin Lübbenau entgegenkam. Sie wußte, daß der Leutnant vor dem Weinhändler und dessen Tochter keinerlei Geheimnis habe, deshalb rief sie dem Eintretenden sofort entgegen:

»Ich kenne jetzt den Platz, wo die Schlüssel zur Befreiung Deutschlands hängen!«

Hirschfeld zeigte ein freudiges Erstaunen.

»Es ist doch recht gut,« fuhr die Gräfin lächelnd fort, »daß die Herren der Schöpfung nicht ganz allein auf sich angewiesen sind, sondern treue Partnerinnen in dem sogenannten schwachen Geschlechts haben. Weibliche Schlauheit geht oft über männliche Stärke.«

»Oh, bitte, gnädigste Gräfin, spannen Sie mich nicht länger auf die Folter«, unterbrach sie der ungeduldige Hirschfeld.

»Ich war gestern abend in Michauds Hause zu Besuch. Der Gouverneur, der sonst ein sehr häusliches Leben führt, war ausnahmsweise in das Offizierkasino gegangen, und ich befand mich also mit seiner Gemahlin allein. Das Gespräch gab mir Gelegenheit, mich über die prächtige Wohnung Michauds zu äußern, und da ich sie nur zum Teil kannte, war die Dame des Hauses gefällig genug, mich in den Räumlichkeiten herumzuführen. So gelangten wir auch in des Gouverneurs Zimmer. Sie können sich denken, daß ich hier eine genaue Rundschau hielt, und richtig entdeckte mein Auge ein großes Bund mit Schlüsseln, das an der Wand, nicht weit von des Hausherrn Schreibtische hing. Auf meine scherzhafte Frage, ob der Gouverneur so viele verschließbare Kellerräume habe, teilte mir Madame Michaud mit, daß es die Schlüssel zu den Festungstoren seien. – Sind Sie jetzt zufrieden, Herr Leutnant?«

»Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet«, sagte Hirschfeld sich verbeugend. »Dennoch würde meine Dankbarkeit noch bedeutend zunehmen, wenn Ihr Scharfsinn, gnädige Gräfin, mir die Mittel und Wege angeben wollte, die Schlüssel in meine Gewalt zu bekommen.«

»Ich war auf diesen Wunsch gefaßt und habe deshalb schon im voraus meinen kleinen Kopf angestrengt. Sie sollen das Ergebnis sofort erfahren, zuvor ersuche ich Sie aber, mir mitzuteilen, wie lange Sie die verhängnisvollen Schlüssel zu behalten gedenken?«

»Nur auf so lange, als nötig ist, um von den Schlüsseln die Wachsabdrücke zu nehmen.«

»Vortrefflich,« nickte die Gräfin beifällig, »nur möchte ich nicht raten, einen der hiesigen Schlosser ins Geheimnis zu ziehen.«

Mit einem siegesgewissen Lächeln entgegnete Hirschfeld: »Der Mann, der für das Meisterstück ausersehen wurde, lebt zu Stendal und ist der Hauswirt meines Freundes Katte. Meister Bilanz war ehedem ein geschickter Schlosser und ist noch bis zur gegenwärtigen Stunde ein vortrefflicher Patriot.«

»Gut denn,« nahm die Gräfin ihre Mitteilungen wieder auf, »hören Sie weiter. Heute morgen hat es in Michauds Hause eine heftige Szene gegeben, weil der Gouverneur hinter verschiedene Veruntreuungen gekommen ist, die sich das Stubenmädchen zuschulden kommen ließ. Sie wurde sofort aus dem Dienste gejagt, und an uns, Herr Leutnant, ist es jetzt, für eine neue Magd Sorge zu tragen.«

Hirschfeld wußte die Bemerkung nicht zu deuten, er zuckte die Achseln und sah die Gräfin fragend an, die in ihrem lustigen Übermute fortfuhr:

»Wir müssen ein Mädchen auskundschaften, das sich herbeiläßt. Ihnen – gegen eine angemessene Belohnung – die Festungsschlüssel auf kurze Zeit zu verschaffen. Die Gouverneurin bedarf eines neuen Stubenmädchens und wird eine Person um so lieber nehmen, wenn sie von mir empfohlen wird. Die Belohnung jedoch, die Sie dem Mädchen bieten, darf nicht gering sein, da die Liebe zum Vaterlande bei einer Magd nicht in Betracht kommt und überhaupt schwerlich ein junges Mädchen das Wagnis aus Patriotismus unternehmen dürfte.«

»Und warum nicht, gnädige Gräfin?« rief eine begeisterte Stimme, und zum Erstaunen aller trat die bis jetzt so schweigsame Gertrud flammenden Antlitzes aus dem Hintergründe der Stube hervor. »In meinen Adem rollt das Blut meines Vaters, und in meiner Brust schlägt dasselbe treue Herz, das vor nichts zurückbebt, wenn dadurch das Wohl des Vaterlandes gefördert wird ... Ich werde dem Herrn Leutnant zu den Schlüsseln verhelfen.«

Die Anwesenden sahen das noch nicht fünfzehnjährige Mädchen hocherstaunt an, und Hirschfeld warf die Frage auf:

»Wie wolltest du dies Wagstück bestehen?«

»Auf die einfachste Art und Weise,« lautete die entschlossene Antwort, »indem die Frau Gräfin mich der Madame Michaud als Magd empfiehlt.«

»Gertrud, du wolltest dies wagen?« rief Hirschfeld. »Doch nein, das geht nicht, ich darf dich einer solchen Gefahr nicht aussetzen – zudem bist du noch zu jung!«

»Ich bin kein Kind mehr,« entgegnete das mutige Mädchen mit großer Entschiedenheit, »ich bin die Tochter meines Vaters, nach dessen Sinn ich handle. Die Leidenszeit des deutschen Volkes muß endlich ihr Ende erreichen.«

»Komm an mein Herz, du Goldkind!« rief die Gräfin, die von der innigen Vaterlandsliebe Gertruds gerührt war. Sie umarmte stürmisch das Mädchen, küßte es auf die Stirn und sagte dann mit leiser Stimme: »Gottes Segen wird mit dir sein!«

Hirschfeld schwankte noch immer, sein beobachtender Blick haftete aus Gertrud, die seit der Trennung vom Vater sehr still geworden war; jetzt aber waren die Sehnsucht und das Heimweh, die sich bisher auf dem bleichen Mädchenantlitze ausgeprägt hatten, spurlos verschwunden, und hochaufgerichtet stand Rombergs Tochter da, leuchtenden Auges – eine jugendliche Heldin.

Dieser Ausdruck edelsten Mutes gab bei Hirschfeld den Ausschlag, und eine Stunde später war die Gräfin mit Gertrud in dem Empfangszimmer der Madame Michaud. Die warme Empfehlung der Gräfin genügte, Rombergs Tochter den Dienst zu verschaffen, auch lebte sie sich mit großem Geschick in ihre neue Stellung ein.

Eine Gelegenheit, ihr Vorhaben auszuführen, hatte sich Gertrud bisher noch nicht dargeboten, da der Gouverneur noch keinen Abend das Haus verlassen hatte. Gertrud vermochte sich aber nur zu dieser Zeit der Schlüssel zu bemächtigen, da sie erst am Abend in des Gouverneurs Wohnung gebracht wurden. Sie mußte das Wagstück allein durchführen, zumal da sie den Diener des Gouverneurs, für den freilich die Entwendung der Schlüssel ein leichtes gewesen wäre, nicht ins Geheimnis ziehen durfte, denn er war ein Franzose und seinem Herrn treu ergeben.

Zu zweien Malen hatte unsere junge Freundin das Haus Schraders aufgesucht, um Hirschfeld Bericht zu erstatten. Die Ungeduld des Leutnants vermehrte die ihrige, und ihr Herz jubelte daher, als sich endlich eine erwünschte Gelegenheit darbot, sich in den Besitz der Schlüssel zu setzen. Der Gouverneur hatte nämlich mit seiner Gemahlin eine Einladung von Moisez erhalten, der für die höhern französischen Beamten einen glänzenden Ball veranstaltete. Gertrud teilte dies sofort Hirschfeld mit, der ebenfalls zu den Gästen gehörte, da er nach wie vor mit dem Generalkommissar im besten Einvernehmen stand. Der Leutnant flehte des Himmels Segen für das Gelingen von Gertruds Plan herab und gab Schrader den Auftrag, ihn im günstigen Falle von dem Balle abrufen zu lassen.

Man kann sich die Gefühle der bangen Erwartung denken, mit denen sich Hirschfeld in die glänzende Gesellschaft begab, und mit denen Gertrud das Anbrechen des entscheidungsvollen Abends erwartete.

Zur bestimmten Stunde fuhr die Equipage des Gouverneurs vor, und Michaud verließ mit seiner Gemahlin das Haus. Die Bonne war mit den Kindern beschäftigt und machte Gertrud die erfreuliche Mitteilung, daß sie ihrer Dienste nicht mehr bedürfe.

Die Schlüssel zu den Toren waren von der Patrouille schon abgeliefert worden und hingen in des Gouverneurs Zimmer an dem Gertrud wohlbekannten Platze. Noch durfte sich aber das junge Mädchen dem Raume nicht nähern, da der Diener darin mit Aufräumen beschäftigt war. Sie lauschte deshalb am Ende eines Seitenkorridors, bis François das Zimmer verließ. Wie lähmte jedoch ein jäher Schreck ihre Glieder, als sie hörte, daß er die Tür des Gemaches hinter sich abschloß. All ihr Hoffen und Sehnen war vernichtet, wenn er den Schlüssel mit sich genommen hatte!

Langsam schritt François den Gang entlang, die Treppe hinab nach seinem Zimmer. Gertrud verweilte in ihrem Versteck, bis sie in der Hausflur das Zuschlagen der Tür vernommen hatte; erst dann eilte sie klopfenden Herzens nach dem Eingange zu des Gouverneurs Zimmer.

»Gott sei Dank,« flüsterte sie aufatmend, »der Schlüssel steckt! Die Gelegenheit ist jetzt günstig, der Himmel lasse es mir gelingen.«

Mit vorsichtiger Hand drehte sie den Schlüssel im Schlosse herum und öffnete dann so leise wie möglich die Tür. Finsternis hüllte das Zimmer ein, und Gertrud mußte sich vorwärts tasten, was um so gefährlicher war, als die Stube des Dieners unter dem Arbeitszimmer des Gouverneurs war und der geringste Lärm, das Niederfallen eines Gegenstandes das suchende Mädchen verraten mußte.

Nach einigen bangen Minuten hatte Gertrud die Wand erreicht, an der die heißersehnten Schlüssel hingen. Abermals begann sie vorsichtig zu tasten, bis sie endlich die Schlüssel, die der Freiheit eine Gasse öffnen sollten, in ihren zitternden Händen hielt. Unter Beobachtung derselben Vorsicht trat sie den Rückweg an, die Tür wiederum hinter sich leise schließend.

Im Hause blieb nach wie vor alles still, und nur der Gesang der Bonne, die die Kinder in den Schlaf sang, tönte leise zu ihr herüber.

Nunmehr schlüpfte Gertrud nach ihrer Kammer, um dort die klirrenden Schlüssel mit einem Tuche zu umbinden, damit sie beim Tragen kein Geräusch verursachten. Sie unter ihren Mantel bergend, schlich sie hinab und zwängte sich vorsichtig durch die Haustür. Sobald Gertrud aber die Straße gewann, eilte sie geflügelten Schrittes nach Schraders Hause.

»Hast du die Schlüssel?« rief ihr der Weinhändler entgegen, und die atemlose Gertrud nickte mit dem Kopfe. Papa Schrader schloß das mutige Mädchen tiefgerührt in seine Arme, vergebens nach Ausdrücken des Lobes und der Anerkennung suchend.

Ein schneller Bote brachte alsbald den Leutnant Hirschfeld herbei, dessen Freude und Jubel man sich denken kann.

»Du bist die echte Tochter deines Vaters!« rief er freudig erregt, aus Gertruds Hand die bedeutungsvollen Schlüssel empfangend. »Gedulde dich nur zehn Minuten, mein mutiges Mädchen, ich nehme schnell auf meinem Zimmer die Wachsabdrücke. Wir haben beide Eile; du, um rechtzeitig mit den Schlüsseln im Hause des Gouverneurs anzulangen, und ich, um nicht allzulange vom Balle fernzubleiben, da mein plötzliches Verschwinden sonst Verdacht erregen könnte.«

Er eilte nach seinem Zimmer. Gertrud benutzte die Pause, um sich bei dem Weinhändler zu erkundigen, ob keine Nachrichten von ihrem Vater angelangt seien.

»Nein, meine liebe Gertrud, doch erwarten wir seine Rückkehr jeden Tag.«

»Oh,« fiel Gertrud bittend ein, »lassen Sie mich seine Ankunft sofort wissen! Ach, ich sehne mich so sehr, ihn wiederzusehen!« Sie versank in tiefes, düsteres Sinnen, aus dem sie sich erst wieder emporraffte, als Hirschfeld mit den Schlüsseln zurückkehrte. Er händigte sie Gertrud ein und sagte mit dem ihm eigenen Humor:

»Eile nach Hause, Mädchen, und hänge sie an ihre alte Stelle. Von diesem Abend an kann sie der Gouverneur meinetwegen unter das Kopfkissen legen; die Form ist in meinem Besitz, und bald sollen neue Schlüssel entstehen, die diesen, ihren Brüdern, wie ein Ei dem andern gleichen. Kehre heim, Gertrud, und sage heute der alten Exzellenz besonders freundlich gute Nacht, denn durch ihre Abwesenheit hat sie uns und dem deutschen Vaterlande einen wichtigen Dienst erwiesen.«

Hirschfeld begab sich in ausgelassener Lustigkeit auf den Ball zurück, wo er der Gräfin sogleich die glückliche Neuigkeit zuflüsterte; Gertrud dagegen eilte klopfenden Herzens dem Hause des Gouverneurs zu. Mit derselben Vorsicht, mit der sie sich der Schlüssel bemächtigt hatte, hing sie sie wieder an ihren alten Ort. Einen Augenblick stieg in ihrem Herzen ein leichter Vorwurf auf, daß sie eine Herrschaft getäuscht, die ihr so wohlwollend entgegengekommen – aber der Gedanke, daß das Unternehmen nicht gegen die Person und die Familie Michauds, sondern gegen die französische Gewaltherrschaft gerichtet sei, daß die bedeutungsvollen Schlüssel dem armen, in Fesseln daliegenden Vaterlande die Tore der Freiheit öffnen sollten – diese Erwägungen ließen jedes Bedenken schwinden, und ruhig begab sich das mutige Mädchen nach seiner Kammer, um da bis zur Rückkehr der Herrschaft zu verweilen.

Hirschfeld kam noch später zur Ruhe als sie, denn er suchte nach Schluß des Balles, wie verabredet, den Baukondukteur Butz auf, der sich erboten hatte, die Wachsabdrücke nach Stendal zum Meister Bilang zu bringen, um von ihm die neuen Schlüssel anfertigen zu lassen.

Da der Baukondukteur längere Zeit in Stendal aufgehalten wurde, so überbrachte Johannes die fertigen Schlüssel und wurde von dem ungeduldig harrenden Hirschfeld mit lautem Jubel empfangen, der noch zunahm, als ihm Johannes mitteilte, daß die Freunde in Stendal mit vollem Vertrauen der nächsten Zukunft entgegensähen, und daß Katte den Tag des Losschlagens kaum erwarten könne.

»Er gedenkt seine Leute in der Altmark auf dem rechten Elbufer zu versammeln«, lautete der Schluß des günstigen Berichtes. »Zur Nachtzeit will er dann über den Fluß setzen, direkt auf Stendal losmarschieren und die wenigen Soldaten und Douaniers, die dort liegen, überfallen. Dann soll's über Wolmirstedt auf Magdeburg zugehen. Hat sich Katte der Festung genähert, so will er dir ein Zeichen geben, über das du dich noch mit ihm verständigen mußt.«

Es blieb jetzt Hirschfeld nur noch übrig, die Schlüssel zu den Toren zu probieren; paßten und schlossen sie, so konnte die Überrumpelung vor sich gehen. Indessen war dies ein gewagtes Unternehmen, das er nur mit Hilfe des Unteroffiziers Wolf ausführen konnte. Wolf hatte nämlich einen Soldaten in seiner Kompagnie gewonnen, und man wartete, bis diesen die Reihe des Nachtdienstes traf und er um Mitternacht den Posten bei dem für Hirschfeld so ungemein wichtigen Krökentore bezog. Dieses war im Norden der Stadt und sollte den Katteschen Mannschaften zu ihrem Einzuge in die Festung verhelfen.

Das Wetter zeigte sich Hirschfelds Vorhaben günstig, denn es stürmte und regnete derart, daß die Patrouillen ihre nächtlichen Streifzüge durch die Stadt in dieser Nacht so gut wie einstellten und Offiziere und Soldaten in den durchwärmten Wachtstuben blieben. Hirschfeld erreichte daher ohne Schwierigkeit das Krökentor, wo ihn Wolf erwartete.

Die Schlüssel wurden an vier verschiedenen Toren probiert und erwiesen sich als passend. Frohen Herzens kehrte Hirschfeld zu Schrader und Johannes zurück, die in banger Erwartung aufgeblieben waren.

Der Leutnant setzte jetzt keinen Zweifel mehr in das Gelingen seines Unternehmens; nur zweierlei beunruhigte ihn. Erstens das überlange Ausbleiben Rombergs und sodann die unheimliche Anwesenheit des Spions Würz. Dieser verkehrte viel mit Moisez, was unsern Freund nicht eben sehr erfreute, da es ihn öfters hinderte, dem Generalkommissar seine Aufwartung zu machen; die Fortsetzung dieses Verkehrs erschien ihm aber überaus wichtig. Indessen die Hauptsache war erreicht; die Schlüssel zur Freiheit Deutschlands waren in seinem und Kattes Besitz ...

Es war am nächsten Tage, als Hirschfeld eine freudige Überraschung zuteil wurde. Romberg langte nämlich wohlbehalten aus Berlin wieder an, wenn schon sehr erschöpft, da ihm die französische Polizei viel zu schaffen gemacht hatte. Schrader brachte Wein herbei, um den Ermatteten zu stärken. Romberg nippte aber nur von dem Glase, und Hirschfeld bemerkte, daß seine schwermütige Stimmung bedeutend zugenommen hatte. Nur einmal verklärte sich sein Angesicht, als er aus dem Munde der Freunde die mutige Tat seiner Gertrud vernahm.

»Ja ja,« rief er freudig bewegt aus, »das ist mein Kind, dem die Liebe zum Vaterlande angeboren ist! Doch glauben Sie mir, Herr Leutnant, dieses Mädchen steht mit seinem Mute und seiner Begeisterung nicht allein da; Tausende von Männern, Jünglingen und Frauen leben in unserm Volke, denen die gleiche Liebe zum Vaterlande eigen ist.«

Nach diesen Worten überreichte er Hirschfeld und Johannes zwei Briefe. Sie kamen von Schill, der in seiner Ungeduld den Tag des Losschlagens kaum erwarten konnte, und von dem guten Doktor Ratbod, der seinem Sohne die Einwilligung zum Kampfe fürs Vaterland sowie seinen und der Mutter Segen sandte. Als Johannes und Hirschfeld die Lektüre ihrer Briefe beendigt hatten, zog Romberg ein kleines Päckchen aus dem Unterfutter seines Rockkragens hervor.

»Es ist eine Proklamation, die von der preußischen Regierung ausgeht«, fügte er erklärend hinzu, »und zunächst für Sie, Herr Hirschfeld, den Herrn Hauptmann von Katte und den Herrn Obersten Dörnberg bestimmt ist und im Augenblick des Aufstandes unter das Volk verteilt werden soll.«

Hirschfeld erhielt ein paar Exemplare der Proklamation, während Romberg die übrigen wieder im Futter seines Rockkragens verbarg.

»Gedenkt Ihr jetzt hier in Magdeburg zu verweilen?« fragte Hirschfeld.

»Morgen will ich weiter, um meine Botschaft an Dörnberg auszurichten.«

»Und Gertrud, soll sie Euch begleiten?«

»Nein,« versetzte Romberg traurig, »sie würde mir nur hinderlich sein, da die Polizei mir noch auf der Ferse ist. Würz scheint recht gut gewußt zu haben, daß ich nach Magdeburg zurückkehren würde, denn er ist hier geblieben.«

»Woher wißt Ihr das?« fragte der Leutnant überrascht.

»Ich habe ihn heute schon gesehen, und er mich leider auch, nur mit Mühe entging ich seinen weiteren Forschungen. Seine Unterspione sind mir dagegen getreulich bis nach Berlin und wieder zurück gefolgt. Na, meinetwegen, kein Mensch vermag seinem Schicksal zu entgehen.« Seufzend stützte er den Kopf in die Hand.

»Wollt Ihr Eure Gertrud nicht sehen?« fragte Johannes bewegt.

»O gewiß – doch will ich mich bis heute abend gedulden. Nicht wahr, Sie werden es das gute Kind wissen lassen, damit es hierher kommt und noch einmal mit seinem Vater plaudert, ehe –«

Romberg vollendete den Satz nicht. Er erhob sich hastig, stürzte das vor ihm stehende Glas Wein hinunter und ging, jedem die Hand schüttelnd, rasch von dannen.

Die Sorge um Rombergs Sicherheit nahm bei Hirschfeld und Johannes immer mehr zu, und obgleich der letzte sich ungern in den Straßen Magdeburgs sehen ließ, um jede Begegnung mit d'Haunaigue, der ihm eifrig nachspürte, zu vermeiden, verließ er dennoch in Hirschfelds Gesellschaft die sichere Zufluchtsstätte Schraders. Eine bange, trübe Ahnung war es, welche die beiden jungen Männer hinaustrieb in den milden, sonnenhellen Märztag, der noch viele andere Menschen aus den Häusern gelockt hatte, so daß der Breite Weg ein besonders bewegtes Bild darbot.

Hirschfeld und Johannes waren schon ein paar Stunden ziel- und zwecklos in den Straßen umhergestreift, als sich ihnen plötzlich die Gräfin Lübbenau zugesellte, deren erhitztes Antlitz und verstörte Gesichtszüge nichts Gutes weissagten.

»Was ist geschehen?« riefen Johannes und Hirschfeld wie aus einem Munde. Aber die Antwort der Gräfin blieb aus. Ihre Blicke deuteten an, daß sie in der unmittelbaren Nähe so vieler Menschen nicht zu sprechen wage. So eilte man denn nach Vater Schraders Hause, und dort brach die Gräfin in die klagenden Worte aus:

»Ich fürchte, meine Freunde, daß alle unsere Pläne gescheitert sind!«

Johannes erbleichte, Hirschfeld aber fragte bebend:

»Ist Romberg etwas geschehen?«

Die Gräfin bejahte und fuhr fort: »Ich stattete heute nachmittag der Gemahlin von Moisez einen Besuch ab. Plötzlich vernahmen wir die zornige Stimme des in seinem Arbeitskabinett befindlichen Generalkommissars, erschrocken eilte die besorgte Gattin zu ihm, und ich folgte ihr unwillkürlich auf dem Fuße. Bei dem Polizeichef befand sich ein widerlicher Mensch, der mir schon früher von dem Bankier Cerf als ein westfälischer Spion, namens Würz, bezeichnet worden war. Er schien Moisez einige Papiere eingehändigt zu haben und empfahl sich bei unserm Erscheinen im Arbeitskabinett. Der Generalkommissar war in höchster Wut; sie öffnete seinen sonst so schweigsamen Mund, und wir erfuhren nunmehr, daß er hinter politische Anschläge gekommen sei, die, seiner Ansicht nach, von Berlin ausgingen. Er sprach von einer Proklamation und deutete dabei auf die Papiere in seiner Hand.

»Großer Gott!« rief Hirschfeld; »so hat sich unsere bange Ahnung erfüllt, und der arme Romberg ist in der Gewalt des schurkischen Würz!«

»Sie sprechen aus, was ich mich gefürchtet habe Ihnen mitzuteilen«, erwiderte die Gräfin. »Jenem Würz gelang es vor kaum einer Stunde, den unglücklichen Romberg zu verhaften. Der treue Bundesgenosse hat nichts eingestanden, aber er ist durch die bei ihm vorgefundenen Briefe und Papiere genugsam überführt.«

Den Worten der Gräfin folgte eine tiefe Stille; der Blitz aus heiterem Himmel wirkte zu erschütternd auf die Gemüter, und seine das Nachdenken lähmende Kraft mußte erst überwunden werden. Johannes war der erste, der die Sprache wieder erhielt.

»Ich fühle, daß jetzt rasch gehandelt werden muß,« begann er in bescheidenem, aber bestimmtem Tone, »denn nur auf diese Weise ist von uns allen die Gefahr, in der wir schweben, abzuwenden, Romberg nicht ausgenommen, der sich ebenfalls von seinen Fesseln befreit sehen wird, sobald die Überrumpelung der Festung gelingt.«

Hirschfeld pflichtete dieser Ansicht bei, und die Freunde kamen überein, einen Eilboten an Katte abzusenden und sich am Abend im Körnerschen Hause zu weiteren Beratungen zu versammeln.

Dem sonnenhellen Frühlingstage war ein milder Abend gefolgt, und an dem mit Sternen besäeten Himmel glänzte die Sichel des Mondes.

Aus einem geöffneten Fenster des Cerfschen Hauses sah ein bärtiger Mann heraus, und obwohl er den Blick auf das flimmernde Firmament richtete, schienen seine Gedanken doch sehr auf der Erde zu verweilen, denn er lächelte sarkastisch, während er sich behaglich den Schnurrbart strich.

Der Weg, den Hirschfeld und Johannes zu nehmen hatten, um nach der Neustadt zu gelangen, führte am Hause des Bankiers vorbei. Der Fremde lag heute nicht zum ersten Mal am offenen Fenster, das für ihn eine Art stiller Beobachtungsposten zu sein schien. Zu verschiedenen Malen hatte er Hirschfeld allein oder in Begleitung von Johannes zur späten Abendstunde vorübergehen sehen, und als die beiden Freunde heute wieder erschienen, verließ der Fremde das Fenster und tauchte in die dahinter herrschende Finsternis zurück.

Ohne Behelligung erreichten Hirschfeld und Johannes die Neustadt und das Körnersche Haus, wo die Verbündeten ihrer schon harrten. Sie hatten keine Ahnung davon, daß ihnen eine lange, hagere Gestalt nachgeschlichen war und jetzt, gleich ihnen, in der Haustür verschwand ...

Der nächste Tag begann für die Freunde sehr trübe, denn sie empfingen von der Gräfin Lübbenau ein Billett; sie nahm darin von ihren Verbündeten Abschied, riet ihnen, Magdeburg ebenfalls zu verlassen, und meldete zuletzt, daß Romberg in der verwichenen Nacht unter starker Bedeckung nach Kassel abgeführt worden sei. Damit war das Todesurteil über den treuen Bundesgenossen gesprochen, und weder Johannes noch Hirschfeld schämten sich der Tränen, die reichlich über ihre Wangen flossen. Ihr Mut, ihre Energie schienen gebrochen zu sein, als plötzlich der an Katte abgesandte Eilbote mit einer Nachricht zurückkehrte, die geeignet war, den in der Brust erlöschenden Hoffnungsfunken wieder anzufachen, denn den Mitteilungen des Boten zufolge war Katte unter dem Jubel der Bevölkerung früh am Morgen in Stendal eingezogen und ließ Hirschfeld melden, daß er gegen Mitternacht vor Magdeburg anlangen werde.

Hirschfeld traf nunmehr die letzten Vorbereitungen. Wolf mußte es übernehmen, die für die Überrumpelung gewonnenen Soldaten zu benachrichtigen, daß sie sich gegen Mitternacht bereit zu halten und eine reiche Belohnung für ihre Treue und Aufopferung zu erwarten hätten.

Johannes eilte nach der Neustadt, um dem Bürgermeister Körner das Herannahen Kattes zu melden und um eine schleunige Verbreitung dieser Nachricht unter jene Bürger und Arbeiter zu bitten, die treu zu dem Unternehmen standen.

Johannes war mit Wolf soeben wieder in das Schradersche Haus zurückgekehrt und ging Hirschfeld beim Laden der Pistolen hilfreich zur Hand, als sich die Tür von neuem öffnete und Gertrud atemlos und bleich auf der Schwelle erschien.

»Mädchen – was gibt es?« fragte Hirschfeld erschrocken, denn er befürchtete, daß ihm jemand in der Meldung von dem traurigen Schicksale ihres Vaters zuvorgekommen sein möchte. Doch wie nahm seine Bestürzung zu, als Gertrud jetzt hervorstieß:

»Fliehen Sie alle! ... Das ganze Unternehmen ist verraten!«

Ein fürchterlicher Schrecken bemächtigte sich der anwesenden Männer. Hirschfelds Antlitz war von einer geisterhaften Blässe bedeckt, er stierte das junge Mädchen an und stöhnte:

»Gertrud, sprich, oder du tötest mich!«

»O, mein Gott,« schluchzte jetzt die arme Waise auf, »es ist nur zu bald erzählt. Ein Offizier, und zwar – o pfui der Schande! – ein preußischer Offizier, hat dem Gouverneur alle Ihre geheimen Pläne verraten.«

»Und der Name dieses Schurken?« rief Hirschfeld.

»Rittmeister Gerling erschien in Begleitung eines jüdischen Bankiers, der viel von seinem weichen Herzen faselte, ganz besonders aber betonte, daß die Anklage von ihm ausgehe und der Rittmeister Gerling nur als Zeuge erscheine. – Der Zufall fügte es, daß ich im Nebenzimmer vom Arbeitskabinett des Gouverneurs beschäftigt war, als das Paar sich anmelden ließ. Der Bankier erzählte, daß ihn Geschäfte nach Stendal geführt hätten, das von Katte genommen worden sei, der mit mehreren hundert Mann auf Magdeburg losmarschiere, um die Festung diese Nacht zu überrumpeln. Unteroffizier Wolf und ein Berliner Gelehrtensohn hätten mit Hirschfeld hier in der Stadt bereits seit Wochen für das Unternehmen gewirkt, passende Schlüssel zum Krökentor anfertigen lassen, einen Teil der Bürgerschaft sowie eine Anzahl von ehemaligen Soldaten gewonnen, um mit deren Hilfe im entscheidenden Augenblicke die Torwachen zu überfallen und sich der Geschütze zu bemächtigen.«

Ein allgemeiner Ausruf des Schreckens und des Abscheus erfolgte.

»Herr Gott im Himmel,« raste Hirschfeld, »laß es doch nicht zu, daß so nichtswürdige Verräter über uns triumphieren! Liefere diesen schurkischen Cerf samt seinem Helfershelfer in meine Gewalt, daß ich sie in tausend Stücke zerreißen kann!«

»Ruhig, mein Sohn!« ermahnte Schrader. »Dem Willen Gottes müssen wir Menschen uns beugen, der große Geist ist weiser als wir. Gertrud scheint mir mit ihrem Bericht noch nicht zu Ende zu sein, laßt sie erzählen.«

»Anfangs wollte der Gouverneur dem Bankier nicht glauben, bis Gerling erklärte, gestern abend eine Beratung im Körnerschen Hause belauscht zu haben. In ihr sei der Plan zur Einnahme Magdeburgs ausführlich besprochen worden, und er hafte für die Wahrheit mit seinem Kopfe. – Daraufhin wurde sofort Moisez herbeigeholt und mit ihm das Weitere beraten. Die Wut des letzten war ohne Grenzen, und er schwur hoch und teuer, nicht eher ruhen zu wollen, als bis er Hirschfeld und Johannes in seine Gewalt gebracht habe. Sämtliche Tore sind schon geschlossen, die Wachen bedeutend verstärkt und die Geschütze mit Kartätschen geladen. Mehrere Schwadronen Gendarmen haben die Stadt verlassen, um Katte, wenn er sich der Festung nähert, in den Rücken zu fallen.«

»Nun ist alles aus«, sagte Hirschfeld in eisig kaltem Tone und mit verzerrtem Antlitz. »Wohl! das Vaterland soll nach wie vor unter dem Drucke schmachten, während hündische Verräter ihren reichen Lohn erhalten. Hahaha! Freunde, lacht doch mit! Morgen sterben wir den Heldentod, da führt man uns vors Krökentor hinaus, erlaubt uns die funkelnagelneuen Schlüssel zur Freiheit Deutschlands in der Hand zu halten, und erschießt uns – – – wie ein paar tolle Hunde. So geht es aus wie ein Altweibermärchen. Hahaha!«

Komm an mein Herz, du Goldkind!

»Nein,« rief Gertrud mit glühenden Wangen, »so brave, heldenmütige Männer dürfen und sollen nicht sterben. Um Ihnen den Weg zur Flucht zu zeigen, bin ich noch im Hause des Gouverneurs geblieben, bis sich dieser mit dem Kommissar und den beiden Verrätern entfernte. Ich kenne den Ort, wo die vielsagenden Schlüssel hängen – hier haben Sie den Schlüssel zu einer kleinen Ausfallpforte am Südenburger Tor!«

Bewundernd blickten die Freunde auf das junge Mädchen, das ungeachtet der großen Gefahr den Kopf nicht verloren und an die Rettung der Bundesgenossen gedacht hatte.

Es war ein trauriger Abschied, der jetzt folgte. Hirschfeld erschien gänzlich gebrochen; sein Leben galt ihm nichts mehr, um so schwerer dagegen lastete der Gedanke auf seiner Brust, daß Katte möglicherweise mit so und so vielen hundert Männern dem Untergange und dem Tode in die Arme eilen könne. Vater Schrader erbot sich deswegen, für einen Boten sorgen zu wollen, der von der isolierten Neustadt aus an Katte abgehen sollte, um diesen zu warnen und von dem Vorgefallenen zu verständigen.

Dies richtete den armen Hirschfeld wieder auf, und er begab sich mit Johannes, Wolf und Gertrud unter den heißen Segenswünschen der treuen Genossen auf die Flucht.

Gleich Gertrud wollte auch der Himmel den Untergang der drei Männer nicht; er ließ die Flucht gelingen, zum großen Ärger Moisez', der während der nächsten Tage gewaltig wütete und tobte. Aber auch Katte blieb vor dem Untergange bewahrt, denn nicht nur der Bote Schraders warnte ihn, sondern auch der treue Wolf, der sich, nachdem er seine Begleiter in Sicherheit wußte, von diesen getrennt hatte und der tapfern Schar des Hauptmannes entgegengeeilt war.

Der Schmerz Kattes war nicht weniger groß als der des Freundes. Auch in seine Augen stahlen sich Tränen, die dem armen Vaterlande galten.

Um so größerer Jubel herrschte im französischen Lager. Zu Stendal und Magdeburg kamen massenhafte Verhaftungen vor. Auch Vater Schrader war mit unter der Schar, behielt aber den Kopf aufrecht, denn er wußte, daß man ihm nichts anhaben konnte, und in der Tat kehrte er bald zu seiner Tochter zurück.

Die französische Gerechtigkeit wollte ihre Opfer, und sie fand sie in so manchem braven deutschen Manne, der das Unternehmen Kattes und Hirschfelds begünstigt hatte. Wer nur im geringsten zu überführen war, wurde erschossen. Aber auch Steckbriefe erließ die französische Regierung, und zwar gegen Katte, Hirschfeld, Johannes und Wolf; diese Maßnahme führte indes zu keinem Erfolge, denn Katte, dem sich Johannes angeschlossen hatte, schlug sich mit dem größten Teil seiner Mannschaften nach Böhmen durch, um in Nachod zu dem Freikorps des Herzogs von Braunschweig zu stoßen.

Hirschfeld dagegen war entschlossen, sich dem Dörnbergschen Unternehmen anzuschließen, er erfüllte aber, ehe er dies tat, eine ihm liebe Pflicht. Er hatte Romberg versprochen, für Gertrud sorgen zu wollen. Auf dem Gute seiner Tante, der Baronin Eschwege, wußte er sie am besten aufgehoben. Die ältliche Dame nahm sich überaus freundlich des nunmehr verwaisten Mädchens an, das heiße Tränen vergoß, als es das tragische Schicksal seines armen Vaters erfuhr.

Das Morgenrot der Freiheit, das eine kurze Zeit über dem deutschen Vaterland geleuchtet hatte, war wieder verschwunden und einer unheimlichen Dämmerung gewichen. Alle die Unternehmungen, die in dem denkwürdigen Jahre 1809 von heldenmütigen Männern geplant worden waren, zerschellten; der kühne Zug des tapfern Schill endete mit der Niederlage und dem Tode des Helden; Dörnberg wurde bei der Ausführung seines Planes, den König Jérôme gefangen zu nehmen, in elendester Weise von seinen Soldaten verlassen und flüchtete mit Hirschfeld ebenfalls nach Böhmen, um dort in das Freikorps des Braunschweiger Herzogs einzutreten. Und diesem edeln Fürsten wieder erging es nicht viel besser, denn er sah sich genötigt, mit seiner kaum fünfzehnhundert Mann starken Heldenschar auf britischem Boden eine Freistätte zu suchen.

Auch der letzte Anker, den sich Deutschland zu seiner Rettung ausersehen hatte, zerbrach, und zwar an dem Tage, wo das mutige Österreich in der Schlacht bei Wagram vor dem unbezwingbaren Heere des Korsen die Waffen streckte.

Tiefe Nacht verhüllte das deutsche Vaterland. Nur im französischen Lager leuchtete die Sonne des Sieges. In ihren alles verklärenden Strahlen sonnten sich auch die Kreaturen, die, trotz ihrer deutschen Abkunft, das bedrängte Vaterland verrieten und von Napoleon dafür reichlich belohnt wurden. Ein solch geborgter Strahl fiel auf die buntscheckige Uniform des feilen Gerling, der in kurzer Zeit zum Obersten avanciert war – und ein solch falscher Strahl beleuchtete zu Magdeburg ein Porzellanschild, auf dem mit Goldbuchstaben die volltönenden Worte standen:

» Kommerzienrat Artur von Cerf


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