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VI. Die Schrulle des Pastors

Novellette

Barbara hatte sich mit ihrem Verlobten gezankt. Mißmutig kehrte sie von dem kleinen Fischerhafen nach dem Damenstrand zurück.

Als sie in die Nähe des Strandhotels gelangte, wandte sie ihre trotzige Miene seewärts, um nicht Freds Mama sogleich wieder Rede stehen zu müssen. Frau Bankier Plagge hatte das Paar aber wie stets, wenn sie es allein spazieren gehen ließ, mit ängstlichen Blicken vom Balkon der Strandhalle aus verfolgt. Eilig kam die stattliche alte Dame nun über den grünen Deich herüber. Barbara hörte ihr asthmatisches Atmen.

Natürlich blieben die erwarteten Fragen nicht aus.

»Warum bist du nicht mitgefahren, Barbarachen?«

»Ich hatte die Lust verloren.«

»Trotzdem du nun schon die ganze Woche davon sprichst, du wolltest durchaus einmal im Segelboot hinaus?«

Barbara schwieg.

»Etwa weil Baumeisters mitkamen und der Landgerichtsrat mit seinen Töchtern?« Frau Plagges Ton war gekränkt, dabei aber sanft und mütterlich. Sie ergriff mit ihrer weißen, rundlichen kleinen Hand die kräftige, etwas gebräunte Rechte ihrer Schwiegertochter. (Es war eine schreckliche Unart von Barbara, sich in ihrer Toilette hier im Seebad so sehr zu vernachlässigen: am liebsten ging sie ohne Hut und ohne Handschuhe. Man sprach schon darüber.) »Sieh mal, meine süße Barbara, du mußt nicht so schroff gegen Alfred sein. Er hat dich so ungemein lieb. Wirklich.«

Diesen butterweichen Ton konnte Barbara um alles in der Welt nicht leiden. Sie löste ihre Hand aus den weichen Fettpolstern und seufzte auf, mit ihren lebhaften braunen Augen die Ausfahrt des etwas schwerfälligen ›Greif‹ verfolgend. Alfred, der backbords faß, hatte sich in einen dicken Plaid gewickelt. Man erkannte ihn nur an seinem kleinen Strandhütchen von rotem Filz.

»Wenn es Alfred Spaß macht, mit x-beliebigen fremden Philistern Segelsport zu treiben –!«

»Aber Barbara, mein Süßing, wie du nur gleich wieder so absprechende Urteile in den Mund nehmen kannst!«

»Nun gut. Aber mich langweilt es eben so, mit ehrwürdigen, hochwohllöblichen Bürgern der guten Stadt Hannover an der Leine auf ein Stündchen vor Tisch hinauszusegeln, die Person für fünfzig Pfennig. Ja, es langweilt mich, die Frau Baumeister über die Hotelpreise, die Gänschen vom Landgerichtsrat über die ›Reunion‹ in der Strandhalle und die Herren übers Essen, immerzu übers Essen sprechen zu hören – oder umgekehrt über die Seekrankheit. Und ein Stündchen, ausgerechnet ein Stündchen segeln! Wenn ich mal segle, soll's tüchtig hinausgehen, unabhängig, und weit –! So wie ich mit Vater früher immer gefahren bin.«

»Dein guter Papa!« Frau Plagge legte in ihren Ton eine linde Trauer, brachte es zu gleicher Zeit aber doch fertig, seufzend den Kopf zu schütteln.

Man schwieg eine Weile. Barbaras Blicke klammerten sich an das rostbraune Segel, das vor dem frischen Wind außerhalb des Hafens sofort eine lebhaftere Fahrt gewann. Endlich hob Alfreds Mama wieder an: »Uebrigens kannst du dem guten Jungen wirklich keinen Vorwurf daraus machen. Mir war es ja offen gestanden sowieso nicht ganz recht, daß ihr allein auf See wolltet.«

»Auf See!« Barbara lachte. »Hier – in den Watten.«

»Immerhin konnte darüber gesprochen werden.«

»O Gott!«

Frau Plagge hatte für dieses »O Gott!« nicht die richtige Auslegung und fuhr in der Verteidigung ihres Sohnes fort: »Sieh mal, mein Liebling, ich war selbst Zeuge, wie der Herr Baumeister zu Alfred kam und ihn fragte, ob er sich mit seiner Frau an der Partie beteiligen dürfe. Nun, da konnte ihm Alfred es doch nicht abschlagen.«

»Nein, keinem Menschen kann er etwas abschlagen. Er ist Wachs in den Händen andrer Leute. Nur ich habe keinen Einfluß auf ihn. Tausend Entschuldigungen weiß er, wenn ich ihn mal um etwas bitte. ›Das geht nicht, Kindchen, – das schickt sich nicht, mein Süßing, – darüber könnte gesprochen werden, mein Herzchen!‹«

»So erbittere dich doch nicht schon wieder, liebste Barbara! Ich glaube wirklich, das kalte Baden bekommt dir nicht, du wirst davon so nervös!«

Barbara nagte trotzig an ihren Lippen. Natürlich mußte nach irgend einem äußerlichen Grund für ihr andauerndes Unbehagen gesucht werden. Daß es ihr hier zum Sterben elend war, daß sie mit sich und der Welt zerfallen war, weil sie das Kraftgefühl in sich, den Unternehmungsgeist, ihre Jugend, ihren Uebermut unterdrücken sollte und weil sie sich ducken, ducken, ducken mußte, das sagten sich ihre Verwandten nicht.

Frau Plagge pätschelte die gebräunte Wange ihrer Schwiegertochter und ließ sie dann gnädig ziehen, wenngleich mit einigem Groll darüber, daß sich Barbara die mütterliche Liebkosung nur fast widerwillig hatte gefallen lassen. Hätte ihr Sohn Alfred, der als junger Bankier doch immerhin auf Geld sehen mußte, an Barbara nicht eine so glänzende Partie gemacht, wahrhaftig, Frau Plagge wäre imstande gewesen, dem jungen, verzogenen Ding einmal ganz gehörig die Meinung zu sagen.

Trübe vor sich hinstarrend, gelangte Barbara zu ihrem Strandkorb.

Gottlob, sie war allein. Auch die schwatzhafte Pastorin mit ihren fünf Gören und ihren uninteressanten Mitteilungen über ihre Bleichsucht, über Eingemachtes, den Frauenhilfsverein von Itzehoe und über Kinderkrankheiten befand sich nicht in der Nähe. So, nun konnte sie eilends den Strandkorb bis dicht an den Steindamm schleppen, sich hineinwerfen, die Hände vors Antlitz schlagen und weinen, herzbrechend weinen ...

Eigentlich verdiente er's gar nicht, daß sie sich so um ihn grämte, der patente, korrekte Herr Alfred. Und doch – wie weh hatte er ihr getan! Ahnte er nicht, warum es sie gedrängt hatte, endlich, endlich einmal mit ihm zusammen zu sein, in der freien Gotteswelt draußen, ohne die beaufsichtigenden, kalten schwiegermütterlichen Augen und ohne das überflüssige Geschwätz der gleichgültigen Badebekanntschaften? Wenn sie sich in der Einsamkeit ausgesprochen hätten, vielleicht würde sie das einander näher gebracht haben. Denn jetzt standen sie einander so fremd, ach so fremd gegenüber. Und schon zu Weihnacht sollte die Hochzeit sein! Himmel, wie sie sich davor fürchtete, wie der Gedanke sie quälte, daß sie dann zeit ihres Lebens Sklave der kleinlichen Empfindelei Alfreds sein würde und seiner Mutter. Seiner Mutter! O, gewiß, Frau Plagge überschüttete sie ja geradezu mit Sorgfalt und Zärtlichkeit. Aber Barbara war es, als ob sie aus einer ganz andern Welt stammte: die wortreiche Liebenswürdigkeit der alten Dame gereichte ihr nur zur Qual.

Schon in äußerlichen Dingen zeigten sich die Gegensätze. Barbara liebte und pflegte seit ihrer Kindheit den Sport in jeder Gestalt. Als sie aber nach dem Tode ihres Vaters, der am frühen Schlusse seines abenteuerreichen Lebens die berühmte Jachtwerft in Bremen innegehabt hatte, als das Mündel des Bankiers Plagge nach Hannover gekommen war, hatte sie's geradezu Kämpfe gekostet, von Onkel und Tante die Erlaubnis zu all den lieben, halsbrecherischen Künsten zu erhalten.

Plagges scheuten das kalte Wasser – das war ihr hervorstechendster Familienzug. Deshalb war auch Alfred so verweichlicht und so leicht erkältet. Seinetwegen hatte man dieses milde, langweilige Wattenbad aufsuchen müssen. (Alfred nahm natürlich nur Wannenbäder.) Ach, und ihr konnte das Klima nicht rauh genug sein. Wie satt sie des Himmels ewige Bläue hatte! Sie sehnte sich ordentlich nach jagenden, zerfetzten Sturmwolken und schwarzer, zischender, wild aufgeregter See. Und wenn sie nur ein einziges Mal so eine richtige, tüchtige Segelpartie weit, weit hinaus hätte mitmachen dürfen, wie früher mit dem flotten, wetterfesten, couragierten Papa ... Sie beugte sich vor, und wieder klammerten sich ihre sehnsüchtigen Blicke an eines der Fischersegel, die das Wattenmeer mit der aufkommenden Flut belebten ...

Aber das war keines der einheimischen plumpen Fischerfahrzeuge, das war auch nicht der ›Greif‹, in dem man, wenn Flut war, ›à Person fünfzig Pfennig‹ eine Stunde lang herumkreuzte, unter haarsträubenden nautischen Betrachtungen. Es war ein hübscher, flotter Lustkutter, scharf gebaut, mit einem prächtig weißen, großen Gaffelsegel. Das Bugspriet stand keck horizontal, der Außenklüver war ganz stattlich und auch die Stenge hübsch lang, die ganze Takelage vielleicht nur etwas zu schwer für den geringen Umfang des zierlichen, flachbodigen Fahrzeuges. Aber seetüchtig war es zweifellos. Soviel sie übrigens bemerkte, ward das Boot von nur einem Manne bedient.

Der Anblick des flotten Seglers heiterte Barbara ein wenig auf. Sie fühlte sich sofort als ›Fachmann‹ angeregt. Aufmerksam verfolgte sie den Einlauf des Kutters in den Hafen. Wem das Boot wohl gehören mochte? Wenn sie, um zum Hafen zu gelangen und das Fahrzeug in der Nähe zu besichtigen, nicht wieder an der Strandhalle vorüber gemußt hätte ...

Zögernd hatte sie sich erhoben.

»Ah, Fräulein Kottenhahn! Schönen guten Morgen wünsch' ich – es ist freilich schon Mittag – ich hab' Sie noch gar nicht gesehen heute! Wollten Sie nicht mit dem ›Greif‹ hinaus? ... Fritz, nimm schön die Mütze ab und sag guten Tag. Häng dich nicht so an meinen Arm, Berta. Klaus, Klaus, nicht so nahe ans Wasser, Klaus! Willst du wohl! ... Nun, und werden Sie heute wieder baden, Fräulein Kottenhahn? Ja?«

Die Pastorfrau war's, von allen fünf Orgelpfeifen umgeben. Barbara konnte nicht anders, als in leicht ironischem Ton mit ihr sprechen. Frau Rohlfing merkte es gottlob nicht.

»Ob ich baden werde, Frau Pastor? Zu gütig, Ihr Interesse. Ja, ich bade täglich, wie ich Ihnen bereits sagte. Deshalb ist man ja auch schließlich an der See.«

»Aber Ihr Herr Bräutigam badet doch nicht? Ja, er sieht auch sehr zart aus. Klaus, du wirst ins Wasser fallen! Erna, so tapse doch nicht durch alle Pfützen; du wirst dir das frische Kleidchen naß machen. Ja, sehr schönes Wetter heute. Nicht? Was lesen Sie da eigentlich, Fräulein Kottenhahn?«

Das ging wie ein Wasserfall, unaufhaltsam plätschernd, dabei fast ohne jede Nuance. Barbara wollte nicht gar zu unhöflich sein, weil Mama Plagge sich so eng an die Pastorin angeschlossen hatte; sie entnahm deshalb den stattlichen Band dem Strandkorb: »›Auch Einer‹, von Vischer.«

»Ach nein, Fischer?«

»Ja, mit V, nicht mit F.«

»I Gitt, i Gitt, zu komisch! Lottchen, pfui, ketsche nicht an den Nägeln. Hoffentlich gibt es heut zu Tisch eine bessere Nachspeise für die Kinder. Denn der Flammeri gestern –! Ja, was ich sagen wollte, neulich hab' ich auch ein sehr schönes Buch gelesen. Es hieß ... Klaus, du kriegst eine Tachtel, wenn du jetzt nicht kommst und artig die Hand gibst! Warten Sie mal, das war von – tjä, nun hab' ich's wieder vergessen. Wissen Sie, die Autoren und die Titel, – und ich hab' eigentlich so wenig Zeit zum Lesen ...«

Eine Unterhaltung mit der Pastorin war Barbara geradezu eine Tortur.

»Entschuldigen Sie mich, bitte, Frau Pastor, ich wollte soeben nach dem Hafen ...«

»Ah, um nach dem ›Greif‹ auszuschauen? Ja, so ein Bräutchen ... Fritz, du gehst wieder ganz einwärts. Wie der Junge damit seine Absätze krumm tritt ... Uebrigens bin ich auch grad auf dem Weg dahin. Da können wir ja zusammen ... Lottchen, nimm mal die Berta an die Hand. Das Kind reißt mir noch den Arm aus!« Sie hakte vertraulich bei Barbara ein. »Kommen Sie, Fräulein Kottenhahn. Sie müssen mir noch ein bißchen erzählen. Ich interessiere mich so schrecklich für alle Bräute. I Gitt – schrecklich soll man eigentlich nicht sagen. Langsam, Fritz, nicht so rabantern ... Natürlich, ob ich's nicht kommen sah, da liegt er schon auf der Nase!«

Barbara ergab sich in ihr Schicksal. Uebrigens trug die Pastorin die Kosten der Unterhaltung ganz allein. Sie war heute noch zerfahrener als sonst, vermutlich weil sie ihren Mann erwartete, wie sie der jungen ›Freundin‹, ein riesiges Interesse bei dieser für all ihre persönlichen Verhältnisse voraussetzend, sofort anvertraute.

Ueber den ganzen Haushalt der wackeren Frau Rohlfing war Barbara so ziemlich orientiert. Sie kannte alle Untugenden des Dienstmädchens Amanda, die üble Angewohnheit des Pastors, bis in die tiefe Nacht hinein zu lesen und zu qualmen; sogar über die ökonomische Verwendung des Wirtschaftsgeldes der Frau Pastor, die ein wahres Finanzgenie sein mußte, herrschte bei Barbara keine Unklarheit mehr.

Jetzt sollte sie auch endlich den Eheliebsten der Frau Pastor persönlich kennen lernen. Nach allem, was sie den ungeordneten, rein äußerlichen Ausführungen von Mutter Rohlfing entnehmen konnte, schien dieser Herr Pastor ein recht pedantischer, selbstherrlicher Schulmeister zu sein, genau so uninteressant, wie ihn diese kleingeistige, interesselose Frau Erna verdiente. Es fehlte ihm keines der philiströsen kleinen Laster und keine der vielgerühmten deutschen Philistertugenden.

»Sehen Sie, Fräulein Kottenhahn, und dabei gerade die eine Schrulle, ist das nicht komisch?«

»Welche Schrulle?«

»Sagt' ich's Ihnen denn noch nicht?« Das breite, runde, gutmütige Antlitz der Pastorin umwölkte sich ein wenig. »Ich hab's ja wirklich gut bei meinem Mann und kann mich durchaus nicht beklagen. Aber wenn er sich nur das eine noch abgewöhnen wollte, dann wär' ich ganz glücklich: er liegt so schrecklich viel auf dem Wasser.«

»So – Rudersport?«

»Nein, er segelt so gern. Nun will er sich gar noch ein neues Boot kaufen ... Lottchen, Berta, wenn ihr euch nicht vertragt, sag' ich's sofort dem Vater ... Sehen Sie, das Boot da ist's. Richtig, es trägt auch schon den Namen: ›Die Schrulle‹, so wie das alte hieß. Wissen Sie, das war nämlich eine Anspielung, weil ich doch immer so sagte.«

Der Lustkutter hatte die Segel geborgen und aufgegeit. Langsam glitt er, ein schmales Kielwasser hinter sich herziehend, von der Strömung der aufkommenden Flut getragen, in den Hafen.

Barbara war enttäuscht. Herr Pastor Rohlfing der Inhaber dieses famosen Fahrzeugs! Sie mußte fast lachen, als die Frau Pastorin ihr anvertraute, daß ihr Mann heute hauptsächlich deshalb von Geesteheide bei Itzehoe herüberkam, um ihr die von der Amanda fertiggestellte Kinderwäsche abzuliefern. So ersparte man immerhin die teure Wäsche im Hotel. – Heiliger Neptunus!

»Seht, Kinder, da ist der Papa. Klaus, nicht so nahe an den Rand. Komm zu mir, Bertchen, wenn die unartige Lotte dich nicht bei sich dulden will. Ich hab's wohl gesehen, du bist schuld, Lotte. Ruhe jetzt! Ja, Fräulein, sehen Sie nur, so ein großes, teures Schiff. Wenn Stefan nicht die Erbschaft gemacht hätte, ging's ja überhaupt nicht. Aber auch so – das viele Geld für so 'ne Schrulle. Und dabei reden die Leute wohl gar noch darüber. Und wer weiß, der Herr Superintendent ... Lottchen, den Finger von der Nase! Pfui, wie kann man nur! Wenn der Papa das nun gesehen hat! ... Aber bleiben Sie doch, Fräulein Kottenhahn, ich möchte Sie gern mit meinem lieben Mann bekanntmachen!«

Barbara war es unbehaglich zumute geworden. Die ›Schrulle‹ hatte fast allen Reiz für sie verloren. Und sie wollte nicht Zeuge werden der intimen Familienszene: Ablieferung der Kinderwäsche, Bericht über Amanda, Küsse in üblicher Reihenfolge, hernach sofort Generalstrafpredigt für alle inzwischen von Frau Erna mitgeteilten Ruchlosigkeiten der Orgelpfeifen. Noch bevor Fritz in Gemeinschaft mit Berta das ihnen von einem langaufgeschossenen brünetten, fast schwarzbärtigen Mann zugeworfene Tauende um den Pfahl gewickelt hatte, schlich sie sachte weiter. Sie hatte auch bei den letzten Fischerbooten ihre Schwiegermutter bemerkt, die wahrscheinlich auf das Einlaufen des ›Greif‹ wartete.

Die Hände auf dem Rücken, trat sie auf die kleine Mole hinaus, die die Hafeneinfahrt bezeichnete. Tief atmete sie die ihr so sympathische Mischung der kräftigen Seeluft ein, mit dem Duft nach Krabben, Tang und Teer. Mit der Flut war eine Mütze Wind aufgekommen. Sie ließ die Haut ihres abgehärteten, kräftigen und dabei geschmeidigen Körpers gern von dem leisen Kälteschauer überrieseln. Da sie (zum gelinden Aerger von Tante Plagge) kein Korsett, sondern nur ein weiches, der natürlichen Taille sich anschmiegendes Mieder trug, so fühlte sie den wohltuenden Strom der kalten Luft am ganzen warmen Körper entlang von den Füßen bis zum Hals und Nacken emporziehen. Es wirkte wie ein Luftbad auf sie. Ihre Brust weitete sich, sie fühlte sich freier und größer, und sie sah die Farben des von der Sonne beglänzten Meeres und Himmels viel kräftiger und frischer: das tiefe Blau mit den weiß überköpfenden kleinen Wellen, das sich in hundert Tinten abschattierte bis zum blendenden Silberschimmer der vom Auge übers Wasser nach der Sonne gezogenen Lichtstreifen. Und man schmeckte das Salz aus den Lippen. Jetzt sich hineinwerfen dürfen, wie man ging und stand, aber nicht erst zum Damenbad müssen, wo das Wasser so seicht, das Gekreisch der »sich habenden« Frauen und Kinder so albern und der Geruch noch nicht getrockneter Wäsche und gescheuerten Holzes so störend war.

»Fräulein Kottenhahn! Fräulein Kottenhahn!«

Wenn man ihren Namen aufgeregt zweimal hintereinander rief, war es immer die Frau Pastor. Richtig, da kam sie gespreizt und wichtig, wie eine Deputation, mit Vieren ihrer Sprößlinge auf sie zu; nur Fritz war zurückgeblieben und kletterte zwecklos im Boot herum. Die Arme ausstreckend, machte sie noch auf dem Festland Halt, ohne sich auf die Mole zu wagen oder die Kinder an sich vorüberzulassen.

»Eben sagt mir Ihre liebe Frau Schwiegermama, daß Sie so gern einmal eine größere Segelpartie machen wollten, Fräulein Kottenhahn. Mein lieber Mann nimmt Sie gewiß mit. Sehr schöner Segelwind sei da, sagt er, und er will sogleich wieder hinaus, bis heute abend.«

Barbara konnte des Windes wegen nicht alles verstehen, was die Pastorin sagte; auch war ihre Rede von verschiedenen sanft verweisenden Apostrophen an die Kinder unterbrochen. Barbara kam also artig ans Land zurück.

›Aha, Mama Plagge lenkt ein!‹ – das war ihr erster Gedanke. Ihr zweiter war der: ›Wenn es gleich losging, dann würde Alfred, von seiner großartigen Fünfzigpfennigtour zurückkehrend, sie heute bei Tisch nicht antreffen.‹

Zögernd näherte sie sich also wieder der ›Schrulle‹.

Das Boot gefiel ihr ja. Sehr sogar. Wenn es nur nicht gerade ein Pastor, ein für sein wichtiges Leben und seine Gesundheit jedenfalls pedantisch besorgter fünfköpfiger Familienvater und – der Gipfel des Entsetzens – der Mann von Frau Erna gewesen wäre, mit dem sie da hinaus sollte.

Herr Rohlfing war höflich, verleugnete das Schulmeisterliche, das Barbara bei ihm vermutet hatte, aber keineswegs; gleich seine ersten Worte, nachdem man einander vorgestellt war, zeugten davon: »Sie sind doch seefest, Fräulein – nicht wahr, Kottenhahn? Denn wir werden den Südwind nicht behalten, denk' ich, und pfeift's aus West, dann wird's ohne Schaukeln nicht abgehen.

Barbara lächelte. Der gute Mann nahm sein bißchen Wattenmeersport ja äußerst wichtig. Sie konnte sich's nicht versagen, ihm mit leichter Ueberlegenheit mitzuteilen, daß sie schon zweimal den Kanal, einmal ein Stückchen Atlantik und dreimal die Fahrt ums Kap Skagen herum genommen hatte.

»Mit dem Dampfer?« fragte der Pastor.

»Nein, an Bord der Jacht meines Vaters.« Sie wies auf ein Brandzeichen im hellen dünnen Holz des Kutters. »Das Boot stammt übrigens auch von seiner Werft. Kottenhahn & Sohn.«

»Ah, Sie sind ...«

»Der Sohn!« fiel Barbara lächelnd ein. Bitter setzte sie hinzu: »Aber als solcher leider nur ein Mädel.«

Der Pastor sah ihr überrascht ins Auge. Er schien Zutrauen zu ihr zu fassen. »Ja, wie gesagt, mein Fräulein, es wird mir ein Vergnügen sein. Und die ›Schrulle‹ muß sich ja besonders geehrt fühlen, die Tochter des Erbauers an Bord zu wissen.«

Frau Plagge kam sich nun ungemein großmütig vor, daß sie die Sache so arrangiert hatte. In größerer Gesellschaft zu fahren, machte Barbara kein Vergnügen, das Brautpaar ohne Begleitung hinauszulassen, war doch auch nicht recht angängig; nun, da machte sich's so schon mal am besten. Ein Pastor, also ein gesetzter, erfahrener Mann der Pflicht, überdies der Gatte der so ungemein anregenden und unterhaltenden Frau Erna, und schließlich der Vater dieser lieben Kinderschar! ... Ja, nun fanden sich aber doch wieder neue Bedenken:

»Je, Barbara, mein Süßing, aber wir sollen doch gleich zu Tisch, und wenn Fred kommt, er wird sich ja so bangen, der arme, süße Kerl, und du wirst doch auch Appetit haben, mein Herzchen, und wenigstens etwas wärmer anziehen müßtest du dich!«

Der Pastor machte ein recht unglückliches Gesicht. »Es tut mir aufrichtig leid, aber so lange darf ich nicht warten. Um sechs Uhr ist schon wieder Ebbe, dann kommt man nicht über die Watten zurück.«

Gewandt sprang Barbara ins Boot. »Da haben Sie mich, Herr Pastor!« sagte sie in frischem, fast übermütigem Ton. »Ich verzichte herzlich gern auf die Table d'hote.«

Tante Plagge kreischte auf, denn das leichte Boot schwankte unter Barbaras Füßen bedenklich. Das junge Mädchen verlor aber ebensowenig das Gleichgewicht als der geistliche Herr.

Nun jagte die besorgte Schwiegermama Pastors Aeltesten nach dem Hotel, um Barbaras Regenmantel, ihr Cape und ein paar Plaids zu besorgen. Dazwischen gab auch Frau Rohlfing ihrem Gatten allerlei Verhaltungsmaßregeln, fragte ihn aus, was Amanda in den Speisekorb getan habe, warum sie denn nicht Frikandellen ...

Da schoß Fritz, vom Oberkellner höchstselbst gefolgt, heran, und die Unterhaltung konnte abgebrochen werden. Eine stattliche Anzahl Neugieriger hatte sich um Frau Plagge und die Pastorsfamilie gruppiert, auch Badegäste, mit denen man nicht einmal auf dem Grüßfuß stand, gaben, angelockt durch die Aufregung der Damen und Kinder, ihr Interesse am Auslauf des Kutters kund. Es war das Tagesereignis.

Das Tau ward gelöst, der Pastor stieß kräftig ab, und noch vor der Mole setzte er das erste Segel. Ohne eine Weisung abzuwarten, hatte Barbara den Platz am Steuer eingenommen. Da sie die Bedeutung der Ruten und Tonnen kannte, überhaupt auch zur Zeit der Ebbe den Lauf der Priele kennen gelernt hatte, die während der Flut im Wattenmeer als Fahrstraße benutzt werden mußten, so vermochte sie gleich die ersten Manöver des Pastors fehlerlos zu unterstützen. Die Straße führte im Bogen um die dünenartige Fortsetzung des Herrenstrandes herum; Barbara drehte also die Pinne mit der einen Hand in die neue Richtung, mit der andern ergriff sie die Fallen der Stagsegel, um diese zu hissen, sobald der Pastor das Gaffelsegel bedient hatte.

Barbaras Augen leuchteten, ihre Wangen hatten sich ein wenig gerötet. Als die ausgespannten Segel nun beim Winde lagen und der Kutter rauschend den Hafen verließ, der Gischt am Kiel hoch aufspritzte und das Fahrzeug sich regelrecht zur Seite legte, nickte der Pastor ihr sichtlich befriedigt zu. Sie nickte wieder.

Vom Strand her vernahm man die hellen Kinderstimmen der Orgelpfeifen, ein gefühlvolles »Fahre wohl! Fahre wohl!« von Mama Plagge, die mit dem Taschentuch wedelte, und, wie auf Bestellung, ein letztes: »Lotte, jetzt gibt's aber auf die Hände!« von den nimmermüden Lippen der Pastorin. Barbara wandte sich nicht mehr nach dem Ufer um; ihre Blicke flogen wie trunken vor Seligkeit über das weite Wasser.

Schweigend ging die Ausfahrt vor sich. Der Kutter steuerte auf die offene See zu. Man verständigte sich vorläufig nicht über die Fahrtrichtung; es war ja gleichgültig, wohin es ging. Nur aus den Watten heraus, heraus aus dem Schutze des Landes, und dann im rechten Winkel den Wind gefangen, ›mit raumer Schoot‹, um nichts, nichts von seiner treibenden Kraft zu verlieren und, losgelöst von Raum und Zeit, über die unendliche Fläche dahinzusausen –!

Nach kaum zehn Minuten halte die »Schrulle« Seewind. Erwartungsvoll sah Barbara nun den Pastor an. Der hatte sie gleichfalls schon eine Weile lang still beobachtet, auch die gespannten Blicke taxiert, die sie der mehr und mehr belasteten Leinwand zuwarf.

Abermals schien es keiner Verabredung zu bedürfen. Denn sobald Rohlfing vorn den Segeldruck verminderte, unterstützte Barbara die Wendung durch das Ruder. Langsam drehte sich der Bug des Kutters nach Backbord. In dem Augenblick, in dem das Fahrzeug ganz vor dem Wind stand, schoß Barbara empor, um die Hintersegel umzubrassen. Sie griff mit kundiger Hand fest zu. Eins, zwei, drei, war das Manöver ausgeführt. Der Pastor lächelte befriedigt. Er wartete das Abfallen des Schiffes ab; im gegebenen Moment stellte er die Vorsegel herum. Nun machte der Kiel mit dem Wind einen Winkel von ungefähr fünfundvierzig Grad. Noch ein paar tüchtige Schwankungen, verstärkter Gischt am Ruder, dann legte sich das Boot ganz zur Seite, und pfeilschnell durchschnitt es die kalte, strenge Luft.

Der »Greif« und die andern Wattensegler waren längst überholt, die Küste trat immer weiter zurück, nicht anders als ein schmaler, rötlicher Strich wirkte sie schließlich aus der Ferne.

Zwischen dem Gaffelsegel und der winzigen Kajüte Schutz gegen Sicht findend, hatte der Pastor seinen schwarzen Rock ausgezogen und war rasch in seine derbe Schifferjacke von blauem Düffel geschlüpft. Barbara, die indessen die Schnur des Ruders einhakte, um den Griff nicht fortwährend halten zu müssen, und die sich darauf behaglich zurücklehnte, war über die blitzschnell vor sich gegangene Umwandlung nicht wenig verwundert. Das Blau stand Herrn Rohlfing zu seinem braunen Teint ganz vorzüglich. Mit dem kurzen, dunkeln Vollbart und der weißen Leinenkappe, die sich von seinem schwarzen Haar so scharf abhob, hatte sein Gesicht eigentlich gar nichts Pastorliches mehr. Und nun fielen ihr plötzlich auch seine Augen auf. Es waren hellgraue, große Seemannsaugen, ernst und schwermütig, tief und doch fast kindlich. Der Blick dieser seltsamen Augen war scheinbar immer in die Ferne gerichtet, über den Gegenstand, den sie betrachteten, noch weit hinaus.

So saß das Paar eine Weile schweigend da, unter der Stenge des Gaffelsegels einander ganz unverholen musternd. Barbara fühlte, daß sie dem Pastor durch die paar Handgriffe imponiert hatte, aber sie empfand auch, daß sie ihn vorhin unterschätzt, ihn ganz falsch beurteilt hatte. Es lag doch nichts Schulmeisterhaftes in seinem Wesen, sonst würde er ihr jetzt ein paar wohlwollende Worte über ihre »Befahrenheit« gesagt haben. Daß er ein fades Kompliment unterließ, rechnete sie ihm hoch an. Es gab überhaupt nichts Komischeres für sie als biedere Ehemänner, die in Abwesenheit ihrer Frauen galant sein wollen.

Dem Pastor schien das Schweigen sehr zu gefallen. Sein Antlitz hatte den verträumt gespannten Ausdruck eines Lauschenden angenommen. Sicher folgte sein Ohr dem eigenartigen Rhythmus der ewig sich wiederholenden Wellenbewegung. Das Rauschen der Segel bildete das Fundament dazu. Barbara wollte endlich ergründen, ob ihr Gegenüber wirklich an das, was sie sich vorstellte, dachte.

»Sie sind gewiß musikalisch, Herr Pastor?« fragte sie ihn plötzlich mit ihrer ernsten Altstimme.

Trotzdem er sie die ganze Zeit über angesehen hatte, fuhr er nun doch erschrocken zusammen, als habe er dem hübschen Mädchenbild da drüben überhaupt keine Stimme zugetraut. Er beantwortete ihre Frage nicht direkt, sagte vielmehr, wie seine Versunkenheit entschuldigend: »Es liegt so viel melodischer und harmonischer Reiz darin. Ich empfinde es jedesmal. Das ist nicht nur Rhythmus, nicht nur Takt, wie es so ans Boot schlägt. Meinen Sie nicht auch?«

Sie hatte also recht gehabt: er war musikalisch. »Gewiß,« sagte sie lächelnd, »aber die Natur gibt nur den Rhythmus gleichmäßig für alle. Melodie und Harmonie ist von unsrer Stimmung abhängig – oder von unserm Gedächtnis. Die Mehrzahl der Menschen, die diese Musik überhaupt verstehen, hört immer nur Mendelssohn heraus.«

Lebhaft wollte er etwas einwerfen, doch dann nickte er bloß zustimmend, und fast gleichzeitig summten sie ein Motiv aus den »Hebriden«.

Ganz ungezwungen kamen sie darauf ins Gespräch über die Tonmalerei der Romantiker. Barbara ward dabei etwas lebhafter. Man traf so selten einen Menschen, der sich mit derlei beschäftigte. Der Pastor schien dieselbe Empfindung zu haben. Er merkte bald, daß er ein Wissen vor sich hatte. Man sprach über die bizarren Instrumentaleffekte in Berliozschen Werken, über Schumanns Versuche, Naturlaute in der Musik wiederzugeben, und kam schließlich auf Beethovens Pastorale. Dabei nahm das weiche, warme Organ Rohlfings einen malenden Ton an. Barbara tat seine schöne, geschulte Stimme wohl. Durch ein paar Einwürfe wußte sie ihn immer wieder zum Fortfahren anzuregen.

»Haben Sie denn Musik studiert?« fragte er sie endlich.

Sie sagte ihm, daß sie selbst nur ein wenig Geige spiele; alles, was sie wisse, habe sie von ihrem Vater gelernt. »Er meinte, das müsse man wissen und empfinden, um richtig hören zu können.«

»Ja, das Zuhören!« sagte der Pastor mit leisem Seufzen.

Barbara konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Ob der geistliche Herr dabei an seine Frau dachte? Sie erschrak darüber, wie gramvoll plötzlich sein Gesicht geworden war, und das Lächeln erlosch auf ihren Lippen.

»Ihre Eltern leben nicht mehr?« begann Rohlfing nach einer Weile wieder.

»Vater starb vor drei Jahren. Auf Mutter entsinne ich mich nicht mehr. Ja, mein Vater war mein einziger Freund.«

»Und Sie haben ein schönes Stück Gotteswelt an seiner Seite gesehen?«

Barbaras Augen leuchteten. Munter begann sie von ihren Reisen zu erzählen. Es lag jetzt aber nichts mehr von Renommage in ihrem Ton wie vorhin am Strande. Ein wirkliches Sehnen nach Mitteilung hatte sie erfaßt. Dabei bewies der Pastor, daß auch er die Kunst im Zuhören anzuregen verstand. Ihr Respekt vor dem geistlichen Herrn wuchs. Wahrhaftig, dem hatte sie ein schweres Unrecht getan, als sie ihn für einen philiströsen Pedanten, einen schulmeisterlichen Besserwisser gehalten hatte. Insgeheim bat sie ihm ihr vorschnelles Urteil ab.

Der Pastor gestand ihr, daß er in seinem ganzen Leben nicht weiter als bis nach Kiel, wo er auch studiert habe, gekommen sei. Während Barbara in Paris und Petersburg, London und Rom, Madrid und Konstantinopel gewesen war, hatte er außer Hamburg überhaupt noch keine Großstadt gesehen; nicht einmal Berlin kannte er.

»Ich könnte Sie fast darum beneiden, Herr Pastor!« sagte sie mit einem bitteren Lächeln. Und als er sie fragend ansah, fuhr sie fort: »Dann wäre mir's jetzt nicht so unsagbar schwer geworden, mich in den qualvoll engen Zirkel hineinzufinden ...« Erschrocken über sich selbst brach sie ab. Wie kam sie dazu, diesem wildfremden Manne – dem Gatten von Frau Erna – ihr Herz auszuschütten?

Sie mochte sich aber noch so sehr Gewalt antun, ihr Ton fand die anfängliche Reserve nicht wieder. Mit diesem Pastor konnte man eben nur frei und offen reden – oder gar nicht. Er hielt sich selbst übrigens auch nicht zurück. Als er ihr sagte, daß der Wassersport ihn für die Reisen, die er sich nicht gestatten könne, reichlich entschädige, als er ihr dann von einzelnen besonders schönen Fahrten erzählte, die er noch auf seinem alten, bedeutend kleineren Boot ausgeführt hatte, strömte aus seiner Schilderung eine ehrliche, wohltuende Wärme, eine mitfortreißende Begeisterung.

Nun waren sie schon zwei Stunden unterwegs. Der Pastor holte endlich den Speisekorb und eine Flasche Rotwein aus der kleinen Kabine und bat seinen Gast, mit zuzulangen. Barbara hatte Hunger und kam der Aufforderung ohne Zögern nach. Aber es schmeckte ihr nicht so recht, weil sie dabei an Frau Erna denken mußte. Unterm Gaffelsegel stießen sie dann mit den gläsernen Bechern auf fröhliche Weiterfahrt an. Stephan Rohlfing ließ sich, nachdem er seine knappe Mahlzeit beendigt hatte, näher am Mast nieder, hielt das Gläschen zwischen beiden Händen fest und sagte:

»Sie haben mich wohl für einen recht garstigen Egoisten gehalten, Fräulein Kottenhahn, als ich meine Einladung zum Mitfahren so sauertöpfisch vorbrachte?«

»Offen gestanden – ja!« erwiderte Barbara munter. »Mir schien, Sie machten sich sehr wenig aus meiner Gesellschaft.«

»Und den gleichen Eindruck empfing ich von Ihnen. Das tut aber nichts. Wir sind ja gut miteinander ausgekommen.« Er sah ihr voll ins Gesicht. »Ich kann's Ihnen jetzt ohne Gefahr sagen: trotz aller christlichen Nächstenliebe bin ich nämlich im Begriff gewesen, ein ungenießbarer Weiberfeind zu werden.«

Er sagte das in fast humoristischem Tone. Aber Barbara fühlte doch heraus, daß es mehr als Scherz war. Wieder stand Frau Erna vor ihrem geistigen Auge, und ein inniges Mitleid erfüllte sie. Zugleich stieg etwas wie Groll in ihr auf. Welch himmelweite Kluft trennte diese beiden Menschen! Frau Erna ahnte das ja gar nicht, hätte es auch nicht begreifen können, selbst wenn ein grausamer Störenfried es ihr gesagt hätte. Frau Erna war so zufrieden, so unbegreiflich zufrieden, und sie wäre vollkommen glücklich gewesen, wenn ihr Mann diese eine Schrulle nicht gehabt hätte – diese eine Schrulle!

»Sie können sich nicht so in meine Lage versetzen, Fräulein Kottenhahn, denn Sie haben viel schöne Erinnerungen, an denen Sie zehren dürfen. So oft Sie wollen, steht Ihnen die Flucht aus dem Alltag ins Reich der Phantasie offen. Da lassen Sie Reisebilder an sich vorüberziehen, sehen die Pracht des Orients, fremde Meere mit exotischen Städten oder die Gletscherwelt ... Ich habe nur mein liebes, kleines Segel, dem ich mich in Feierstunden anvertraue, um mich loszulösen vom Allzumenschlichen, um hier draußen stille Andacht zu halten. Sehen Sie, und ich fürchtete, eine fremde Dame würde mich aus meiner Einsamkeit herausreißen. Und hier auf dem Wasser will ich so ganz Egoist sein. Hier darf ich's sein. Drum war ich zuerst unwirsch, als Sie kamen. Seien Sie mir nicht böse.«

»Ich bin Ihnen nicht böse. Da Sie mir das gestehen, sagen Sie mir ja auch, daß ich wenigstens keinen Mißklang in Ihre Einsamkeit gebracht habe.«

»Ja, so sollen Sie's verstehen.«

Nun schwiegen sie wieder, ganz dem Zauber der sphärenhaften Musik hingegeben. Der Wind war stärker geworden, und man vernahm jetzt wildere Motive als die gleichmäßig plätschernden Reminiszenzen an Mendelssohn und den behaglichen Sechsachteltakt seiner Gondellieder.

»Schade, daß die Freude so bald ein Ende haben muß!« ließ sich der Pastor nach einer Weile vernehmen. »Es geht auf fünf Uhr. Nach sieben kommt man nicht mehr über die Watten, der Ebbe wegen!«

»Wir sollen wenden? Schon?« Bittend sah sie den Pastor an. »Schenken Sie mir eine Gnadenfrist. Ich – ich kann jetzt noch nicht zurück!«

»O mein liebes Fräulein, der Mensch kann alles, was er muß. Und was er will.«

»So fragt sich's also nur, ob ich will und ob ich muß. Mich zwingt nichts zur Rückkehr. Es sei denn, daß Sie ein Machtwort sprechen wollen – oder müssen.«

Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Urlaub hätt' ich schon. Man sieht mir in dieser einen Hinsicht nach. Denn das ist eben meine Schrulle.«

Sie kamen also endlich überein, erst zur Nacht mit der nächsten Flut heimzukehren.

Während sie noch darüber debattierten, fing der Kutter unversehens eine ›Eule‹, und sie mußten rasch manövrieren, um wieder in den vorigen Kurs zu kommen. Der Wind hatte sich aber gedreht, hohler pfeifend kam er heran und rüttelte gewaltig am Stagsegel. Und nun war auch im Umsehen das ganze Seebild verändert. Während die blaue Meeresfläche sich vorher im Licht gebadet hatte, rief der leicht übergraute Himmel rasch eine allgemeine Trübung der Luft- und Wasserstimmung hervor.

Barbara geriet dadurch nur in um so lebhaftere und freudigere Bewegung. »Herrlich, herrlich!« rief sie leuchtenden Blicks.

»Das wußt' ich,« meinte der Pastor schmunzelnd, »daß Ihnen der graue Marineton gleichfalls sympathischer ist als der blaue.«

»Ja, für die Nordsee ist er echter!«

Rohlfing holte nun seine Karte aus dem wasserdichten Ueberzug und legte die Route fest. »Mit Westwind ist die Welt zu umsegeln!« sagte er unternehmungslustig. »Wir können um Süderoog herum sein, noch bevor die Ebbe eintritt, dann halten wir zwei Stunden lang auf Helgoland zu, westsüdwest, und wenn wir gehörig durchgepeitscht sind, eine blaue Nase und rote Hände haben, drehen wir bei und kehren wieder mit raumer Schoot, wie herwärts, in die Watten zurück. Einverstanden? Um zwölf sind wir dann daheim.«

»Hochflut ist aber erst um drei in der Früh'!« warf Barbara ein.

»Bei diesem Blasius gibt's lang vor Mitternacht schon Wasser genug zur Einfahrt.«

Die herzliche, fast kindliche Freude seines Bootsgastes erheiterte den Pastor sichtlich. Barbara war in der nächsten Zeit nur noch Aug und Ohr für Wetter, Wind und Segelrichtung. Da sie seit mehreren Jahren außer Uebung war, gelangen ihr ein paar Hilfsgriffe beim ›Halsen‹ nicht, das bei der Durchfahrt zwischen den Halligen nötig wurde; der Pastor unterstützte sie also dabei. Sie war voller Bewunderung für seine Geschicklichkeit und den Mut, den er dabei an den Tag legte.

Endlich konnte man wieder still sitzen. Das Boot schwankte nun aber gehörig, so oft es einen der in regelmäßigen Zwischenräumen heranrollenden Schaumkämme durchschnitt. Auch pfiff der Wind so schneidend übers Wasser, daß die Unterhaltung fast unmöglich ward. Man konnte sich nur noch in kurzen Sätzen verständigen; war es doch, als ob die Worte mit jäher, rücksichtsloser Gewalt von den Lippen gerissen würden.

»Ah, nun wird das Lied zur Sinfonie!« rief der Pastor einmal. Barbara erwiderte nichts darauf. Ihr Ohr lauschte längst schon wieder der inneren Musik, die das majestätische Rollen, Rauschen, Brausen und Sausen in ihr erregte.

Mit verschränkten Armen saß der Pastor am Mast. Seine Blicke schweiften weit hinaus über die aufs Wasser sinkende Dämmerung. Da und dort auf den Halligen blitzten die Lichter von Blinkfeuern auf, man ließ sie im Rücken und nahm den Kurs in die schwarze See hinaus. Unterm Schutz des Gaffelsegels kam dann endlich wieder so eine Art Konversation zustande.

»Sie sind verlobt, Fräulein Kottenhahn?« fragte der Pastor plötzlich.

Barbara sagte ein paar gleichgültige Worte über ihren Bräutigam; auch über seine Abneigung gegen jeden Sport. Ihr Ton ward dabei sarkastisch.

»Schade, daß Sie sich in diesem Punkte nicht verstehen; ich könnte mir's so wunderbar denken. Und es ist auch das Natürliche.«

»Das sagen Sie, Herr Pastor?« Es war das erste Mal, daß sie sich eine deutliche Anspielung auf Frau Erna erlaubte. Stefan Rohlfing erwiderte nichts; er stützte nur seufzend das Haupt in die Hand.

Wieder herrschte Schweigen im Boot; der Wind strich klirrend über den Kutter hin. Sein Pfeifen nahm bisweilen einen wimmernden Ton an. Das Erzittern der Drossen und Fangen klang wie entferntes Kinderweinen. Ein ehernes Lied aber, das mahnend ans Herz klang, setzte sich aus dem Rauschen und Brausen der Segel und dem Anprall der kleinen Sturzseen zusammen.

Ein ganz klein wenig Gruseln kam nun doch über die beherzte Barbara. Sie konnte die schlanke, hohe Gestalt des Pastors nicht deutlich erkennen. Das Zwielicht ließ sein Antlitz mit dem dunkeln Bart und Haar und den wundersam hellen, sprechenden Augen schier geisterhaft erscheinen.

»Werden Sie auch wieder zurückfinden, Herr Pastor?« fragte sie plötzlich voll Angst.

Da sah er sie ganz erstaunt an. »Sie fürchten sich? Sie?«

Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen. »Nein, es war mir nur so, als ob Sie nicht mehr auf die Feuerzeichen an der Küste achteten.«

»Ich kenne die Gegend so genau.«

»Aber wäre es nicht Gottversuchung, wenn man tollkühn aufs Geratewohl hinausführe?«

Der Pastor schüttelte den Kopf. »Es gibt nur ein Gottvertrauen. Gottversuchen, das ist so eine überkommene Vorstellung aus der Anschauungswelt der Alten: den Neid der Götter herausfordern.«

»Aber Ihren Mut muß ich doch bewundern: da Sie für gewöhnlich so mutterseelenallein auf dem Wasser treiben.«

»Ja, Fräulein Kottenhahn, außer dem Gottvertrauen muß natürlich auch Selbstvertrauen vorhanden sein. Und – man muß eben segeln können.«

»Und es wird Ihnen nie bange?«

Er erhob die Hände und wandte sich dem Winde zu, als wollte er sich tüchtig zausen lassen. »Ach, gibt's was Größeres und Erhabeneres, als so in nächster Berührung mit den Elementen zu sein, mit ihnen zu ringen? Bangigkeit erweckt das doch nicht? Nein, es drängt einen nur immer wieder, die Allmacht Gottes anzubeten, seine Gnade zu bewundern. – Wenn ich das liebe Segel nicht hätte, das mich aus dem dumpfen Einerlei des Werkeltages so oft mitten hinein in großartige Feierstunden geführt hat, – ach, wie klein und verzagt ich dann schon längst geworden wäre! ... Das richtet mich immer, immer wieder auf. Es ist wie ein zweites, höheres Leben. Das gibt mir die Kraft, mutig und unverdrossen all die drückenden Kleinlichkeiten zu ertragen. Wie würd' ich sonst die Brücke finden von meiner Prosa hinüber auf die Insel der Seligen? Und ich soll ihnen doch allen Kunde bringen von da drüben! Es sind so viele unter meinen armen Pfarrkindern, die hienieden gar nichts haben als die Hoffnung auf die Gnade Gottes. Denen kann ich so aus ganzer Seele die Größe und Güte des Allmächtigen verkündigen, wenn sie so heißhungrig zu mir kommen, um von mir, dem Glücklichen, aufgerichtet zu werden.«

»Von Ihnen, dem Glücklichen?« Sie sah ihn ganz ungläubig an ... »Und Sie finden stets die Worte, um die Unglücklichen aufzurichten?«

»Ja, sehen Sie, weil ich die Brücke weiß zu Gottes Gnade.«

Jedes hing nun wieder seinen Gedanken nach. Mit keinem Wort hatte der Pastor über seine Ehe gesprochen, die Person seiner Frau mit keiner Silbe berührt oder gar kritisiert, und doch war Barbara jetzt in alles eingeweiht, in die grausame geistige und seelische Vereinsamung dieses bejammernswerten Ehemannes. Als blutjunger Student hatte er sich mit der hübschen Nachbarstochter verlobt – das Datum wußte sie von Frau Erna –, und in seiner ersten Pfarre hatte er sie geheiratet. Für ihn war sein Beruf, auch das wußte Barbara jetzt, mehr als die Brotspenderin gewesen. Frau Erna hatte ihr gegenüber aber nie eine andre Seite seiner Tätigkeit als die materielle seiner knappen Einkünfte beleuchtet. Stefan Rohlfing war im Grunde ein Künstler von einer wahrhaft idealen Auffassung der Kunst, er war ein Poet – nichts von alledem, was über Klatsch und Durchschnitt ging, begriff sein Weib. Sie hatte fünf Kinder und hatte ihre Not mit ihnen. Aber trotzdem sie nichts, nichts besaß, das sie geistig über ihre eigne Magd erhob, fühlte sie sich glücklich. Ja, sie hätte keinen Wunsch mehr auf Erden gehabt, wenn ihr Mann nur von der einen Schrulle gelassen hätte!

Und diese eine Schrulle – sie war es, die dem Unglücklichen die Kraft gab, als rechtschaffener Hausvater und Bürger und Seelsorger jede seiner Pflichten zu erfüllen, mit unerbittlicher Strenge gegen sich selbst und – was das höchste war – ohne zu murren!

Es waren herrliche Stunden, die Barbara in der Aussprache mit diesem seltenen Menschen an Bord des kleinen Kutters erlebte. Es war keine fließende Unterhaltung zwischen ihnen im Gange. Sie verstanden einander so gut, daß es gewöhnlich von seiten des einen nur eines leisen, kurzen Hinweises bedurfte, um vom andern sofort begriffen zu sein. So pausierte das Gespräch häufig. Aber es war kein Stocken. Wenn sie schwiegen, spannen sie den Gedanken im stillen fort, und häufig erlebten sie's, daß sie dann bei derselben Folgerung beide ein Mitteilungsbedürfnis fühlten.

›Endlich einmal ein Mann, ein Charakter, ein Prachtmensch!‹ sagte Barbara zu sich. Sie fühlte sich gehoben, beglückt, in rechter Feiertagsstimmung. Und sie wiederum galt in des Pastors Augen als das Weib, das er geahnt, an dessen Existenz zu glauben ihm aber sein Hauskreuz allgemach verleidet hatte.

Richtig kam es auch so, daß sie einander im gleichen Augenblick – es war nach einem kurzen, klaren Gedankenaustausch über das Wesen der Ehe, wie sie sein soll, – die Hand gaben und herzhaft drückten. Es erschien ihnen beiden selbstverständlich, und doch kam es eigentlich ganz unvermittelt.

Barbara atmete tief die kalte Seeluft ein. Sie war schon ziemlich durchfroren; auch fühlten sich ihr blaues Cheviotkleid und das wollene Cape von dem feinen Sprühregen, den der Kiel aufwühlte, fast naß an. Dennoch war ihr's unfaßbar, als der Pastor endlich entschied: nun müsse man wenden.

Zehn Uhr vorüber. Längst war völlige Finsternis auf dem Wasser eingetreten. Ohne das an schönen Sommerabenden so phantastische Farbenspiel war die Sonne ins Meer gesunken, rund, kalt und glatt, und ebenso ordnungsgemäß und fast poesielos war mit dem neuen Wind der Himmel grau und die Luft trüb geworden. Zum Sturm kam's diese Nacht noch nicht, sonst wäre die Flut schon höher gestiegen.

Die Segelpartie wies also nicht das geringste Abenteuer auf, außer dem, daß man in der Höhe von Suderoog infolge einer unbeabsichtigten Segelwendung eine ›Eule‹ gefangen hatte, – und doch: wie hatte die Fahrt Barbaras Stimmung gewandelt! Sie war erfrischt, verjüngt, ein ganz neuer Mensch.

Nachdem man den Kutter, nicht ohne tüchtige Anstrengung, in die neue Fahrtrichtung gebracht hatte, holte der Pastor wieder den Wein und den Speisekorb hervor. Barbara aß diesmal mit Appetit, ohne an Frau Erna auch nur zu denken. Freimütig dankte sie dann dem Pastor, als sie mit ihm anstieß, daß sie die paar Stunden hier vor dem Klüverbaum der ›Schrulle‹ hatte verbringen dürfen.

Auch die Züge des Pastors waren hell und freundlich geworden. So etwas Zuversichtliches, Sicheres lag in seinem ganzen Wesen. »Ich habe Ihnen zu danken, Fräulein Kottenhahn.« Es waren nur ein paar konventionelle Worte, aber wie er sie sagte!

Die ›Schrulle‹ hielt auf zwei Blinkfeuer zu, die an ihrem charakteristischen Wechseln von den beiden Seglern sofort als die des kleinen Wattenbadhafens erkannt wurden. Je näher man der Küste kam, desto mehr Seezeichen gewahrte man, und desto mehr Lichter sprangen auf. Nun erkannte man bald auch die festlich erleuchtete Strandhalle. Glatt gewann die ›Schrulle‹ den Priel und gelangte in seiner Strömung in den Hafen. Ganz von selbst, man konnte alle Segel streichen.

Barbara sprang aus dem Boot. Vom Hotel her, auf dessen Terrasse man den Ankömmling soeben erst bemerkt hatte, näherten sich Stimmen. Barbara erkannte darunter das Hannoverisch ihrer Tante. Rasch streckte sie dem Pastor noch einmal beide Hände hin.

»Dank, innigen Dank!«

Dann schritt sie mit einem verträumten Lächeln ihren Verwandten entgegen, erklärte ihnen aber gleich, daß sie müde sei und sofort ihr Zimmer aufsuchen wolle. – –

Als sie sich in der Frühe des andern Tags erhob und aufs Meer hinaussah, fiel ihr Blick sofort auf jene Stelle, wo sie gestern den Kutter verlassen hatte. Die ›Schrulle‹ des Pastors war nicht mehr da. Gewiß befand sie sich schon wieder unterwegs nach Geesteheide. Vertretungsweise mußte der Pastor morgen in Itzehoe predigen.

Barbara kleidete sich an. Sie fühlte sich so wohl, so gesund, so gestärkt. Und auf ihrem Antlitz lag es wie Feiertag.

So trat sie in Tantes Zimmer.

»Nicht schmollen!« bat sie gleich in herzlichem Tone, als die alte Dame sie mit bedrohlicher Majestät empfing. »Ich hab' dir einen großen, befreienden Entschluß mitzuteilen.«

Frau Plagge sah sie scheu von der Seite an.

»Ich werde Fred nicht heiraten.«

Wie ein Donnerschlag wirkte das. Es gab eine lange, lange Auseinandersetzung. Frau Plagge forschte nach Gründen. Barbara wußte keinen andern als den geradezu kindischen anzugeben, den sie mit einem leisen, sarkastischen Lächeln vorbrachte: weil Fred nicht segeln könne, wolle sie ihn nicht zum Mann.

Was war das nur? Was sollte das heißen? Das war doch nur eine Schrulle, eine fixe Idee!

So wurde denn Fred zitiert. Er war trostlos, ja, er weinte sogar. Aber er änderte nichts; Barbara blieb bei ihrem Entschluß.

Und noch am selben Tage wolle sie dem Bad den Rücken kehren, sagte Barbara. Sie war ja selbständig und bedurfte keiner Bevormundung. Vielleicht widmete sie sich der Musik, vielleicht begab sie sich wieder auf Reisen, sie wußte es selbst noch nicht.

»Barbarachen, mein Süßing, das alles, weil ihr euch ein bißchen gezankt habt? So nimm doch Vernunft an und bedenke die Folgen, den Skandal, den Skandal! ... Drei Jahre warst du mit Fred verlobt. Laß dir doch sagen, mein Herzing, so was schadet einem Mädchen. Gewiß, du bist reich, und an andern Bewerbern wird dir's vielleicht nicht fehlen, aber ob du je einen so herzensguten Menschen wie Fred ...«

»Tante, ich glaube nicht, daß ich jemals heiraten werde.«

»Ach, du, mit deinen zweiundzwanzig Jahren! Und wenn ich nur wüßte, was er dir getan haben soll, der arme Junge!«

»Nichts, gar nichts, liebe Tante. Aber sieh mal, ich will uns beide nicht unglücklich machen.«

»Unglücklich! Weil er kein Sportsman ist? Barbara, Barbara, das ist eine fixe Idee!«

»Gewiß, Tantchen, eine Schrulle. Aber wenn sie mich nun glücklich macht?«

»Nun, wenn du mit Fred noch einmal sprächest. Er ist ja so gut. Vielleicht gestattet er dir auch in der Ehe ...«

Sie wehrte hastig ab. »Nein, nein, Tantchen, Männer können sich auch in der Ehe solche Schrullen erlauben, um einen Ausgleich mit ihrem Schicksal herbeizuführen, – wir Frauen nicht, wenn wir verheiratet sind.«

»Und nur um ungestört dieser Schrulle frönen zu können ...«

»... Bleib' ich ledig, Tantchen!« – –

Die Pastorin erfuhr zufällig von der Entlobung, und natürlich wußte schon bis zum zweiten Frühstück das ganze Bad darum. Wie man sich die Köpfe zerbrach, nach Gründen forschte!

Noch vor der Table d'hote reiste Barbara ab. Mutter und Sohn erschienen natürlich gleichfalls nicht zu Tisch. Sie scheuten das Gerede. Einsam, in sich versunken, ganz niedergeschlagen saßen sie, als Barbara abdampfte, im stimmungslosen Hotelzimmer beieinander und erörterten den unglaublichen Fall.

Wegen nichts und wieder nichts! Wegen einer nichtigen, kindischen Schrulle.

Finis

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