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»Also deutsch heraus, mon neveu – wollen Sie mit mir nach Königshofen hinüber kommen, oder nicht?« fragte sie ein wenig verdrießlich und legte dabei die Hand an die Mähne des Pferdes, welches der alte Leibjäger am Zügel hielt, als wolle sie sich auf die Antwort hin gleich in den Sattel schwingen. – Der junge Mann schüttelte mit einem schelmischen Lächeln den Kopf. »Nicht kapabel, liebe Großtante,« sagte er dann. »Seit die Seejungfer drüben ist – sie ist doch noch dort, Tantchen? – scheint's mir gar nicht mehr geheuer.« – Sie zog die Hand zurück und setzte sie bequem in die Seite. »Du bist ein Narr, Hugo,« entgegnete sie dabei; »was hast du gegen die Diana?« – »Ich, Tantchen? Viel! Vor allen Dingen – wir passen beide gar zu sehr zu einander! Da könnte es in Wahrheit heißen:
»Ich hab' Euch erkannt beim ersten Blick
An Eurem spöttischen Knixe –
Du bist kein irdisches Menschenkind,
Du bist mein Mühmchen, die Nixe!
»Brr!« setzte er sich schüttelnd hinzu, »das könnte eine gefährliche Geschichte werden! Fordern Sie den Teufel nicht heraus, Tantchen! Königshofen – das ganze alte Gemäuer, würde wenigstens sicher auf den Kopf gestellt, wenn wir zwei da zusammen unser Spiel hätten.«
Sie war herzlich lachend wieder näher zu ihm getreten und zupfte ihn jetzt leise am Ohr. »Versuch's immerhin einmal, du Uebermuth,« sprach sie und blickte ihm freundlich in das muntere offene Gesicht und die lustig blitzenden Augen. »Im Ernst, Hugo, komm' hinüber. Du bist ja seit Ewigkeitzeiten nicht mehr bei mir gewesen – denn was waren die zwei Stunden neulich und die acht Tage im Frühling? – und weißt doch, wie sehr mir ein Haus voll lustiger Herzen zusagt. Komm' und tobe dich aus. Du sollst auch die Zauberstube haben und kannst treiben, was dir gefällt. Nur sollst du mir Leben ins Schloß und in die beiden Mädchen bringen, daß sie mich nicht immer so gelangweilt anschauen.«
»Donnerwetter – Pardon, Großtantchen! – nein, wollt' ich sagen, es geht nicht!« rief er aus und zog sich schelmisch lachend ein paar Schritt' zurück. »Und wenn Sie erst anfangen zu bitten und gute Worte zu geben, da wird's Zeit, daß ich mich salvire – denn da könnte kein Teufel und kein Engel widerstehen! – Adieu – adieu! – Hui – da, Luna!« Und sich mit einem kurzen Nicken abwendend, nahm er die Flinte in die Hand, sprang über den Graben und war im nächsten Moment, von dem lustig bellenden Hunde gefolgt, zwischen den zusammenrauschenden Haselbüschen verschwunden. –
»Hugo, Hugo!« rief sie ihm nach, »willst du gleich dableiben? – Hugo, Tollkopf, kommst du gleich zurück?« – Ein helles Lachen und ein mehrmals wiederholtes, immer ferner klingendes »Adio! – Adio!« war seine Antwort, und dann blieb alles still; nur die Blätter flüsterten im leisen Wind und hie und da fiel ein dürres Blatt oder eine Eichel aus den hohen Kronen herab auf das trockene Laub des Waldbodens.
Einen Augenblick sah sie noch kopfschüttelnd in den Wald hinein, dann aber wandte sie sich langsam ab zum Pferde zurück, und indem sie die Augen zu dem Leibjäger erhob, sagte sie beinah gedankenvoll: »ein wilder Patron, Hubert! Schlägt ganz aus der Art! Wenn ich denke, sein Vater oder sein Oheim hätten einmal so daherfahren und spektakeln sollen – himmlischer Gott! – Und doch ist's ein wackerer, lieber Knabe, Hubert!« setzte sie hinzu, mit einem flüchtigen Kopfnicken ihre Worte bekräftigend, nahm dem Alten den Zügel aus der Hand, setzte den Fuß in den Bügel und schwang sich aufs Pferd, so leicht, wie man es bei ihrer starken schweren Gestalt und ihrem sichtbar nicht mehr geringen Alter gar nicht erwartet hätte. – Der Jäger schüttelte den Zaum und wandte sein Pferd; um seine Augen zeigte sich ein flüchtiges schlaues Lächeln. »Ja, ja, Erlaucht,« bemerkte er, »und kommen thut der Herr Graf doch, darauf wett' ich.« – »Kannst recht haben,« versetzte sie, das Gesicht zum Lachen verziehend. »Und nun laß uns zur Tannenburg reiten. Du hast doch den Reitknecht bestellt?« – »Zu Befehl, Erlaucht,« entgegnete er, und sie ritten langsam an dem Graben entlang, wo rechts bereits die junge Saat die Aecker mit grünem Schimmer überkleidete und links der weite Forst prachtvoll und dicht, aber mit schon bunt gefärbtem Laube zur Höhe stieg.
So ritten sie eine geraume Zeit bald im Schritt, bald, wo der Boden ebener und nicht von der letzten Furche der Pflüger mit loser Erde überschüttet war, auch einmal im leichten Trabe immer den Waldsaum entlang, bis sie zu einer Wiese gelangten, die sich, gegen den übrigen Acker tief absinkend, links weit in den Forst hinein erstreckte und ebenso rechts die Kornfelder auseinander drängte. Da parirte die Dame ihr Pferd und fragte: »Kommen wir durch, Hubert?« – Er hatte sein Thier schon rechts gelenkt, als er antwortete: »unmöglich, Erlaucht! Wir vielleicht, aber die Pferde gehn bis an den Bauch hinein! es hat zu viel Wasser gegeben in den letzten vierzehn Tagen.« – »So wollen wir über die Brache reiten,« sagte sie, »es wird sonst gar zu spät.« Und die Zügel schüttelnd und den Hals des feurigen Thiers klopfend, das sie ritt, setzte sie munter hinzu: »das wird dir schmecken, Mirabelle! Hell auf, mein Thier!« so daß der Schimmel muthig den Kopf aufwerfend ein leises Wiehern hören ließ und dann im leichten Galopp mit seiner Reiterin dahinging, über die Brache und ein paar andere Felder, an den respektvoll grüßenden Hirten vorbei, welche mit ihren Heerden hie und da den Reitern begegneten, über Gräben und durch Feldwege, bis sie sich wieder dem hier aufsteigenden, meistens aus alten Tannen bestehenden Walde näherten. Dort, vor einer Brücke, welche über den Waldbach führte, zeigten sich neben einem Reitknecht in dunkler Livree ein paar andere Männer in Jägertracht, und nahe vor ihnen hielt die Gräfin wieder an und schwang sich so leicht aus dem Sattel, daß der hastig herbeistolpernde Diener zu spät kam. »Da,« sprach sie und warf ihm die Zügel zu, »nimm die Pferde. Und merke dir, mein Sohn – du brauchst nicht so zu springen, denn ich lasse mir doch nicht helfen. Alles mit Manier und Geduld!«
Sie wandte sich freundlich den Andern zu. »Sieh da, Gerhard, mein trefflicher Forstmeister,« sagte sie, indem sie den Stulphandschuh abzog und die runzelige, aber sehr kleine Hand einem respektvoll herantretenden und grüßenden, noch jungen Mann hinbot. »Wo treibst du dich denn eigentlich umher, Gesell, daß man dich gar nicht mehr sieht? Gibt's so viel zu thun? Ich erwartete dich heut auch gar nicht hier.« – Er hatte ihre Hand leicht an die Lippen gezogen. »Ja, Erlaucht, in den Seeforsten gibt's viel zu thun,« erwiderte er dann; »ich habe beinah vierzehn Tage mit dem Rentmeister zu verhandeln gehabt, und Erlaucht wissen ja – da geht es nicht so leicht, wie hier.« – »Jetzt bleibst du aber wieder daheim?« fragte sie. »Mein Neffe, der Hugo, kommt wahrscheinlich heut oder morgen und hat mir gedroht, das Haus auf den Kopf zu stellen. Da mußt du auf Ordnung sehn, wie's einem getreuen Lehnsmann geziemt, Gerhard.« –
Sein offenes, schönes Gesicht überflog ein schelmisches Lächeln, auch schüttelte er leicht den Kopf, und dann entgegnete er: »werde nicht verfehlen, Erlaucht. Aber bei Graf Hugo wird's nicht viel nützen; von mir läßt er sich gar nichts sagen.« – Sie lachte, »Du meinst, am liebsten würdest du ihm helfen zu aller Ausgelassenheit. Ich kenne dich! Und wie ich dich eigentlich habe zum Forstmeister machen können, verstehe ich noch heute nicht, du großes Kind.« – Er zuckte die Achseln. »Erlaucht haben ganz recht; ich will mich zu bessern suchen. Und der Herr Rentmeister macht's mir leicht – bei dem muß jeder gesetzt werden.« – Sie lachte wieder. »Laß mir meinen Rentmeister ungeschoren,« erwiderte sie. »Und nun genug geplaudert,« fuhr sie fort, indem sie den Handschuh wieder anzog und sich zu den rückwärts stehenden beiden Förstern wandte. »Was setzt ihr nicht wieder auf, Kinder? Wißt doch, daß ich so was nicht mag und daß ihr euch meinetwegen nicht zu erkälten braucht. Vorwärts also, ins Holz! Weißt du Bescheid, Gerhard?« – »Ja Erlaucht. Und weil der Handel gar zu bedeutend ist, habe ich mich drüben einen Tag früher los gemacht, um selbst mit dabei zu sein.«
Sie faßte das braune Tuchkleid, welches, obgleich sie auf Männerart zu Pferde saß, dennoch ziemlich lang war, fest zusammen und in die Höhe, denn der Pfad, denn sie betraten, war sehr feucht, und in den tief eingeschnittenen Wagenspuren stand hin und wider sogar das blanke Wasser. Dessenungeachtet schritt sie rasch und unbekümmert vorwärts, und als auf einer Stelle der Weg in seiner ganzen Breite vom Wasser, das aus einem vollen Graben übertrat, tief überströmt war, setzte sie den mit einem festen Stiefel bekleideten Fuß so sorglos hinein, wie es nur immer die ihr folgenden, an dergleichen gewöhnten Männer thun mochten. Jenseits aber blieb sie stehn und sagte nach einem schnellen und scharfen Blick in die Runde: »ich hab' es Ihm neulich gleich gesagt, Förster Ratki, mit einem Niederhauen und Schlagen im Ganzen will ich nichts zu thun haben, hier den alten Rain ausgenommen, wo etwa die Hälfte herauskommen wird. Du hast mir einmal gesagt, Gerhard, hier würden besser Birken passen, – nicht?«
»So ist's, Erlaucht,« entgegnete er respektvoll und ohne die geringste Spur von der frühern Vertraulichkeit zu zeigen. »Und ich muß Euer Erlaucht Meinung durchaus beipflichten. Wir nehmen das Uebrige in einzelnen Stämmen. Das Zusammenbringen und Hinausschaffen haben, soviel mir Ratki gesagt, Euer Erlaucht von uns abgelehnt?« – »Gewiß, mein Freund! Ich wollte den Kukuk das auch noch auf uns laden,« erwiderte sie. »Und nun, Hubert, gib mir den Hammer, daß wir anfangen können.« Und nachdem der alte Jäger den Holzhammer aus der Jagdtasche und dem Lederfutteral genommen und ihr überreicht hatte, befreite sie geschickt eine Stelle des nächsten Eichenstammes von der Rinde und schlug mit kräftiger Hand das Forstzeichen ein. »So,« sagte sie dann, »nun schlagt durch bis zu den ›drei Eichen‹ und dann rechts hinauf bis an den alten Weg – aber das wißt ihr ja.« Damit schritt sie den Männern voran über den Waldboden hin und ließ das Geschäft seinen Fortgang nehmen.
Aber bei mehr als einem der prächtigen Stämme, die angeschlagen wurden, blieb sie stehn, sah lange hinauf zur leise rauschenden Krone und meinte seufzend: »es ist Jammer und Schade, Gerhard! Mir ist's, als sollt' ich ein Glied meines Leibes verlieren mit den alten schönen Bäumen. Und wenn es nicht sein müßte – ich thät's bei Gott nicht!« Als sie sich dann von dem großen Platz in den Wald hinein und zu einzelnen Stämmen wandten, wiederholte sie ihre Worte und Seufzer in ähnlicher Weise noch oft, suchte auch diesen und jenen Stamm zu retten und verbot bei einigen das Anschlagen ganz. Und als sie dabei einmal auf Gerhards und Huberts Gesichtern ein unterdrücktes Lächeln bemerkte, meinte sie: »ja, ja, Kinder, ihr nehmt's eben, wie ihr's versteht; aber Unsereiner faßt das anders auf. Die alten Bursche da sind mir ans Herz gewachsen; sie und ich, wir gehören alle zu Königshofen, und es ist von jeher nicht anders gewesen, hat mir mein seliger Herr noch selbst gesagt.«
So mochten ein paar Stunden vergangen sein, bis sie das Geschäft beendigt hatten und die Mittagszeit herangekommen war. Da standen sie auf einem kleinen freien Platz, allein hell war es dort doch nicht, weil die rings stehenden Bäume den Raum mit ihren mächtigen weitverzweigten Kronen fast ganz überwölbten und ihn in grüne Dämmerung hüllten. Nach der einen Seite hin ward er durch vier ungeheure alte Eichenstämme begrenzt, von denen jeder vier bis fünf Klafter im Umfang haben mochte.
Der zweite Förster, der bisher meistens schweigend sein Geschäft versehn oder doch nur, wenn es die Gelegenheit mit sich brachte, eine Aeußerung gethan, lüftete hier leicht seine Mütze und sagte: »Euer Erlaucht – der Alte da in der Mitte würde auch am besten gleich mit angeschlagen; es ist Zeit für ihn. Wenn mir im nächsten Frühling einen Sturm kriegen, wie den letzten – da, glaub' ich, geht er doch kaput.«
Sie war mit ihren Begleitern zwischen den letzten Bäumen, gegenüber von den Riesen, stehn geblieben und hatte ihre großen hellbraunen Augen mit einem eigenthümlich ernsten und nachdenklichen Blick über den Platz schweifen lassen, bis der Förster zu reden begann und sie ihr Gesicht langsam ihm zuwandte. Nun da er geendet, schüttelte sie leicht das Haupt und entgegnete ernst:, »das wird kommen, wie Gott will, mein Freund, und nicht wie Er denkt; geschlagen werden die Bäume da nie und zu keiner Zeit. Merkt euch das, ihr alle, die ihr dabei seid, und die ihr hier wohl noch wirthschaftet, wenn ich längst todt bin. Er aber, Friedberg, Er sollte sich was schämen,« fuhr sie mit einem ernsthaften strafenden Blick auf den bestürzten Mann fort. »Er ist zwar erst seit einem halben Jahr an seinem Posten, aber das könnte und müßte Er doch wissen, daß dies hier der Königsring ist und die Bäume dort die Fürsteneichen heißen. Es haben einmal darunter die Fürsten gesessen, als unser Ahnherr, Herr Wolf von Hirschegg, hier dem deutschen König Ludwig, den sie den Baiern nennen, und seinem Gefolge nach der Bärenjagd ein Frühstück und Imbiß gab. Und der hohe Herr selber saß dort unter dem Baume, den Er mir abschlagen will, und er heißt drum auch die Königseiche. Sieht Er, das müßte Er doch wissen.«
Ringsum waren sie still, bis Gerhard nach einer Weile sagte: »erlauben Euer Erlaucht, daß ich Friedberg zu entschuldigen suche. An die Königseiche würde niemand die Hand oder die Art zu legen wagen; allein wir alle glaubten, das sei der letzte Baum dort an der linken Ecke.«
Die hohe Dame erhob in zürnender Verwunderung Augen und Arme zum Himmel. »Das geht zu weit!« rief sie aus. »Gibt es denn in der jetzigen Welt gar keine Treue mehr und gar kein Gedächtniß für das, was wir Alten Jahrhunderte lang als merkwürdig beachtet haben? Seht, ich bin nur einmal noch wieder hergekommen, seit mein seliger Herr mir zuerst und zufällig den Platz gezeigt, da ich ihn zu einer Grenzkonferenz mit dem Herrn Bischof begleitete. Der Platz ist zu abgelegen, ich habe hier nichts zu thun. Allein das vergesse ich nicht, was er mir damals erzählt: es waren ursprünglich fünf Bäume und der mittelste der des Königs. Der fünfte da auf der Ecke, wo die beiden jungen Eichen stehen, war unter Graf Wolf Eberhard umgebrochen; mein seliger Herr hat in seiner Jugend selbst noch den Stock herausheben sehn. Aber du mußt das alles ja auch wissen, Hubert,« schloß sie zu diesem gewendet.
Der alte Jäger nickte. »Freilich weiß ich's,« bemerkte er; »Erlaucht haben ganz recht. Auch hab' ich's den Herren da oft genug gesagt, aber sie wollten mir nicht glauben, weil es in der Forstkarte anders stände und das dumme Volk umher es auch auf ihre Weise behauptete. Aber Erlaucht wissen ja, der Forstmeister, der die Karte aufnahm, war halbblind und trug eine Brille. Der hat sich verschrieben.« – Die Gräfin schüttelte verwundert den Kopf. »Daß ich das auch nie bemerkt habe!« sagte sie. »Das ist ja ein arger Fehler und muß gleich verbessert werden. Und dir, Gerhard, sollte am meisten drum zu thun sein,« fuhr sie fort. »Denn unter der Königseiche stand dein Vater bei dem erlegten Hirsch, als mein seliger Herr darüber zu kam und den wilden Gesellen so gewann, daß er ihm Treue hielt bis in den Tod.«
Ueber des jungen Mannes Gesicht flog ein leichter Schatten. »Das habe ich nicht gewußt, Erlaucht,« versetzte er, »wie »ich ja überhaupt nur wenig von meinen armen Eltern weiß. Nur Hubert hat mir zuweilen davon erzählt, als ich noch ein Knabe war; aber auch er wollte nicht recht mit der Sprache heraus.« –
Die Gräfin wandte sich nach einem langen gedankenvollen Blick über den Platz ab und ging langsam auf einem Fußsteige zurück in den Wald hinein. »Davon läßt sich auch nicht viel sagen,« sprach sie erst nach einer ganzen Weile zu dem ihr zunächst gehenden Forstmeister. »Es ist an und für sich ein kurzes und zuletzt recht trübes Kapitel. Aber das weißt du ja, Gerhard. Ich rede nicht gern davon, denn das führt zu nichts, als das Herz noch schwerer zu machen. – Und nun genug,« fuhr sie fort. »Besorge jetzt alles Uebrige mit den Leuten und weise sie gehörig an, daß man in drei Wochen mit dem Schlagen beginnen kann. Lässest du dich heut Abend noch einmal sehn, mein Sohn?« Und als er sich dankend und zustimmend verbeugt hatte, sagte sie: »nun, dann adieu. Wir gehn hier auf dem Richtsteige. Komm, Hubert!« Dann ging sie nach einem freundlichen Nicken mit ihrem Begleiter in einen sich öffnenden schmalen Pfad hinein, der sie in nicht zu langer Zeit wieder an den Saum des Waldes und zu der Brücke führte, wo der Diener mit den Pferden wartete. Seit dem Abschied von Gerhard hatte sie kein Wort mehr geredet; ihre Stirn war leicht gefaltet, ihr Blick ernst und fast traurig. Und auch der Jäger schaute finster darein.
Erst als sie nach einem scharfen Galopp sich der Parkseite näherten, welche dieser Gegend zugewendet war, hob die Gräfin den bisher gesenkten Kopf wieder empor, und indem das freundliche Lächeln, welches heut Morgen so oft ihr Gesicht erhellt hatte, noch einmal durch die Züge flog, schob sie den kleinen schwarzen Hut, der ihr silbergraues Haar bedeckte, ein wenig nach hinten und sagte: »sind wir nicht Thoren, Hubert, uns so niederdrücken zu lassen? Vorbei, vorbei! Das ist nun einmal hin und in Gottes Hand. – Laß uns mit vergnügten Gesichtern nach Hause kommen!« setzte sie hinzu und ließ die Reitpeitsche mit leichtem Schlag auf ihr schäumendes Pferd fallen, so daß es wiehernd und kopfschüttelnd wieder in den kurzen Galopp fiel, vor dem niedrigen hölzernen Gatterthor in der Umfriedigung des Parks scharf ansetzte und im zierlichen Sprunge leicht hinüberschoß.
Auf dem runden kleinen Rasenplatze drüben hielt die Dame an und wandte ihr Thier um, so daß sie auch noch den Sprung von Huberts Pferd bemerkte und mit einem »Bravo!« belohnte. Das Thier des Reitknechts aber scheute und machte dem Menschen so viel zu schaffen, daß die Gräfin endlich lachend den Kopf schüttelte und ihm zurief: »laß es gehn, mein Sohn, so thut sich's nicht. Reite außen herum nach dem Lehnhof; wir sind gleich da.« Und indem sie ihr Pferd in den langen schmalen Weg lenkte, der vom Rasenplatz aus an der Rückseite des Parks zwischen einer prachtvollen, dichten und hohen Dornhecke und einer hohen Gebüschwand entlang lief, und es dann liebkosend auf den blanken Hals klopfte, sprach sie zu Hubert gewendet halb spöttisch, halb ärgerlich weiter: »ich weiß nicht, wohin das alles will! Reiten können sie auch nicht mehr, die Menschen, – was kann man denn eigentlich noch?« – »Den Mund aufreißen und Redensarten machen, Erlaucht,« versetzte der Alte launig im Weiterreiten. –
Es war ein paar Stunden später. Die Sonne des Oktobertags hatte sich bereits so tief gesenkt, daß die Wege des Parks und die dichten Gebüschpartien im milden Schatten ruhten; aber desto voller und wärmer, wie mit heller Freude, übergossen ihre Strahlen den hohen Wall, welcher früher eine Art von Befestigungswerk, jetzt nur eine großartige Wehr gegen die Wasser des Sees bildete, der sich, von einem raschen Flusse genährt, mit lustigen Wellen theils am Park entlang zog, theils durch eine große gewölbte Oeffnung des Walls hereintrat und sich drinnen zwischen den kleinen Wiesen und Wäldern zu einer spiegelnden Fläche ausdehnte. Als Befestigungswerk hatte der Wall augenscheinlich schon lange nicht mehr gedient, denn von einer Brustwehr war keine Spur zu sehn, und der breite Gang war zu beiden Seiten mit alten hohen Linden besetzt, welche ihn stets schattig und angenehm im Sommer, im Herbst und Frühling aber windfrei erhielten. Es war eine Promenade, wie sie eine Dame nur wünschen kann.
Das schienen auch die beiden jungen Mädchen zu denken, welche sich zu dieser Stunde in der Allee befanden und sich der Annehmlichkeit ihres festen, trockenen Weges, wie der wundervoll klaren, milden Luft erfreuten. In ihre Shawls gehüllt gingen sie schweigend und fest aneinander geschlossen auf und nieder; jede hatte den einen Arm um die Freundin geschlungen, und wenn ihre Blicke die Landschaft draußen verließen, wandten sie sich lächelnd und voll innigen Verständnisses einander zu, als wollten sie auch ohne Worte sich immer auf's neue sagen, wie wohl ihnen sei in solcher Gegenwart, in dieser Umgebung.
Endlich traten sie an das steinerne Geländer, welches den äußern Rand des Wallganges gegen das Wasser zu einfaßte, und blieben dort, indem sie ihre Umschlingung lösten, noch immer stumm neben einander stehn. Die Eine faltete ruhig die Arme über die Brust; die Andere lehnte sich an das Steingesims, stützte den Ellenbogen darauf und legte die Wange in die Hand. Und so schauten sie hinaus in die Landschaft. Es war eine weite wellenförmige, hie und da von kleinen Wäldchen unterbrochene fruchtbare Flur, die sich links bis an die Wälder erstreckte, in denen wir am Morgen der alten Gräfin begegneten. Rechts dagegen zeigten sich in nicht großer Ferne Kirchen und Häusermassen eines bedeutenden Fleckens, und unmittelbar dahinter erhob sich noch im vollen Sonnenglanz das Waldgebirge. Auf einer seiner Vorhöhen ragte ein alter Thurm über anklebendes, zerrissenes Gemäuer noch jetzt trotzig und dunkel empor.
»Was ist das?« fragte nach einiger Zeit die Dame, welche sich an das Gesims gelehnt hatte, indem sie, ohne ihren Kopf von der Hand zu erheben, mit dem grünen Fächer auf die Ruine deutete. – »Das ist die Hirschegg – die Stammburg; habe ich sie dir noch nicht gezeigt, Diana?« gab die Andere zur Antwort; die Stimme war eigenthümlich sanft und melodiös und entsprach durchaus dem Eindruck, den ihre ganze Erscheinung machte, die hohe schlanke Gestalt mit dem kleinen, leicht zur Seite geneigten Kopf, das Gesicht mit der kaum durchschimmernden Röthe auf den weichen, nicht schönen, aber überaus lieblichen Zügen, und vor allen das große, braune Auge mit seinem so milden, sammetweichen Blick.
»Nein,« versetzte Diana jetzt auf ihre Worte, »du hast es mir noch nicht gezeigt. Und wie solltest du auch? Sind wir doch seit dem erstenmal nicht wieder hier gewesen: und da rief man uns ja zu deinem Cousin ab, Margot.« – »Ah!« sprach diese und legte den Arm wieder um die Freundin, und beugte das Gesicht mit einem schelmischen Lächeln zu ihr nieder, »das ist also schon ein Zeitpunkt für dich, nach dem du rechnest?« – »Rede keinen Unsinn, Margot!« sagte Diana verdrießlich und schüttelte den Kopf: »wie soll ich denn sonst rechnen, wenn ich nichts von Montag, Dienstag und den andern lieben Wochentagen weiß? Denn davon erfährt man ja in diesem gesegneten Hause nichts. Und das ist gut,« fuhr sie fort und richtete sich auf. »Ich habe es bei meinem verehrten Herrn Onkel zur Genüge erfahren, welch eine Qual in diesen Tagen liegen kann. ›Morgen ist Sonnabend,‹ hieß es, ›da fährt man in die Stadt. – Morgen ist Montag, da säen mir Waizen. – Morgen wollen mir – ah, Donnerwetter! Morgen ist ja Mittwoch, da geh' ich auf die Jagd! Du mußt bis übermorgen – nein, bis zum Sonnabend warten: das ist der Stadttag, liebe Nichte!‹ Und weil es Mittwoch und nicht Samstag war, bekam ich meine Wolle nicht und konnte meine Arbeit nicht mehr zum Geburtstag meiner Tante, der Stiftsdame, beendigen, was sie mir auf ihrem Todbette noch gedenken wird.«
Margarethe, oder wie die Freundin sie nannte, Margot lachte. »Immer noch die alte Spötterin, Diana!« rief sie mit dem Finger drohend. »Was würde Mademoiselle Chenaud sagen oder gar Schwester Rosalie!« – »Spott? Bah, Margot, keine Idee! Bitterer Ernst ist's und bittere Wahrheit! Du kannst dir nicht vorstellen, wie diese alten Leute sind; und was aus mir hätte werden sollen, wenn deine Großmutter mir nicht hier bei euch ein Asil eröffnet, weiß ich in der That kaum zu denken. Aller Wahrscheinlichkeit nach aber die leidende Gattin eines der rothnasigen Jagdgesellen meines Onkels, oder die steife Gemahlin eines der alten hochadeligen und sehr gichtbrüchigen Hagestolze, die sich mit meiner Tante Abends am L'Hombretisch zanken. Eine andere Aussicht gab's nicht, und darum geh' ich auch mein Lebenlang nicht wieder in dies doppelte Heirathsbureau.«
Sie waren lachend in den Gang zwischen den Bäumen getreten, den die untergehende Sonne mit einem so vollen und glühenden Licht erfüllte, daß die beiden Mädchen sich geblendet ab- und den Stufen zuwandten, die vom Wall in den Park hinabführten. »Boshaft – neckisch – und schön, wie eine Seejungfer!« bemerkte Margarethe im Hinuntersteigen heiter; »mein Cousin hat recht – so bist du. Den hast du, glaub' ich, schon bestrickt, Diana! Und er gehört wenigstens nicht in jene Antikensammlung.« – Diana lachte, aber als sie jetzt drunten am Seeufer waren, blieb sie, statt weiterzugehn, plötzlich stehn, hob den Kopf auf und sah der Freundin mit einem forschenden Blick ihrer prachtvollen blauen Augen so scharf und plötzlich in's Gesicht, daß diese unwillkürlich den Blick senkte, während sich ihre Stirn und Wangen mit einer leisen Röthe überzogen.
»Bist du eifersüchtig, Margot?« fragte Diana nach einer kleinen Pause mit so schalkhafter Betonung, daß die Andere überrascht wieder aufsah. – »Eifersüchtig?« versetzte sie verwundert; »auf wen? Weßhalb?« – »Margot – Kind, verstelle dich nicht so! Auf wen denn sonst, als auf mich, die Seejungfer, und zwar deines Cousins wegen?« – »Hugo, meinst du?« rief sie und schüttelte herzlich lachend den Kopf. »Hugo und ich? Diana, du hast wunderherrliche Einfälle! Hugo und ich, die wir fast als Bruder und Schwester mit einander aufwuchsen – nein, Gott weiß, daran haben wir beide niemals gedacht! Niemals!« setzte sie eifrig hinzu. »Wir haben uns sehr lieb und könnten, glaub' ich, viel für einander thun und dürfen stets auf einander rechnen. Aber von einer Heirath und den akkompagnirenden Herzensgefühlen steht in unserm Freundschaftsvertrage kein einziges Wort.« Diana wandte sich ab, und den Arm der Freundin in den ihren ziehend, ging sie mit ihr in einen Pfad hinein, der sich unter dichtem Gebüsch von hier aus bis in die offenern Partien des weitläufigen Parks zog und schon mit tiefer Dämmerung erfüllt war.
»Weißt du,« fing sie nach einigen Schritten wieder an und es war fast, als ob ihre Stimme leise zitterte, so eigenthümlich vibrirte sie, »eigentlich ist mir dies Bekenntniß lieb, Margot. Und weißt du auch weßhalb?« fuhr sie fort und erhob ihr Gesicht zu dem der Andern, die ein wenig größer war, und suchte ihre Augen mit einem stammenden und doch auch wieder zärtlichen Blick. »Sieh, es ist lächerlich, aber es ist einmal so. Ich bin eigensüchtig – grenzenlos eigensüchtig, Margot! Ich weiß, daß du mich sehr lieb hast, aber ich will das auch! Ich will die Höchste und Erste sein in deinem Herzen und in deinen Gedanken, denn ich habe dich auch so lieb, mein schlankes Zauberkind! Und ich kann nicht theilen! Ich könnt' es nicht ertragen, jemand anders neben oder über mir in deinem Herzen zu wissen! Ich müßte dir ganz entsagen, wenn ich dich nicht mehr, ganz für mich hätte, und müßte mir auch das Herz darüber brechen!« Sie schwieg tief aufathmend, und erst, als Margarethe nach einer Weile mit der Hand leicht über ihren Kopf streichelte und mit befangen klingender Stimme flüsterte: »du liebe, thörichte kleine Phantastin!« blieb sie plötzlich stehn, ergriff ungestüm die beiden Hände der Andern und fragte dringend: »hör' Margot, das bekenne mir – bist du wirklich noch frei und mir treu, wie du es mir damals im Klostergarten schwurst? – Ich habe das für wahr genommen und behalten, Margot!« Sie sah dabei der Freundin mit einem forschenden, scharfen Blick in's Gesicht und suchte den Ausdruck desselben zu erkennen. Allein die Dämmerung war bereits zu tief, und indem entzog Margarethe ihr auch die Hände, umfaßte sie heftig, küßte sie mehreremale auf Lippen und Augen und rief dann mit einem lebhaften, muntern Tone: »aber sah man je eine solche liebe kleine Thörin! Wie sollte ich denn dir nicht treu sein, Diana? Hast du nicht meine langen – langen Briefe und jetzt mich selbst?«
Diana wandte sich den Kopf zurückwerfend und mit einer heftigen Bewegung ab und ging, die schlanke Gestalt fest in ihren Shawl gewickelt weiter. »Laß es also gut sein, Margot,« bemerkte sie nach einer Pause. »Du machst mir jetzt zuweilen den Vorwurf, daß ich mich verändert; aber könnte ich dasselbe nicht mit größerem Recht von dir sagen?« – »Wie so, Diana? Ich weiß nicht, was du meinen kannst,« war die verwundert klingende Antwort. – »Nun, woher ist denn diese oftmalige Zerstreutheit und Träumerei über dich gekommen, dies schwermüthige Sinnen und das erschrockene Auffahren, wenn man deine Gedanken oder Träume unterbricht? Du willst mir doch nicht einbilden, daß es immer so gewesen?« setzte sie lebhaft hinzu.
Margarethe schaute eine Weile gedankenvoll vor sich hin, wo der Pfad sich in einen noch ziemlich hellen Raum öffnete, und erst dann versetzte sie milde: »du magst recht haben, liebes Herz. Aber das Woher weiß ich selbst nicht. Es müßte denn sein, weil es wieder allerlei Trübes in meiner Familie gegeben, und die Großmutter mir in den letzten Tagen vor deiner Ankunft auch grade viel von meinen seligen Eltern erzählte. Ich kann das nicht so schnell überwinden, mein Herz! – Sieh,« fuhr sie fort, da Diana schweigend zuhörte, und schlang den Arm um sie, »von Mitte September an war die Tante Leopoldine drei Wochen lang mit dem unglücklichen Onkel hier, der schwächer und hinfälliger an Geist ist als je. – Auch Onkel Hirscheggs Hypochondrie – ich sollte wohl besser Schwermuth sagen – bessert sich wenig oder gar nicht, so daß er seit vorigem Herbst meinen Besuch ablehnte und, wie mir Hugo neulich sagte, oft viele Tage lang auch keins von den Kindern sehen mag. – Das sind nur ein paar Züge, liebes Herz.«
Indem traten sie aus dem engen Pfade in die breite, noch immer ziemlich helle Allee, welche von links nach rechts den ganzen Park in grader Linie zu durchschneiden schien, und in demselben Moment kam von rechts der eben zurückkehrende Forstmeister ihnen so plötzlich entgegen, daß die Damen erschrocken zur Seite wichen und auch der junge Mann bestürzt seinen Fuß zurückzog. Doch als im nächsten Augenblick die ihn erkennende Margarethe überrascht ausrief: »mein Gott, Gerhard?« – lüftete er auch bereits den leichten grauen Hut und versetzte artig: »ja, Comteß Margot, ich bin heut Morgen zurückgekommen. Ich will nicht fürchten, daß ich Sie erschreckt habe!« Und mit einer Verbeugung schritt er vorüber und verlor sich in den nächsten Seitenweg.
»Wer war denn das?« fragte nach einer Pause Diana verwundert, und auch ihr Blick, der sich jetzt von dem verschwindenden Mann auf die Freundin zurückwandte, sprach das gleiche Gefühl aus. – Margarethe erhob das bisher gesenkte Auge. »Das ist der Forstmeister der Grafschaft,« entgegnete sie, »und heißt Gerhard Wolthusen.« – »Und den nennst du so kurzweg Gerhard, und er darf dich Margot nennen, wie bisher nur ich dich genannt?« fragte Diana aufs neue voll Lebhaftigkeit. – Margarethe lächelte. »So hat er ein größer Recht dazu als du,« versetzte sie neckend. »Denn schon meine Wärterin nannte mich so, und Gerhard war ihr Assistent. Er ist im Schlosse aufgewachsen,« setzte sie wie zur Erklärung hinzu, »und ich weiß noch sehr gut, wie er mich Winters durch den Schnee zum Eis des Sees trug und dort treulich Hugo's und meine Ausgelassenheit bewachte.«
Sie gingen die Allee entlang und bogen dann in eine andere ein, welche sie in der Ferne die hohe dunkle Masse des Schlosses erblicken ließ. »Aber ich sehe nicht ein, was das alles mit eurer jetzigen Stellung zu einander zu schaffen hat,« bemerkte Diana ziemlich wegwerfend. »Diese Vertraulichkeit mit den Namen scheint mir unendlich überflüssig.«
Margarethe schüttelte nach einem langen, beinah trüben Blick auf die gereizte Freundin leise den Kopf. »Es sind nicht allein die Spiele, die uns verbanden,« sagte sie dann sanft: »Gerhard Wolthusen ist auch mein Lebensretter. – Siehst du, dort war's,« fuhr sie fort und deutete auf eine Gruppe hoher Tannen, welche sich im Hintergrund eines Rasenplatzes erhob; »von den Bäumen dort hatte ein heftiger Sturm den einen entwurzelt und so schwer gegen, einen andern gelehnt, daß er entweder die Stütze zerbrechen oder sich lösend, im Sturz alle Anlagen umher zerstören mußte. Daher waren morgens gleich die Forster und Arbeiter darüber her, ihn unschädlich auf die Erde zu bringen. Die Großmutter und meine Mutter standen dort hinten; ich, das siebenjährige, neugierige Kind, war näher herangelaufen, grade als die Masse in Bewegung kam und durch das Reißen eines Taus sich in der Richtung nach meinem Platz zu senkte. Ringsum schrieen sie auf, ich schrie auch selbst, aber ich stand wie gelähmt und sah das furchtbare Gezweige schon über mir. Da sprang Gerhard herbei und schleuderte mich fort, nicht um eine Sekunde zu früh; denn im selben Augenblick fast schlug auch der Stamm nieder und ein Zweig zerschmetterte des treuen Menschen Arm. An seinem Lager war's, wo meine Mutter zu mir sagte: »das darfst du ihm nie vergessen, Gretchen, wie ich es ihm nie vergessen werde! Achte ihn wie deinen besten Freund, deinen wahren ältern Bruder.«
»Du hast viele Brüder,« bemerkte Diana nach einer Pause spöttisch, und um ihren Mund und ihre Augen trat der auch sonst bemerkbare hochmüthige Zug in voller Schärfe hervor, so daß die außerdem tadellose und vollendete Schönheit ihres Gesichts dadurch nicht wenig beeinträchtigt wurde. – Margarethe erhob ihren Kopf. »Spotte nicht!« rief sie erregt aus. »Wollte Gott, ich hätte einen Bruder von Gerhards Werth! Den erkennen alle und vor allen auch meine Großmutter und mein Onkel Hirschegg. – Damals war Gerhard eben Gehülfe bei einem unserer Förster geworden,« sprach sie ruhiger weiter: »als er von seiner Verwundung genesen war, stellte ihm meine Großmutter frei, mit ihrer Unterstützung eine andere Laufbahn zu betreten. Er nahm das dankbar an, aber nur insofern, daß er sich mit seinen schönen Kenntnissen auf eine Forstakademie begab, eifrig studirte und dann ein Jahr lang reiste. Als er, kurz nach meinem Abgang ins Kloster, zurückkam, übertrug man ihm die Forstmeistersstelle. Das ist alles.«
»Nun ja,« sagte Diana achselzuckend, »wer läugnet denn das alles? Es ist also ein recht braver Mann und für euch von Werth. Aber Diener ist Diener, ob ein wenig höher, ob ein wenig tiefer. Euere Wege sind äußerlich wie innerlich geschieden, – wo trefft und seht ihr euch? Und wenn er ein so verständiger Mensch ist –.« – »Du irrst dich wieder,« unterbrach Margarethe Diana's Worte. Ihre Stimme klang jetzt kalt und ruhig, allein das dunkle Erröthen ihres Gesichts vermochte nur die wachsende Dämmerung zu verbergen. »Du irrst dich wieder, mein Herz. Du wirst ihm oft begegnen, so gut wie wir; denn es hängt nur von ihm ab, ob er Abends bei der Großmutter im Salon erscheinen will.«
»Ah – viel Vergnügen!« versetzte Diana bitter. »In der That, ich finde hier bei euch einige ganz wunderbar freundliche und bürgerliche Züge! – Möglich, daß es meine früheren und späteren Erzieher verabsäumten, mich dieselben verstehn und würdigen zu lassen. Vielleicht auch recht schade! Aber ich kann nicht helfen – ich versteh's nicht!«
Jedes weitere Wort und auch Margarethens etwa beabsichtigte Entgegnung ward in diesem Augenblick durch hastige Schritte unterbrochen, die auf den Steinplatten der Schloßterrasse, unter welcher sie standen, vom rechten Schloßflügel daher kamen. Dann folgte eine schmetternd hinausgeblasene Jagdfanfare, und darauf rief Hugo's lustige Stimme: »wo sind denn die Mädchen, Gerhard? – Soll mich der Teufel holen, wenn die zauberische Nixe nicht meine arme kleine schüchterne Cousine mit sich in ihre Grotten und Paläste gezogen hat!«
Wie sich auch die Stimmung der beiden Mädchen im Laufe ihrer Unterhaltung verändert hatte, vor der Weise und den Worten des frohherzigen jungen Verwandten hielt weder Bitterkeit noch Verstimmung Stand. Lachend riefen ihm beide ihren Abendgruß hinauf, und lustig aufjubelnd stürmte er ihnen entgegen, die Stufen hinab. Gerhard blieb droben stehn.