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Die drei Studenten – an Mütze und Band für jedermann in Riga kenntlich als Brüder eines Dorpater Korps – hatten, als sie zur Dämmerschoppenstunde die Gaststätte betraten, sich suchend umgeschaut, ob ein Tisch für sie noch frei wäre. Da sich ein solcher nicht fand, hatten sie sich für einen Tisch entschieden, an dem ein Gast bisher allein gesessen hatte. Zu ihm hin, der nur die eine schmale Seite der langen Tafel für sich in Anspruch nahm, hatten sie, wie sich das so gehört, eine höfliche, kleine Verbeugung gemacht, darin sich die Frage ausdrückte, ob es gestattet sei. Der Herr hatte mit einem Kopfnicken geantwortet, worauf sie, ihm gegenüber ein Kleeblatt bildend, Platz genommen hatten. Es ergab sich daraus ein Abstand der drei am einen Ende zum Herrn am anderen Ende des Tisches. Zwischen ihnen und ihm blieben – und das änderte sich auch in der Folge nicht – etliche Stühle leer. Die drei bildeten so inmitten einer zahlreichen Gästeschaft, die unter sich auch ihre Zusammengehörigkeit hatte, eine kleine Gesellschaft für sich. Das Zeichen ihrer Zusammengehörigkeit, das Band, war zwischen den Rockaufschlägen sichtbar. Sie fielen dadurch nicht auf. Studenten aus Dorpat sah man in Riga oft. Nachdem sie dem Kellner ihre Weisung erteilt, das Gewünschte erhalten und das erste Glas – es ist anzunehmen, dass es nicht das erste des Tages war – geleert hatten, saßen sie eine Weile schweigsam da, so als dächte jeder für sich angestrengt über etwas nach. Die Schweigsamkeit unterbrach als erster derjenige, der in der Mitte am Tisch zwischen den beiden anderen saß.

»Ich verstehe nicht«, sagte er und machte eine Pause. Er schien also mit dem Nachdenken allein nicht fertig werden zu können. »Ich verstehe es einfach nicht, wie jemand sich so feige benehmen kann. Mut, denke ich, ist doch wohl etwas, das unter anständigen Menschen sich von selbst versteht.« »Gewiss ist er das«, meinte der, der zu seiner Linken saß. »Aber es scheint, dass zuweilen gerade das, was sich von selbst versteht, sich am schwersten lernt.«

»Wer Mut erst lernen muss, gehört nicht zu uns«, sagte im Ton der Überzeugung der erste. »Dieses verpfuschte Duell ist eine Schande fürs Korps. Da hilft nur Rausschmiss.«

»Freilich«, bestätigte der zweite. »War aber sonst ein feiner Kerl. Schade um ihn.« »Ob schade oder nicht schade, raus muss er«, sprach jetzt der dritte, der rechter Hand vom mittelsten saß. »Darüber kann man ja gar nicht verschiedener Meinung sein. Aber in einer Hinsicht irrt ihr.« »In welcher?«

»Nicht der Mut ist das Selbstverständliche, sondern die Furcht ist es.« »Wie das?«

»Die Furcht ist das, was man nicht haben soll, nicht haben darf, was aber natürlicherweise jeder Mensch, ja jedes Lebewesen hat. Sie ist im Haushalt der Natur unentbehrlich. Denkt nur darüber nach, und ihr müsst mir recht geben. Die Natur aber ist für den Menschen das, was überwunden werden muss. Jeder muss in sich seine Natur überwinden. Darum ist die Frage gar nicht die, ob jemand Furcht hat. Er hat sie gewiss. Sie nicht zu zeigen, daraufkommt es an. Haltung – die Haltung ist im Leben die Hauptsache.« »Nun, die hat er bei dem Duell jedenfalls nicht gezeigt.« »Und eben darin bestand sein Fehler. Furcht konnte er haben, soviel er wollte. Er durfte nur die Haltung nicht verlieren. Mut ist überwundene Furcht.«

»Danach könnten ja die größten Feiglinge die größten Helden werden.« »Das kommt vor.«

»Nein«, sprach jetzt wieder der erste. »Ich habe von Mut eine andere Auffassung. Mut muss etwas Unbedingtes sein. Der wahre Mut ist der, der nicht erst eine Furcht zu überwinden hat.«

»Wohl bekomme dir deine Auffassung! Aber ich sage dir, es kennt keiner seinen eigenen Mut, ehe er sich nicht selber darin erprobt hat.«

»Und die Probe hat er nicht bestanden.« »Lassen wir ihn. Der Fall ist ohnehin schon vom Korps aus erledigt. Der Mann existiert für uns nicht mehr. Reden wir nicht mehr davon. Prosit!«

Sie tranken, schwiegen und sahen sich um, als sorgten sie sich, über den Gegenstand, der ja ein heikler war, zu laut gesprochen zu haben. Zu einigen älteren Herren grüßten sie höflich mit kleinen Verneigungen hinüber. Man konnte daraus ersehen, dass sie in Riga nicht fremd waren. Es hatte aber wohl niemand auf ihr Gespräch geachtet, denn auch an den anderen Tischen hatten sich Gruppen gebildet, die sich laut und angeregt unterhielten, so dass im Raum die Stimmen durcheinanderschwirrten. Man hörte Holz- und Getreidepreise nennen und Jagdgeschichten erzählen. Zwischendurch wurde nach den Kellnern gerufen, die alle Hände voll zu tun hatten, die vielen gleichzeitigen Wünsche der als Schwärm erschienenen Gäste zu befriedigen. Die meisten von ihnen kamen von einer Versammlung, die an die Ausdauer ihrer Teilnehmer erhebliche Anforderungen gestellt hatte. Reden macht hungrig, Zuhören müde, und durstig wird man von beidem. Wo isst man am besten? Wo trinkt man am besten? Also – wo trifft man sich nachher? Man hatte sich geeinigt auf jene Gaststätte, deren Name, berühmt über die Grenzen der Stadt, ja des Landes hinaus, Gewähr dafür bot, dass man sie weder hungrig noch durstig verlassen würde. Und darum also war es heute hier so voll. Auf der Versammlung war viel die Rede gewesen vom Ernst der Zeit. Um so notwendiger war es, sich dafür zu stärken. Man stärkte sich. Die Kellner taten ihr Möglichstes. Der Ernst der Zeit schien wenigstens für die Dauer einer guten Mahlzeit hinausgeschoben.

Die stattgehabte Versammlung hing mit der Gründung eines landwirtschaftlichen Vereins zusammen. Ihre Einberufung war der Anlass gewesen, dass mancher Bewohner des Landes, der im Bereich des städtischen Pflasters sich sonst nur selten oder niemals blicken ließ, nach Riga gekommen war, um an der Gründung teilzunehmen. Wer also bei anderen, sich wiederholenden Zusammenkünften von Stadt und Land gewohnterweise nur bekannte Gesichter sah, der konnte bei dieser ausnahmsweisen Gelegenheit die Feststellung machen, dass es in Livland immer noch den einen und anderen gab, der nicht von allen gekannt war. –

»Wer ist jener, der dort allein sitzt?« – »Kenne ihn nicht.« – »Aber er war auch auf der Versammlung.« – »Nun, dann wird es ja wohl möglich sein zu erfahren, wer es ist.« – Und man erfuhr es gewiss. Denn sicherlich fand sich bald jemand, der über den Fremdling genauestens Auskunft zu geben wusste: Woher er stamme, wie sein Gut heiße und was seine Mutter für eine Geborene sei. Man war ja hier unter sich und sozusagen eine einzige große Familie.

Auch von den drei Studenten wusste man, wer sie sind. Waren doch ihre Väter angesehene Bürger der Stadt, sie also hier auf Ferien zu Hause.

Die drei, die nichts mit der Landwirtschaft zu tun hatten und darum auch nicht von der Versammlung, sondern von irgendeiner anderen Zusammenkunft hergekommen waren, stellten ihre Vermutungen darüber an, wer der Herr sei, der ihnen gegenüber allein am anderen Ende des Tisches saß. – Rigenser? – Nein. – Vom Lande? – Auch danach sah er nicht aus. Jedenfalls eine ungewöhnliche Erscheinung, fanden sie, ein Gesicht, das man nicht vergessen hätte, wenn man ihm schon einmal im Leben begegnet wäre. Sie rieten hin und her, bis schließlich der eine von ihnen meinte: »Es geht uns doch eigentlich gar nichts an, wer das ist. Und ihr brauchtet auch nicht fortwährend so auffällig zu ihm hinüberzustarren. Lasst ihn essen und uns trinken. Prosit!«

Sie hoben die Gläser und tranken einander zu. Wir wissen nun bestimmt, dass es nicht das erste Glas war, das sie leerten, und es sah auch nicht danach aus, als werde es das letzte sein. I )er eifernde Ernst, mit dem sie zu Anfang ihres Hierseins die Frage des Mutes und der Furcht erörtert hatten, war verflogen, war wie ja ein solcher Wechsel oft bei der Jugend vorkommt – einer übermütigen Stimmung gewichen. Der Wein mochte das seinige dazu beigetragen haben. Sie waren fröhlich geworden.

Fröhlichkeit geht darauf aus, sich anderen mitzuteilen. Fröhlichkeit möchte sich kundtun. Darum benimmt sich, wer fröhlich wird, leicht ein wenig auffallend und laut. Man war auch an den Nachbartischen nicht eben leise. Aber es mag in dem Benehmen der drei jungen Studenten wohl etwas gelegen haben, das jene bescheidene Zurückhaltung vermissen ließ, die ältere Leute so gern an jüngeren sehen. Jedenfalls, man blickte zu ihnen nicht mehr mit demselben allgemeinen Wohlwollen herüber, mit dem man ihr Hereinkommen bemerkt hatte. Ein alter Graubart, der entfernt von ihnen saß und an einem der Witze, die sie sich laut erzählten, keinen Geschmack gefunden haben mochte, murmelte etwas in sich hinein, wovon nur die Worte »die Jugend von heute« zu verstehen waren. Das übrige konnte man sich dazu denken. Andere wiederum schienen an dem Witz Gefallen gefunden zu haben und lachten mit.

Es zeigte sich schon hierin etwas, das in der Folge sich immer deutlicher bemerkbar machen sollte, dass nämlich die Anwesenheit der drei, die ja innerhalb der größeren Gemeinschaft eine kleine für sich bildeten, unter der Gästeschaft eine gewisse Spaltung hervorrief, eine Parteibildung sozusagen, für und wider sie. Die einen mochten sich gern in die Erinnerung an ihre eigene Studentenzeit zurückversetzen lassen, die anderen hingegen der Meinung sein, dass sie selber, zu ihrer Zeit, sich anders und jedenfalls besser benommen hätten. Auch hat ja jede Stätte ihre Geister, so insbesondere auch jede Gaststätte. Und den Geistern dieser Stätte mochte es zum mindesten befremdlich erscheinen, dass studentisches Wesen sich hier in einer Weise bemerkbar machen durfte, als sei es der Mittelpunkt des Ganzen. Als daher die Studenten, nachdem ihr Witz im Reden zur Neige ging, nun auch noch gar zu singen anhüben, da entstand darüber zunächst ein allgemeines Verstummen und Aufhorchen, worin aber zweierlei Stellungnahme enthalten war: Beifall und Missbilligung. Jemand meinte: »Die scheinen zu glauben, sie befänden sich hier in ihrer Korpskneipe in Dorpat.« Der Graubart sagte: »Es wird mir hier zu laut«, stand auf und wollte gehen. Seine Freunde zwar brachten ihn durch Beschwichtigungen von seinem Vorhaben ab, doch hörte er, nachdem er sich wieder gesetzt hatte, nicht auf, ergrimmt auszusehen. Nun war ja aber der Wein, der, wie man weiß, die Kehlen, durch die er hinabgeschüttet wird, sangesfreudig macht, nicht nur am Tisch der Studenten getrunken worden, und so fand denn das Lied, das von dorther erscholl, sehr zum Missvergnügen des Graubarts und seiner Freunde, Mitsänger auch an den anderen Tischen, hier einen brummelnden Bass, dort einen schon etwas dünn gewordenen Tenor, denen sich ein von Husten unterbrochener Bariton anschloss. Es war das Lied, das von Dorpat aus sich die Liedertafeln eroberte: »Bruder trink einmal! Wir sind ja noch jung!«

Während also die kleine Gemeinschaft der drei von Seiten ihrer Umgebung zum einen Teil einen freundlichen Widerhall ihrer Stimmung, zum andern eine spürbar werdende Ablehnung erfuhr, war dem Herrn, der ihnen gegenüber allein an seinem Ende des Tisches saß, weder das eine noch das andere anzumerken, weder ein Missvergnügen, noch ein Wohlgefallen an ihnen. Er gab, falls er sich über sie ein Urteil gebildet hatte, diesem in keiner Weise Ausdruck. Er aß, von einem beflissenen Ober, der sich wie zu seiner ausschließlichen Verfügung hielt, bedient, was dieser ihm vorsetzte. Es war eine Reihe auserlesener Gerichte. Den dazugehörigen Getränken sprach er in mäßiger Weise zu. Und dabei kümmerte er sich, wie auch sonst um nichts als um sein Essen, so auch um seine Tischgenossen scheinbar überhaupt nicht. Er sah nicht einmal nach ihnen hin. Nahm sein Blick doch zufällig einmal die Richtung über die Länge des Tisches hin, so fasste er mit diesem Blick die drei nicht ins Auge, sondern blickte so, als säße dort niemand. Nun kann es ja der Mensch im allgemeinen schlecht vertragen, für Luft angesehen zu werden. Man fühlt sich von einem Paar Augen angesehen und doch nicht angesehen, denn die Augen schauen so, als sei man gar nicht da. »Ihr seid mir Luft«, scheint dieser Blick zu sagen. Sie hatten sich immerhin gefragt, wer der Herr an ihrem Tisch sei. Er schien überhaupt nicht danach zu fragen, wer sie seien. Man ist es aber als Student aus Dorpat nicht gewohnt, so völlig übersehen zu werden.

Das Lied war zu Ende. Die drei Studenten tranken. Der Herr an ihrem Tisch machte sich mit Bedacht an irgendeine neue Köstlichkeit, die, appetitlich hergerichtet, vor ihn hingestellt worden war. Es sah nicht danach aus, als werde er damit seine Speisenfolge beenden. Wie sie im Trinken, so zeigte er im Essen Ausdauer.

Sie fingen an, ihre Bemerkungen über ihn zu machen, auch der, der vorher gesagt hatte, er ginge sie nichts an. Es stellte sich bei ihnen das Bedürfnis ein, ihm einen Spottnamen zu geben. Man suchte nach einem Tier, mit dem er sich vergleichen ließe. Der eine meinte, er sähe aus wie ein alter Auerhahn. Zu diesem Vergleich berechtigte gewissermaßen das spärliche, über dem Scheitel zum Schopf gesträubte Haar, das an zerzauste Federn erinnerte, wie auch der Bart, der in eigentümlicher Weise vom Kinn weg zum Hals gestrichen war. Der zweite hingegen behauptete, er habe einmal einen Birkhahn geschossen in der Zeit der Mauser. Der habe genau so ausgesehen, struppig und mit roten Flecken an Stelle der Augenbrauen. Der erste verteidigte seinen Auerhahn, aber der dritte fand einen Ausgleich, indem er vorschlug, es könnte eine Kreuzung beider Vogelarten sein, ein Bastard von Auerhahn und Birkhenne. So etwas komme ja im Wald vor. Die beiden anderen stimmten ihm lachend zu. »Also ein Rackelhahn!« – Und damit war der gesuchte Spottname gefunden. Nun witzelten sie eine Weile darüber: Ob alle Rackelhähne so gefräßig seien und wie ein Rackelhahn sich bei der Balz benimmt, ob er kullert oder schnalzt, ob er bei den Hennen beiderlei Art beliebt oder unbeliebt sei, oder ob es ihm, als dem Maulesel unter den Vögeln des Waldes, versagt sei, Familie zu gründen. Das ging so eine Weile fort, bis schließlich der eine von den dreien, der auch bisher schon die meiste Zurückhaltung gezeigt hatte, meinte, der Witz habe sich erschöpft. Auch sollten sie leiser sprechen, da sonst der Rackelhahn es hören und darüber einschnappen könnte. »Möge er doch!« warf der zweite hin. »Ich möchte gern einmal sehen, wie ein Rackelhahn sich benimmt, wenn er einschnappt. Ob er übrigens unter den anderen Hähnen als satisfaktionsfähig gilt?«

»Und ich möchte gern einmal einen Rackelhahn schießen«, sagte der mittelste. »Alles habe ich schon in meinem Jagdbuch. Nur ein Rackelhahn, der fehlt mir grad noch darin.« »Schonzeit für Rackelhähne! – Singen wir lieber wieder eins! Prosit! – Was wollen wir singen?«

Sie einigten sich auf das »Ännchen von Tharau«, das gerade zu der Zeit ein sehr verbreitetes Lied und gewissermaßen das war, was wir heute den neuesten Schlager nennen würden. Wahrscheinlich hatte jeder von ihnen sein Ännchen, wenn es auch anders hieß und nicht von Tharau, sondern von Riga, von Dorpat oder sonst einer baltischen Stadt war, in der es hübsche Mädchen gab, und wo gab es die nicht! Also sangen sie mit Begeisterung und Gefühl. Und, als hätten die Geister, die mit den Studenten eingezogen waren, die Geister der Stätte allmählich doch für sich gewonnen, fielen nach und nach immer mehr Stimmen mit ein, so dass es ein voller Chor wurde und allen Ännchen von Tharau oder sonst woher die Ohren geklungen haben mögen. So blieb denn auch, vom Schwall der Töne überdeckt, das verdrießliche Murmeln, das gleichzeitig darüber entstand, in den Graubärten stecken, die, da es wirkungslos vergrollte, sich darauf beschränken mussten, ergrimmt auszusehen. Nur der Herr am Tisch sang weder mit, noch murmelte er. Wie von einem unsichtbaren Kreis umschlossen, durch den nichts hindurchzudringen vermochte als nur der auftragende Kellner mit seinen Schüsseln, aß er, ganz dieser einen Beschäftigung hingegeben, sich langsam durch eine Speisenfolge hindurch, deren Ende nicht abzusehen war. Den ihm dienenden Geist, der ihn in untertäniger Weise darüber beriet, was heute besonders zu empfehlen sei, würdigte er von Zeit zu Zeit einer kurzen anerkennenden Bemerkung. Alles andere, so schien es, war für ihn einfach nicht da.

Vor jedem der Gedecke stand ein Körbchen mit Brot, verschiedenerlei Art, hellerem und dunklerem. Auch jenes dunkelbraune, fast schwarze, aus dem gesäuerten Teig des Roggenmehles hergestellte Brot, das für den Balten der Inbegriff allen Brotes ist, durfte dabei natürlicherweise nicht fehlen. Es ist dies das Brot der heimatlichen Scholle, das tägliche, um das wir bitten, und darum das heilige Brot. Es duftet wie die blühende Heimaterde selbst, und es behält immer etwas von ihrer Feuchtigkeit und Frische, so dass es sich kneten und formen lässt wie jener Lehm, aus dem Gott den Menschen erschuf. Auch vor den drei Studenten stand ein Korb mit solchem Brot. Und der eine von ihnen – es war derjenige, der am Ende des Tisches, also dem Rackelhahn gerade gegenüber saß – hatte während des Singens aus einer Scheibe dieses dunklen Brotes ein Klümpchen herausgebrochen und es so lange zwischen Fingerspitzen und Handflächen gerollt und geknetet, bis daraus eine ebenmäßige kleine Kugel geworden war. Diese Kugel hatte er, spielerisch und unnütz, wie dergleichen Dinge geschehen, über die Klinge eines Tischmessers laufen lassen, schräg von der Spitze bis zum Griff, an dessen verbreitertem Ansatz sie, an weiterem Abwärtsrollen gehemmt, zum Stillstand kam. Dieses unlöbliche Spiel – man soll ja mit Brot nicht spielen – hatte er öfters wiederholt, ohne sich dadurch im Singen zu unterbrechen. Es war ein Nebenher unbeschäftigter Hände, das er trieb, eine ihm selber kaum bewusste Handlung. Und da nun einmal die Kugel wieder am Griff des Messers zur Ruhe gekommen war, nahm er sie dort nicht wieder fort, sondern krümmte den Mittelfinger der rechten Hand am Daumen, so als wollte er die Kugel wegschnippen. Er sang: »Ännchen von Tharau, mein Reichtum, mein Gut, du, meine Seele, mein Fleisch und mein Blut.« Und genau auf das Wort »Blut« schnellte sein Mittelfinger vor und die Brotkugel flog, ein kleines Flachbahngeschoß, über die ganze Länge des Tisches und traf den Rackelhahn an der linken Schulter. Der Schütze hätte nachher bei seiner Ehre nicht sagen können, ob er mit Absicht gehandelt und mit Vorsatz gezielt habe. Jedenfalls war er selber darüber erschrocken, dass sein Schuss ein Treffer geworden war. Vielleicht hätte er sich nach den vorangegangenen Gesprächen nicht gewundert, wenn der Rackelhahn als angeschossener Vogel mit einem krächzenden Laut in die Höhe gefahren wäre oder als beleidigter Mensch sich eine solche Belästigung ernsthaft verbeten hätte. Aber der Rackelhahn tat weder das eine noch das andere. Mehr erstaunt als erschrocken, ließ er den Bissen, den er gerade auf der Gabel hatte, nicht bis zu seinem Mund gelangen, sondern behielt ihn so lange in der Schwebe, bis die von seiner Schulter abgeprallte Kugel, im Rücklauf über Teller hüpfend und an Gläser anschlagend, den Rand des Tisches erreicht hatte, über den sie hinabrollte und verschwand. Die Gabel mit dem aufgespießten Bissen sank auf den Tellerrand zurück. Der Rackelhahn stand auf. Er suchte nach der hinabgerollten Kugel, fand sie, bückte sich, hob sie auf und betrachtete sie prüfend, wie wohl ein Naturforscher einen von ihm bisher noch niemals untersuchten Gegenstand betrachtet, zog darauf aus einer Tasche seiner Weste einen kleinen mit Perlen bestickten Beutel, der sonst zur Aufbewahrung von Münzen dienen mochte, tat die Kugel hinein und steckte den Beutel wieder fort. Hierauf begab er sich an seinen Platz zurück, setzte sich wieder hin und schob jetzt erst den vorbereiteten und inzwischen wahrscheinlich etwas abgekühlten Bissen in den Mund. Er schien gewillt, seine Mahlzeit ruhig fortzusetzen. Nur einmal, im Kauen innehaltend, blickte er lang über den Tisch hin, diesmal aber nicht ins Leere, sondern fest in das Gesicht des Studenten, der die Kugel abgeschossen hatte. Und, wie das die Gewohnheit mancher Menschen ist, die auf dem einen Auge schärfer sehen als auf dem anderen, kniff er dabei das linke Auge zu und schaute nur aus dem rechten. Der Blick glich dem eines Schützen, der über Kimme und Korn sein Ziel ins Auge fasst.

Wäre das runde Kindergesicht des Studenten nicht vorher schon vom Wein gerötet gewesen, man hätte bemerken können, dass er einen roten Kopf bekam. Es wäre nun für ihn, sollte man meinen, kein unüberwindlich schwerer Entschluss gewesen, aufzustehen, zum anderen Ende des Tisches hinüberzugehen, eine kleine Verbeugung zu machen, »gestatten Sie« zu sagen, seinen Namen zu nennen und eine Entschuldigung zu murmeln. Und damit wäre, so möchten wir glauben, der Vorfall als eine Ungeschicklichkeit glaubhaft zu machen und die ganze Sache als eine Geringfügigkeit wohl beizulegen und aus der Welt zu schaffen gewesen. Aber die Menschen tun ja nur in den seltensten Fällen das, was wir ihnen zu tun geraten haben möchten. Also machte der Student die Entschuldigung, die ihm wohl angestanden hätte, nicht, sondern saß da mit seinem roten Kopf wie ein kleiner Junge, der eine Dummheit begangen hat, sie zwar nicht abstreitet, aber auch nicht bereuen möchte, sondern durch ein verlegenes Lachen für sie noch um Beifall wirbt.

Den Beifall, den er suchte, fand er bei seinem Korpsbruder, dem Nachbarn zur Linken, der, seinen Gesang unterbrechend, ihm zuflüsterte: »Da hast du ja den Rackelhahn, den du dir für dein Jagdbuch wünschtest.« – Anders der Nachbar zur Rechten, der ihm einen missbilligenden Blick zuwarf und zwischen die Zeilen des Liedes die Worte einfügte: »Du benimmst dich unmöglich, mein Lieber«, weiter aber nichts unternahm, das wie ein Abrücken vom Korpsbruder ausgesehen hätte. Bruder bleibt Bruder, und man muss zu ihm halten, auch wenn er Dummheiten macht. Vielleicht wollte er ihm nachher gründlicher seine Meinung sagen. Vorläufig hielt er es für besser, ruhig weiterzusingen. Der Zwischenfall hatte noch kein Aufsehen erregt, und auch die kurze Unterbrechung des Liedes war niemandem aufgefallen, da die Mitsänger schon so in Schwung waren, dass durch sie die entstandene Lücke überbrückt wurde.

»Kommen auch Wetter auf uns zu schlahn, wir sind gewillt beieinander zu stahn.« – Das klang so einmütig, als gäbe es unter den Geistern der Stätte keinen mehr, der dem guten Ännchen abhold gewesen wäre. Auch der Verursacher des Zwischenfalls, der unvorsichtige oder vorwitzige Schütze, sang wieder mit, mit einem so unbefangenen Ausdruck auf seinem runden Kindergesicht, als wäre der Fall für ihn damit erledigt, dass die von ihm abgeschossene Brotkugel im gestickten Beutel des Rackelhahns verschwunden war. Aber – Rackelhähnen ist nicht zu trauen, und – Kugeln haben es in sich.

Hätte er wenigstens nun sich darauf besonnen, dass man mit Brot nicht spielen soll! Aber, als brauchten seine müßigen Hände diese Beschäftigung, hatte er im Singen bald wieder aus der schon angebrochenen Scheibe des dunklen Brotes einen Brocken herausgelöst und ihn so lange zwischen Fingerspitzen und Handflächen gedreht und geknetet, bis daraus von neuem eine kleine Kugel entstanden war – der ersten zum Verwechseln ähnlich. Und wieder begann dasselbe Spiel mit der herabrollenden Kugel auf der schrägen Messerklinge.

Ja, was ist es – so müssen wir hier uns fragen – das den Menschen dazu bringt, eine einmal begangene Dummheit noch einmal zu begehen? Ist es ein böser Geist oder ein guter? Ist es, dass in ihm zwei Geister miteinander ringen, wobei schließlich der gute, da er allein mit dem bösen nicht fertig wird, sich Hilfe dadurch verschafft, dass er den bösen es so weit treiben lässt, bis ein Eingriff von außen den Kampf entscheidet – zugunsten des guten? Es ist im Menschen etwas, das Strafe haben will, und da er sie anders nicht bekommt, ihn Strafwürdiges begehen lässt. Die Kugel war, wie schon zu wiederholten Malen, am Ansatz des Messergriffes zum Stillstand gekommen. Aber darin, im Stillstand, wollte, ja konnte sie nicht verharren. In jeder Kugel steckt der Geist der Kugel. Er ist ihr Dämon. Er kann sich nicht damit zufrieden geben, dass die Kugel irgendwo ruht. Keine Kugel will ruhen. Sie will, dass wir sie in Bewegung setzen, sie rollen, laufen, springen, fliegen, sich drehen lassen. Warum drehen sich denn die Erde, der Mond, die Sonne und alle Sterne und fliegen umeinander? Warum ist denn gerade die Kugel Gegenstand unzähliger Spiele, angefangen von der harmlosen Murmel des Kindes bis zu den weniger harmlosen Spielbällen der Erwachsenen? Der Dämon macht's! Er kann nicht ruhen, solange die Kugel eine Kugel ist. Erst wenn sie, sei es durch Anprall, sei es durch inneren Druck oder sonst eine auf sie einwirkende Gewalt, ihre Form verloren hat, also keine Kugel mehr ist, verliert er seine Macht und lässt sie – und uns, die wir mit ihr spielten – endlich in Ruhe.

Der Student sang: »So wird die Lieb in uns mächtig und groß nach manchem Leiden und traurigen Los«, und genau auf das Wort »Los« ging auch der Schuss los, das heißt das Brotkügelchen, das auf der Messerklinge wie auf einer Zielbahn gelegen hatte, flog, vom Finger weggeschnippt, lang über den Tisch und traf den Rackelhahn an der rechten Schulter, oder, um beim Bild zu bleiben, am rechten Flügel. Die Wirkung dieses zweiten »Schusses« glich der des ersten. Nur dass ein zweites Mal an sich schon etwas anderes ist als ein erstes. Einmal kann keinmal sein, zweimal kann das auf keinen Fall.

Der Rackelhahn legte Messer und Gabel hin, stand auf, suchte nach der über den Tisch gerollten und zu Boden gefallenen Kugel, fand sie, hob sie auf, betrachtete sie und ließ sie in dem kleinen gestickten Beutel verschwinden, der seinen Platz in einer seiner Westentaschen hatte.

»Haben Sie etwas verloren?« fragte jemand vom Nebentisch. »Danke. Schon gefunden.« Der Kellner schien sich über den unbegreiflichen Sammeleifer seines Herrn nicht weiter den Kopf zu zerbrechen. Herren sind Herren. Wie will sich einer, der's nicht ist, ihre Schrullen erklären! Diensteifrig war er, als jener nach der Kugel suchte, herzugeeilt, sich nach ihr zu bücken, war aber beide Male damit zu spät gekommen. Nun stand er wieder wartend, ob der Herr noch einen Wunsch habe. Finsteren Blickes behielt er fortan das andere Ende des Tisches im Auge. Wie lange noch sollten ungestraft diese Angriffe auf seinen auserwählten Gast sich fortsetzen dürfen? »Ich bin dafür, dass wir das Lokal wechseln«, sagte der Student, der rechter Hand vom mittleren saß. – »Nun grade nicht«, sagte der zur Linken. Die zweite Kugel war nicht unbeobachtet geblieben. »Was geht am Tisch der Studenten vor?« fragte man sich. Darüber geriet das »Ännchen« in die Gefahr, ein frühzeitiges und verworrenes Ende zu nehmen. Die Hauptsänger waren nach der nochmaligen Unterbrechung ausgeschieden. Und die Mitsänger, der festen Führung ermangelnd, kamen aus Takt und Text und brachten das Lied ins Schwanken. Sie verirrten sich aus dem dritten Vers in den ersten und aus dem vierten in den zweiten zurück, so dass, da einzelne Stimmen vorauseilten, während andere zurückblieben, das Lied zu einem misstönenden Kanon wurde, den schließlich nur noch eine einzelne Stimme standhaft dem Ende zuführte. »Mein Licht, meine Sonn!« – das klang schon nicht mehr überzeugend. Der Rackelhahn, nochmals auf seinen Platz zurückgekehrt, hatte nicht wieder nach Messer und Gabel gegriffen. Die Mahlzeit war für ihn beendet. Auch die Schale mit den Früchten ließ er unberührt und bestellte nur noch den Kaffee. Nachdem er noch einmal mit dem zielenden Auge in das runde Gesicht des Studenten geblickt hatte, zog er aus seiner Brusttasche ein kleines Notizbuch hervor und begann, Eintragungen darin zu machen. Man hätte meinen können, er notiere sich die eben geschehenen Vorgänge. Vielleicht auch – es hat ja niemand Einblick in das Büchlein gewonnen – machte er sich bloß Notizen, die sich auf die stattgehabte Versammlung oder sonst auf irgendwelche geschäftlichen Dinge bezogen. Man kann ja nicht wissen, was alles ein Mensch sich zu notieren für nötig hält. Es kann erstens dies und zweitens das sein, und drittens...

Ja, was ist es – so müssen wir uns wieder fragen – mit der Zahl Drei? – Dass alles, was zweimal geschah, in eigensinniger Weise stets noch ein drittes Mal geschehen will! Einmal knüpft an, zweimal verwickelt, dreimal schließt oder löst den Bann. Dem Zwang der Zahl Drei unterworfen, hatte der Student zum dritten Male eine kleine schwarze Brotkugel geformt und sie auf die als Roll- und Zielbahn dienende Messerklinge gelegt. Und so, als wäre auch sein Nachbar zur Rechten dem Zahlenzwang gegenüber machtlos, hatte auch er, obwohl er sah, was geschah, nichts unternommen, den Korpsbruder von dessen Vorhaben zurückzuhalten. »Flügellahm ist er schon«, flüsterte der Korpsbruder von links. »Jetzt brauchst du ihm nur noch den Fangschuss zu geben.« Im Tempo schleppend und in der Tonart absinkend, beendete der allein gebliebene standhafte Sänger das »Ännchen«: »Um deines herum«.

Der Mittelfinger, am Daumen gekrümmt, spannt sich und teilt, indem er sich streckt, der Kugel seine Geschwindigkeit mit, dass sie, nach den Gesetzen der Ballistik, fliegt und – trifft.

»Herzschuss«, rief belustigt eine Stimme vom Nebentisch.

»Unerhört«, ließ ein Bass sich vernehmen. Es war der Graubart aus seiner Ecke. Eine plötzliche Stille trat ein. Einige ferner Sitzende standen auf, um besser sehen zu können, was da vor sich ginge. Diesmal kam auch der Kellner mit seiner Dienstfertigkeit nicht zu spät. Er hatte aufgepasst, wohin die Kugel, von der Brust des Gastes abgeprallt und über den Tisch zu Boden gefallen, gerollt war. Kriechend holte er sie unter einem der Nachbartische hervor und überreichte sie auf einem Teller, so als handle es sich dabei um eine ihm längst bekannte Gewohnheit seines Herrn. Auch diese dritte Kugel verschwand in dem gestickten Beutel und mit ihm in der Westentasche des Rackelhahns.

Der setzte sich noch einmal hin, aber nur, um sich die Rechnung geben zu lassen. Während der Kellner sie schrieb – sie war lang – schrieb auch er noch etwas in sein Notizbuch. Die Rechnung des Kellners prüfte er genau, verzichtete aber darauf, sich auf die Scheine, die er hinlegte, etwas herausgeben zu lassen.

Dann stand er auf und blickte sich um, als suche er unter vielen fremden Gesichtern nach einem bekannten. Das schien er gefunden zu haben, worauf sein eigenes Gesicht einen freundlicheren Ausdruck annahm. Er ging, während er sich dem Ausgang näherte, auf einen Herrn zu, der in Gesellschaft anderer saß, bei seinem Herankommen aber aufstand und ihn herzlich begrüßte. Mit ihm wechselte er einige Worte, worauf jener ihn zur Tür hinaus begleitete. Der Begleiter kam bald wieder, allein. Er trat an den Tisch der Studenten heran, machte eine förmliche Verbeugung und stellte sich vor, was die Studenten, natürlich gleichfalls stehend, erwiderten.

Dem Schützen überreichte er eine Visitenkarte, wodurch zugleich allen Beobachtern deutlich gemacht war, dass eine Forderung gefallen war.

»Über die Sache selber, meine Herren«, sagte er, »sind nicht viel Worte zu verlieren. Drei Brotkugeln – drei Bleikugeln, das gibt eine einfache Rechnung. Ehe wir uns aber über die genaueren Bedingungen einigen, möchte ich nicht versäumen, einen Hinweis zu erwähnen, den mir mein Parte gab. Ich bin, so sprach er, an drei Stellen meines Leibes getroffen worden. Zuerst an der linken Schulter, dann an der rechten, und das dritte Mal war es Herzschuss. Genau so werden auch meine Kugeln sitzen: linke Schulter, rechte Schulter, Herz.«

In den Gesichtern der drei Studenten rührte sich kein Muskel.

»Und nun«, wandte er sich an den Schützen, »darf ich bitten, mir Ihren Sekundanten zu nennen und, da Ihnen als dem Geforderten die Wahl des Unparteiischen zusteht, auch diesen.«

Die Rollen waren schnell verteilt. Zum Sekundanten erbot sich mit Ungestüm der Korpsbruder, der zur Linken gesessen hatte, während der zur Rechten das Amt des Unparteiischen übernahm.

Über den weiteren Verlauf des Abends erzählte man sich nachher in der Stadt allerlei merkwürdige Dinge. Die an dem einen Tisch entstandene Gegnerschaft habe, so sagte man, auf die anderen Tische übergegriffen, wie ein Brand, der sich durch umherfliegende Funken ausbreitet. Es seien herüber und hinüber, zwischen Einzelnen und Gruppen, allerlei Bemerkungen, Äußerungen und Rückäußerungen ausgetauscht worden, in einem spitzen, verletzenden, nicht mehr gutmütig scherzenden Ton, also dass selbst zwischen ältesten Freunden eine gereizte, ins Feindselige entartende Stimmung aufgekommen sei. Die einen hätten für die Studenten Partei genommen und gemeint, man müsse doch Spaß verstehen. Die anderen dagegen hätten von verletzter Würde gesprochen und dass man sich nur ja nichts gefallen lassen dürfe, am wenigsten vom Übermut der Jugend. Und über dieses Wort vom Übermut der Jugend seien dann vollends zwei Parteien entstanden, mit Stellungnahme für und wider, mit gegeneinander von den Stühlen aufstehen und auf den Tisch schlagen, mit erhitzten Gesichtern und dem Gebrauch von Ausdrücken, die schon nicht mehr weit von Beleidigungen waren. Was aber besonders merk würdig angemutet und fast unheimlich gewirkt habe, sei gewesen, dass während dieses, alle Einmütigkeit einer bisher friedlichen Gesellschaft zerstörenden Zwistes selbst die leblosen Gegenstände, wie von einem allgemeinen Taumel ergriffen, sich so benommen hätten, als seien die Geister der Zwietracht auch in sie gefahren. Gläser, die bis dahin fest auf ihrem Fuß gestanden hätten, seien, ohne dass man bemerkt habe, wie jemand an sie stieß, umgefallen und zerbrochen. Flaschen hätten, statt ihren Inhalt in die dazu bestimmten Gefäße, beziehungsweise Kehlen zu schütten, ihn über Tischtuch und Hosenbeine ergossen. Gabeln seien zu Boden geklirrt und hätten getönt wie verstimmte Stimmgabeln. Harmlose Tischmesser hätten angefangen zu funkeln wie Dolche, und es habe nicht viel gefehlt, dass hier und da eine Hand sich um ihren Griff geschlossen hätte wie um eine Stoßwaffe. Und selbst der große Kronleuchter, der in der Mitte des Raumes von der Decke herabhing, habe, nachdem er sich auf unbegreifliche Weise verdoppelte, angefangen zu schaukeln und sich zu drehen, so dass schließlich einer, um diesem Spuk ein Ende zu machen, eine Drehpistole gezogen und die Wachslichter daran eines nach dem anderen ausgeschossen habe. Eine Leistung, die allgemeine Anerkennung gefunden und damit wieder eine friedlichere Stimmung angebahnt habe. Nach und nach sei denn auch der Aufbruch der Gäste erfolgt, lange nachdem die drei Studenten, fast unbemerkt, das Lokal verlassen hatten. Als allerletzter sei nur noch der Graubart, von allen Freunden verlassen, einsam in seiner Ecke zurückgeblieben, vor sich auf dem verödeten und begossenen Tisch nichts als die eigne geballte Faust, zu der er, in Ermangelung anderer Zuhörer, gesprochen habe wie zu einem Gesinnungsgenossen. Was er gesprochen hat, ist uns nicht überliefert. Es blieb im Bart stecken. Aber mit Sicherheit dürfen wir annehmen, dass es etwas gewesen ist, darin der Ausdruck »die Jugend von heute« vorkam.


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