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3

Nach Anlegen eines Notverbandes hatte der fremde Arzt mit dem schwarzen Spitzbart sich weiter nicht um den Verwundeten gekümmert, sondern es dessen Freunden überlassen, ihn heimzuschaffen. Es war für Michels Eltern, als ihnen der Sohn wie ein Verunglückter ins Haus gebracht wurde, keine angenehme Überraschung. Da lag er nun, vom alten Hausarzt betreut und von einer ganzen besorgten Familie, Vater, Mutter und Geschwistern, gepflegt, und grübelte Tage und halbe Nächte lang darüber nach, wie es möglich gewesen war, dass er, allen Wahrscheinlichkeiten des Duells zum Trotz, an der linken Schulter hatte verwundet werden können.

Die Freunde konnten sich's auch nicht erklären. Der Linke hatte wohl mehr die Haltung des Gegners als die seines Parten im Auge gehabt, und der Rechte hatte ja als Unparteiischer zählend auf seine Uhr sehen müssen. Sie versicherten ihm zwar, seine Haltung sei eine ganz vorzügliche gewesen, aber das beruhigte ihn nicht, denn im entscheidenden Augenblick hatten sie ihn ja gar nicht beobachten können. Eine Erklärung brachte erst der gegnerische Sekundant, der im Auftrag seines Parten, des Rackelhahns, sich nach Michels Befinden erkundigen und ihm eine baldige gute Besserung wünschen kam. Von ihm erfuhr er: In dem Augenblick, da beide die Pistolen hoben, habe er in auffallender Weise seinem Körper eine Wendung nach rechts gegeben, dass er dadurch die linke Schulter dem Gegner als Ziel preisgab. Der hatte es also nicht nötig gehabt, »um die Ecke zu schießen«.

Damit aber war nur die Tatsache erklärt, nicht ihr Beweggrund. Den Gedanken, er könnte möglicherweise unter einem von seinem Gegner ausgehenden Willenszwang gestanden haben, verwarf er. Den Rackelhahn für einen ganz gemeinen Hypnotiseur zu halten, verbot ihm die Achtung, die er für jenen empfand. Was also blieb zu untersuchen übrig? Die Ursache seines Handelns in sich selbst zu finden – das sah er nun für eine Aufgabe an, die wohl des Nachdenkens wert sein mochte.

Und so fand er: Beim Anblick der Pistole des Gegners, die sich auf ihn zu richten begann, hatte es ihn unwillkürlich durchzuckt: »Nur jetzt schnell weg mit der linken Schulter!« Aber war das nicht eben die Furcht, die zu haben er sich nicht zugestehen wollte? Und darum hatte er, um sich selber zu beweisen, dass er keine habe, den durch die Ankündigung bedrohten Teil seines Körpers nun erst recht dem Gegner hingehalten: »Hier, mein Herr! Es soll nicht an mir liegen, wenn Sie nicht treffen!« Nun – und jener hatte getroffen. Aber – warum hatte er selber vorbeigeschossen, wo er doch, wie er meinte, ganz sorgfältig draufgehalten hatte, sozusagen mitten hinein? Dafür aber gab ihm der Linke die lachende Erklärung: »Wir kennen das von der Jagd her, mein Lieber. In der Natur ist immer sehr viel Platz nebenbei.« Unerwartet, entgegen aller ärztlichen Voraussage, trat hohes Fieber ein. Der alte Hausarzt zog bestürzt einen zweiten Arzt zu Rate. Sie flüsterten miteinander Latein. Ins Deutsche übersetzt, hieß ihr Geflüster: »Blutvergiftung«.

Michel wurde aus der Behaglichkeit des elterlichen Hauses in die Unbehaglichkeit einer privaten Klinik überführt. Grauenhaft ist es dort, wo Sauberkeit, nichts als Sauberkeit den einzigen Schmuck der Lebensräume ausmacht. Er kam sich vor wie in einer Vorhölle. In dieser erschien ihm ein Engel. Der Engel trug gescheiteltes Haar, das sich an den Schläfen in kleinen, braunen Löckchen ringelte. Er beugte sich über ihn, sah ihn mitleidig an. Als Michel dem Engel die Hand reichen wollte, dass dieser ihn in den Himmel führe, schwand die Erscheinung. Michel fragte, fiebrig redend, wo der Engel geblieben sei und ob er nicht wiederkommen werde. Jemand lachte. Sicherlich war das ein Teufel. Also war es doch wohl nicht so ganz einfach, in den Himmel zu kommen.

Die Ärzte waren verschiedener Meinung. Der Chirurg, der erste am Ort, sprach sich für Amputation des Armes aus. Man zögerte. Am dritten Tag des Fiebers erschien in der Klinik, dort von niemandem gekannt, jener Arzt, der beim Duell zugegen gewesen war. Er sei, sagte er, dringend herbeigerufen worden. Ob er den Kranken sehen dürfe. Man ließ ihn zu. – Von »Blutvergiftung«, so lautete sein Urteil, könne gar nicht die Rede sein, es sei denn, man übertrüge diesen Begriff auf seelische Zustände. Der junge Mann sei von der Seele her krank, nicht vom Körper her. Er sei sozusagen seelisch angeschossen. Da aber sehr häufig, und so auch in diesem Fall, der Körper die zugänglichsten Angriffspunkte, um an die Seele heranzukommen, biete, so rate er zu einer sehr einfachen körperlichen Behandlung, keineswegs aber zur Amputation, die, statt zu retten, die Lebensgefahr nur vergrößern würde. »Abführen, schwitzen lassen. Geben sie ihm...« und er nannte ein harmloses Hausmittel, wie man es Kindern gibt, die durch irgendeine Unmäßigkeit krank geworden sind. Er bäte, sagte er, doch wenigstens den Versuch zu machen. Danach ging er.

Das »unschuldige« Mittel half. Von der Amputation sprach niemand mehr. Michel konnte in die elterliche Wohnung heimkehren, wo Pflege und Schonung, von den Ärzten immer noch angeraten, ihm in reichlichster und liebevollster Weise zuteil wurden. War er doch für die Seinen wie ein dem Tod Entrissener.

Öfters besuchten ihn seine beiden Freunde, der Rechte und der Linke. Er kam, sooft er mit ihnen zusammen war, immer wieder auf die Ereignisse jener Nacht und jenes Morgens zurück, so dass sie, die ja inzwischen weitergelebt hatten und längst an andere Dinge dachten, vergeblich sich bemühten, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Er ließ nicht ab, bis er eines Tages, es war wie zufällig, durch sie noch eine Einzelheit, die ihm bisher unbekannt geblieben war, erfuhr. Der Sekundant des Rackelhahns hatte lächelnd, wie man über Absonderlichkeiten eines Freundes lächelt, dem Linken erzählt: Der Rackelhahn habe, noch die rauchende Pistole in der Hand, in die Westentasche gegriffen, einen kleinen gestickten Beutel hervorgezogen, ihm eine der Brotkugeln, mit denen er beschossen worden war, entnommen und sie hinter sich in den Wald geworfen.

Diesen Bericht seiner Freunde hörte Michel mit weit aufgerissenen, seltsam dunkel gewordenen Augen an, lehnte sich danach im Bett, das er immer noch hüten musste, zurück und sagte mit einem Seufzer, der wie Erleichterung klang: »So hat er also nur noch zwei.« »Ja«, lachten die Freunde. »Zwei wird er wohl noch haben. Wir wollen ihn bitten, dass er sie dir testamentarisch vermacht – für den Fall nämlich, dass er selber nicht dazu käme, sie in den Wald zu werfen. Also werde nur recht schnell wieder gesund. Wir sind nämlich beide fest davon überzeugt, dass das nächste Mal das Glück auf deiner Seite sein wird.« »Das ist nicht Glück«, sagte Michel, »das ist Bestimmung.«

»Schön also, Bestimmung. Dann soll es dir bestimmt sein«, dies sprach der Linke, »einen Rackelhahn in dein Jagdbuch einzutragen.« »Ganz so leichtsinnig wollen wir es doch nicht nehmen«, sagte der Rechte. »Aber hoffen wir das Beste!«

Nach diesem Gespräch ging es mit Michels Genesung schnell vorwärts. Die Wunde in der linken Schulter verheilte glatt. Es blieb im Arm eine Schwäche zurück, die sich bemerkbar machte, wenn er ihn hob. »Aber es ist ja nur der Linke«, sagte er, wenn man ihn deswegen bedauern wollte.

Es hätte nun der zweite Kugelwechsel bald folgen können. Aber da kam vom Rackelhahn, durch dessen Sekundanten bestellt, die Meldung, er ließe bitten, ihm gütigst Aufschub zu gewähren, da er in dringenden Angelegenheiten, die auf alle Fälle zu ordnen seien, verreisen müsse. Bis zu seiner Rückkehr könnten einige Monate vergehen. Er werde es melden, sobald er wieder im Lande sei.

Es fand sich kein Grund, ihm die Bitte abzuschlagen, und so blieb es zunächst dabei, dass die Fortsetzung des Duells verschoben war – auf unbestimmte Zeit.

Michel reiste mit seinen Freunden nach Dorpat zurück und setzte sein Studium fort, die Jurisprudenz.

Die ihn vorher gekannt hatten, fanden ihn verändert, ohne recht sagen zu können, worin die Veränderung bestünde. Anders ist das Gesicht der Soldaten, die aus der Schlacht kommen, anders als das Gesicht derer, die nicht an ihr teilnahmen. Auch eine große Liebe verändert das Gesicht eines Menschen. Michels rundem rosigen Kindergesicht sah man es an: Er hatte etwas erlebt. Einem oberflächlichen Beobachter konnte er ruhig, heiter, ausgeglichen erscheinen. Am Korpsleben nahm er Anteil wie bisher, stand auch wacker manche Schläger-Mensur durch, die es auszufechten gab. Es hätte ihm niemand vorwerfen können, er vernachlässige seine Pflichten als Korpsstudent. Die Professoren sahen ihn in den Vorlesungen sogar öfter als früher. Und doch war in seinem Wesen etwas, das seine Freunde, die ihn ja kannten, als neu, fast als fremd an ihm empfanden. »Er ist nicht mehr derselbe«, sprachen sie. Kurz vor Weihnachten kehrte er nach Riga zurück, das Fest als Kind im Elternhaus zu verleben. Er freute sich darauf. Gerade als er im Wagen vor der Tür des Hauses anlangte, ging auf dem Bürgersteig bleichen Gesichtes jener gewesene Korpsbruder vorüber, dessen schlechte Haltung den »Rausschmiss« zur Folge gehabt hatte. Michel machte eine unwillkürliche Bewegung mit der Hand nach seiner bunten Mütze, wie um ihn zu grüßen, besann sich aber noch rechtzeitig darauf, dass jener für ihn ja »nicht mehr existierte«. Der »Gewesene« hatte errötend gleichfalls die Hand nach der Mütze gehoben, aber da Michel den Gruß unterließ, unterließ er ihn auch. Im nächsten Augenblick sahen beide aneinander vorbei. »Wann habe ich ihn zuletzt gesehen?« fragte sich Michel. »War es nicht damals, als wir eben im Begriff waren, zum Kampfplatz hinauszufahren?« – Und plötzlich erschien ihm diese Begegnung wie ein Vorzeichen, dass er auch dem Rackelhahn bald wieder begegnen werde. Ein alter und lieblicher Aberglaube sagt: »Wir dürfen uns, wenn die letzten Lichtlein am Baum niederbrennen, bei jedem, das seine kleine entfliehende Seele als Rauchwölkchen aushaucht, etwas wünschen.« Michel sah am verlöschenden Baum das letzte der vielen Lichter nur noch als Stümpfchen mit winziger Flamme brennen. »Was soll ich mir wünschen?« dachte er schnell. Und schnell war auch die Antwort gefunden: »Dass ich den Rackelhahn abschieße!« O Gott, welch ein Weihnachtswunsch! Das Flämmchen erlosch. Michel sah kein Rauchwölkchen aufsteigen. Und das hätte doch grad die Erfüllung des Wunsches bedeutet.

Am nächsten Morgen erblickte er, am Fenster stehend und durch die Scheiben, auf die der Frost Eisblumen zu malen begann, auf die Straße hinausschauend, den Rackelhahn. Er ging auf der anderen Seite der Straße, langsam, im Strom der Menschen, der in der Richtung zum Dom hin sich bewegte. Die Weihnachtsglocken begannen zum Gottesdienst zu läuten.

Michel hatte die Absicht gehabt, sich den Eltern und Geschwistern zum Kirchgang anzuschließen, nicht so sehr aus Religion, mehr aus Gewohnheit, Stimmung des Tages und kindlichen Gefühlen. Auch hielt er es für ein Gebot der Höflichkeit dem lieben Gott gegenüber, dass man wenigstens an den hohen kirchlichen Feiertagen ihn in seinem Haus besuchte. Als aber die Mutter, da sie ihn keine Anstalten treffen sah, fragte, ob er denn nicht mitkomme, entschuldigte er sich mit Kopfschmerzen und blieb zu Haus. Die Entdeckung, dass der Rackelhahn von seiner Reise zurück und wieder im Lande sei, hielt er vor allen, auch vor seinen Freunden, geheim. Die Eltern ahnten ohnehin von der Fortsetzung des Duells nichts. Der Gegner hatte angekündigt, er werde seine Rückkehr melden. Da solches noch nicht geschehen war, hielt Michel es nicht für nötig, seinerseits durch Vermittlung seines Sekundanten an ihn heranzutreten. Mochte jener den Zeitpunkt bestimmen, dass sie wieder einander gegenüberstehen würden – mit den geladenen Pistolen.

Michels kleine Geschwister hatten als Überraschung für den Silvesterabend eine Aufführung vorbereitet, zu welcher, teils als Mitwirkende, teils als Zuschauer, Freunde des Hauses, Erwachsene und Kinder, geladen waren. Es sollte ein Schattenspiel gezeigt werden: Das vergangene Jahr, wie es als Frühling, Sommer, Herbst und Winter vorüberzog, bis nun an seinem Ende der Weihnachtsmann und das Christkind zusammen das neue Jahr, das als verhüllte Gestalt erschien, auf den Plan riefen, es unter den Segen Gottes stellend, dass es die Hoffnungen der Menschen erfülle. Die Gouvernante des Hauses hatte das Stück gedichtet, und da die Zahl ihrer häuslichen Zöglinge nicht ausreichte, alle Rollen zu besetzen, waren auch von deren kleinen Freunden und Freundinnen etliche als Mitspieler hinzugezogen worden, was zusammen eine stattliche Spielschar ergab, voll Lebhaftigkeit, Eifer und Wichtigkeit. Die kleinen Darsteller hatten die langen, dem kindlichen Verständnis angepassten Verse der poetisierenden Lehrerin brav gelernt, also dass in betreff eines fehlerfreien Aufsagens ein Misserfolg nicht zu befürchten war. Nun galt es noch, die Stellungen und Bewegungen der Darsteller den Bedingungen der Bühne anzupassen, die in nichts weiter bestand als in einer, über den ganzen Rahmen einer breiten Tür gespannten weißen Leinwand, auf deren Fläche die Schatten der Spieler, nicht diese selbst, sichtbar werden sollten. Als Rahmen erwies sich am geeignetsten die Tür, die das Esszimmer mit dem Saal, der jetzt das Weihnachtszimmer war, verband. Zur Bildfläche nahm man ein großes Tischtuch, eines von den alten edlen Leintüchern, die zu Großmutters Aussteuer gehört hatten und dessen feine unaufdringliche Musterung den Reiz der reinen Fläche nicht störte, sondern anmutig belebte.

Michel, der bei den Vorkehrungen geholfen hatte, durfte auch bei der Probe, die am Nachmittag, also nur wenige Stunden vor der Aufführung stattfand, zusehen. Er saß im Weihnachtszimmer, in welchem der Baum, geschmückt mit neuen Lichtern, die erst am Abend wieder brennen sollten, stand. Hinter den Fensterscheiben erlosch die letzte Dämmerung des kurzen Wintertages. Von der Straße her warf das Licht einer Laterne den Schatten der Fensterkreuze, gebrochen in den Winkeln, über Wand und Decke. Jenseits der Leinwand tat eine große Petroleumlampe, durch einen Spiegel verstärkt, ihr Möglichstes, die reine Fläche zu erhellen. Auf ihr zeigten sich auch schon die Schatten der Darsteller. Da diese aber noch außerhalb ihrer Rollen standen, wie Schauspieler, die, bevor der Vorhang aufgeht, sich unnütz auf der Bühne herumtreiben und von ihr erst verscheucht werden müssen, bildete sich daraus ein zwar bewegtes, aber regelloses und absichtsloses Spiel der Schatten, die auftauchten, vorüberhuschten, verschwanden, bald ins Überlebensgroße anwachsend und verblassend, bald wieder zu natürlicher Größe schrumpfend und zugleich sich schärfer und schwärzer auf der Fläche abzeichnend, als wäre denen, die sich jenseits der Leinwand befanden, ihr Anspruch im Raum, und damit auch ihre bestimmte Größe und Deutlichkeit, noch nicht zugewiesen.

Michel erkannte im Hin und Her der bewegten Erscheinungen seine kleinen Geschwister und deren Freunde, fand aber, dass ihm in deren Schatten etwas Neues, gewissermaßen Fremdes entgegentrat, wie eine Abkürzung, Vereinfachung, Formulierung, in der die Fülle und Wärme der Wirklichkeit, das farbige Leben selbst, kaum als dasselbe wiederzuerkennen war.

Die Probe begann. Die Dichterin-Gouvernante hielt sich als Regisseur, der das Spiel bald von der Bühne, bald vom Zuschauerraum aus lenkt, abwechselnd vor und hinter der Leinwand auf. Zuweilen, wenn sie sich jenseits befand, trat ihr eigner Schatten, nicht hingehörig und darum störend, auf. »Es ist nicht gut«, dachte Michel, »wenn die Gestalt des Dichters selbst in sein Werk tritt, die eignen Geschöpfe verdunkelnd, die von ihm heraufbeschworenen Schatten überschattend. Er soll uns seines Wesens reinste Ausgeburten vor Augen führen, nicht sich selbst zur Schau stellen.«

So zog an ihm das vergangene Jahr vorüber als Frühling, der den Osterhasen mit sich führte, als Sommer, der Garben, als Herbst, der Früchte brachte, und als Winter-Weihnachtsmann mit einem kleinen Christbaum. Die Verse, aus den Bestandteilen der deutschen Sprache wie aus einem großen Baukasten mit im vorhinein fertig geschnittenen und gedrechselten Bauklötzchen gebaut und sauber und glatt gefügt, kannte er, da die Geschwister, ihr Gedächtnis zu überprüfen, sie ihm oft genug hergesagt hatten, fast schon so gut auswendig wie die kleinen Schauspieler selber und konnte, da sie an einigen Stellen ihrer gereimten Rede ins Stocken kamen, soufflierend nachhelfen. Nur den Schluss mit dem neuen Jahr kannte er noch nicht. Es war auch noch nicht zur Stelle, das heißt die Darstellerin, die das neue Jahr verkörpern sollte, hatte aus irgendwelchen Hinderungen nicht zur Probe kommen können. Da ihr aber nur eine stumme Rolle vorgeschrieben war, bei der sie zum Schluss, entschleiert, ein Füllhorn über den Kopf zu halten hatte, war ihre Anwesenheit entbehrlich, indem die fehlende Gestalt zwischen Weihnachtsmann und Christkind durch die Dichterin ersetzt wurde. Also war es Michel beschieden, den Genius des neuen Jahres, zunächst und probeweise, in der Gestalt eines ehrsamen älteren Fräuleins zu erblicken. Klein, rundlich und gedrungen, mit eingeschnürter Taille, henkelartig gebogenen Armen, kurzem Hals und breitem Kopf, auf dem ein zum Knäuel gedrehtes Zöpfchen wie ein runder Knauf saß, erinnerte ihn das Bild an die Form einer Likörflasche, die beim Vater in Gebrauch stand, so dass er laut auflachte. – »Wenn das neue Jahr so aussieht«, dachte er. Da er aber fürchtete, den Genius durch sein Lachen verletzt zu haben, rief er schnell: »Bravo!«

Er blieb, nachdem die Probe beendet war und Genius und Darsteller sich aus dem Raum hinter der Leinwand entfernt hatten, allein im dunklen Weihnachtszimmer sitzen, vor sich das alte Tischtuch der Großmutter, das jetzt durch keine Schatten, nur noch durch seine eigne feine Musterung wie von innen her belebt erschien.

Die Lampe, an ihrem Platz vergessen oder absichtlich brennen gelassen, leuchtete als ein stilles Licht, das selber nicht sichtbar wurde und nur durch seine Wirkung bewies, dass es da sei.

»Wie würde ich selber als Schatten auf der Leinwand aussehen?« dachte er. Die Dichterin-Regisseurin hatte den Kindern, um sie in die richtige Stellung zu Licht und Bildwand zu bringen, öfters und schließlich mit Ungeduld: »Profil! Profil!« zugerufen. »Merkt es euch endlich, seitlich müsst ihr stehen. Sonst sieht man ja von euren Gesichtern nichts. Seht nicht auf euren Schatten.« Michel wurde sich dessen bewusst, dass ihm sein eignes Profil fast unbekannt war. Nur beim Schneider, der zwischen zwei Spiegeln Maß nahm, hatte er mit Erstaunen sich selber wie einen Fremden von der Seite beobachtet. Auch um sein eignes Schattenbild im Profil zu sehen, hätte es eines Spiegels bedurft. Schattenbild, Spiegel, Licht hinter der Leinwand – das alles kam ihm auf einmal höchst seltsam, fast unheimlich vor.

Er versuchte jetzt, sich die Schatten von Menschen, die er kannte, auf der Leinwand vorzustellen. Es wurde eine Beschwörung. Der erste, dessen Schatten er sich so deutlich vorstellte, als sähe er ihn wirklich, war der Rackelhahn: Vogelkopf mit gedrungenem Schnabel und wulstigen Brauen, der sonderbare Bart vom Kinn zum Halse gestrichen, die Haare zum Schopf gesträubt wie zerzauste Federn. Er verscheuchte das Bild. Danach traten seine Freunde in die Erscheinung. Der Rechte, sein Unparteiischer im Duell, hager, hölzern, gerade, maßvoll in jeder Gebärde, zurückhaltend, kein Spielverderber, aber oft ein Warner. »Du benimmst dich unmöglich, mein Lieber«, sagte das Bild. Der Linke – wie er im Leben, so hielt auch sein Schattenbild nicht still – noch von jugendlicher Schlankheit, aber mit der Anlage zu späterer Rundlichkeit, Dicke. Ein Drauf- und Durchgänger. Nicht immer auf die eigene Würde bedacht, aber ohne Zugeständnisse, wenn es die Ehre des Korps galt. »Nun grade nicht!« sagte der Schatten. Der Sekundant des Rackelhahns, korrekt, nicht ohne Liebenswürdigkeit, unterhaltend, wählerisch im Umgang, straff und, der Körperlänge entsprechend, immer ein bisschen von oben herab. Die Professoren der juristischen Fakultät in Dorpat, ein vollbärtiger, ein dünner, ein gebeugter mit lispelnder Zunge. Lehrer und Kameraden der Schulzeit. Eine kleine Jugendliebe von der Schlittschuhbahn, Zöpfchen und Schleife. Die Kinderfrau. Noch ein Profil taucht auf, scharfgeschnitten, hohe Stirn, spitzer Bart. »Woher kenne ich ihn?« – Es ist der Arzt, der beim Duell zugegen war und nachher Michel untersuchte, als er das hohe Fieber hatte. Die anderen Ärzte. Der Chirurg, der den Arm amputieren wollte. Michels Vater hat sich mit ihm befreundet. Er soll eine hübsche Tochter haben. Michel kennt sie nicht. Noch ein Bild will auf der Leinwand entstehen, aber es wird kein Schatten daraus. Michel sieht kein Profil. Ein Gesicht, von vorn, zwei Augen, Nase und Mund. Es scheint aus der Tiefe der Leinwand zu kommen, aus dem Raum dahinter, es hebt die Fläche auf. Die dritte Dimension tritt in Kraft. Ein Engelsantlitz. Als er dem Engel die Hand reichen will, schwindet er. Und ein Teufel lacht dazu. Er weiß es bis auf diesen Tag nicht: War jene Erscheinung, die er im Fieber sah, Traum oder Wirklichkeit? Eine Scheu, die er sich selber nicht erklären kann, hat ihn davon abgehalten, nachher, als er gesund war, danach zu fragen. Eine Weile erscheinen nun keine Bilder mehr, weder flächenhafte noch räumliche. Dann ist es, als wolle sich etwas gestalten, aber es fehlte das Licht, es sichtbar zu machen, oder die Bildwand, es aufzunehmen. Es scheint etwas Bedrohliches werden zu wollen. Trat es aus der vierten Dimension in eine Welt, die nur für drei eingerichtet ist, oder lag es daran, dass menschliche Sinne nicht imstande waren, es aufzufassen? Es blieb verborgen, unsichtbar, sein Dasein ankündigend nur durch etwas Unfassliches, ähnlich dem Gefühl: »Es steht jemand hinter mir.« – Plötzlich weitet sich die Bildwand. Großmutters Tischtuch wächst weit über den Rahmen der Tür hinaus, es nimmt die ganze Wand des Zimmers ein. Michel erblickt sich selbst, am Tisch in der Gaststätte, mit ihm die Freunde, ihnen gegenüber der Rackelhahn. Blasser, wie eine dahinter liegende Schattenschicht, erscheinen die übrigen zahlreichen Gäste. Das »Ännchen von Tharau« wird gesungen. »Mein Fleisch und mein Blut.« Michel sieht sich die erste Brotkugel auf den Rackelhahn abschießen. Und dann sieht er sich auf dem Duell stehen. Er findet seine Haltung tadellos, bis er törichterweise die linke Schulter vorkehrt. Zwei Schüsse knallen. Er sieht, wie es ihn nach links herumwirft. Er fällt. Und mit einem Ruck reißt er sich hoch, reißt sich aus seinen Gesichten, wie aus einem schweren, atembeklemmenden Traum. Es war, als habe im Augenblick der höchsten Gefahr eine Stimme ihm befohlen, aufzuwachen. Hinter der Leinwand wird es laut und lebendig. Jemand sagt, man müsse die Lampe löschen. Michel erhebt sich, seine Glieder sind ihm schwer. Er geht aus dem dunklen Weihnachtszimmer hinüber in seines, um sich für den Abend umzukleiden. Zum Abendessen ist auch der Chirurg geladen, des Vaters neuer Freund. Er entschuldigt seine Tochter: die Schneiderin habe sie im Stich gelassen. Es habe deswegen schon Tränen gegeben. Da sitze sie nun zu Hause und nähe. Aber nachher käme sie auf jeden Fall. Er wisse wohl, welche Rolle seiner Tochter bei der Aufführung zugedacht sei. Und da sie, wie er gehört habe, verschleiert aufzutreten habe, so könne sie ja, habe er ihr geraten, wenn das Kleid nicht fertig würde, verschleiert bleiben. Das war natürlich nur Scherz. Aber die Dichterin zeigte sich besorgt, dass nicht ihr Stück um seinen Schlusseffekt käme. Bei Tisch erkundigte sich der Chirurg nach Michels Wohlergehen. Ob nichts in der Schulter nachgeblieben sei von der Verwundung. »Nur eine schwache Erinnerung«, antwortete Michel.

Im Nebenher des Gesprächs erwähnte der Chirurg, der Witwer war und nur das eine Kind hatte, dass seine Tochter den Wunsch habe, die Krankenpflege zu lernen. Deshalb nehme er sie auch zuweilen in seine Klinik mit, damit sie sich beizeiten an den Anblick der Kranken gewöhne. Er sei damit einverstanden, dass sie nachher ihren Beruf daraus mache. Noch sei sie ja zu jung dazu. »Sie kennt Sie übrigens«, sagte er zu Michel. »Sie hat Sie gesehen, als Sie bei mir in der Klinik lagen. Aber Sie werden sich an ihren Besuch wohl kaum erinnern, denn Sie lagen damals in Fieberphantasien. Nicht wahr, Sie erinnern sich nicht?«

Michel verneinte, obwohl es ihm blitzhaft klar wurde, dass jetzt für ihn das Geheimnis gelöst war, wer damals der Engel gewesen war. Er empfand darüber eine Enttäuschung. Ein richtiger Engel war ihm für seine Erinnerung lieber als irgendein irdisches Mädchen – mochte es, wie seine Freunde behaupteten, noch so schön sein.

Die Freunde, die auch geladen waren, hatten gesagt: »Michel, pass auf! In die verliebst du dich sofort.«

»Abwarten«, hatte er geantwortet. Der Aufführung sah er zerstreut zu. Das war ihm ja nun alles schon bekannt. Mit Spannung wartete er nur auf das Auftreten des »Neuen Jahres«. Als es erschien, erkannte er in ihm seinen Engel nicht wieder. Als nachher, entschleiert, im endlich doch fertig gewordenen Kleid, das »Neue Jahr« als junge Dame der Gesellschaft ihm bei der Vorstellung die Hand reichte, fühlte er nichts davon, dass es dieselbe Hand war, von der er sich gern in den Himmel hätte führen lassen. Es war sein Engel nicht, weder im Schatten noch in der farbigen Wirklichkeit. Er fand, dass man sich mit ihr gut unterhalten konnte. »Man sieht wohl im Fieber manches anders«, dachte er und wünschte, wieder einmal solch ein Fieber zu haben.

Am zweiten Tag des Jahres kam Nachricht vom Sekundanten des Rackelhahns: Sein Parte lasse um Entschuldigung bitten, dass er seit seiner Rückkehr schon mehr als eine Woche habe verstreichen lassen, ohne sich zu melden. Er habe das Fest nicht stören wollen. Wann es denn nun genehm sei? »Immer so bald wie möglich«, wurde ihm geantwortet. Und so konnte denn die Fortsetzung des Duells schon auf den nächsten Morgen vereinbart werden.

Nichts hatte sich geändert, außer dass es jetzt Winter war statt Herbst und dass man darum im Schlitten hinausfuhr statt im Wagen. Im Wald sah man Spuren im Schnee von Reh und Hase. Zwischen zwei Mooshümpeln, aus einem Schneeloch ins andere, war ein Mäuschen getrippelt und hatte eine Spur hinterlassen wie eine feine Naht. Der Himmel war bedeckt, das Wetter windstill und mäßig frostkalt. »Gutes Schießwetter«, meinte der Linke.

Michel hatte sich vorgenommen, diesmal schneller zu schießen als das erste Mal. Man konnte ja nicht wissen, ob der Gegner ihm wieder so viel Zeit zum Zielen ließe. Und es war seine Absicht, jenem zuvorzukommen. Die Pelze hatte man an Baumäste gehängt. Beide waren im Frack. Michel spürte, ohne zu frieren, die Kälte der Luft bis auf die Haut, als stünde er nackt. »Rüstet euch!«

Und in die nackte Hand legte der Linke ihm den Pistolengriff. »Seid ihr fertig?« »Fertig.« »Fertig.« »Eins!« Michel hatte sofort Kimme, Korn und Ziel in einer Linie. Er hielt auf die Weste des Rackelhahns, dort wo er den gestickten Beutel vermutete. Als er den Finger krumm machte, flog ihm der Arm hoch. Sein Schuss ging in die Wolken. Der Arm sank schlaff herab, und die Pistole fiel ihm aus der Hand. So stand er und sah gelassen zu, wie drüben der Rackelhahn, die noch rauchende Pistole in der Hand, in eine Tasche seiner Weste griff, den kleinen gestickten Beutel herauszog, ihm etwas entnahm, das nur eine der Brotkugeln sein konnte, und dieses bestimmte Etwas über die Schulter weg in den Wald warf. Michel atmete wie erleichtert auf. »Sie sind verwundet«, sagte, auf ihn zutretend, der Arzt. Es war derselbe, den er vom ersten Gang her kannte, der Spitzbart. »Es scheint so«, sagte Michel und blickte verwundert auf seine Hand, an der es, von der Schulter herab, am Arm entlang, unter dem Ärmel hervor, rot in den Schnee tropfte.


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