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Im Augenblick, in dem du den Fuß auf russische Erde setzest – nehmen wir an, dies geschieht am Ausgang des Petersburger Nikolai-Bahnhofes – siehst du dich bereits gierig nach der Kunst des neuen Rußlands um. Denn, nicht wahr, du weißt es: hier hat das Weltrad eine Drehung beschrieben, ein neues Volk bewegt sich durch die Straßen, da möchtest du doch sehen, wie die Künstler die veränderten Gezeiten empfunden, miterlebt, gestaltet haben, und wie das äußere Bild Rußlands, das durch die Revolution so gründlich veränderte, durch die Begeisterung der Künstler verschönt worden ist?
Das erste, was du auf dem Newski-Prospekt erblickst, ist eine riesige Holzbaracke, eine Estrade und Rednertribüne, die Holzverschalung des monströsen Trubetzkoischen Pferdes mit dem Zaren Alexander III. darauf. Dieses Denkmal, so wurde 110 dir gesagt, stellt ein Nonplusultra an Plumpheit und Abgeschmacktheit dar, und du beklagst es darum nicht allzusehr, daß die blauweiße Holzkonstruktion den Prinzipien der Ästhetik auch nicht ganz entspricht. In Klammern stehe hier die Bemerkung: eine der erfreulichsten Veränderungen des Moskauer wie des Petersburger Stadtbildes wurde dadurch hervorgerufen, daß die Bolschewiki eine Unzahl schlecht empfundener und schlecht gestalteter Denkmäler einfach weggeputzt, zertrümmert, von den Piedestalen und Postamenten fortgesprengt haben, Zaren, Feldherren, Adler usw. Das Denkmal Peters des Großen, Katharinas in Petersburg, Minin und Posharskis in Moskau ist stehen geblieben. An Stelle des Skobeleff erhebt sich jetzt der Obelisk der Oktoberrevolution.
Weiter oben auf dem Newski gewahrt man, an die winklige Treppe des ehemaligen Stadthauses geschmiegt, eine riesige Stele, die von dem überlebensgroßen Kopf Lassalles gekrönt ist. Dieser Lassallekopf, der mehr an Brutus als an Lassalle gemahnt und aus dunkelgrün getöntem Gips ist, ist eigentlich – außer den beiden Marmortafeln mit der eingravierten Sowjet-Verfassung im Smolny – das Schönste, was ich an neuer Kunst in Rußland überhaupt zu sehen bekommen habe. Indes, so stark und bedeutend er auch erfaßt, so wild-monumental die Dämonie des Tribunen in ihm auch zum Ausdruck gebracht ist, als Kunstwerk stellt er nichts Außerordentliches dar; mein Freund Totila Albert macht dies weit besser.
Der Kopf ist aus Gips und die Stele aus gipsbestrichenem Holz. Sonderbar: diese steile Stele, die vier übereinander getürmte Quadern 111 vortäuscht, scheint in ihren Bestandteilen gar nicht fest gefügt, die oberste Quader hat einen Stoß abbekommen und ist sichtlich verschoben. Wenn man annimmt, daß diese Verschobenheit durch Inkonsistenz des Materials oder durch einen gegenrevolutionären Faustschlag verursacht sei, geht man fehl – denn man wird an vielen neuen Denkmälern dasselbe sich wiederholen sehen: die Postamente, auf denen sich diese Denkmäler erheben, sind verschoben und aus dem Gleichgewicht gerückt, womit ausgedrückt werden soll, daß überhaupt die Grundlagen dessen, was wir als Ruhm, Ewigkeit, Menschengröße anzusprechen gewohnt waren, in den letzten Jahren einen Stoß erhalten haben wie von einem moralischen Erdbeben, und daß sich unter diesem atmosphärischen Druck die Quadern, die den Gedanken stützten, verschoben haben. –
Marx. – Unendlich viele Marxdenkmäler, Büsten, Köpfe, Profile, in Lebensgröße, in riesigen Proportionen! Was haben sie aus dir gemacht, armer Marx, die Künstler des kommunistischen Rußlands. Einmal stehst du da, ein eben vorgerückter Kanzleirat mit von Regenwasser bis an den Rand gefülltem Zylinder an der Bratenrockhüfte. Das andere Mal bist du ein kleiner beleidigter rechthaberischer Bourgeois, der sich auf die Spitzen seiner polierten Stiefelchen reckt, um die Wichtigkeit seiner Person augenfällig zum Ausdruck zu bringen. Aber auch als assyrischen Löwenkopf, als Sonnengott mit zerflatternder Mähne und Fächerbart kann man Marx dargestellt sehen. Das Absurdeste, was ich an Darstellungen Marxens zu sehen bekam, war ein riesiges Bild, das auf dem Kongreß der professionellen 112 Schulen hinter dem Rednerpult an die Wand genagelt war – hier war Marx buchstäblich auf seinen Lorbeeren ruhend dargestellt – er hatte seinen spitzen Lorbeerkranz um das Gesäß gewunden, der Künstler hatte sein bißchen Grün nicht mehr oben anzubringen vermocht, so brachte er es unten an.
Wo sind denn die wirklichen Künstler geblieben, die das Stadtbild zu verschönern, die es auf den Grundton des neuen brausenden Lebensstromes zu bringen vermöchten? Hat die Revolution die Künstler nicht zu brüllender Ekstase angefacht und aufgepeitscht, so daß sie sich in rasendem Ungestüm auf die Stadt zu werfen, sie mit den Farben ihres Begeisterungsrausches zu überschütten, sie in die Formen ihres überschäumenden Dranges zu pressen und neu zu modeln versuchten? Ich habe Denkmäler gesehen, die, wie das des ermordeten Wolodarsky, von einem Dachdecker hätten herrühren können. Andere waren auf Bestellung in zweimal vierundzwanzig Stunden zusammengeschustert. Eines allerdings rührte von einem echten Künstler her, aber ich muß seine Entstehungsgeschichte erwähnen, sie scheint mir charakteristisch. Das Werk war ursprünglich auf dem Roten Platz vor dem Kreml aufgestellt gewesen und ist jetzt im »Ersten Proletarischen Museum« aufbewahrt. Sein Schöpfer ist Konjenkow und es stellt den Volkshelden und Ataman Stenka Rasin mit seinen sechs Gesellen nebst der »persischen Fürstin« dar. Auch dieses Denkmal ist nicht aus der überschäumenden Begeisterung für das Volk und seine wirklichen Helden, für die Legende des befreiten Volkes, die jetzt statt der Zarengeschichte auf den 113 Thron des Gewissens gehoben worden ist, entstanden, sondern auf Bestellung der Kosaken, die zu ihrem Fest auf dem Platz vor dem Kreml ihren Stenka haben wollten – genau an der Stelle, wo Stenka und seine Helfershelfer hingerichtet worden waren, der »Lobnoje Mjesto«, einer kreisrunden, von Gitter umgebenen Steinestrade vor der Kathedrale Wassili Blashenni. Die Kosaken gingen zu Konjenkow und sagten: »Konjenkow, Rußland ist frei, mache uns den Stenka und die Sechs um ihn herum, und vergiß die persische Fürstin nicht«, sagten die Kosaken. »Wir wollen dann das Ganze auf der Lobnoje Mjesto aufstellen zu ewigem Gedenken.« »Gut,« sagte Konjenkow, »bringt mir ein Faß Schnaps und ich mache euch den Stenka.« Die Kosaken brachten den Schnaps und warteten auf ihren Stenka. Ein paar Tage vor dem Kosakenfest gingen sie zu Konjenkow und fragten nach Stenka. Konjenkow hatte noch nichts gemacht, weder Stenka, noch die Helfershelfer, geschweige denn die Fürstin. »Ich brauche Schnaps, sonst kann ich nicht arbeiten«, sagte Konjenkow zu den Kosaken. »Hundesohn!« sagten die Kosaken, »du hast das Fäßchen leergesoffen und nichts gemacht?« Aber sie brachten doch wieder Schnaps, und nun machte Konjenkow rasch aus einem Baumstamm, den er roh zurechtzimmerte, den Stenka und bestrich die Ritzen mit etlicher Farbe, nahm dann einen anderen Holzklotz und setzte sechs kleine viereckige Klötze, grob zurechtgezimmert und bemalt, auf ihn hinauf: das waren die Köpfe der Helfershelfer. Unten aber, zu Füßen des Baumes Stenka, des Baumstammes, der Stenka, den Ataman, immerhin mit einer genialen 114 Brutalität und gewaltsamen, Etwas ausdrückenden Koloristik darstellt, unten liegt aus Gips, weiß und rosafarbig, zierlich geformt, die persische Fürstin in naturalistischer Brunst hingegossen. Das Ganze steht jetzt, wie gesagt, in jenem »Proletarischen Museum«, einer Villa, in der allerhand wunderschöne Bilder, Porzellane, Möbel und Kunstgegenstände aus dem Besitz geflohener Aristokraten und Bourgeois zusammengetragen sind. Wenn man zum Tor hereinkommt, sieht man in einer magisch panoptikumhaften Beleuchtung, von oben herunter beschienen, die persische Prinzessin in gipsener Anmut hingestreckt – man hat einen Effekt zu überwinden, so als ob man da in das Haus irgendeiner Madame Melanie geraten wäre –, aber dann bemerkt man den hölzernen Stenka hinter der Gipsfigur und sieht, daß das hier wahrhaftig ein repräsentatives Werk der neuen revolutionären Volkskunst Rußlands genannt werden darf.
Etwas Ähnliches, barbarisch gewalttätig groß Gedachtes muß am Anfang der Revolution auf dem Ochotni Rjad zwischen dem Theaterplatz und der Universität in Moskau zu sehen gewesen sein. Man entdeckt noch Spuren. Auf diesem langgestreckten Platz steht eine Reihe ebenerdiger und stockhoher Gebäude, Verkaufsbuden, in denen ehemals Würste, Tee, Honigkuchen und allerlei Leckerwerk zu kaufen gewesen war. Als zugleich mit dem Privateigentum all' dies mit einem Knall zertrümmert in die Luft ging, kamen die Futuristen mit breiten Pinseln daher, löschten oder strichen den ganzen Platz aus, bemalten einfach all' diese Buden und Häuserchen kreuz und quer mit Wellenlinien, farbigen 115 Bogen, Zacken und Kurven von oben bis unten, von rechts nach links und zurück. Da die Farben leider schlecht waren, sieht man heute nur noch der Länge nach über drei Buden weg eine giftblaue Welle sich aufbäumen, anderswo eine rote zickzackförmig zum Pflaster niederstürzen.
Die Bolschewiki, Lunatscharsky an der Spitze, haben in der Eile des Umsturzes die Futuristen, Kubisten und all' die anderen Atelierrebellen mit richtigen Revolutionären verwechselt, nämlich mit solchen, in denen der Drang, sich gegen überholte und verknöcherte Gesetze aufzulehnen, tiefer und bedeutsamer lebt als bloß im Handgelenk, womit sie ihre Pinsel, und den Kinnbacken, mit denen sie ihre Reden gegen den unverständigen bürgerlichen Käufer führen. Erst nach ungefähr anderthalb Jahren sahen die Bolschewiki ihren Irrtum ein; sie wurden gewahr, daß zwischen den extremen Kunstrichtungen und dem Empfinden des Volkes gar keine Verbindung bestand, und daß das Volk sich stumpf gaffend, aber gleichgültig, wohl die Purzelbäume an den Straßenecken gefallen ließ, in seinem revolutionären Trieb aber durch all' diese Kapriolen nicht im geringsten bekräftigt und angefeuert wurde. Da kamen dann die Dachdecker und Maurerpoliere an Stelle der Kubisten und Futuristen und verübten Kunstwerke auf ihre Art. Jetzt sieht man auf öffentlichen Plätzen und in öffentlichen Gebäuden eine biedere, nichtssagende Dutzendkunst sich breitmachen und fühlt schmerzlich, daß hier eine Gelegenheit versäumt worden ist. –
Ausstellungen sah ich in Moskau, in denen Kandinsky bereits als akademischer Klassiker überholt war. In solch' einer Ausstellung war ein Saal 116 einem Künstler eingeräumt, dessen Namen ich vergessen habe, der aber Gemälde wie dieses malte: eine Tafel, schwarz, in der Mitte ein schwarz lackierter Kreis, glänzend schwarz, der von einem mattschwarz lackierten durchschnitten wird. Eine andere Tafel zeigt auf blauem Grund einen geraden Strich von gelber Farbe quer von unten links nach oben rechts. Fünfzig andere Tafeln einer neuen Kunst, die das Primitive, wie man sieht, mit Erfolg sucht und zu finden gewußt hat, bedecken die Wände. An der Mittelwand aber hängt das Manifest des Künstlers: sieben eng beschriebene Schreibmaschinenseiten. Durch diese Ausstellung führte an einem Sonntag, als ich sie besuchte, ein junger Volkskommissariatsbeamter eine Arbeitergruppe, die das mit bewegter Stimme vorgetragene Manifest ehrfurchtsvoll anhörte und dann selber zusah, wie der eine schwarze Kreis den anderen durchschnitt.
Man wirft den Bolschewiki überhitzten Drang bei der Erfüllung ihrer Erziehungsbestrebungen vor. Man ruft ihnen zu: ihr überfüttert das Volk mit Kunst! Das Volk schafft sich sein Brot selber, ihr aber stopft ihm Schaumkuchen in den Rachen, bis es sich übergibt! In Petersburg leitete, als ich zuletzt dort war, eine Ausstellung im ehemaligen Winterpalais eine für den Winter und die kommenden Jahreszeiten geplante Ausstellungsreihe ein. In dieser ersten war alles Erdenkliche zusammengetragen: Theaterkunst, Kinokunst, ein Propagandawaggon für erwachsene Analphabeten, Gebrauchs- und Luxustöpfereien mit den Sowjet-Emblemen, eine Modenschau (!) mit neuen Kostümen und Hüten aus Samt, auf denen der 117 Hammer und die Sichel der Sowjets in eher abscheulichen als anmutigen Ornamenten angebracht waren – für die Sowjet-Bourgeoisie ersonnen und angefertigt – ein Sammelsurium aus moderner Malerei, Plastik, Schularbeiten, Buchdruckausstellung, Herbarien, primitivem Hausgerät, außerdem ein Saal mit Entwürfen für das geplante Liebknecht-Luxemburg-Denkmal. All' dies sozusagen inkrustiert in das Museum der Revolution, zu dem die Prunksäle des ehemaligen Zarenpalastes jetzt umgewandelt sind.
Aus all' diesem Tohuwabohu habe ich mir zwei Dinge gemerkt und herausgefischt: das erste ist, daß in die Akademien jedermann aufgenommen werden kann und muß, der von der Straße hereinkommt und Kunstübung erlangen oder erlernen will. Es melden sich in der Tat Hunderte von jungen und älteren Leuten, Arbeitern, Studenten, Angehörigen der Sowjet-Behörden usw.; von all' diesen aber erscheinen in der Klasse kaum vier oder fünf, denn wer hätte nach der täglichen Arbeitszeit und der Last und Qual der Lebensmitteleinholung noch Lust und Spannkraft zur Kunstübung?
Das andere aber war Tatlin. – Tatlin ist ein junger Künstler, Professor an der Petersburger Akademie, der die in wahrer Bedeutung des Wortes geniale Idee gehabt hat: daß in einem Zeitalter, in dem die Maschine den Menschen überflügelt, vernichtet, zertreten und zusammenkartätscht hat, eigentlich die Maschine als Modell viel interessanter sei als der Mensch selbst. Tatlin schafft infolgedessen Denkmäler für Maschinen und nicht mehr Akte. Die Struktur des menschlichen Körpers erleidet, durch das Temperament 118 eines modernen Künstlers gesehen, gewisse Veränderungen – somit darf man es Tatlin nicht verargen, wenn seine Maschinendenkmäler auch keine Maschinenkörper, sondern Quintessenzen von Maschinen vorstellen. Tatlin konstruiert diese Kunstwerke, die man in Moskauer Schaufenstern wie in Petersburger Akademiehallen anstaunen kann, natürlich nicht aus dem herkömmlichen Material Ton, Marmor, Bronze, sondern aus Latten, ausgedienten Wasserleitungshähnen, Blechbüchsen, Gummischnullern, Mikroskoplinsen, Schürhaken, geborstenen Treppengeländern. Ich traf ihn im Winterpalais, wo er vor einer seiner Kompositionen, die er »Konterreliefs« nennt, einer Schar zusammengeströmter Soldaten, Arbeiter und Arbeiterinnen aus der Sowjet-Bourgeoisie einen Vortrag über das Prinzip der Materialkunst hielt.
Oscar Wilde hätte sicher den größten Genuß beim Betrachten der Kunst Tatlins gehabt, denn Tatlin bestätigt ja sein Paradox: daß nicht die Natur die Kunst schaffe, sondern die Kunst die Natur. Mich hat Tatlin von der Stichhaltigkeit dieser Meinung vollständig überzeugt. Denn wo ich seit dem Tage, an dem ich sein Werk zuerst vereinigt sah, einem Haufen von zerbrochenen Gebrauchsgegenständen, ausrangierten Lokomotiven, vor Müdigkeit umgesunkenen Trambahnwagen, in ihre Bestandteile zerfallenen Bretterbuden begegnet bin, sagte ich mir sofort: Tatlin. Tatlin ist in der Tat der repräsentative Künstler dieser Zeitepoche und über dem Tempel seiner Kunst steht das russische Wort: Remont.
Er hat jetzt in Petersburg ein Denkmal für die Dritte Internationale, d. h. den Entwurf zu diesem 119 Denkmal ausgestellt. Das Denkmal soll an die 300 Meter hoch werden und an seiner Basis etwa 100 Quadratmeter messen. Man stelle sich vor, daß irgendein Titan den Eiffelturm beim Nacken gepackt und ihn mit einer Armwindung zur Spirale um- und umgedreht hat. In den Raum, den die Spiralkreise offen lassen, hängt nun Tatlin übereinander vier riesige Gebilde aus Glas mit Rippen aus Eisen und Beton. Das unterste größte ist ein Zylinder von etwa 80 Metern Durchmesser, in dem sich der Kongreßsaal der Dritten Internationale, außerdem Säle für Schreibmaschinisten, Leseräume, ein Theater und ein Restaurant befinden sollen. Etliche 30 Meter über diesem Zylinder ist eine Pyramide angebracht: in ihr finden die Sitzungen der Exekutive statt. Darüber wieder ein schon etwas schmälerer Zylinder, in dem die Radiostation, ein Kinosaal und ähnliche Lokalitäten untergebracht sind. Hoch oben aber eine Halbkugel: die Licht- und Kraftstation. Diese vier Gebilde aus Glas, Eisen und Beton drehen sich unaufhörlich um ihre Achsen. Der Sitzungssaal der Dritten Internationale einmal im Jahr, die Exekutive einmal im Monat, die Radiostation einmal am Tage und die oberste Halbkugel einmal in der Minute. Alle vier Gebilde werden nach dem Prinzip der Thermosflasche geheizt. Die Drehbewegung erklärt sich aus dem Gedanken, daß die Dritte Internationale ein Organismus ist, der sich in fortwährender Bewegung befindet, nichts Stabiles vorstellt, eher einem Himmelskörper vergleichbar. Daher ist auch hoch oben die Spitze des Turmes mit den Antennen wie ein Teleskop schief nach den Sternen umgedreht und weist ins Unendliche. Ich fragte einen Apostel 120 Tatlins, der mir das Modell erläuterte, nach der Kraft, die das Monument in Bewegung setzen sollte. Der junge Mann kroch sogleich unter das Podium und begann eine Kurbel zu drehen, worauf oben die Internationale in die gewünschte Rotation geriet.
Das Volk der Städte hat wenig zu essen, also soll es wenigstens an Zirzenses keinen Mangel leiden. In den Opernhäusern entfaltet sich allabendlich Pomp und Farbenpracht der ehemalig kaiserlichen Opernausstattungen. In dem wunderbaren blau und silbernen Marientheater Petersburgs, in dem nicht minder wunderbaren rot und goldenen Großen Opernhaus Moskaus sah ich manch' eine meisterhafte Aufführung der populärsten Werke von Rimsky-Korsakoff, Borodin, Seroff, Glinka, den »Prinzen Igor«, »Sadko« und »Die Macht des Feindes«, dann auch den »Barbier« von Rossini, »Lakmé« von Delibes und anderes. Das Orchester ist vorzüglich, zum Teil spielen die Solisten auf kostbaren, der ehemaligen Bourgeoisie weggenommenen Instrumenten. Der Kapellmeister sitzt im Frack da, seine Schar in der Buntscheckigkeit ihrer übriggebliebenen Garderobe. Sänger und Sängerinnen erfüllen ihre Aufgaben augenscheinlich mit großer Hingabe, von dem inbrünstigen Enthusiasmus der neuen Zuhörerschaft mitgerissen. Denn das Publikum der Oper ist ein ganz neuartiges: Soldaten, Arbeiter, Kinder – Scharen von Kindern, Tausende von Kindern füllen alle Ränge! Nach den Aktschlüssen hallen die prächtigen Häuser vom Jubel der entzückten Zuhörer wider, Kinderjubel mischt sich in die brausenden Rufe, die die beliebten Sänger und 121 Sängerinnen hervorlocken. Zum Paroxysmus aber steigert sich die Freude nach den Balletten.
Ich kann es wohl sagen, daß ich in meinem ganzen Leben nicht so viel habe Ballett tanzen sehen wie im ersten Monat meines Aufenthaltes in Moskau. Und zwar waren dies gar nicht die Ballette, die wir in Europa als russische Ballette bestaunt haben, sondern die guten alten »Divertissements«, in denen 50 Damen in Tüllröckchen, mit rosafarbigen Trikotfüßchen und das sonderbare Wesen: Ballettänzer in seidenen Höschen mit wirbelnden Beinen Sprünge vor der Rampe beschreiben. Auch hier kannst du die Namen der meistbewunderten Künstler aus tausend enthusiastischer Kehlen Geschrei erfahren, und was mehr ist – nein, weiß Gott, ich muß den Hergang erzählen: Es war nach dem »Schwanenteich« Glinkas, da erschien auf der Bühne plötzlich ein in der alten Zarenlivree steckender Theaterdiener und schleppte aus den Kulissen einen riesigen Korb mit Orchideen und Chrysanthemen heraus. Oben in der linken Ecke war mit einem Seidenmäschchen ein Briefchen an den Henkel befestigt. Aus der entgegengesetzten Kulisse hüpfte Katharina Geltzer zum Korb herbei und bedankte sich mit Kußhändchen. Wir in unserer Loge, ich saß mit den Türken, Österreichern und Amerikanern da, vergaßen den Mund offen vor dieser voroktoberlichen Ehrenbezeigung, oder wie man es nennen will!
Der Metallarbeiterverband Petersburgs hat sich in seiner letzten Jahresversammlung darüber beschwert, daß die Regierung der Sowjets mehr Geld für Ballette ausgebe als für den Verband der Metallarbeiter Rußlands. Und ich hörte 122 Künstler Klage führen darüber, daß Lunatscharsky in unbegreiflicher Verirrung Ballettgesellschaften im ganzen Lande herumhetze, wo doch die Bauernweiber sich vor den nackten Beinen bekreuzigten und davonliefen . . ., so verstehe der Volkskommissar für Volksaufklärung die Verbreitung der Kultur und die Erweckung des Bildungstriebes in dem kunsthungrigen Volk! Dies stellt natürlich eine böswillige Verdrehung der Tatsachen vor. Wahr ist, daß das russische Volk wie kein zweites der Welt den Tanz pflegt, daß bei den Russen die Freude an der Körperbewegung, an wilden und an gemessenen Rhythmen der Gliedmaßen als ein Element der Volkskunst gelten kann. Daran hat der Ernst der Zeit und der – Hunger nichts geändert. Im Gegenteil– es ist jetzt vielleicht eine Wildheit und Zügellosigkeit wach, die es einem begreiflich macht, daß dem Volk eine immerhin zur Kunst erhobene Form der Bewegung gebändigter Körper vorgeführt werden muß, um es zu entzücken.
Eine andere Frage ist es, ob die Regierung nicht besser daran täte, ihr Augenmerk liebevoller auf das Schauspiel zu richten als auf das Ballett. Staunend las ich das Repertoire der Moskauer Bühnen durch. In den Monaten meiner Anwesenheit spielte man folgende Stücke:
»Was Ihr wollt« von Shakespeare; »Locandiera« von Goldoni; »König Harlekin« von Lothar; »Sintflut« von Berger; »Cyrano de Bergerac« von Rostand; »Adrienne Lecouvreur« von Scribe; »Ein Glas Wasser« von demselben; »Das Heimchen am Herd« von Dickens; »Die Hoffnung auf Segen« von Heyermans und den »Revisor« von Gogol.
123 Ich war einigemal in Stanislawskis »Künstlerischem Theater« an der Kamergerski und in seinem »Ersten Studio« auf dem Platze an der Twerskaja, wo er seine jungen Künstler spielen läßt. An einem Nachmittag setzte ich mich dann mit ihm selber, dem scharmanten Menschen und großen Künstler, diesem wahrhaftigen Erneuerer des modernen Theaters zusammen und ließ mich über die Nöte und Hoffnungen des russischen Theaters belehren.
Stanislawski (der politisch als wenig zuverlässig gilt) hat den Mut verloren. Er erklärte mir traurig: das neue proletarische Publikum komme ebensowenig in sein Theater, wie die proletarischen Dichter brauchbare Stücke einreichten. Beides gebe es also nicht. Die Kunst wate wie das private und öffentliche Leben durch einen Sumpf, durch die Auflösung, und es sei nicht abzusehen, wann es zu einer Konsolidierung kommen könnte. Daß die Konzentrationsmöglichkeit für die Künstler der nächsten Generationen verschwunden sei, und daß es nun nur gälte, zu vegetieren und am Leben zu bleiben. Ich konnte Stanislawski den Vorwurf nicht ersparen, daß er sein Publikum nicht erziehe, es nicht in sein Theater ziehe dadurch, daß er ihm ernste und wichtige Stücke biete, wie zum Beispiel Strindbergs »Damaskus«-Drama oder Tolstojs Alterswerke, die wir jetzt in Berlin hätten. Erschütternd brach da die Bitterkeit aus Stanislawski hervor: ich muß ja meinen Schauspielern um den Hals fallen, sagte er, wenn sie überhaupt zu den Vorstellungen kommen; zehn Werst zu Fuß ins Theater und durch die Nacht zurück, hungrig und frierend und erschöpft. – Byrons 124 »Kain« wollten wir jüngst aufführen: der Darsteller des Kain fiel bei den Proben vor Erschöpfung einfach um – wir können nur Stücke spielen, in denen die Lebensgeister der Schauspieler wie der Hörer durch das leichte Spiel der Phantasie beschwingt, heiter gestimmt werden. Darum spielen wir »Was Ihr wollt«, Dickens, Goldoni. Man gibt uns ja auch gar keinen Stoff zu Kulissen, Kostümen. Die Kunst, unsere Kunst, soll wohl zugrundegehen, von den Künstlern nicht zu sprechen.
Im »Ersten Studio« sah ich dann, wie Stanislawskis Erfindungsgabe aus dem Erreichbaren und Möglichen sogleich neue Wege der Bühne fand und feststellte. Dieses »Erste Studio« ist ein langgestreckter Saal mit aufsteigenden Stuhlreihen. Es hat wohl einen Vorhang, aber keine Bühne, keine Rampe; der Schauspieler läuft, wenn die Laune ihn treibt, mitten ins Parkett hinein. In »Was Ihr wollt« spielten sich ganze Szenen auf der Bühne, im Zuschauerraum, ja sogar draußen im Vestibül und in der Garderobe ab. In der Zweikampfszene jagten sich die Schauspieler buchstäblich durchs ganze Haus und das Publikum raste vor Vergnügen, als von draußen, weit von der Treppe her der Wortwechsel zwischen Junker Bleichwang und Sir Toby in den Saal herein scholl. Von einer Drehbühne konnte hier natürlich keine Rede sein – dieser Not half Stanislawski durch ein System von an der Decke angebrachten halb- und viertelkreisförmigen Eisenstangen ab, über die bei Szenenwechsel in voller Beleuchtung Rupfenvorhänge an Ringen sich schoben und dadurch ein Segment der Bühne verhüllten – ohne daß die Illusion für 125 einen Augenblick gestört worden wäre. Hier sah ich einen Malvolio, der, wenn er am Leben bleibt, der erste Schauspieler Rußlands werden könnte, ein junger Chargenspieler Tschechow, ein himmlisch erschütterndes Geschöpf voll tiefster menschlicher Tragikomik, in einer Maske, die allerdings die Natur ihm für diese eine Rolle verliehen zu haben schien.
Es gibt in all den größeren Städten Rußlands Theater, die ausschließlich die politische Satire pflegen. In Petersburg sah ich solch eine politische Satire in einem Kellertheater, das den Namen »Der räudige Hund« führt. Auch hier spielte sich die Hälfte des Stückes im Zuschauerraum ab. Auf der Bühne sah man eine Art Börsenkollegium, das mit Menschenfleisch handelte. Der Fabrikherr, der General mit phosphoreszierendem Totenkopf erschienen nacheinander und bestellten Arbeiterheere und Kanonenfutter. Die Häscher der Börsenkönige stürzten sogleich ins Publikum hinunter und holten einen Prachtkerl, einen jungen Proletarier herauf, der als Muster für die zu liefernden Hekatomben der Arbeit und der Armee seine Muskeln spielen lassen, seinen Mund aufmachen und die Zähne herzeigen mußte, vorn und hinten betastet, gewogen und dann nach vielem Feilschen zu einem vereinbarten Massenlieferungspreis den Bestellern zugeschlagen wurde. Ein revolutionärer Dichter stürzte indigniert auf die Bühne, die Häscher faßten ihn, er beging Selbstmord und wurde in den Zuschauerraum zurückgefeuert, während ein anderer, eine Kreatur in Regenbogenkleidung, der »K.W.D.«, d. h. Mantel-nach-dem-Wind-Dreher, siegreich den Platz behauptete und 126 Vorschuß von den Börsenkönigen einstrich. Madame Melanie erschien, mit Federn, Schmuck und Seidenkleid angetan, und unterwarf mit einem Opernglas von der Bühne herab die anwesenden Damen näherem Augenschein. Endlich hatte sie die Richtige erspäht. Die Schergen stürzten auf einen Wink der Börsenkönige ins Parkett hinunter und holten ein junges, reizendes, schrill schreiendes und verzweifelt zappelndes Geschöpf auf die Bühne hinauf, das dann von Madame einfach unter den Arm genommen wurde und hinter den Kulissen verschwand. Am Ende versagte plötzlich das elektrische Licht, ein Donnerschlag schüttelte die Kulissen durcheinander und blutrot zwischen feuerspeienden Fabrikschlöten stieg der fünfzackige Stern der Sowjet-Revolution über dem Trümmerfelde der Börse in die Höhe.
Das Publikum dieses Theaters bestand zum größten Teil aus Matrosen der Roten Flotte. Oben aber, über diesem Kellertheater, im Erdgeschoß des Hauses, spielte man derweilen eine phantastisch herrlich kostbar ausgestattete Spieloper: »Den goldenen Drachen« von Auber, und zwar vor einem Publikum, das an Bürgerlichkeit des Aussehens, Geschmacks und Benehmens gar keinen Zweifel in bezug auf seine versteckten Spekulantenverdienste zuließ.
Ich muß hier noch über das Massentheater berichten. Einer Aufführung unter freiem Himmel nach den neuen Prinzipien der politischen Massenkunst wohnte ich am Revolutionsfeiertag in Petersburg bei. Es war die Aufführung des historischen Schauspiels: »Die Erstürmung des Winterpalais.«
Wir hatten uns, eine kleine Gesellschaft, in 127 der sich auch Alexandra Kollontai und ihr Sohn befanden, gegen zehn Uhr in das Gebäude des ehemaligen Staatsarchivs begeben und sahen aus einem Fenster das Drama vor unseren Augen abrollen. Ich will über dieses Erlebnis ausführlich berichten, denn was ich da zu sehen bekam, war nicht allein etwas in seiner Ungeheuerlichkeit, seiner wilden Monstrosität Unvergeßliches, zugleich Schauder und Bewunderung Erregendes, sondern auch darum, weil in dieser Art des Theaterspielens sich zweifellos etwas Zukünftiges ankündigt, das alle unsere Vorstellungen vom Theater umwälzen muß. An diesem Revolutionsabend wurde ich auch der Ursache inne, warum bisher alle Versuche des Massentheaters scheitern und, nachdem sie Schaden die Fülle angestiftet haben und es jetzt noch tun, verschwinden müssen.
Im Mittelpunkt des Lebens der Stadt stand im Mittelalter die Religion. Die Schauspiele, die auf den Brettergefügen der Marktplätze Engel, Dämonen, Bischöfe, Kaiser, Bürgersleute, Huren und Landsknechte in Aktionen mit- und gegeneinander zeigten, waren religiöse Mysterien. Heute steht im Mittelpunkte des Lebens der Stadt, des Erlebens des Volkes die Politik. Das Schauspiel am Revolutionsfeiertag darf mit Fug ein politisches Mysterium genannt werden. (Engel und Dämonen waren hier das Volk.)
Der nach dem ermordeten Volkskommissar Uritzky benannte Platz vor dem Winterpalais ist der ehemals Dwortzowy-Ploschtschad, d. h. Schloßplatz benannte, mit der von Nikolaus I. zum Andenken an Alexander I. errichteten, von einem ein Kreuz schwingenden Engel gekrönten 128 Säule. Der Fassade des Winterpalais gegenüber ist der weite Platz von einem riesigen, halbkreisförmigen Gebäude, dem Oberkommando, abgeschlossen. Das Archiv, aus dem wir zusahen, befindet sich zwischen Palais und Kommando auf der Millionnaja-Seite.
Zwei große Bühnen waren vor dem Oberkommando aufgeschlagen, rechts eine weiße, links eine rote, in der Mitte verband sie ein hoch geschwungener Brückenbogen. 15 000 Menschen waren Akteure, einige Berufsschauspieler darunter, die anderen Eleven der Theaterschulen, Mitglieder der Proletkult-Klubs, der Theatervereine der Roten Armee und der Baltischen Flotte. Am Schluß des Schauspiels spielten aber etwa 100 000 Menschen mit, die aus allen Seitenstraßen, von den Tribünen und aus den Häusern hervorströmten.
Ein leichter Regen beeinträchtigte die Wirkung; man achtete seiner nicht. Als wir nach zehn unsere Plätze am Fenster einnahmen, hatte das Schauspiel eben begonnen. Der hoch oben an der Alexandersäule klebende Scheinwerfer beleuchtete taghell die rechts liegende weiße Bühne, auf der soeben die provisorische Regierung Kerenskis eine Sitzung abhielt. Von drüben, von der unsichtbaren roten Bühne her, drang ein undeutliches Gemurmel herüber: es war die leise murrende Menge, die genug vom Kriege hatte, aber sich Kerenskis Machtwort fügen mußte, weil der Ministerrat drüben unter dem Vorsitz des Tribunen soeben die Fortsetzung des Krieges bis zum siegreichen Ende beschlossen hatte. Der Scheinwerfer flog auf die rote Bühne hinüber – da sah man Arbeiter und Weiber, Kinder und 129 Krüppel müde aus den Fabriken wanken; verstümmelte Soldaten schleppten sich hinüber zur Brücke, weil das Aufgebot erfolgt war und neue Heerscharen zusammengestellt werden sollten. Auf der weißen Bühne schoben Kapitalisten indessen mit ihren Wänsten Geldsäcke vor den Thron Kerenskis hin, Minister sprangen von der Ministerbank und scharrten die Herrlichkeiten zu einem Haufen zusammen, während drüben von der dunklen Seite her einzelne wilde Schreie sich über das Murren erhoben und der Ruf »Lenin! Lenin!« undeutlich erst, dann aber schon lauter emporflackerte. Nun sah man Kerenski auf seinem Thron zu Häupten der Ministerbank große Gebärden beschreiben, energisch fuchteln und auf die Geldsäcke weisen. Die Minister aber waren in eine sonderbare, pendelnde Unruhe geraten. Sie schoben sich auf ihrer Bank hin und her, denn von der unsichtbaren roten Bühne tönte der Tumult schon rhythmischer herüber, gesammelt, man konnte sogar Gesang hören, Akkorde, die die »Internationale« sein mochten oder auch nicht. Immer noch sprach und gestikulierte Kerenski. Der Ministerbank aber hatte sich allmählich eine einheitlich schwankende Bewegung bemächtigt. Man sah die ganze graugekleidete Reihe gleichförmig nach rechts, dann mit einem Ruck nach links sich biegen. Einigemal wiederholte sich dies in immer heftigerer Bewegung. Da kamen mit parodistischem Wackeln die berühmten Kerenskischen Frauenbataillone auf die Bühne, schwangen ihre Flinten und riefen Kerenski ihr »Moriturae te salutant!« zu.
Während die weiße Bühne erlosch, flammte plötzlich die rote auf. Um eine riesige rote Fahne 130 drängten sich dort Arbeiter, Frauen und Kinder, Soldaten mit Waffen, Volk aller Art zusammen. Die Fabriken, die Gefängnisse, große rote Kulissen mit vergitterten, von innen grell beleuchteten Fenstern hatten ihre Tore weit aufgetan. Immer neue Scharen entströmten ihnen, um sich um die rote Fahne zu ballen. Aus dem wilden Durcheinandergewoge hob sich die »Internationale« in mächtigem artikulierten Chor empor. Das Wort »Lenin« stieg, vom Unisono tausender Kehlen emporgeschleudert, zum Himmel auf; daweil formierten sich um die Fahne die Bataillone zum Marsch nach jener Brücke hin, die die Bühnen miteinander verband. Hinüber flog der Scheinwerfer nach der weißen Seite: wie vom Sturm geschüttelt, schwankte bereits die Ministerbank hin und her. Eine Salve von drüben – die Leibwache um Kerenski stürzt mit geschwungenen Gewehren zum Brückenbogen – die Ministerbank fällt mit einem Krach unter den Tisch – aus einer Seitengasse des Uritzkyplatzes schießen wilden Getutes zwei Automobile zur weißen Bühne heran, Kerenski schwingt sich mit einem Saltomortale von seinem Thron über die Ministerbank zu den Stufen, die von der Bühne aufs Pflaster hinunterführen, die Automobile schlucken ihn mitsamt seinen Ministern und jagen in rasender Fahrt quer über den Platz an der Säule vorbei zum Winterpalais hinüber, dessen Tor sich blitzgleich öffnet und die Automobile aufnimmt.
Jetzt begann das Winterpalais mitzuspielen: im ersten Stockwerk erglommen mit einem Schlag sämtliche Fenster in hellstem Licht – daweil ging die Aktion auf der Brücke weiter. Unter 131 Maschinengewehrgeknatter und wildem Schießen entwickelte sich dort oben um tausend rote Fahnen ein Gefecht und Handgemenge zwischen der Roten Armee und den übriggebliebenen Weißen. Tote und Verwundete kollerten über die Stufen, fielen über die Brüstung der Brücke auf das Pflaster des Platzes hinunter. Im Winterpalais erloschen daweil die Lichter, flammten wieder auf, erloschen wieder. Minutenlang tobte die Schlacht auf dem Brückenbogen, endlich war sie entschieden. Nun war die ganze kämpfende Masse der Roten Armee zu einer einzigen geeint, und machtvoll strömte diese Masse; die »Internationale« singend, über die Treppe hinunter dem Winterpalais zu. Aus den Seitenstraßen des Uritzkyplatzes marschierten Regimenter hervor, schlossen sich jenen von der Bühne Kommenden an, Zehntausende und Zehntausende – aber was war das? Von dort hinten, hinter dem Winterpalais, von der Newa her erdröhnte plötzlich furchtbarer Donner!
Die »Aurora«, das historische Kriegsschiff, das im Oktober 1917 das Winterpalais bombardiert hatte, feuerte jetzt, auf demselben Fleck der Newa verankert, zur Mitwirkung an diesem Schauspiel bestellt, seine Kanonen ab, um das Mysterium zum Erlebnis der Revolution selbst zu erhöhen . . .
Das Winterpalais lag schon seit einer Weile stockfinster da. Ein Torflügel tat sich halb auf, und aus ihm flitzten die Automobile mit Kerenski und den Seinen im Hui zur Millionnaja hinunter und weg.
Jetzt waren es bereits Hunderttausend, die zum Winterpalais zogen. Der ganze riesige Platz war 132 erfüllt von schreitenden, laufenden, singenden, brüllenden Massen, die alle dem Winterpalais zustrebten. Gewehrschüsse, Maschinengewehrgeratter, das furchtbare Gedröhn von der »Aurora« her . . . grauenhaft, entsetzenerregend . . .
Wir hinter unserem Fenster waren ein wenig bleich geworden. Wir wußten es ja genau: solche Gelegenheiten pflegte die Gegenrevolution – nicht etwa eine von Schauspielern gestellte, sondern die wirkliche, in ihren Schlupfwinkeln auf ihre Stunde lauernde Gegenrevolution – abzuwarten, um unter der Decke des Theaterdonners und der Aufregung Putsche und Aktionen zu inszenieren und auch zu vollführen. Es gab hierfür Anhaltspunkte, Präzedenzfälle.
Aber alsbald stiegen die Raketen des Feuerwerks, das das Schauspiel beschließen sollte, zum Himmel auf; die »Aurora« verstummte, die Massen verteilten sich, verliefen sich in der Nacht und wir kehrten schweigend in unser Haus am Newaufer, gegenüber der Peter-Pauls-Festung, heim. –
Über den künstlerischen Wert, die historische und ethische Berechtigung solchen Schauspiels kann man seine Ansicht formen, wie man mag. Packend und tollkühn, aufrüttelnd und in den innersten Fibern erschütternd war es. Unvergeßlich durch seine Unmittelbarkeit, Licht, Bewegung, durch die Idee der Masse, die es trug. Hier schien dem Theater der Zukunft – dem Massentheater, das einer politischen Idee, der Idee gehorcht und dient! – in Wahrheit eine Bahn gebrochen. – 133
Verhungert, ausgehungert – das ist das Wort. Die bildenden Künstler, die Dichter, die Musiker, die ich in Rußland sprach, leiden fast stärker noch als unter ihrem materiellen Ruin unter der Unmöglichkeit, mit der Kunst des Auslandes Fühlung zu gewinnen – trotz aller Anstrengungen, die das Volkskommissariat für Volksaufklärung macht, um die Blockade wenigstens in dieser Hinsicht aufzuheben oder zu lindern. Die Strömungen der Kunst, die ehemals die Welt durchflutet hatten, brechen sich an dem Wall, der um Rußland gezogen ist, fließen an ihm ab und zurück. Die Künstler, die Dichter Rußlands sitzen auf dem Trockenen und verdursten nach der Kultur der Außenwelt. Vergebliche Mühe, ihnen zu beweisen, was es mit dieser Kultur auf sich habe – daß mancher Künstler Europas vor Sehnsucht nach dem in Rußland springenden Quell neuer Kultur krank sei – sie verstehen es nicht! – Als ich in Petersburg einem jungen Maler, der noch bei der zweiten Manier Picassos stehen geblieben war, erzählte, daß der Spanier jetzt schon wieder wie Ingres male und der junge Künstler mir erbleichend und entgeistert ins Auge starrte – da hatte ich die Gewißheit gewonnen: daß ich der Kunst Rußlands soeben einen Stoß vorwärts versetzt hatte. Dasselbe erfuhr ich bei Gesprächen mit den Dichtern im Moskauer »Dom Petschat«, hinter den Kulissen von Stanislawskis »Erstem Studio«.
Wie in einem luftleeren Raum schießen und rennen die jungen Dichterschulen Rußlands durcheinander und schlagen sich Beulen, wissen keinen Ausgang zu finden. Expressionisten, Futuristen, Imaginisten, Suprematisten, ja 134 Zentrifugisten – jede Schule überbietet die andere in der Geringschätzung sämtlicher übrigen. Die Dichter-Ästheten verachten die proletarischen als Stümper und talentlose Horde, die proletarischen erklären sie wieder für Akademiker und Gegenrevolutionäre. Von einer entzückenden Dolmetscherin begleitet, erschien eines Tages eine der Hoffnungen der jungrussischen Lyrik in meiner Behausung, um mir über die Literatur des heutigen Rußlands Auskunft zu geben. Der junge Dichter spielte offenkundig vor der Übersetzerin den grimmigen Recken; aber auch sonst reagierte er auf meine Erwähnung anderer Dichterpersönlichkeiten als der seinen durch Zerschlagen meiner Möbel. Von ihm erfuhr ich, daß die proletarischen Dichter samt und sonders verkapptes bürgerliches Gesindel seien, das in dem Augenblick, in dem es den Erfolg von fern gerochen hatte, mit dem Ansinnen an die Sowjets herangetreten sei: es möchte ein Haus in der Krim zur Verfügung gestellt bekommen, nebst entsprechendem Pajok natürlich, um dort, fern von der Not des Landes, idyllisch und nach Herzenslust seine miserablen Gedichte produzieren zu können. Als ich den jungen Dichter nach seiner eigenen Stellung zum Problem der proletarischen Ethik befragte, erklärte er mir, daß er in einigen Wochen einen Gedichtband anonym herausgeben werde – so fasse er den Dienst für die Gemeinschaft auf. Er unterließ es nicht, mir Titel und Inhalt seines Werkes mitzuteilen – und entwich auf meine Bemerkung hin, daß damit die Anonymität doch unrettbar durchbrochen sei, zornig aus meinem Zimmer. Ich las dann eines seiner Gedichte aus dem später erschienenen Band, in einer der von 135 der literarischen Abteilung des Narkomproß herausgegebenen Zeitschriften – nun ja, es war ödester Futurismus.
Ich fragte einmal einen Mann im Kreml, der es wissen mußte: wer (außer Biedny) von den neuen Dichtern Rußlands das Ohr der Menge habe? Wie das Publikum, nein, das Volk sich gegenüber den jungen Dichtern, besonders den proletarischen, verhalte? Der Mann im Kreml sah mich groß an: die Dichter? das Publikum? das Volk? die proletarischen Dichter? Zehn hysterische Weiber – das ist das Publikum der heutigen russischen Dichter. Dies ist gewiß übertrieben, denn ich weiß es und habe es erfahren, wieviel ernstes und heiliges Wollen in mancher dieser von der Zeit gewaltig mitgerissenen Seelen einbeschlossen ist, und wie sehr es sich auch ohne Mittun und Förderung von seiten der Sowjet-Leute der großen Menge des Volkes schon allein durch die Arbeit der Proletkult-Klubs mitgeteilt hat. Freilich trennen den russischen Dichter noch Mauern rings von seiner natürlichen Familie, dem Volke. Es sind nicht nur Hindernisse seelischer Art, es sind ganz banale und darum gefährlichste Hindernisse materieller Natur . . . Für Schulbücher, geschweige denn für literarische, ist zu wenig Papier vorhanden. Die Kunst- und Literaturzeitschriften des Narkomproß, einseitig redigierte und kontrollierte Publikationen, bleiben nach den ersten Nummern stecken. Und auch diese sind schwer erhältlich, so daß wieder nur Literaten von ihrem Inhalt Kenntnis erlangen. Um diesem Notstand abzuhelfen, veranstalten die jungen Dichter, aber auch die älteren, berühmten, Vortragsabende, damit der Kontakt mit 136 ihrem entschwindenden, vielleicht nicht mehr vorhandenen Publikum erhalten bleibe.
Da ist »die gesprochene Zeitung«; sie fügt sich aus einer Reihe von Rezitationen zusammen, in der Art, wie die typographierte aus einer Reihe von gedruckten Aufsätzen, Versen, Dramenfragmenten und vielleicht noch einem Essay über eine hervorragendere oder interessante Dichterpersönlichkeit zusammengesetzt ist. Zum Schluß schießt dann ein junger Kritiker seine Pfeile gegen die eben gehörten Lyriker, Dramatiker , und Essayisten ab; auch wird angekündigt, was sich in der nächsten Zeit ereignen wird: eine Art Büchereinlauf wird vorgelesen.
Zuweilen wird ein »Literarny Sud«, d. h. literarisches Volksgericht veranstaltet. Der literarische Gerichtshof ist ganz dem Volksgericht nachgebildet, hat einen Vorsitzenden, Schöffen, Staatsanwalt, Verteidiger, Publikum und natürlich einen Angeklagten sowie Zeugen. In Moskau wurde solch ein literarisches Gericht über das Oberhaupt der Imaginisten abgehalten, das mit dem Freispruch des Angeklagten endete. Es geschah ihm nichts. Im Parkett – der riesige ungeheizte Saal des Konservatoriums war Schauplatz – saßen die zehn hysterischen Frauenspersonen und klatschten Beifall. Es war eine kleine Familienangelegenheit; das Volk kümmert sich um solche Affenstreiche natürlich nicht im geringsten, und das alte bürgerliche Publikum, das über Zeit und Muße verfügende, aus Unbeschäftigtheit hinter der Ästhetik und noch mehr hinter den Ästheten herjagende, existiert nicht mehr: es leidet, arbeitet oder hält sich verborgen; es muß auf offenen oder ebenso mühseligen, 137 nur gefährlicheren Schleichwegen der täglichen Nahrung nachlaufen oder schleichen – auch sind Bücher natürlich nicht mehr im Handel, der doch aufgehört hat, erhältlich, sondern man muß vor den Autoritäten des Narkomproß und Zentropetschat den Nachweis führen, daß man irgendein bestimmtes Buch zu irgendeinem bestimmten Zwecke benötige, und wenn man dann sein Bumaschka, d. h. Papierchen ausgefertigt in der Tasche hat, ist das Buch meistens vergriffen.
In Deutschland kennt man von den Heutigen Remisow, Brjussow, Bjäly, Kusmin. Man weiß aber wenig von zweien der wertvollsten Dichter der älteren und der jüngsten Generation: Alexander Block und dem Bauerndichter Kljujew aus dem Olonetzgebiet im nördlichen Murmansk.
Block hat unter den Schauern der ersten Zeit nach jenen Oktobertagen ein Gedicht verfaßt, das bis heute als der vollendetste Ausdruck jener Epoche Geltung bewahrt hat. Es ist die »Ballade der Zwölf«. Ein kleiner Trupp Soldaten, Matrosen, durch die Woge der Revolution plötzlich in die Höhe geschäumtes Lumpenproletariat und verwilderte Bourgeoissöhnchen, trabt, liebt, schießt, haut um sich, taumelt durch die aufgelöste Winterstadt Petersburg. Die Rhythmen dieses außerordentlichen Gedichtes jagen und schlagen sich gegenseitig tot wie die Zwölf. Nie knallten Schüsse durch Strophen wie hier, in diesen wenigen, oft nur angedeuteten Wortfolgen. Gefährliche Raserei überschlägt sich und zerpufft in wüster Leidenschaft; als es nichts mehr zu rächen und zu morden gibt, wankt die Schar mit bleichem Gesicht, den Finger auf dem 138 Gewehrhahn, durch den Winternebel der schimmernden Wolke nach, in der sie Christos, den alten Gott der Menschenliebe aufsteigen sieht und erkennt – wie vor einer Vision letzter Wahrheit zerstiebt da der wilde Spuk in Nichts.
Aus den »Isba-Liedern« Kljujews aber – Isba ist das dörfliche Bauernhaus, die »Stube« – strömt wunderbarstes Naturempfinden, eine schmerzensreiche Liebe zum Mütterchen Erde, zur kargen, innigen Natur des nördlichen Rußlands. Kljujew findet unnachahmliche Worte zum Preis seines armen Dorfes. Und mit derselben verliebten Inbrunst, mit der er die Natur als ein von Urelementen erbebender, mit ihrem Geheimnis unbewußt schwingender Mensch betrachtet, singt er »Rote Gesänge«, die »Rosen der Kommune« zum Preis der Revolution, sein Naturempfinden auf den nicht minder geheimnisvoll bedeutenden Vorgang der proletarischen Erhebung übertragend.
Wie leben die Künstler, die Dichter, wie lebt die Kunst in Rußland, und was wird ihr Schicksal sein?
Es wäre leicht und billig, zu sagen, daß die Künstler das ewig störrische, hoffnungslos individualistische Element, jenes Element des Volkes vorstellen, das sich durch die Lehren der Geschichte am wenigsten belehren und seine Gesinnung von dem geistigen Gebot des Kommunismus am wenigsten beirren läßt. Man könnte meinen, daß, wenn ein ganzes Volk in den Schmelztiegel des Kommunismus fliegt und der große Löffel die Elemente durcheinander rührt und wirbelt, auf dem Grund noch immer ein unlösbarer Klumpen 139 zu finden sein wird, und daß dies die Künstler sind.
Es geschieht den Künstlern, den Dichtern, den Intellektuellen trotz ihrer Unbelehrbarkeit, deren Ursache vielleicht in der Biologie des künstlerischen Schaffens begründet ist, Unrecht im heutigen Rußland der Sowjets; das ist unleugbar. Man müßte Klage führen deswegen, daß Komitees bestimmen, wer als Künstler anzusehen sei und wer nicht. All' diese Dinge aber lösen ja doch nur eine Bevormundung des Künstlers, Bedrückung seiner Freiheit ab, die im kapitalistischen Zeitalter bestanden hat und weiter besteht, wo der Geschmack des zahlungsfähigen Pöbels die Lebensbedingungen des Intellektuellen nach seinem Gutdünken und schlechten Instinkten regelt und bestimmt. Aber es bestehen noch andere Gründe, aus denen die Intellektuellen unter der Herrschaft des Kommunismus zum Untergang verurteilt sind. Andere Gründe, tiefere; schwere, düstere Schicksale.