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Im Petersburger Winterpalais führte mich ein Freund in den Privatgemächern Nikolaus II. herum. Das Eckzimmer im ersten Stockwerk, gegen die Brücke zur Wassili-Insel gelegen, diente dem Zaren, besser gesagt den Zaren als Arbeitskabinett. Nikolaus II. hat dieses Gemach mit einer Anzahl kostbar gerahmter Speisekarten im vollsten Sinne des Wortes austapeziert. Hier kann 195 man von den Wänden herab lesen, was der Zar im Laufe seiner Regierungszeit in Offiziersmessen, bei Liebesmählern seiner Regimenter, in den Kaiser- und Königspalästen zu Berlin, Potsdam, Rom, London und Lissabon verzehrt hat. Nikolaus II. scheint den Tafelfreuden mit Hingabe gehuldigt zu haben. – (Im Badezimmer hängt über der Wanne ein sentimentaler Frauenkopf mit veilchenblauem Augenaufschlag.)
Was ich jedoch am bemerkenswertesten fand in diesem Arbeitsraum, war die Aussicht aus dem Eckfenster. Ihm gegenüber liegt, jenseits der breiten Newa, nicht nur die Börse auf der Wassili-Insel, sondern auch, an die östliche Spitze der Insel gelagert, die Peter-Pauls-Festung mit ihrem vergoldeten Kirchturm, ihren Kasernen, ihren ober- und unterirdischen Kasematten und Verließen. Aus der Umfassungsmauer der Festung, nach der Newa zu, und gerade gegenüber dem Eckfenster des Zaren ist ein Stück herausgekerbt – dort sieht man im Bereich der Festung ein kleines braun gestrichenes Haus mit spitzem Dachgiebel. Dieses Haus ist dadurch bemerkenswert, daß in ihm ehemals die Attentäter gegen das Leben der Zaren, auf frischer Tat ertappte, dann jene, die an einer Verschwörung teilgenommen hatten und nicht zuletzt jene, denen man es zutrauen konnte, daß sie an einer Verschwörung beteiligt wären, jahre-, jahrzehnte-, zumeist lebenslang eingekerkert gesessen haben. Wöchentlich einmal wurde dem jeweiligen Zaren, so erzählte mir mein Freund, ein Rapport vorgelegt, der über das Befinden und die Taten jener Eingekerkerten genauen Bericht erstattete. Es hieß da unter anderem: X. hat am vergangenen 196 Sonntag seinen Schädel an der Mauer, an die er geschmiedet ist, einzurennen versucht, hat sich aber bereits wieder erholt. Y. hat einen Tobsuchtsanfall erlitten, diesmal erklärt der Arzt, daß der Anfall nicht simuliert sei, Y. habe nunmehr als unheilbar wahnsinnig zu gelten. Z. hat sich bereit erklärt, die Teilhaber an der Verschwörung, deren Bestehen er bisher geleugnet hat, zu nennen, falls ihm zu seiner bisherigen Gefangenenkost eine Zulage von Zuckerwerk und kandierten Früchten bewilligt wird.
Der jeweilige Zar setzte unter diese Dokumente seinen Namenszug, blickte wohl einen Augenblick lang nach dem braunen Häuschen hinüber und ging dann, sich zum Ball umzukleiden, der in den Prunksälen auf der Dworzowy-Seite seinen Anfang genommen hatte.
In anderen Zarenpalästen, dem Revaler Schloß z. B., verrichtet gegenwärtig die Spitzhacke ihr Werk. Dort ist ein Teil des Schlosses bereits niedergerissen – die vergitterten Fenster in der zerbrochenen Mauer kollerten gerade den Bergabhang hinunter, während ich drüben auf dem Damm stand und zuschaute. Dieser Flügel des Schlosses war nämlich ehemals Gefängnis gewesen. Im gleichen engsten Zusammenhang mit dem Machtbewußtsein der Herrschenden, in einem für uns Westeuropäer schier unbegreiflich engen Zusammenhang stand überall in diesem Lande die tiefste Erniedrigung der geknebelten Kreatur.
Das Petersburger Winterpalais hat zurzeit einige seiner pompösesten Räume dem neugeschaffenen Museum der Revolution überlassen müssen. Hier sind die Taten der Denikin, Judenitsch und Koltschak durch Photographien, 197 schriftliche Dokumente, Reliquien und etliche Kuriosa veranschaulicht; der weiße Terror, den diese Bekämpfer der Kommunisten wie einen eiterigen Schimmel konzentrisch um die Kapitale Moskau gezogen und verbreitet haben, zur Erinnerung später Geschlechter festgehalten. Man sieht Photographien aus der Ukraine, Estland, Sibirien; Photographien zerstückelter, zu Brei zerstampfter Menschenkörper – viel zu grauenhaft, um Einzelheiten zu erwähnen, sein Leben lang vergißt sie nicht, wer sich einen Augenblick lang in ihren Anblick vertieft hat. . . . Man sieht hier unter anderen Raritäten auch den berühmten Tannenast aus dem schrecklichen Wald bei Jamburg, Judenitschs Wald, mit der vom Strick des Henkers ausgescheuerten Narbenspur in der rötlichen Rinde – darunter den Baumstamm, in den der Schreibens und Zählens unkundige Henker mit seinem Messer eine Rune nach der anderen eingeschnitten hat – nach jeder Gruppe von Kommunisten, die er oben auf jenem Ast vom Leben zum Tode befördert hat, eine. Im Holz sind siebzehn Einschnitte zu zählen.
Aber auch Seltenheiten harmloserer Art bewahrt jenes erst im Zustand der Entwicklung befindliche Museum, interessantes Material aus den Archiven zaristischer Geheimpolizei. So einen sorgfältig durchgepausten Briefwechsel zwischen Haase und Ledebour aus dem Jahr 1916. Daneben eine Anzahl Seiten aus dem Album der Petersburger politischen Polizei: Porträts, im Profil und en face aufgenommen, von Lenin, seiner Frau Kamenjew, Sinowjew und anderen, nebst genauer Beschreibung. Und dann eine große Anzahl bis ins letzte Detail minutiös 198 aufgezeichneter Situationspläne von revolutionären Gruppen in großen Städten und kleinsten Provinzflecken Rußlands. Solch' ein Blatt, das mit kleinen blauen und gelben Vierecken, sich kreuzenden Strichen zwischen einem Viereck und dem anderen einer strategischen Übersichtskarte gleicht, behandelt den ehemaligen Revolutionär, jetzigen Gegenrevolutionär Sawinkow und seinen Kreis. Hier findet man Sawinkow nebst seiner Familie, dann seine Freunde, Gesinnungsgenossen, näheren und ferneren Bekannten, ja sogar die entferntesten Bekannten jedes einzelnen seiner Familienmitglieder mitsamt den Daten gegenseitiger Besuche, empfangener und abgesandter Briefe usw. in einem kalligraphisch notierten, mit haardünnen Pfeillinien aufgezeichneten Netzwerk. Dieses Blatt kann als Beweis für die Vollendung gelten, die der Spitzeldienst des zaristischen Rußlands bei der Verfolgung aller mißliebigen Persönlichkeiten erreicht hat. Die selben Archive bewahren in sauber geführten Registern auch die Namensverzeichnisse jener Hekatomben, die vom 22. Januar 1905, dem blutigen Geburtstag der ersten Revolution bis zur Einberufung der Reichsduma im Mai des folgenden Jahres dem Zarismus geopfert wurden. Nach unparteiischen Schätzungen belief sich die Zahl der in diesem Zeitabschnitt von der Regierung Hingerichteten auf 1000, der Getöteten auf 14 000, der Verwundeten auf 20 000, der Eingekerkerten und Deportierten auf 70 000.
Man hat sich daran gewöhnt, das aus dem jakobinischen Wortschatz der französischen Revolution stammende Wort »Terror« auf Handlungen 199 und Maßregeln revolutionärer Körperschaften und Regierungen anzuwenden. Diese in demagogischer Absicht geweckte Vorstellung verträgt eine Revision. Sie erscheint durch die neuerlich gebräuchliche, nur mit einer anderen Farbe bestrichene Bezeichnung für Vergeltungsmaßregeln der Gegenseite nur unvollkommen aufgewogen. Denn was besagt das Wort »weißer Terror« im Gebrauch bürgerlicher Ideologie anderes als: hättet ihr mit dem roten nicht begonnen, unser weißer Terror wäre nicht in Erscheinung getreten. Der Begriff des Terrors aber kann, ohne daß die Wahrheit dadurch zu Schaden käme, füglich verallgemeinert und auch zeitlich ausgedehnt werden. Es sind immer kleine Gruppen, die, wenn sie die Macht in Händen halten, die erdrückende Mehrzahl durch Zwang und Gewalt im Zaum zu halten suchen. Im Wort Arbeitgeber steckt Terror, wie im Wort Kapitalismus überhaupt. Die Selbstherrlichkeit der Anstifter des Weltkriegs, um nur eine seiner letzten geschichtlichen Phasen zu nennen, hat den Terror der Zwangsmaßnahmen gegen Leben, Freiheit und Gewissen der Völker in einem bisher ungekannten Maßstab und Zynismus gebraucht. Wenn die Hortybanden Ungarns, die finnischen Weißgardisten sich auf Vergeltung – die Offizierscliquen des ebertinischen Deutschlands, die Henker Liebknechts, Luxemburgs und tausend anderer, die Unterdrücker des amerikanischen Sozialismus in dem bisher »freiesten aller Kontinente« sich auf Vorbeugung berufen, so verbreitern sie doch bloß das Strombett ihrer eigenen Schreckensherrschaft, in dem die noch imperialistisch-kapitalistisch regierte Welt ihrem Ende zutreibt.
200 Diese Zeit scheint für Vergebung, Einkehr, Christlichkeit weniger reif, als welche andere uns aus der Geschichte bekannte immer; somit handelt es sich im Grunde allein darum, daß jene Gemeinschaft, die das Reich der reinsten Menschheitsidee errichten will, den Verderbern des Menschengeschlechts die Waffe aus der Hand schlage. Das aber vermag sie, es ist entsetzlich, dies auszusprechen, wiederum nur durch Anwendung von Gewalt. Es ist der Fluch der noch nicht göttlich gewordenen, mit irdischem Wesen allzusehr belasteten Gemeinschaft, er trifft den Menschen dieser Tage mit besonderer Härte, weil dieser Mensch sich zu tief in die Wahnidee von dem Werte seiner Kultur verstrickt hat.
Auf dem Kirchturm der Peter-Pauls-Festung – unser Haus Narischkin hatte seine Fenster am Newakai gegenüber dieser Kirche, jeden Morgen blinkte mir ihr heftig vergoldeter Turmspeer in die Augen – ist ganz oben an der Spitze eine Wetterfahne angebracht. Sie stellt einen Engel vor, der ein Schwert schwingt. Der unerhörte Windstoß, der über Rußland dahingefegt hat, ließ diesen Engel eine Wendung von 180 Graden beschreiben – das Schwert kehrt sich genau gegen jene, die es für ewige Zeiten in ihrem unverbrüchlichen Besitz wähnten. Die Kasematten, Käfige, Verließe des braunen Häuschens, der Peter-Pauls-Festung, Schlüsselburgs und all' der anderen Folterkammern der Zaren sind zerbrochen, geschleift, aber . . .
»Ich weiß es . . . daß das Monopol der Gewalt und Repressivmaßregeln in jedem »normal« funktionierenden Staatswesen, unabhängig von seiner äußeren Form, der Regierung gehört.« Das ist ihr »unverrückbares« Recht, 201 und dieses Recht behütet sie mit eifersüchtiger Sorgfalt, darüber wachend, daß keine private Korporation ihr Monopol antaste. Die staatliche Organisation kämpft auf diese Art um ihre Existenz. Es genügt, sich die moderne Gesellschaft, diese komplizierte, widerspruchsvolle Kooperation – sagen wir in solch einem ungeheuren Lande wie Rußland – zu vergegenwärtigen, um sofort zur Erkenntnis zu gelangen, daß bei der jetzigen, von inneren sozialen Widersprüchen zerrissenen Ordnung Repressalien ganz unvermeidlich sind!«
(Aus der Verteidigungsrede Trotzkys in der Sitzung der Besonderen Delegation des Petersburger Obergerichtshofes am 17. Oktober 1906.)
Bis zum Sommer 1918 haben die Bolschewiki von der Todesstrafe keinen Gebrauch gemacht. Sie war ja durch die ersten Dekrete der Föderativen Republik abgeschafft. Die Bolschewiki haben sogar ihre politischen Feinde, obschon ihre Absichten klar zutage lagen, statt sie einzusperren, laufen lassen, weil es mit dem Grundgedanken des Kommunismus unvereinbar schien, aus Gründen politischer Gegnerschaft Menschen ihrer Freiheit zu berauben. Dies erwies sich als verhängnisvoller Irrtum. Überall, wo solche gegenrevolutionär gesinnte Individuen in Freiheit gesetzt worden waren, bildete sich sofort ein Herd der Verschwörung, und die Kommunistische Partei hatte gar bald ihre Toten, wo sie selber keine Toten auf dem Gewissen haben wollte. Wenn man also den Bolschewiki vorwirft, daß sie heute, statt den Terror in seinen »milden« Formen auszuüben und sich mit der Einkerkerung und Verweisung in Konzentrationslager ihrer politischen Widersacher, dann noch armseliger Spekulanten und Saboteure zu begnügen, zuweilen Menschen füsilieren und mitunter sogar 202 in großer Zahl, so darf man darauf füglich mit dem französischen Spruch antworten:
»Que Messieurs les assassins commencent!«
Ich für mein Teil gestehe, daß ich die Arbeit, die eine rasche Kugel verrichtet, menschenfreundlicher erachte, als die Arbeit, die lebenslängliche Einzelhaft an einem Individuum vollbringt, auch wenn nach zehn Jahren Amnestie ihr ein Ende bereitet. Tausendmal höher als das Leben ist die Freiheit zu achten, auch die physische Freiheit der Bewegung, des Atmens, des Schweifendürfens über die weite Erde . . . navigare necesse!
Der Terror, den die Kommunisten Rußlands ausüben, trennt demokratisch fühlende Sozialisten von ihnen (wie der von ihnen eingeführte verschärfte Arbeitszwang auch jene undogmatischen, die in ihm nicht die vorübergehende durch Not gerechtfertigte Maßnahme erkennen) – Terror aber stellt gewiß eines der notwendigsten Mittel erhöhten Selbstschutzes einer belagerten Gemeinschaft vor, die sich gegen den eigenen Feind behaupten will. Sogar Kautsky, der Kritiker der Diktatur, der von den Bolschewiki als Renegat in Acht und Bann getane Theoretiker Kautsky hat, wie ihm Trotzky das in seiner Broschüre »Terrorismus und Kommunismus« nachweist, in einer älteren Studie den Wiedertäufern das Recht zur Ausübung terroristischer Maßnahmen zugestanden, weil diese Maßnahmen unter dem Druck der Belagerung Berechtigung besaßen. Nun ist ja Rußland, wie Kautsky wissen muß, eine aufs furchtbarste belagerte Festung und muß sich wohl oder übel vor inneren Feinden der Idee zu schützen suchen. Das aber, was der ethisch gerichtete Kommunist den 203 bedrängten Führern mit allem Nachdruck vorwerfen muß, ist: daß sie bei der Wahl der Exekutivorgane ihrer Außerordentlichen Kommission nicht umsichtig, vorsichtig genug verfahren und darum Willkür und Unverstand oft genug waltet, wo Rechtlichkeit und Einsicht die Energie in der Handhabung des Apparates kontrollieren müßten.
Diese Außerordentliche Kommission ist, man kann es ruhig behaupten, heute die oberste, niemand verantwortliche Behörde Sowjet-Rußlands. Sie kann einen der führenden Kommissare verhaften, ohne nähere Begründung, ohne irgendwem dafür Rede stehen zu müssen. Bei Erklärung des Belagerungszustandes übernimmt der Volkskommissar der Wetscheka das Oberkommando über Stadt und Garnison.
Der Volkskommissar der Wetscheka – der Fouquier-Tinville der russischen Revolution – heißt F. S. Dzerschinsky und ist ein etwa vierzig Jahre alter Mann von sanften, ja schüchternen Umgangsformen. Er hat, so sagt man, längere Zeit im Ausland gelebt, soll in Wien, Berlin und Zürich studiert haben und gilt als ein gebildeter Mann von puritanischer Denkungsart und durchaus einwandfreiem Charakter. Man hat ihn – ich weiß nicht mehr, wer, aber ich bin sicher, es gelesen zu haben – mit Franziskus von Assisi verglichen. Es ist bekannt, daß er im Warschauer Gefängnis die Unratkübel seiner Mitgefangenen täglich selber aus den Zellen geholt und entleert hat, »weil einer das Niedrigste für alle anderen besorgen muß, damit diese anderen vom Niedrigsten befreit seien«. Ein Sadist tut dergleichen sicher nicht. Als oberster Kommissar der gefürchteten und wild gehaßten Behörde tut 204 Dzerschinsky meines Erachtens etwas Ähnliches; er besorgt das Entsetzliche, aber unumgänglich Nötige in der kommunistischen Gemeinschaft der Regierenden. Nur sind es, hier wie anderswo, wiederum die »Spez«, noch dazu Spezialisten eigener Art in diesem Falle, die das ohnehin verrufene Kommissariat noch tiefer in Verruf bringen, die das ethische Moment, das der Terrorbehörde ebensogut wie der Roten Armee, wie dem Volkskommissariat Rykoffs, das die Expropriation durchgeführt hat, wie dem Kommissariat Lunatscharskys, das die Kirche vom Staat getrennt hat, innewohnt, sabotieren und beflecken. Diese Spezialisten der Wetscheka – es sollen sich darunter altbewährte Mitglieder der zaristischen Geheimpolizei oder der Schwarzen Hundertschaften befinden – haben sich der Kommission wohl nicht ausschließlich aus Not, sondern aus angeborener Neigung zur Unterdrückung des Nächsten angeschlossen, und die Kommunisten belohnen ihre Fähigkeiten, die sie bei der Verfolgung der Revolutionäre unter dem alten Regime entwickelt haben, mit doppeltem Pajok. Oft sind es aber auch ganz junge Burschen, die von der Wetscheka z. B. zur Beaufsichtigung von Bahnhöfen verwendet werden; diese haben zumeist im Krieg ihren Beruf entdeckt, sind indes noch nicht sattelfest, denn man hört von Mitteln der Betäubung, Kokain und ähnlichem, die diese Funktionäre zur Beschwichtigung etwa aufsteigender Gewissensnöte zu gebrauchen pflegen. Meine Erfahrungen mit untergeordneten Agenten der Wetscheka haben die ersten Wochen meines Aufenthaltes in Moskau, wie ich das im Anfangskapitel andeutete, genugsam vergiftet. Ich bedaure es keineswegs, daß 205 mir die entscheidenden Erlebnisse, über die mir aus der Lubjanka, Butyrka, dem Andronewski-Kloster entlassene Kollegen mehr oder weniger glaubwürdige Berichte erstatteten, mit Einzelhaft, Hungerstreik, Verlausung und Flecktyphus, spitzelnden Zellengenossen und seelenfolternden Untersuchungsrichtern, erspart geblieben sind . . .
Wenn die Feinde der Bolschewiki behaupten, der Terror, den die Kommunisten ausüben, habe auch darin seine Ursache: daß das jahrhundertelang unterdrückte Proletariat seinem Machttrieb und Rachegefühl nunmehr die Zügel schießen lasse – so ist das bare Verleumdung!
Es sind keineswegs Proletarier, die im Namen des Proletariats die Funktionen der Kommission ausüben, sondern eine bestimmte nichtproletarische Beamtenschicht, der eine starke Beimengung von raffinierten, abenteuerlustigen, kaltgeherzten und sich an der Perversion des Gefühls ergötzenden Intellektuellen eigen ist. Der hierzulande aus Gefangenenlagern sattsam bekannte »Unteroffizierstypus« spielt in diesem Zusammenhang gar keine Rolle. Die Besetzung der so notwendigen Behörde mit geeigneten Funktionären ist gewiß eines der schwierigsten und gefahrvollsten Probleme; daß alte zynische Praktiker mit den Amtshandlungen betraut sind, bleibt genau so bedauerlich wie die Verwendung von unfähigen, gegen die Regeln der Psychologie verstoßenden Neulingen.
In der zweiten Nacht nach meiner Ankunft in Moskau wurde ich von der Außerordentlichen Kommission gesucht. Dies geschah auf folgende Weise: Zwei Leute traten in einem ganz anderen Hotel, nämlich im Hotel der Delegierten der 206 Internationale (ich wohnte damals am anderen Ende der Stadt in einem kleinen Gasthof, in dem ausländische Gefangenenaustausch-Kommissionen untergebracht waren), in das Zimmer eines mir bekannten Genossen ein, weckten ihn aus seinem wohlverdienten Schlummer und fragten ihn, ob er der Herr von der »United Press« wäre. Nun war dieser Genosse erstens nicht ich; zweitens bin ich nicht der Herr von der United Press, sondern vom United Telegraph; als der Genosse verneinte, fragten die Besucher, ob er im Zusammenhang mit den deutschen Unabhängigen stände – dies beruhte drittens wieder auf einer Verwechslung meiner Person mit der Person eines dritten Genossen, der gleichzeitig mit mir in Moskau eingetroffen war. Als diese Frage abermals verneint wurde, gingen die Beamten fort und nahmen dann, um nicht vergeblich mitten in der Nacht gekommen zu sein, viertens aus einem anderen Zimmer die Notizenbücher eines vollkommen einwandfreien Kommunisten zur näheren Durchsicht mit. Dieses Beinahe, diese Unzuverlässigkeit muß ebenso heftig getadelt werden wie die allzugroße Schlauheit älterer erfahrener Inquisitoren, von der andere aus ihrer Erfahrung zu berichten wissen. Denn, wie immer wieder betont werden muß: ist die Außerordentliche Kommission auch von allergrößter Notwendigkeit, so ist sie als kommunistische Behörde doch nur bis ins Letzte erst gerechtfertigt durch einwandfreies humanstes Vorgehen und durch genauestes Funktionieren des ganzen Justizapparates.
Bei der Wahl des Hauses, in dem das Kommissariat Dzerschinskys untergebracht ist, hat der Zufall (oder war es Absicht?) einen grimmigen 207 Scherz gemacht. Der Sitz der Wetscheka ist in einem riesigen Bureauhaus an der Lubjanka, in dem sich ehemals eine Lebensversicherungsgesellschaft befunden hat. Hier verschwinden viele Personen, von denen man kaum weiß, aus welchem Grunde sie in Haft genommen wurden. Es kann geschehen, daß man verhaftet wird, weil man zur Zeit einer Haussuchung bei Bekannten oder Leuten, mit denen man gerade zu tun hatte, eingetreten ist. Ich sagte: verschwinden; das bedeutet keineswegs Ausgelöschtsein auf Nimmerwiedersehen, sondern lange und langwierige Haft; die Dekrete der ersten Zeit haben, so wurde mir berichtet, für die Erledigung der Fälle eine Frist von 24 Stunden festgesetzt – doch geschieht es jetzt zuweilen, daß Verhandlungen gegen Inhaftierte monatelang hinausgeschleppt werden, oft aber gar nicht stattfinden, und der Gefangene dann einfach entlassen wird, ohne Entschuldigung und natürlich auch ohne Entschädigung. Es kann auch passieren, daß man verhaftet und als Spekulant behandelt wird, weil man dem Verhungern nahe, im Schleichhandel ein Stückchen Käse oder Speck erstanden hat, oder weil ein Proletarier, dessen Pajok auf sich warten ließ, selber irgendwelchen armen Hausrat verkauft hat, wodurch er das Prinzip des geldlosen Verkehrs durchbrochen hat und unter die Spekulanten geraten ist. – Bei besonders eklatanten Fällen von Wucher und natürlich auch, wenn es sich um ungetreue Beamte handelt, die von ihren Befugnissen verbrecherischen Gebrauch gemacht, Gemeingut zu eigennützigen Zwecken verwendet haben, wird kurzer Prozeß gemacht.
Wie notwendig umsichtige, ausgedehnte 208 Kontrolle über alle verdächtigen, gegenrevolutionären Elemente ist, haben wir während des Oktobers in Moskau erlebt, als an einem der letzten Tage des Monats ein von ehemaligen Offizieren der Zarenarmee ausgehecktes Komplott aufgedeckt wurde. Das Gebäude des Generalstabs sollte um die Stunde, zu der eine wichtige Sitzung fast aller Volkskommissare einberaumt war, in die Luft fliegen. Die Kontrolle über alle im Zentrum des geplanten Attentates vereinigten und auf wichtige Punkte der Stadt verteilten Gruppen der stark organisierten und verzweigten Verschwörung funktionierte vollkommen: am Abend hatte man alle, einige Hundert, in der Hand. Was wäre geschehen, hätte die Kommission diese Verschwörung nicht rechtzeitig und restlos aufgedeckt und unterdrückt? Ich will es nicht ausmalen, was an jenem Abend allen Kommunisten und Nichtkommunisten, jedem Bewohner Moskaus, ja Rußlands, was uns Ausländern in unseren bewachten Häusern widerfahren wäre. In der Nacht des denkwürdigen Tages ward der Belagerungszustand über Moskau erklärt, Dzerschinsky übernahm das Oberkommando über Stadt und Garnison, und um zwei Uhr nach Mitternacht wurde in der ganzen Stadt eine große Zahl vorgemerkter Personen verhaftet, darunter mir gut bekannte Mitbewohner unseres Hauses.
Wie man in Rußland gegen die Folgen der Not, des wirtschaftlichen Niederganges, gegen das eigene und fremde Leiden durch einen Akt der Notwehr der Natur abstumpft, so stumpft man auch gegen die Ereignisse ab, die den Terror hervorrufen, und die der Terror in 209 seinem Gefolge hat. Am schwersten gewöhnt sich die Bourgeoisie an diese Ereignisse, weil sie sich durch den Terror am nächsten bedroht fühlt. Die Bourgeoisie, die unter den Zaren die Fakta Sibirien, Schlüsselburg usw. ohne besondere Aufregung hinnahm, flucht jetzt aus gekränktem ethischen Bewußtsein dem Terror der Bolschewiki, der in seinen Ergebnissen nicht den hundertsten Teil von dem ausmacht, was der Terror der Weißen an den Grenzen und in den besetzten Gebieten unter dem gesinnungstreuen Proletariat und nicht zuletzt unter der Bourgeoisie anrichtet. Indes, wie ich sagte, man stumpft ab. Gegen den Anblick der Gefangenentrupps, die man zuweilen am frühen Morgen in der Nähe der Bahnhöfe, der großen roten Gefängnisse, von wenigen Bewaffneten bewacht, tristen Zuges durch die Straßen marschieren sieht. Gegen die Kunde von Verhaftungen und Exekutionen von Personen aus dem weiteren und näheren Bekanntenkreis. Das Fatalistische, das dem halborientalischen Russen im Blut liegt,. teilt sich, auf dem Wege durch die Vernunft, die die Notwendigkeit eiserner Maßregeln erkannt und einsehen gelernt hat, gar bald und in wuchtiger Schwere auch dem Westeuropäer mit. . . .
Besteht ein Unterschied zwischen einem Volksheer und einer terroristischen Regierungsbehörde? Beide vernichten Menschenleben, beseitigen Feinde, die sich an der Idee vergreifen; schuldigere Schädlinge im Lande selbst, als an den Grenzen, das ist gewiß. Man lasse die Bolschewiki in Ruhe ihre großen Kulturaufgaben, die eine sittliche Umwälzung der Welt bedeuten, 210 vollenden. Die Mörder der Idee an den Grenzen und die Meuchelmörder im Hinterland, die draußen mit Armeen und Blockade auffahrenden und die heimliche Anschläge schmiedenden daheim mögen doch selber mit der Humanität beginnen!
»Que Messieurs les assassins commencent!«
Solange Rußland einer belagerten Festung gleicht, kann die Außerordentliche Kommission nicht entbehrt werden. Solange der Kommunismus politischer Werkzeuge bedarf, um sich zu behaupten, ist die Diktatur in jeglicher Form vonnöten.
Aber der Terror – sei er auch unabwendbare Notwendigkeit des Kampfes – rächt sich früher oder später – und zwar nicht an dem System allein. Der Terror ist es, der den Kommunismus der Bolschewiki daran behindert, aus einer politischen Richtung Religion zu werden!
Heilig ist das Menschenleben, heiliger die Freiheit des Menschengeschlechts! In der furchtbaren Zeit, die durch unser Verschulden über uns hereingebrochen ist, kehrt jetzt das Schicksalswort, das Kampfwort: Sein und Sichbehaupten zu seiner schreckhaft primitiven Bedeutung für den Menschen und den Menschheitsgedanken zurück.