Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Viele Tiere sind den Indern heilig, wenn nicht alle. Die Jain-Priester gehen mit einem Schleier vor dem Mund, um kein Insekt einzuatmen, durch Verschlucken zu töten. Im »Schwarzen Tempel« vor Penang auf der Malaiischen Halbinsel ringeln sich fette, gelbe Schlangen über abgestorbene Zweige auf dem Altar, sie werden ehrfürchtig gefüttert und angebetet. Kuh und Elefant sind heilige Wesen; einem Europäer, dem es einfiele, eine Kuh zu töten, sie mit Gewalt von den Schienen zu jagen, weil ihr sachtes, im Wiederkäuen gedankenvolles Dahertrotten den Schnellzug in seinem Lauf hemmt, ginge es schlecht!
Nirgends aber erkennt man die Heiligkeit der Tiere so inbrünstig an wie im südlichen Deccan – dort ist Hanumans Reich, des Affengottes mit menschenähnlichem Körper, mildem verträumten Blick, das Zeichen Schiwas zwischen die Augen gemalt, einem roten Badehöschen, aus dem der lange Schwanz sanft zu Boden ringelt …
Von den Heiligen Indiens haben die Affen im Deccan auch die Armut gelernt. Sie sind heilige Bettler. Auf der einige Tage währenden Fahrt von Madras nach Bombay quer durch die Gebiete Mysore, Heiderabad sitzen sie, wenn der Expreß kommt, auf den Dächern der Stationsgebäude; sie sitzen züchtig, einträchtig, aufmerksam abwartend. Hält der Zug, so verständigen sie sich rasch untereinander und kommen mit großen Sprüngen zum Wagen herbei, sind mit einem Satz durch das Fenster gehüpft und strecken dir mit stummem Blick die Pfote entgegen. Sie bevorzugen die Abteile erster Klasse, weil sie die Armen in der dritten nicht ihrer spärlichen Nahrung berauben wollen. Sie wissen, Gottesbettler, die sie sind, daß der Arme freigebiger ist als der Reiche – aber auch, daß der Reiche durch eine milde Gabe erlöst werden kann. Von dem zynischen Engländer, mit dem ich das Coupé teile, und der mit gottlosen Bemerkungen über die vierfüßigen, rührenden Mitgeschöpfe nicht spart, wenden sie sich rasch ab, in mir erkennen sie den Gläubigeren, den besseren Bruder und springen, nachdem sie meine Keks und Bananen erhalten haben, mit heftig kauenden Kiefern zähnefletschend ein Fenster weiter zu den beiden alten Damen.
Mit unserem Zuge wird, in einer offenen Lore, ein neues Auto befördert. In dem Auto sitzt auf dem Chauffeursitz ein ausgewachsener Schimpanse und macht sich an der Lenkstange zu schaffen. Unten vor dem Wagen und auf der Plattform stehen Inder und Europäer und sehen den Versuchen des ernsten schwarzen Herrn mit Interesse zu. Niemand lacht. –
Wie heißen sie da oben auf den Bäumen, diese sanften Tiere im grauen seidigen Fell? – »Hau, hau!« ruft der Chauffeur, und sie klettern eilig herunter, springen in den fahrenden Wagen zu mir herein, sind aber nicht zudringlich, sondern warten ruhig ab, daß das Gefährt vor der Bude angelangt sei, in der der Mensch für sich selber Limonade, für sie aber Erdnüsse kaufen wird. Aus dem Gezweig all der Bäume rings um den kreisrunden Teich sind sie herabgesprungen, die großen, hellgrauen, heiligen Tiere, unsere Vorfahren, wie die einen, unsere Nachkommen, wie die anderen meinen, und warten bedächtig, ohne eine Miene zu verziehen, bis sie vor der Hütte ihre Erdnüsse empfangen haben werden. Dann setzen sie sich in großen Haufen ernst zusammen, knacken und kauen. Sie sind Hanumans Tiere, ihm geweiht. Sie blicken dich aufmerksam an bei ihrer Verrichtung, sitzen da, leise mit den Schwänzen wedelnd; wenn das Auto abfährt, winken sie dir nicht nach, obzwar sie bemerken, daß du dich im Wagen umgedreht hast, um noch lange ihren Anblick zu haben. Sie hocken weiter in großen Gruppen auf dem Rasen, um dann einzeln und in Rudeln auf die Bäume zurückzuklettern.
Heilige Tiere. Unsere Vorfahren? Nachfahren? Wer möchte mit Sicherheit bestimmen, ob die Heiligen, zu denen wir Menschen aufblicken, vom Schöpfer vor uns erschaffen worden sind, ob sie nach uns auf Erden wandeln werden, in einer ihnen vom Schöpfer bestimmten Gestalt – von der wir Menschen in unserem Dünkel annehmen, daß sie der unseren ähnlich sein könnte!
Eine berühmte Hellseherin – ich habe Ursache, an geheime Kräfte des Menschen zu glauben! – hat mir vor vielen Jahren tödlichen Unfall auf einem Schiff auf hoher See vorausgesagt. Sie tat das zu einer Zeit, da ich an Weltreisen noch gar nicht dachte. Suche ich gegenwärtig auf meinen Fahrten vielleicht instinktiv meinen Tod? – Ein jüdisches Sprichwort besagt: »Wo du sterben sollst, dorthin tragen dich deine Füße.« Ein echtes Ahasver-Wort! (Tatsache ist, daß ich mich bei gewissen Gelegenheiten akuter Lebensgefahr wirklich auf Wasserfahrzeugen befunden habe, wenn auch nicht auf Dampfern und nicht auf hoher See.)
Was ist das Kriterium unmittelbarer Todesnähe? Im kritischen Moment des Dem-Tod-ins-Aug-Blickens prägt sich die Vision der Umwelt mit solch überirdisch übertriebener Gewalt dem empfindlichsten Organ der Seele, dem Auge, ein, daß dieses selbst sogar eine pathologische Veränderung erfahren kann: das Bild des Mörders im Auge des Ermordeten! (Schwerlich werde ich jemals das schlechtrasierte, schwitzendrote Gesicht des alten Mandschu vergessen, das mich aus nächster Nähe bedrohte, als in Mukden mein betrunkener Kutscher in eine aufgeregte Volksmenge hinein- und ein Kind fast überfuhr – nur eine instinktive wilde Gebärde mit meinem Stock rettete mich – das Gesicht vor mir verzerrte sich, ein Auge schob sich spaltklein zusammen, die Menge wich feig zurück, der Kutscher hieb auf die Pferde ein. –)
Der Saskatschewan-Strom in Kanada ist an der Stelle, wo die Fähre hinüber nach der Experimentalfarm der Familie Mc. fährt, besonders reißend und gefährlich. Zudem war um die Zeit meines Besuchs nach langer Dürre stürmischer Regen eingetreten, und der Strom hatte breit und gewalttätig die Ufer überflutet. Die Besitzer der Farm hatten mir zur entfernten Bahnstation ihren Wagen entgegengeschickt, in den zwei junge Pferde gespannt waren – im aufgeweichten Prärieboden wären Autoräder versackt.
Auf der Fähre, besser gesagt, dem Floß, das an einem starken Drahtseil über den Strom gezogen werden mußte, waren wir drei Leute – der junge Mc, der Kutscher und ich – vom Wagen gestiegen. Meine beiden Begleiter standen mit dicken Lederhandschuhen an dem Seil und zogen. Ich hatte die Zügel in der Hand; da das Floß beträchtlich schwankte, hatte ich sie mir um das rechte Handgelenk gewickelt.
Wir waren in der Mitte des Stroms angelangt, als plötzlich heftiger Regenschauer einsetzte. Mit der freien Linken griff ich in den Wagen nach meinem Regenschirm und suchte ihn aufzuspannen. Das gelang nicht ohne Hindernisse – schließlich aber doch, mit einem Knall, einem Zerren an den Zügeln, plötzlichem Vorwölben eines schwarzen Ballons … all dies war den jungen Pferden völlig neu und über die Maßen überraschend: sie erschraken heftig, scheuten, sich aufbäumend, zur Seite, warfen die Köpfe im Geschirr ohne Scheuklappen herum, einer der Männer am Seil schrie mich an, vom Ufer her sah ich drei Menschen in wilden Sätzen dem Strom entgegen laufen – einer von den dreien, ich sah's ganz deutlich, schwenkte die Arme wie ein Bahnwärter, der sich einem Expreß entgegenwirft, die beiden anderen schlenkerten mit den Beinen in zu weiten Hosen, hinter den dreien erblickte ich das Haus, von schrägen Regenstreifen gepeitscht, eine reglose Figur in blauem Kleid auf der Veranda (es war der chinesische Koch) – das Lenkpferd hatte seitlich ausgeschlagen, scharrte mit dem Vorderhuf über den Rand des Floßes, Wellen schlugen über Bord, mein Schirm schwamm mit hin und her wippendem Stiel wie eine schwarze Melonenschale hüpfend in rasender Eile stromab – – – da hängte sich der junge Mc. blitzschnell zwischen die Pferde, in die Wagenstange, während der Kutscher, krampfhaft zu mir zurückschauend, sich weit vornüber ins Seil legte, mächtig ausholend … eine breite, dunkelrote Decke hing vor dem Farmhaus von zwei Baumästen zum Boden nieder, eine breite, dunkelrote Pferdedecke, zum Trocknen oder Geklopftwerden hingehängt – rot – nicht bordeauxrot, eher pompejanischrot!!!
Viel später erst meldet das Bewußtsein, eben durch die Erinnerung an solche, im Grunde unwesentliche Einzelheiten die Bedeutung des Augenblicks. In dem kritischen Moment war das Lebensgefühl ungemein wach, ekstatisch gesteigert, die Sinne bis zum Bersten angespannt. Das ist das Kriterium – der Beweis!
So stelle ich mir die Augenblicke vor dem endgültigen Abschied, dem unwiderruflichen Fortgehen aus dieser sichtbaren Welt vor – ein letztes intensivstes Zusammenraffen, übermenschlich eindringliche Anschauung, Aufnehmen – vielleicht Mitnehmen dieser Welt!
Mit Bibel, Schnaps und Revolver kolonisiert man bekanntlich am sichersten. Ich für meine Person bin alles eher als Kolonialimperialist, habe aber in meinem Gepäck von altersher Bibel, Schnapsbouteille und Revolver verstaut, ob ich nun zu wilden Völkern oder in zivilisierte Länder reise.
Die Schnapsbottel kann einem leicht zum Verhängnis werden, fährt man nach den Vereinigten Staaten; bei einer Reise nach Sowjetrußland ist es nicht ratsam, die Bibel allzu auffällig herumliegen oder auch nur sehen zu lassen – geradezu lebensgefährlich aber ist es, den Besitz einer Schießwaffe zu verheimlichen, wenn man aufs Indische Festland will. Ich habe das, bei der Überfahrt über den Golf von Manuar, erfahren.
Warum versah ich die Rubrik des Fragebogens, die für Deklarierung etwa im Gepäck oder in der Hosentasche mitgeführter Feuerwaffen offen stand, mit einem Strich, statt sie der Wahrheit gemäß auszufüllen: jawohl, so und so?
Selbstverständlich verlief die Revision mit peinlicher Genauigkeit, umständlich und langwierig. Koffer und Suit-case wurden in bester Ordnung befunden und im Rockfutter meines Tropenanzuges ebenfalls nichts Verdächtiges entdeckt. Die Bibel in der großen Ledertasche – sie lag obenauf – machte auf den Zollsoldaten sogar einen recht günstigen Eindruck. Weniger die Bücher, die ich mitführte. Ich mußte erklären, weshalb ich so viele Bücher mitführe. – »Ich schreibe ein Buch über Indien!« – »Haben Sie das Buch mit?« – »Natürlich nicht, ich will es doch erst schreiben!« – »Warum haben Sie dann so viele Bücher mit, wenn Sie erst eins schreiben wollen?« – Es dauerte eine Weile, ehe sich dem Zöllnerhirn die Geheimnisse des Metiers in leicht verständlicher Form eingeprägt hatten. – Die Tropenapotheke kam an die Reihe. Der seidene Schlafsack. Überdies die 101 Gegenstände, nützliche und überflüssige, die der verängstete Tropenreisende mit sich schleppt und zum größten Teil unbenützt wieder mit nach Hause bringt.
Plötzlich … plötzlich greift dieser Mensch tief in die Tasche hinein, bewegt seine Finger seitlich, einem engen leinenen Sack zu, der in die Tasche eingenäht ein paar wichtige und besonderen Schutz erheischende Gegenstände enthält! Seine Zöllnerfinger pressen den Inhalt des Sacks gegen das Leder der Tasche, so daß sich, schon von außen, die Umrisse meines Smith-Wesson deutlich abzeichnen! – »Zeigen Sie, was Sie da haben!«
Ich erinnere mich, als wär's vor einer Stunde gewesen, wie es mir kalt über den Rücken lief und dazu der heiße Schweiß aus den Poren der Stirn drang. Gehorsam griff ich in den Leinwandsack.
Und zog folgendes heraus:
ein Brillenfutteral mit meiner Reservebrille, und:
ein schmales, viereckiges Etui mit kleinen Patience-Karten.
Beides lag in friedlichem Verein mit meinem Revolver in dem Sack verstaut.
Ich bitte den Leser nunmehr, falls er sich im Besitze eines Brillenfutterals und einer Schachtel mit Patiencekarten kleinen Formats befindet, beide Gegenstände nebeneinander zu halten und mir dann zu beweisen, daß das erstere nicht als Griff, die letztere nicht als Magazin eines Revolvers gelten kann?
Der Soldat öffnete das Futteral, sah, daß es eine Brille enthielt, schob das Patienceetui auseinander, hielt dann noch eine Karte gegen das Licht – weil ja obszöne, durchsichtige Spielkarten auch als Konterbande gelten –, gab mir alles zurück und hieß mich, meine Tasche schließen. – – – Ich setzte mich nachher für eine halbe Stunde in einen Winkel des Verdecks und hörte zu, wie mein Herz seinen Schlag verlangsamte, die Seele in Ordnung kam. –
Auf der Fahrt nach Madura, im Speisewagen, frug ich meinen Tischnachbarn, einen englischen Major, von ungefähr: was denn mit dem Kerl geschähe, der sich unterfinge, eine undeklarierte Waffe ins Innere Indiens zu schmuggeln?
Der Engländer sah mich an: »Well, wenn's ein Ausländer ist – sechs Monate Haft im nächsten indischen Gefängnis und nach Ablauf der Strafe sofortige Rückbeförderung nach Europa. Zudem, selbstverständlich, Konfiskation der Waffe. – Warum fragen Sie?«