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Neunzehntes Kapitel. Strohwitwers Freud und Leid

Toni hatte Trautchen und Danielssons nach Strömstad an die Bahn begleitet. Als er die winkenden Taschentücher nicht mehr sehen konnte und dann auch die Rückwand des letzten Wagens seinem Blick entschwunden war, stand er noch eine Weile vor den blanken Schienen im Sonnenschein, wie wenn er nicht recht wüßte, wohin mit sich. Geschah es doch zum ersten Male seit der Hochzeit, daß ihn seine Frau auf unbestimmte Zeit, vielleicht auf Wochen, sich selber überließ. Nebenbei wühlte in seinem Herzen ein stiller Gram um Annastina, bohrte in seinem Schädel ein kleiner Katzenjammer von der gestrigen Feier her.

Was tut ein deutscher Mann als erstes, wenn er der strengen ehelichen Aufsicht entronnen ist? Dumme Frage! Ins Wirtshaus geht er. Auch Toni stellte nach einigem Grübeln fest, daß die innere Leere, die er verspürte, ihren Sitz ganz besonders im Magen hätte und von diesem Körperteil aus gewiß am ehesten zu lindern wäre. Dies lenkte seinen Schritt in das Bade- und Strandhotel, das auf einen Bewohner Kosters geradezu weltstädtisch wirken mußte. Und dort begann er, zu dieser Stunde, da die langschläferischen Schweden erst allgemach zum Morgenkaffee herunterkamen, ein Staunen erregendes zweites Frühstück zu verspeisen, dessen Glanzstück ein englisch gebratenes Entrecote bildete. Ochsenfleisch nämlich war drüben auf der Zauberinsel ein sagenhafter Artikel; so mußte man die Gelegenheit nützen. Das gleiche galt von dem guten schwedischen Aquavit, für den in diesem auf Temperenz erpichten Land ein kleiner Wirt wie Olsson keine Ausschankberechtigung besaß, während man hier davon kriegen konnte, soviel man irgend mochte. Doch lag es dem starken Manne fern, diese Freiheit schnöd zu mißbrauchen: drei Gläschen deuchten ihn genug bei einer Mahlzeit. Aber er setzte eine halbe Flasche Sherry drauf, und da er merkte, wie wohl die ihm tat, noch eine zweite.

Als er hernach gesättigt zum Hafenkai bergab wandelte, fühlte er sich sehr leichtbeschwingt, besonders auch hinsichtlich der Gehwerkzeuge. So hoben die sich höher als sonst und traten darum manchmal ein wenig unvermutet aus, bald gar zu sorglich tastend, bald eher zu bestimmt und hart. Doch störte das nicht weiter; und wer geglaubt hätte, das käme von den Getränken, der hätte sich schwer getäuscht. Der starke Mann war wohl beschwingt, doch keineswegs beschwipst; er hatte, was nun auch seine Füße dazu meinen mochten, eine vollkommen ausbalancierte Weltanschauung. Irgendein glänzender Nebel verschleierte ihm die Nähe, so daß sie schon wie Ferne wirkte. Was kann dem Menschen denn im Grund geschehen! Und warum soll er sich heut um Dinge grämen, die er beim Zurückschau'n nach zehn Jahren doch bloß belächeln wird! Was stellen wir überhaupt vor im Vergleich zum Weltall, und unser Leben im Vergleich zur Ewigkeit! Man nehme sich nur nicht zu wichtig und lasse sich an schönen Tagen die Sonne genießerisch auf den Buckel scheinen.

Dieses besorgte Toni denn auch fleißig, als er sich nun von Carlssons Kutter über das blaue, in kleinen Wellen tanzende Wasser tragen ließ. Aus einmal aber ging es wie ein Schlag längelang durch ihn hindurch, sein Rücken straffte sich mit hohlem Kreuz, er blickte fest, die Lider ein wenig zugekniffen, nach einer ganz bestimmten Richtung, einem Ziel. Reißt's einen Mann aus innigem Duseln jäh zu so heller Wachheit empor, dann prüft der Kenner, ob nicht ein hübsches Frauenzimmer um die Wege sei; vielleicht auch mehrere hübsche Frauenzimmer. Und letzteres war hier der Fall. Seitwärts vom Eingang der Bucht lag, übers Meer hinausgestellt, die Badeanstalt, eine lange ockergelbe Bretterbude mit einer schmalen Plattform davor, auf der Schulter an Schulter wohl dreißig, vierzig Weiblichkeiten in meist recht knappen Schwimmanzügen standen, scheinbar eigens aufmarschiert, um dem starken Manne zu huldigen. Sie winkten nämlich alle zu dem Boot herüber, wobei die eine sich eines winzigen Schnupftüchleins bediente, die andere gleich ein Mordstrumm Badelaken im Winde flattern ließ.

Das war ein lustiges Bild, wohl wert, von einem Malerauge aus größerer Nähe studiert zu werden. Mit der linken Hand erwiderte Toni huldvoll die Grüße der Damen, mit der rechten fischte er hastig in seiner Rocktasche nach dem Kleinen Meyer. Er wollte ein Segelmanöver anordnen, zu dem ihm aber vorerst noch die Vokabeln fehlten.

Doch durfte er sich das Kommando sparen: Carlsson erriet die Wünsche des Herrn Professors prompt: flink legte er, obgleich man ohne jedes Kreuzen leicht aus der Bucht gekommen wäre, das Ruder hart nach Backbord und braßte, als der Kutter auf dem Wind war, das große Gaffelsegel um, so daß es für einen Augenblick wie unentschlossen schlotterte, sich dann aber ruhig kraftvoll nach der andern Seite hinaus bauschte. Toni, der in solchen Dingen genügend Fachkenntnis erworben hatte, war gleich im Bild und eilte, die Fockschoot zu bedienen. Das Boot neigte sich elegant hinüber und hielt in majestätisch langsamer Fahrt auf eine Felsnase landeinwärts vom Badehause zu. Wenn man dort knapp vor dem Ufer wieder halste, mußte einen der nächste Schlag mit wenigen Metern Abstand an der Plattform vorbeiführen. Den Damen blieb der Plan der Segler nicht verborgen; sie fühlten sich darob aber offenbar weder geängstigt noch auch moralisch entrüstet, sondern fanden das Abenteuer äußerst belustigend. Ihr Winken nahm geradezu leidenschaftliche Formen an; bloß daß diese Inbrunst von einem Stich ins Parodistische wohl nicht vollkommen frei war. Toni schaute stramm hin; und vielleicht, um vor sich selber den Schein des Gerechten zu wahren, konzipierte er dabei eifrig an einem neuen mythologischen Gemälde, das den Titel: Odysseus und die Sirenen führen sollte.

Inmitten der Plattform des Badehauses ragte ein Laufbrett schräg übers Meer. Und dieses Brett erstieg jetzt federnden Schrittes ein großes, schlankes Mädchen. Das trug eine starkblaue, sich gleich einem römischen Helm an den Kopf schmiegende Schwimmhaube und ein schwarzes Trikot von sparsamstem Zuschnitt. Das junge Ding erfreute sich eines prachtvollen Wuchses und bewegte sich sehr schön. Herrgott, an wen gemahnte das unsern starken Mann doch gleich? Ach Unsinn! Mit Annastinas Körperrhythmus konnte solch ein Persönchen freilich nicht wetteifern; da fehlte es noch weit! Aber mußte man denn die zwei durchaus vergleichen! Annastina, ach ja, war abgereist, Gott mochte wissen, wohin. Und es hatte doch etwas verdammt Gutes, wie das schöne Mädel da das Laufbrett nun ins Wippen brachte, während zugleich die Hände mit edlem Schwung emporfuhren und sich hoch über dem Kopf zusammenlegten. Von den Finger- bis zu den Fußspitzen lief eine graziöse, nirgends gebrochene Kurve durch die Gestalt. Dann sprang sie. Beim Überschlagen streckte sie sich mühelos zu einem plötzlich im umgekehrten Sinn geschwungenen schlanken Bogen, glitt sacht, die Hände voran, ins Wasser, unters Wasser. Genau in der Flucht der Linie, die sie beim Untertauchen beschrieben hatte, genau da, wo man es erwarten mußte, schossen die Arme und der blaubehelmte Kopf empor. Und mächtig ausgreifend, schwamm sie weiter, quer zum Kurs des Kutters, ein Stück vor seinem Bug vorbei. Carlsson murmelte einen Satz auf schwedisch, der wohl ein Lob für die Springkünste der Dame in sich schloß. Und deren Mitnixen fühlten offenbar den gleichen Drang: sie hoben allesamt ein prasselndes Applaudieren an. Da schlug auch Toni, gewissermaßen gnädig, in die Hände und schrie zu der Plattform hinüber:

»Na hoppla! Vorwärts! Jetzt die Nächste!«

Die deutschen Worte erregten sichtlich einige Sensation. Wie Sturmwind durch ein Saatfeld, ging es über die hübschen Köpfe, tuschelnd wurden sie zusammengesteckt. Dann formte eine kräftige Blondine die Hände zum Sprachrohr, und deutlich schallte es an Tonis Ohr:

»Wir produzeeren ins nicht for Berliner!«

Er wußte nicht gleich, was er auf diese unerhörte Beleidigung antworten solle. Und schon vernahm er das noch härtere Wort:

»For Handelsreisande!« Gleich einem Raketenfeuerwerk trillerte ein Lachen aus dreißig Frauenkehlen in die Luft. Er sprang entrüstet auf und brüllte:

»Ja, schau' ich wie ein Preuß' aus, und wie ein Koofmich? Nein, Kinder! Ratet einmal, was ich bin!«

»Vielleicht ein Maler aus Pasing an der Würm?« fragte ganz nah bei ihm eine Frauenstimme voll spitzbübischer Interessiertheit.

Es riß den starken Mann; er fuhr herum. Hatte er denn am hellen Tag Halluzinationen? Hilflos suchend irrten seine Augen über das Wasser, durch die Luft. Ein Kichern aus der Tiefe zeigte ihm dann den Weg. Wahrhaftig: Annastina! Unter dem blauen Helm hervor lächelten ihm rätselhaft die grünen Augen zu. Sie hielt sich mit den Händen am Kutter fest und ließ sich ziehen; um ihre schlanken Beine plätscherte das Wasser mit spitzigen Flüsterlauten.

»Nein, so was! Gnä Frau!« stammelte Toni glücklich.

»Gwinner, ich wollte nichts als Ihnen sagen: Dank für gestern!«

»O bitte, keine Ursache!« holperte es ihm ungeschickt heraus.

»Gwinner, Sie haben ... Vollendet haben Sie sich benommen, zuerst mit Danielsson und überhaupt. Ich war im Unrecht. Sind Sie mir nun böse?« fragte sie sanft, jungmädelhaft, fast innig. Ganz recht, im Grund war er ihr böse. Aber weiß der Kuckuck, woher es kam: jede Rachsucht hätte ihn gar so engherzig gedeucht.

»Ah, keine Spur! Wo denken Sie denn hin!« erklärte er generös.

»Auch kein klein bißchen, Gwinner? Die Hand darauf?« Sie reichte ihm die Linke, denn mit der Rechten mußte sie sich halten. Er drückte einen Kuß auf die schmalen Finger und bat:

»Geh, kommen S' doch herein! Das is entsetzlich unbequem.«

»Das möchten Sie wohl?« fragte sie mit einem listigen Blinzeln, und ihre Zungenspitze spielte für einen Augenblick im Mundwinkel.

»Möchten is gar kein Ausdruck«, beteuerte er schwärmerisch.

»Nein, nein!« Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Und während sie den Blick prüfend an sich heruntergleiten ließ, wobei sie sich ganz unwillkürlich ein wenig aus dem Wasser hob, sagte sie mit einem backfischhaft verwunderten Blick: »Ich bin ja doch im Schwimmkostüm.«

»Is denn das bissel Kostüm auch noch der Rede wert?« entgegnete er keck. Sie tauchte andeutungsweise etwas tiefer in die Flut und drohte ihm mit dem Finger.

»Benehmen Sie sich nur nicht zu – strohwitwerisch!«

»Sie wissen?« stotterte er verblüfft.

»Ja, denken Sie sich! Ich hab' mich nämlich für ein paar Tage hier in Strömstad einquartiert. Und wie's der Zufall will, muß ich gerade da in dem grauen Haus direkt am Bahnhof Zimmer finden.«

Zufall? dachte Toni, behielt das aber fein für sich.

»Und, Gwinner, warum ist Ihre Frau denn abgereist?« erkundigte sie sich und senkte ihren Blick eindringlich forschend in den seinen.

»Wir kriegten eine Nachricht«, antwortete er hastig, etwas befangen und zerstreut. »Ein Telegramm. Eine Erkrankung. Unser Sohn.«

»Ach was? Sie haben einen Sohn? Das wußte ich ja gar nicht. O bitte, bitte, erzählen Sie mir von ihm!« rief sie und vergaß in ihrem Eifer völlig, daß sie im Schwimmkostüm war. Wenigstens saß sie plötzlich aus dem Außenbord des Kutters, in schöner, freier Haltung, die Beine leicht gekreuzt. Die eine Hand hielt sich, hoch über ihrem Kopf, an einem Tau fest, die andre drückte mahnend seine Schulter. »Erzählen Sie, erzählen Sie!«

Die leise Berührung verwirrte ihn, doch er gehorchte. Was er da aber redete, wurde ihm selber kaum bewußt. Seine Aufmerksamkeit richtete sich ganz wo anders hin. Herrgott, war Annastina schön! Wie wunderbar, wie fehlerlos vollendet saß sie da! Diese schlanken, rein und vornehm gezeichneten Glieder! Und diese unglaubwürdig weiße Haut, die durch das schwarze Trikot in ihrer Leuchtkraft noch gehoben wurde! Er starrte sie so hingerissen an, daß Annastina nach einem Weilchen wie unter einer Berührung zusammenschauerte und ein wenig atemlos sagte:

»Nein! Sehn Sie mich nicht so an! Ich will nicht! Nein, wenn Sie solche Augen machen, dann ...«

»Dann?«

»Dann komm' ich nicht mehr nach Koster.«

»Sonst aber kommen Sie? Ach ja, ach ja! Wann? Gleich heute?«

»Heute? O nein, das sähe ja so aus ...«

»Also morgen!«

Sie lächelte.

»Ich weiß noch nicht, ob überhaupt ... Eins ist ja richtig: der dumme Mensch, der mich vertrieben hat, ist fort. Ich lieb' die Insel. Sie wollten mich auch malen, sagten Sie?«

Dies hatte er zwar nicht gesagt. Doch trotzdem rief er lebhaft:

»Natürlich! Das is doch ausgemacht; Sie haben's mir versprochen!«

»Versprochen?« fragte sie. »Nein, davon ist gar keine Rede.«

»Nacher versprechen Sie mir's jetzt!«

»Vielleicht«, sagte sie zögernd. »Wenn Sie versprechen ...«

»Alles!« beteuerte er großartig.

»Alles ist mir zu wenig!« gab sie fein zurück. »Nein, Gwinner, wirklich: was hat's für einen Sinn! Man muß doch seiner sicher sein. Sonst ist's ein Mit-dem-Feuer-Spielen.«

»Das macht doch grade Spaß!« lachte er ganz frech.

»Ja, Ihnen! Ich aber bin doch eine Frau.«

»No, eben deshalb macht es mir ja Spaß.«

»Nein, Gwinner, nein; ich seh' schon: wir lassen's lieber! Also: adieu!«

»Waas? Sie wollen?«

»Ach ja!« antwortete sie mit parodistischer Düsterkeit. »Der Abschied von Ihnen wird mir so furchtbar schwer: ich geh' ins Wasser!«

»Erst können!« rief er; und wahrhaftig: er hatte die Dreistigkeit, sie mit Gewalt halten zu wollen. Doch seine Hände griffen in die Luft, beinah wär' er über Bord geschossen, eine dicke Garbe der Salzflut fuhr ihm ins Gesicht und machte ihn völlig blind.

»Aber Sie kommen?« brüllte er, während er gleich einem Rasenden nach seinem Sacktuch suchte.

»Abwarten!« rief Annastina spöttisch, schon von weitem her.

»Und Kuchen essen!« ergänzte aus nächster Nähe eine fremde Frauenstimme, ein komisch tiefer Alt.

Toni, der heftig an sich herumwischte, sah auf: Carlsson hatte in der Zwischenzeit zum zweitenmal gewendet; man war dicht vor der Badeanstalt. Und wie die Weiblichkeiten lachten! Es war wirklich nimmer schön. Da sich von Annastina nichts mehr erspähen ließ als der blaue Fleck ihres Helmes auf den Wellen, drehte er der spöttischen Gesellschaft voll Trotz den Rücken. Zorn und Geniertheit stritten sich eine Weile in Tonis Brust. Aber nachher, als sie die Bucht verlassen hatten, besserte sich seine Laune bald. Ach was: Annastina kam schon; das mußte er doch besser wissen als sie selbst! Und mählich geriet er in eine so glänzende Siegerlaune, daß er die ganze Welt hätte umarmen mögen.

Der Kutter befand sich auf der Höhe einer kleinen Klippe, die ein weithin sichtbares Seezeichen trug: eine nach oben sich verjüngende, der Quere schwarz und weiß gestreifte Steinsäule. Und die, das wußte Toni, hieß bei den Fischern der alte Mann und mußte nach einem Aberglauben auf jeder Ausfahrt respektvoll begrüßt werden; das brachte Glück und reichen Fang. Toni zog schwungvoll den Hut davor und fragte durch ein flüchtiges Augenblinzeln Carlsson, ob der dies auch entsprechend würdige. Jawohl, das tat der Fachmann: er lächelte beifällig und lüpfte gleichfalls die Seemannsmütze. Freilich vollführten Schüler und Meister diese Zeremonie nicht mit der rechten Andacht, sondern zerstreut und oberflächlich, wie etwa ein hungriger Bauernknecht sein Tischgebet herunterleiert. Wer weiß, ob ihre heimlichen Gedanken dabei nicht ganz was andres grüßten! Muß es durchaus ein alter Mann sein? Im Notfall tut's auch eine junge Frau.

Die beiden wechselten nie viel Worte auf ihren Fahrten, schon wegen all der Schwierigkeiten der Verständigung. Heut aber war ihr Schweigen auf eine Weise träumerisch und tief, daß man es förmlich hören konnte, so fremd hob es sich ab vom Wellenkichern vor dem Bug des Kutters, der ruhig durch das sonnenblanke Wasser schnitt, mit sicherm Kurs zum Strand der Zauberinsel.

Es kam nicht ganz so, wie sich das einer in seinen seligen Träumen vorgegaukelt hatte. Annastina ließ auf sich warten. In unruhvoller Sehnsucht war der erste Tag dahingegangen. Und nun neigte sich auch der zweite seinem Ende zu. Melancholisch gestimmt, schlenderte Toni durch den Hotelpark zum Nachtessen. Er hatte die Hoffnung endgültig aufgegeben. Nein, und jetzt freute ihn schon gar nichts mehr. Es war Mitsommerabend, und der sollte nach gutem nordischen Brauch gefeiert werden. Auf einem freien Platz im sogenannten Park, nah beim Hotel, hatte man einen Mast errichtet, der dicht mit Laub umkleidet und oben von gleichfalls aus frischem Grün kunstreich gewundnen symbolischen Ornamenten bekrönt war. Rundum auf der Wiese standen, die Pracht anstaunend, alle die Kinder der Strohwitwen in lustig bunten Nationaltrachten. Selbst von den Müttern hatten es manche nicht verschmäht, sich in den gleichen Staat zu werfen; es waren da in reicher Mannigfaltigkeit wohl sämtliche Landschaften Schwedens vertreten.

»Sag, ist das nicht ein schönes Bild?« rief Philipp dem Freund entgegen und zeigte lächelnd seine hübschen Zähne.

»Bild? Na, von mir aus Bild!« brummte Toni sehr gefaßt.

»Ja, das«, fuhr der andre unbeirrt fort und deutete nach dem geschmücktem Mast, »das ist die echte schwedische Maistange.«

»Wahrscheinlich, weil sie im Juni aufgepflanzt wird?« höhnte mitleidvoll der starke Mann.

»Ja, das ist wirklich komisch«, räumte der Dichter fügsam ein. »Nein aber, Toni, sieh die Kinder in den Trachten; die sind doch ganz entzückend!«

In andrer Stimmung wäre Tom der erste gewesen, sich hieran lebhaft zu begeistern. Heut aber mochte er halt nicht! Er sagte kühl sarkastisch:

»Als Pfingstkälber haben die sich offenbar garniert, weil's morgen Johanni is?«

– Widerwärtiger Patron, öder Witzling, poesiefremder Bauernkerl! so hätte Philipps Antwort wohl gelautet, wäre es ihm ratsam erschienen, die Katze aus dem Sack zu lassen. Doch er bezwang sich mannhaft. Ein Streit kann, eh' man sich's versieht, zu Mord und Totschlag führen. Und da bei so etwas die rohe Kraft entscheidet, war nicht anzunehmen, daß dann zu guter Letzt gerade Toni zerschmettert auf der Walstatt liegen würde. Wenn der Dichter nun aber glaubte, er könnte sich dadurch viel nützen, daß er geduldig und krampfhaft höflich zu den geschmacklosesten Scherzen seines Malerfreundes lachte, dann war das eine Täuschung. Der starke Mann schien heute so etwas wie Trost für sein Seelenleid im Aufziehen von Lyrikern zu suchen. Erleichtert fühlte sich Philipp, als endlich zum Essen gegongt wurde.

Als er das letzte der drei Speisezimmer betrat, stellte Toni wieder einmal mit Wehmut fest, daß sie noch immer allein drin saßen. Zwar fehlte auf dem Nebentische auch jetzt nicht das Gedeck für Annastina; aber dies hatte nur das erstemal törichte Hoffnungen in ihm erweckt. Na, hol's der Kuckuck! Morgen fing er nun aber wirklich ernsthaft mit dem Schruppen an!

Und als er diesen lobenswerten Entschluß gefaßt hatte, wendete er Blick und Aufmerksamkeit den Vorspeisen auf ihrer eigenen Tafel zu. Die alte Leier: Fisch, Fisch, Fisch! Als schwacher Fleischestrost einsam dazwischen ein kleiner Teller Pökelzunge. Den aber ergatterte der starke Mann, ehe er noch richtig aß, mit rücksichtsloser Faust. Er wußte, wodurch man deutsche Dichter bis in die Seele kränken kann. Von den zehn Scheibchen Zunge nahm er neun ganz unbefangen für sich, das letzte präsentierte er freigebig lächelnd Brita. Zwar reichte die es pflichtschuldigst ihrem Mann weiter; aber dieser sagte mit etwas verzerrt wirkender Liebenswürdigkeit:

»Nein, Brita, nein, iß du nur! Es ist so wenig da.« Letzteres sollte ein Hieb gegen Toni sein.

»Ja, schade!« entgegnete er, mit vollen Backen kauend. »Die Zunge is nämlich delikat!« Und daran knüpfte er eine unverfängliche Frage nach irgend etwas Gleichgültigem. Nur das Funkeln seiner schwarzen Augen verriet, daß dies nichts weiter bedeutete als einen Umweg zu neuen Infamien. Mit denen aber sollte er nicht zu Rande kommen. Das Schicksal selbst erbarmte sich seines unglücklichen Opfers; er verstummte mitten im angefangenen Satz und horchte zweifelnd. Sein scharfes Ohr hatte durch all das lebhafte Geschnatter im Nebenzimmer einen Ton vernommen, der ihm nicht fremd war. Und, Herrgottsakrament, er täuschte sich nicht: dies feine, gleichsam heimliche Seidenknastern kam doch näher? Da: in der Tür stand Annastina! Sie stutzte kaum merkbar auf der Schwelle. Und schon rauschte sie, den stolzen Kopf um knapp zwei Millimeter zum Gruße senkend, vorüber an den dreien, nach ihrem alten Platz. Herrgott, wie schön sie ging! Und ja: sie trug das rosa Kleid, das Toni liebte.

Auch dem suggestibeln Geiste Philipps versetzte das Auftauchen Annastinas einen Schlag von einer Heftigkeit, daß es ihn gleich vom Stuhl emporriß. Und da er einmal aufgestanden war, ging er denn hin, küßte ihr mit Ritteranmut die Hand und flehte so dringlich, als hinge sein Leben davon ab, sie möchte doch an ihren Tisch hinüberkommen: jetzt gäbe es ja Platz in Fülle dort.

Sie hörte dem Gebalz, wie Toni es bei sich nannte, lächelnd zu und ließ sich bitten. Schließlich erbarmte sie sich und kam. Sehr warm begrüßte sie Brita, als sei es ihr inzwischen wieder eingefallen, daß sie vor Jahren ein häufiger Gast in ihrem Vaterhaus gewesen war. Dann reichte sie auch dem starken Manne die Hand und drückte sie bedeutungsvoll zum Zeichen des Einverständnisses, fragte dabei aber höchst erstaunt:

»Was?! Sie sind auch da?«

»Wo sollt' ich sein?« fragte er zurück und zog ein wenig geistreiches Gesicht.

»Ich dachte: abgereist? Mit Ihrer Frau?«

Dies klang ja, als hätte sie ihr schönes Stelldichein in Strömstad schon wieder ganz vergessen. Aber Toni nahm ihr das nicht übel. Oh, im Gegenteil: entzückend fand er ihre kleine List. Klug war sie, die schöne Frau; das konnte ihr selbst nicht der Neid bestreiten. Ganz lässig wußte sie so nebenher ein paar Worte darüber ins Gespräch zu flechten, warum sie vorgestern fortgegangen wäre, und welche tatsächlich sehr plausibeln Erwägungen sie neuerdings nach Koster führten. Dies teilte sie dem Dichter mit, an den sich überhaupt ihre Worte vorwiegend wendeten, äußerst charmante Worte, die von einem strahlenden Lächeln aus großen Kinderaugen hold verwirrend begleitet waren. Philipp machte das selig; und Toni focht es ganz wenig an. Er kannte sich ja aus. Und als es ihm zum Schluß doch etwas unheimlich wurde, so völlig links liegenzubleiben, spürte das Annastinas Feingefühl sofort. Leis tröstend schmiegte sich ihr Knie an seines und sagte gleichsam: Dummer! Was überm Tisch geschieht, ist ja nur Sand für fremde Augen.

Da schoß eine unbändige Freude in Toni auf. Obgleich sie dann seinem Versuch, diese drahtlose Telephonie zu einem Dauergespräch zu mißbrauchen, sofort ein Ende machte, er blieb in seinem Taumel. Und wessen das Herz ihm voll war, des ging der Mund ihm über. Nicht, daß er von seiner Liebe gesprochen hätte, o bewahre! sie sollte sich nicht fürchten: auch er war schlau und konnte ein Geheimnis hüten. So wurde sein Ventil das Witzemachen, das ihm ja von jeher als Larve hatte dienen müssen, wenn's galt, Gefühle zu verstecken, die ein Mannsbild nicht gerne nackend zeigt. Natürlich hatte dabei wieder Philipp sehr zu leiden. Seine Kurmacherei, die ein bißchen Lavendelduft vom Anstandsunterricht der Tanzstunde aushauchte, wurde überdonnert durch Tonis schweres Geschütz. Und leider lieferte der Dichter diesem außerdem das Ziel für ein kleines Wirkungsfeuer. Kam er auch als Rivale nicht ernsthaft in Betracht, ihn nebenher ein bißchen mit dem Nimbus der Lächerlichkeit zu umgeben, war eine Vorbeugungsmaßregel, die jedenfalls nichts schadete. Die Hauptrolle aber spielten diese scharfen Schüsse nicht; das meiste waren Leuchtraketen zur Blendung der schönen Augen Annastinas, ein Bombardement von Huldigungen in scherzhaft übertriebener Form, damit die andern dies alles für recht unverfänglich hielten, während die eine, die es anging, die echte Glut schon durchfühlen würde. Das tat sie auch und lachte süß dazu aus vollem Halse.

Na, kurzum: Toni benahm sich ganz in der Weise, die Trautchen immer sehr nervös zu machen pflegte, wenn sie dabei war. Aber sie war ja nicht dabei. Und er wollte nicht an sie denken. Wozu auch! Hatte das 'nen Zweck! Doch gab es eine gute Seele, die in Vertretung des Ungetreuen an seine Gattin dachte. Philipp nämlich tat die alte Freundin auf einmal furchtbar leid, weil sie bei all der Lustbarkeit fern weilen mußte. Wenigstens nachträglich, fand er, sollte sie sich mitfreuen an dem gelungenen Abend. So ließ er sich denn eine Ansichtskarte kommen, versah sie mit der Adresse von Frau Professor Gertraute Gwinner, Pasing (Oberbayern), und schrieb der Freundin diese Zeilen:

Liebes Trautchen! Heut abend sind wir sehr vergnügt und gedenken Dein, Toni ist schon bei der vierten Flasche Pilsener. Frau Nordlind ist auch wieder hier und speist jetzt mit an unserem Tisch. Hoffentlich geht es Michele gut, und wir sehn Dich bald mit ihm in unserer Mitte!

Tausend innige Grüße!
Dein alter Philipp L.

Brita fügte einen herzlichen Gruß hinzu, während Annastina nicht mehr als ihre Anfangsbuchstaben fast unsichtbar in eine Ecke setzte. Zum Schluß kam Toni an die Reihe. Er kritzelte, pfiffig schmunzelnd, den ganzen freigebliebenen Raum voll und ließ dann den Dichter lesen. Da stand, höchst frech und unbefangen:

Wie geht's Dir, Schnucksi? Mir glänzend! Namentlich heute! Grad bestell' ich mir die fünfte Flasche. Und Frau Nordlind mach' ich mit einem Schwung den Hof, daß Philipp demnächst platzt vor Eifersucht! Gott mit ihm! Gruß ans Michele und Dich!

Vater Toni.

Philipp war merklich erstaunt, deutete ein kleines Lachen an und sagte schnell:

»Gib her! Ich steck' sie dann gleich ein.«

»Du bist zu freundlich, aber bemüh' dich net!« erwiderte der starke Mann mit einem Hauch von Ironie und schob das Schriftstück unter seine Serviettentasche. »Ich expedier' das nacher schon.« Um ihn hineinzulegen, mußte man früher aufstehn. Ihm war sehr klar, wo dieses kostbare Autogramm von Deutschlands erstem Lyriker enden würde. Leider nur vergaß er, als man später hinausging, die dumme Ansichtskarte über viel interessanteren Sachen. Ein andrer aber vergaß sie nicht.

Ja, wer sich immer alles vorsorglich überlegte, würde selbst so etwas wie einen Dichter nicht unnütz reizen. Ganz waffenlos ist auch der Schwächste nicht.

 

Das Fest hatte längst begonnen, als die vier ins Freie traten. Und ihnen allen war es, wie wenn sie in eine andre Welt versetzt würden. Ein Feuerkreis aus bunten Papierlaternen machte die Parkwiese zu einer Lichtinsel in dem kühlbleichen Dämmermeer der Sommernacht. Um den Maibaum wandelte paarweis der Kinderreigen, geführt von einer blonden Frau in dalarner Tracht, mit kühn zurückgeworfnem Kopf und flatternden Haaren. Fast glaubte man in ihr ein spukhaft schönes Trollweib zu erblicken, so gut es einem auch bekannt war, daß sie bei Tag als dürftige, brav glattgekämmte Provisorsgattin herumzulaufen pflegte. Jetzt aber hob sie beim Gehen ihre Knie bacchantisch im Takt des leidenschaftlichen Tanzliedes, das sie auf ihrer Geige spielte. Dazu sangen die Kinder, und ihre hellen Stimmen wallten gegen das Firmament gleich dem Opferrauch unschuldiger Heiden. Noch niemals hatte Toni es so mit dem Gefühl verstanden, warum Philipp in Koster durchaus heidnisches Land sehen wollte. Auch die Begeisterungsausbrüche, an denen der Dichter sich kaum genugtun konnte, dämpfte der starke Mann nicht mehr, wie vor Tisch, durch kalte Güsse billigen Hohns. Er achtete wohl kaum darauf, war er doch selber wie hingenommen und entrückt. Und alles, was er sah und hörte, diente ihm nur als Hintergrund für Annastina, wob um sie eine Märchenglorie.

Sie stand drei Schritte von den anderen entfernt. Jede Linie ihres Leibes war straff gespannt. Das gab ein Bild, als hafte sie kaum noch am Boden, als müsse sie gleich aufgehoben werden, still, ohne ein Glied zu rühren, in der gleichen schwerelosen Stellung. Und durch ihr rotes Haar flirrten metallische Funken, wie wenn ein erster Strahl vom Lichte eines höheren Landes sich grüßend auf sie niederließe.

»Seht nur, nein, seht: wie schön ist diese Frau!« flüsterte Philipp, vielleicht nicht so besonders leise, Brita und Toni zu.

Durch Annastinas Körper schnellte ein Ruck: sie fiel aus ihren Himmeln, was sie übrigens gleichfalls mit vollendeter Anmut besorgte. Es mag im Zweifel bleiben, ob sie die Worte des Dichters vernommen hatte, oder ob sie so jäh erwachte, weil das süß jubelnde Geschluchz der Geige durch das ordinär vergnügte Dudeln einer Ziehharmonika abgelöst worden war. Ein neues Bild bot nun die Wiese. Zuschauer und handelnde Personen hatten die Rollen vertausche Die bäurisch herausgeputzten Stadtkinder standen gaffend im Halbkreis unter den Eschenbäumen; und wo sie zierlich den Reigen getrippelt hatten, drehte sich im Rundtanz die erwachsene Fischerjugend, wuchtig aufstampfend, inbrünstigen Ernst in Haltung und Gesichtern.

»Ja, Herrschaft, is das echt!« murmelte Toni, und seine Augen blitzten. Der schönen Annastina hingegen erschien diese Volkstümlichkeit offenbar zu echt. Bevor der starke Mann seine Absicht, sie um einen Tanz zu bitten, wahrmachen konnte, ließ sie ein Lächeln, gemischt aus schmerzlich berührtem Feingefühl und Verachtung, um ihre Lippen laufen und sagte unvermittelt und dennoch im Zusammenhang mit diesem Lächeln:

»Gut' Nacht! Ich will jetzt gehn.«

»Ich werde Sie begleiten«, erklärte Toni mit edler Zuversicht.

»Wie kommen Sie auf die Idee?« fragte sie peinlich erstaunt. »Nein, danke!« Ein eisiger Blick wies ihn in seine Schranken.

Oh, wie das Philipp wohltat!

»Wir alle bringen Sie«, schlug er nun vor.

»Ach, danke! Bitte, bitte, bleiben Sie!« wehrte Annastina freundlich ab. »Wozu? Die wenigen Schritte ... Und nach dem Lärm hier hab' ich das Bedürfnis, allein zu sein. Entschuldigen Sie. Es ist vielleicht lächerlich ...«

»Oh, ich versteh' Sie!« rief lebhaft der Dichter.

»A was?« stichelte Toni. »Das artet dann doch sicher zum Gedicht aus?«

Annastina verzog einen Moment mit gesenktem Kopf, dann hob sie ihn und sagte ruhig:

»Auf Wiedersehn denn morgen!«

Mitten über den Tanzplatz schritt sie davon. Nichts hätte die Schönheit ihrer Bewegungen besser hervorheben können als der Zwang, diesen trampelnden Paaren geschmeidig auszuweichen. Der starke Mann starrte ihr nach, bis auch der letzte Schimmer ihres Kleides vom Parkdunkel verschluckt war. Hatte nicht in dem Schwung ihrer Hüften, in jeder Biegung ihres Leibes gleichsam ein Locken, Winken, Rufen gelegen, genau wie in jenem flüchtigen Blick, mit dem sie ihn zum Abschied heimlich streifte? Für eine kurze Anstandsfrist noch zwang er sich zum Bleiben. Dann reckte er sich mächtig, gähnte ganz laut, erklärte, daß ihm die talentlose Tanzerei bis dahin stünde, wünschte allerseits auch weiter viel poetische Anregung und empfahl sich.

»Nein also«, stellte der Dichter fest, als er mit seiner Frau allein geblieben war, »wenn den nicht Trautchen mit dem Pantoffel unter Aufsicht hält, ist er doch unausstehlich. Und kaum dreht sie den Rücken, macht er schon einer anderen den Hof. Und grade dieser Frau! Was bildet sich denn so ein Bauer ein!«

 

Gleich einem scharfen Horne des versteinerten Vorwelttiers saß droben auf dem Granitbuckel der Mond im ersten Viertel. Er glänzte nicht, er gab nicht Helle, nur gleichsam milchig machte er die Nacht. Drunten das Schusterhaus lag so ruhig schlafend, daß man es beinah atmen sah. Es ist ja die vollkommene Stille, die toten Dingen solch ein unheimlich lebendiges Leben gibt, etwas Verzaubertes, das zu sich zieht und warnend von sich stößt. Kein Lichtstrahl stahl sich aus Annastinas Fenstern. Sie standen offen, doch waren die schwarzen Rollvorhänge herabgelassen; das weckte den Eindruck, als laure drinnen tiefe, leere Nacht, geduckt, zum Sprung bereit, gefährlich. Daneben schienen die hellgrauen Außenwände magisch aus sich selbst heraus zu leuchten, in tückisch verstohlnem, bläulichem Phosphorglanz. Als grüne Funken taumelten Johanniswürmchen durch die Luft.

Es gehörte zu den Dogmen des starken Mannes, daß er sich vor dem Teufel selbst nicht fürchte. Und fürchten tat er sich auch jetzt nicht. So sehr behaglich aber war ihm trotzdem nicht zumut, als er nun hinter dem blühenden, schwül duftenden Holunderbusch hervortrat, durch dessen Zweige er die Gelegenheit ausgekundschaftet hatte, und sich lautlos wie ein Indianer näherpirschte. Warum ihm das Herz nur so verdammt schlug, gleich bis in den Kopf herauf? Es dröhnte ihm förmlich in den Ohren, und ihm war, wie wenn man es von weitem müsse hören können. Und da er nun dicht vor dem Ziel stand, ging auch sein Atem so erregt und laut, daß er ihn gewaltsam anhalten mußte. Von Zeit zu Zeit öffnete er weit den Mund, um all die in den Lungen eingepreßte Luft ohne Geräusch entweichen zu lassen.

Zur Stärkung seiner Unternehmungslust verulkte er sich selbst ein bißchen. War er denn nicht am Lande groß geworden? Und fensterlte er heut zum erstenmal? Freilich, ob Annastina ihn, wie einst die ländlichen Schönen, sehr erfreut begrüßen würde, schien ihm doch einigermaßen zweifelhaft.

Nun ja: im schlimmsten Fall würde er seinen Kopf mit einem Witzwort aus der Schlinge ziehen. Wozu hat einem Gott denn den Verstand gegeben, wenn man ihn da verlieren wollte, wo man ihn am dringendsten benötigt: im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht! Recht unfrei war trotz allen diesen Erwägungen noch immer seine Stimme, als er sich dazu aufschwang, leis zu rufen:

»Annastina!« Nichts regte sich im Haus. So angespannt er horchte, es blieb totenstill. Und wieder rief er: »Frau Annastina!« Und nach einer neuen Pause lauter: »Gnädige Frau!«

Keine Antwort! Nun ja, natürlich: sie war gerad' erst heimgekommen und hielt sich sicher noch in ihrem Wohnzimmer auf. Vorwärts, und bloß die Ohren steif! Das zweite Fenster von da! Er tastete mit den Fingern längs der Wand und schlich sich weiter, behutsam auf den Zehenspitzen, heimlich wie ein Dieb. Pleng, krach! Wogegen er da mit seinem Fuß gerannt war, und was natürlich dröhnend umfiel, das mußte eine Gießkanne sein. Und wie er sich nun bückte, um dies festzustellen, stieß richtig sein Ellenbogen an ein Brett, das so leichtsinnig auf den Brennholzstapel gelegt war, daß es einfach herunterpoltern und alles mitnehmen mußte, was drauf zum Trocknen stand: dem mörderischen Geschepper nach wahrscheinlich das blecherne Eingeweide einer Milchzentrifuge und außerdem noch einiges aus Glas und Porzellan; den es fehlte in dem Konzert auch nicht das ganz besondere Geräusch, das einzutreten pflegt, wo's Scherben gibt. Aus einer Hundehütte am nächsten Eck des Hauses fuhr fanatisch kläffend ein kleiner Spitz und wollte sich an seiner Kette schier erdrosseln.

Nun ja, der Zweck, Annastina von seiner Gegenwart zu unterrichten, mußte jetzt wohl erreicht sein. Richtig: da vorn klirrte schon ein Fenster, und es fuhr ein Kopf daraus hervor. Aber auf Schönheit konnte dieser Kopf keinen Anspruch machen, heute wenigstens nicht mehr; vielleicht vor fünfzig Jahren. Was das alte Weib zu bemerken für nötig hielt, davon verstand Toni keine Silbe; nur so viel wurde ihm klar, daß es sich hier ganz gewiß nicht um die zarten Liebesworte handelte, auf die er sein ganzes Innere eingestellt hatte.

»Was plärrst denn gar so damisch, spinnete Urschel, gräusliche?« begütigte der starke Mann wohlmeinend in seiner Muttersprache. »Glaubst denn, ich zahl' dir deinen Dreck net? Laß dir nur Zeit bis morgen!« Als aber dieser noble Vorschlag nicht die geringste Wirkung tat und sie nur immer lauter kreischte, hielt er es zum Schluß doch für das weiseste, den Rückzug anzutreten; und weil er sich einmal hierzu entschlossen hatte, auch gleich im Laufschritt. So leichten Kaufs jedoch wollte ihn die Alte nicht entrinnen lassen. Mit einer für ihre Jahre merkwürdigen Behendigkeit war sie draußen, hatte ihren Hund losgekettet und hetzte ihn dem nächtigen Störenfriede nach. Toni hörte das unternehmend renommistische Kläffen schnell näher kommen und machte halt. Na: wart nur, Spitzel! Handliche Steinbrocken gab's hier auf Koster gottlob nicht zu wenig; und damit treffen konnte ein ammergauer Bauernsohn ganz eklig sicher. Davon würde sich das Biest, das ausländische, bald überzeugen! Und dies war denn auch hinreichend Menschenkenner, um dem fremden Kerl da jede Gemeinheit zuzutrauen. Kaum bückte er sich, als Spitzel so unvermittelt in seinem Sturmlauf innehielt, daß alle seine vier Beine sich schräg nach vorne stemmten, während der Körper entsetzt dahintenblieb und rückwärtsprallte, bis das Hinterteil am Boden aufstieß. Doch als wäre die Erde glühend, fuhr er sofort wieder empor und wandte sich mit kläglichem Angstgewinsel zu ruhmlos überstürzter Flucht. Als Sieger also räumte Toni das Feld. Aber das stille Schmunzeln des Triumphes wich bald von seinen Zügen. Was nützte dieser Sieg ihm schon!

Er klopfte sich im Geist ironisch auf die Schulter: Das hast du glänzend angefangen, lieber Freund! Denn so viel war ihm klar: man kann ein Weib nach höchst verschiednen Methoden kirren, als frecher Räuber darf man kommen, als flötender Minnesänger, als gottloser Spötter, als weinerlicher Bettler, der das Mitleid weckt, als alles, was es gibt auf dieser Welt, bloß als das eine nicht, was er jetzt glücklich in ihren Augen war: als komische Figur. Aus! Fertig! Verpatzt für Zeit und Ewigkeit! In all dem Lärm vorhin hatte er es nicht beachtet, jetzt aber klang's ihm um so deutlicher im Ohre nach, das verstohlne Kichern aus Annastinas dunkelm Zimmer. Ein gar nicht nettes Kichern, mußte er schon sagen.

»Na, lacht sie halt!« brummte er vor sich hin und suchte sich Trost in der eigentlich nur mäßig trostreichen Alltagsweisheit: »Wer weiß, wozu es gut is!«

Schluß, Schluß, genug davon! Jetzt ging er heim und kroch in seine Klappe. Gut schlafen würde er, das nahm er sich richtig wütend vor. Und morgen früh beim Tageslicht sah sich das alles schon wieder anders an, ganz anders. O mei, auch jetzt! Er dankte untertänigst und pfiff auf sämtliche Mitsommerträume!


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