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Ich war gerade vor acht Tagen Volontär beim Langenschen Verlag geworden und wurde, weil der Inhaber der Firma sich auf einer Reise durch Italien befand, von Jakob Wassermann in meine Arbeit eingeführt. Da der mir nur das Subalternste zuzutrauen schien, konnte mich meine eigentliche Tätigkeit zunächst nicht so besonders reizen; und wenn ich den Entschluß, es hier bei Langen zu versuchen, trotzdem keinen Augenblick bereute, lag dies nur daran, daß ich beinahe täglich einen der Hauptmitarbeiter des «Simplicissimus» kennenzulernen die Gelegenheit bekam – war ich doch ein Bewunderer ihrer Kunst und bei den vierundzwanzig Jahren, die ich zählte, Optimist genug, mir auch von ihrer Menschlichkeit das Höchste zu erwarten. So stand ich denn an einem schönen Nachmittage des Oktobers 1896 vor meinem Pult und legte recht gelangweilt Briefe ab, da klopfte es energisch an die Tür: ein mittelgroßer Herr von grobem Knochenbau und seltsamer Erscheinung trat ein, kam auf mich zu, sah mich wildfremden Menschen staunend an und sagte in gewählter Redeweise, die einem keinen Buchstaben unterschlug, aber dem R – einem theaterhaft hervorgerollten Zungen-R – noch eine ganz besondere Sorgfalt widmete:
«Ich möchte gern Herrn Albert Langen sprechen.»
«Bedaure sehr, der ist verreist.»
«O Sakrament, das ist mir ja ganz neu! – Und für wie lange, wenn man fragen darf?»
«Ja, zwei, drei Wochen ...»
«O verflucht! – Nun denn ... Herr Jakob Wassermann wird aber wohl die Gnade haben, anwesend zu sein?»
Ich zeigte nach der Tür zum Allerheiligsten der Redaktion. Dort war inzwischen der Verlangte auch schon aufgetaucht und rief:
«Grüß Gott, Herr Wedekind! Treten Sie, bitte, näher! – Darf ich Ihnen meine neue Hilfskraft vorstellen, Herrn Korfiz Holm?»
«Es ist mir eine Freude.» Wedekind reichte mir seine kühlfeuchte, plumpe und brutale Hand. «Ich kenne Ihre Verse aus dem ‹Simplicissimus› und finde sie reizvoll und stark.»
Dies Lob klang mir jedoch so konventionell und wenig überzeugt, daß ich nicht fähig war, die Schmeichelei geziemend zu erwidern, sondern mich nur stumm verneigte.
Die beiden andern achteten auch weiter nicht auf mich und gingen zur Besprechung dessen über, weswegen Wedekind gekommen war. Worum es sich da handelte, weiß ich nicht mehr, doch wird es sicher Geld gewesen sein. Viel lebhafter als diese Dinge fesselten mich Frank Wedekinds Erscheinung und seine Art, sich selber darzustellen.
Dies also war der Dichter, dessen Beiträge dem «Simplicissimus» vor allen anderen das literarische Gesicht verliehen und von gar vielen mit moralischer Entrüstung, von den Hellhörigeren aber mit Begeisterung aufgenommen wurden. Ich hatte mir zwar den Verfasser dieser genialischen Novellen und der grimmig witzigen Bänkelsänge und Gedichte anders gedacht, doch kam mir bald die ahnende Erkenntnis, daß der Mann, der diese Dinge schrieb, gewiß am passendsten so aussah, sich so kleidete und so benahm, wie er es tat.
Frank Wedekind, den man sich heute wohl nur glattrasiert vorstellen kann, trug zu der Zeit noch seine – ihm zwar nicht ohne einige Übertreibung nachgesagten – «sieben Bärte», die ihm etwas vom Mephistopheles und auch etwas vom Bock verliehen. Es stand mit dem wie jenem aber höchstens halb so schlimm, als er die Leute glauben machen wollte. – Seine sehr ansehnliche Nase war zwischen den Augen eingesattelt und lief weiter unten erst zu einer kühn gewölbten Krümmung aus, so daß sie etwa einem Geierschnabel glich; die hell blaugrauen Augen hatten von Natur wohl einen sanft verträumten Blick, er gab sich aber Mühe, einen damit herausfordernd und stechend anzusehn; der an sich feingeschnittene Mund schien durch das künstliche Gebiß entstellt, das er mit seinen zweiunddreißig Jahren damals schon trug, und das ihm keineswegs durch einen Meister seines Faches angemessen war. Da es sich immerfort vom Gaumen loslöste, zog Wedekind, es wieder an den rechten Platz zu bringen, seinen Mund minütlich in die Breite und die Oberlippe stramm, baute jedoch, daß man den Zweck dieser Grimasse nicht so merke, sie geschickt zu einem lästerlichen Grinsen aus. Auch seine Zungenspitze wurde häufig bei der Bändigung des Gebisses mit bemüht; dies zu maskieren, leckte er sich dann frivol die Lippen wie ein blutdürstiger Tiger der Erotik und schuf sich so aus dieser Not zwar keine Tugend, aber eine Dämonie und eine Glorie von Lasterhaftigkeit. Desgleichen war er auch in seiner Rede, wie ich später bald bemerken konnte, unentwegt bemüht, besonders Frauen gegenüber dies «Prestige» zu wahren. Aber die von ihm zur Schau getragene «Verruchtheit» war – mag nun die Psychoanalyse dazu sagen, was sie will – kein Durchbruch dunkler Kräfte, die chaotisch in ihm gärten, sondern einfache Angst, es könnte jemand meinen, daß er in vielen Stücken schlichterdings ein Mensch wie andre sei. Ich wenigstens bin überzeugt, daß, wer sich solche Mühe gibt, in Wort und Wandel den nun einmal festgesetzten Regeln der Gesellschaft ins Gesicht zu schlagen und damit den «Bürger zu erschrecken», selbst noch mit einem Fuß im Philisterium stecken muß. Wir solcher Haft völlig entronnen ist, weiß ohne allen Krampf, was er von sich zu halten hat. So glaube ich denn auch, daß Wedekind – dieser, ich darf wohl sagen, Moralist mit negativem Vorzeichen – im Grund viel bürgerlich normaler war, als er der Welt, und am erfolgreichsten sich selber, vorzutäuschen liebte.
Dies Urteil über ihn ist nicht herabsetzend gemeint. Es steht mir fest, daß er als Mensch und Dichter einen Fall für sich und etwas durchaus Ungewöhnliches bedeutete. Ich weiß, welch leidenschaftlicher, zuweilen allerdings verrannter Ernst trotz dem skurrilen Komödiantentum, in dem er sich gar oft gefiel, ihm Herz und Geist beflügelte. Und um die neue Wege weisende Genialität besonders seiner frühen Werke abzuleugnen, müßte einer wohl ein geistverlassener Banause sein.
Nicht minder auffallend als seine leibliche Erscheinung war die Art, wie Wedekind sich kleidete. Er trug sich in den Jahren völlig schwarz. Der Anzug mit weitausgeschnittener Weste war gleichsam von fadenscheiniger Konfirmandeneleganz. Um den niedrigen Stehkragen schlang sich ein zum lotterigen Querschleifchen geschlungener schmaler Schlips, wie ihn schon seit den ersten Jahren nach dem siebziger Krieg bestimmt kein andrer Mensch mehr trug. Als Kopfbedeckung diente ihm – mag man es glauben oder nicht – ein an den Nähten ziemlich abgeschabter Chapeauclaque.
Von meinem ersten Beisammensein mit ihm blieb mir auch noch ein kleiner Dialog, ich darf behaupten, wörtlich im Gedächtnis.
«Ach, Sie, Herr Wassermann, was ich noch fragen wollte», begann Frank Wedekind. «Ich war da gestern nachmittag bei den Bernsteins zum Jour. Wer ist denn eigentlich diese Frau Frida Strindberg? Hat sie mit August Strindberg irgendwas zu tun?»
«Das will ich meinen!» sagte Wassermann. «Seine geschiedene, ich glaube, zweite Frau. Eine geborne Uhl aus Wien.»
«Teufel, Teufel», gab Wedekind zurück, «als Strindbergs ‹Nachtigall› kann ich mir diese ‹Uhl› ja allerdings nicht vorstellen. Aber sie hat entzückende Details: die Hand, das Ohr ...!»
In vollem Umfang wird die Komik hiervon freilich nur verstehen, wer da weiß, wie heftig hingenommen Wedekind schon kurz darauf von dem Ensemble dieser Einzelheiten war, und welche engen Beziehungen ihn jahrelang mit dieser Frau verknüpfen sollten, deren entschieden in das Überlebensgroße verzeichnetes Porträt uns Strindberg in der Dramenreihe «Nach Damaskus» hinterlassen hat.
Nun gab sich Wassermann auf einmal einen Ruck und ließ schüchtern die Frage hören:
«Ach, Herr Wedekind, und haben Sie inzwischen Zeit gefunden, Einblick in mein Stück zu nehmen?»
«Sakrament, das hätte ich beinah vergessen!» rief der so Gemahnte und griff in die Tasche seines Havelocks. Gleichzeitig läutete draußen auf dem Gang das Telephon, und ich lief hin. Während ich noch telephonierte, ging dann Wedekind an mir vorbei und grüßte mich zum Abschied feierlich durch Lüften seines Claques. Später fragte mich Wassermann so gleichsam nebenbei:
«Interessiert es Sie vielleicht, mein Schauspiel ‹Hockenjos› zu lesen?» Er reichte mir das Manuskript. «Frank Wedekind hat es mir grad zurückgebracht; und ob er recht hat, weiß ich nicht, aber er war vor ehrlicher Begeisterung, ich muß schon sagen, fassungslos.»
Na, dachte ich, er hat ja immerhin noch in halbwegs gefaßter Haltung das Lokal verlassen. Aber ich bezweifle es nicht, daß er dem Autor ins Gesicht seine Komödie übers Bohnenlied gepriesen hat. Wie ehrlich die Begeisterung gewesen war, erfuhr ich erst nach einiger Zeit; und Wassermann wird es wahrscheinlich heute noch verborgen sein.
Einige Wochen gingen hin. Inzwischen war auch Albert Langen aus Italien zurückgekehrt und wußte andere Beschäftigung für mich als Briefablegen. Ich kam nun schnell in Schwung und fühlte mich bald wie zu Hause auf der Redaktion.
Wedekind ist während dieser Zeit wohl öfters dort erschienen, doch haftet mir davon in der Erinnerung nur eine hübsche Antwort, die er einmal Frau Langen, der blutjungen Tochter Björnsons, gab. Diese las bei Gelegenheit auch Manuskripte für uns, sprach gern in solchen Dingen mit und ließ sich nicht so selten bei uns sehn. Nun hatte Wedekinds jüngerer Bruder Donald, der auch schrieb und seine Ehre darein setzte, den bedeutenderen Frank, da ihm das sonst nicht glücken wollte, wenigstens durch äußerste Gewagtheit der Sujets zu übertrumpfen – Donald Wedekind also hatte uns für unser Blatt eine Geschichte angeboten, die in der Richtung sämtliche Rekorde schlug, und deren Abdruck völlig ausgeschlossen war. Als kurz darnach Frau Langen und Frank Wedekind auf der Redaktion zusammentrafen, redete sie, die aus der Größe ihres Vaters für sich das Recht ableitete, das, was sie meinte, unverblümt zu äußern, ihn mit diesen Worten an:
«Wedekind, ich las Ihres Bruders Donald letzte Novelle auch. Sagen Sie ihm von mir: er ist ein Schwein.»
Er aber holte Block und Bleistift aus der Tasche und erwiderte mit steinernem Gesicht im Ton korrektester Verbindlichkeit:
«Ich will es mir sofort notieren, gnädige Frau.»
Wenige Tage später gab es zwischen Wedekind und Langen einen Krach – den ersten, aber keineswegs den letzten, den ich mit erlebte. Wedekind war, wie das des öfteren geschah, brieflich ersucht worden, als Text zu irgendeiner Zeichnung für den «Simplicissimus» einige Verse von sich beizusteuern. Er erschien auch pünktlich in der Redaktion, und Langen schoß, wie immer eilig, auf ihn zu:
«Nun, wo ist das Gedicht?»
«Gedicht?» Und Wedekind warf aus dem Augenwinkel einen bösen Blick nach ihm. «Glauben Sie, daß es mir Vergnügen machen kann, den geistesarmen Elaboraten Ihrer Zeichner, die Sie phantastisch honorieren, durch meine Verse überhaupt erst Wert und Resonanz zu geben.»
«Na, Sie haben das bisher ganz gern getan», war die Erwiderung Langens, der im Gegensatz zu Wedekinds getragenem Ton in einem blitzschnellen Stakkato sprach. «Wenn das auf einmal unter Ihrer Würde ist, dann müssen Sie es eben lassen; nicht?»
«Die Überlegenheit des Geldsacks!» höhnte Wedekind. «Wollten Sie mir die ernsten Werke, die ich schreibe, nach Gebühr bezahlen, dann kriegten mich zu solcher Schusterarbeit nicht zehn Pferde.»
«Haben Sie schon einmal nicht Ihr ausgemachtes Honorar bekommen?» fragte Langen. «Und bin ich Ihnen etwas schuldig, oder umgekehrt?»
«Barmherziger Heiland! Dieses bißchen Vorschuß wird wohl keine Rolle spielen!»
«Doch! Ich schwimme auch nicht so im Geld, wie Sie sich einbilden.»
«Haha!»
«Gar nicht: haha! Wenn ich es sage, ist es so.»
«Soll mich doch Wunder nehmen», grinste Wedekind, «ob Sie vielleicht schon einmal haben hungern müssen?»
«Nein. Ich bestreite auch, daß ich dazu verpflichtet bin.»
«So, so? Für andre aber ist das Nagen am blutigen Hungertuch verdammte Pflicht?»
«Ja, schaffen wir doch gleich mal schnell die Armut aus der Welt!» rief Langen, plötzlich wieder gutgelaunt.
«Dazu soll jeder nur an seinem Platz das Seine tun», erklärte Wedekind. Und Langen lächelte:
«Ich sehe Ihren Vorschlägen gefaßt entgegen, lieber Wedekind.»
«Nicht mal ein Holzhacker kann dichten, wenn ihm der Magen knurrt.»
«Muß er auch nicht», rief Langen frisch. «Sie aber müssen! Sein Sie nun vernünftig, Wedekind! Hier: Bleistift und Papier! Und dort im Zimmer von Sven Lange sind Sie völlig ungestört. In zehn Minuten ist dann das Gedicht geschafft, Sie kriegen Ihr fürstliches Honorar ...»
«Da lachen ja die Hühner! Fürstliches Honorar ...! Ich habe Ihnen, dächt ich doch, schon mitgeteilt, daß es mit diesem Dichten gegen Einwurf eines Zwanzigmarkstücks endgültig geschnappt hat. Wenn ich mich prostituieren will, dann prostituiere ich doch lieber etwas anderes als meinen Kopf. Das scheint mir erstens weniger unanständig und trägt zweitens sicher mehr.»
«Na dann: gute Geschäfte!» sagte Langen gleichsam Abschied nehmend und wendete sich wieder dem Arrangement der neuen Nummer zu, hob aber, da der Dichter starr und stumm am gleichen Platze blieb, nach einiger Zeit den Kopf und fragte so ganz nebenbei:
«Sonst noch etwas gefällig?»
«Naive Frage!» Wedekind verdrehte seine Augen gegen den Plafond. «Ich habe ja mit aller Deutlichkeit schon darauf hingewiesen, daß ich Vorschuß brauche, und zwar, damit ich nicht jeden zweiten Tag einen Bittgang von dieser widerlichem Art zu machen habe, mindestens zweihundert Mark.»
«Bittgang ist großartig! Bittgang ist wundervoll! rief Langen. «Vorschuß worauf denn, wenn ich fragen darf? Sie haben mir doch erst vor zwei Minuten Ihre Mitarbeit gekündigt; nicht?»
«An Ihrem elenden Zehnpfennig-Witzblatt – allerdings. Von meinen ernsten Werken wird nach tausend Jahren noch die Rede sein!»
«Ach, das erleb ich doch nicht mehr», rief Langen. «Überhaupt, es geht nicht, lieber Wedekind, tut mir sehr leid. – Wir müssen aber schleunigst an die Nummer gehn! Mit dem Gedicht für unsere letzte Seite ist es also nichts. Holm, machen Sie schnell einen Witz!»
Wedekind aber wich und wankte nicht und redete auf Langen ein, bis dieser dessen endlich müde wurde. Er zog seine Schlüssel aus dem Hosensack, schoß auf den Geldschrank zu, öffnete ihn und griff suchend hinein. Man kann nicht sagen, daß das Goldgeklimper, das sich dabei erhob, besonders üppig klang; es war denn auch nur ein Zehnmarkstück, das er dann Wedekind mit spitzen Fingern in die aufgehaltene Rechte legte. «Wenn Ihnen damit für den Augenblick gedient ist – bitte sehr! Mehr geht für heute wirklich nicht.»
«Das wagen Sie mir anzubieten!» brüllte Wedekind. «Der Teufel soll mich gleich vom Fleck weg holen, wenn ich jemals wieder über diese Schwelle trete.» Sprach's, knallte sich den Claque aufs Haupt und gleich darauf die Türe hinter sich ins Schloß.
«Bis übermorgen also! Wiedersehen!» rief ihm Langen lächelnd nach.
Damit man diesen nun nicht für zu kleinlich halte, möchte ich betonen, daß jene zehn Mark wohl einen größeren Prozentsatz vom damaligen Inhalt des bewußten Kassenschranks ausmachten, als man ohne weiteres glauben würde. Langen galt, wie ich ja schon berichtet habe, allgemein für einen Millionär, obgleich er das nicht einmal zu der Zeit gewesen war, als er mit seiner Mündigkeit das väterliche Erbe angetreten hatte. Dieses gewiß nicht unbedeutende Vermögen aber ließen ein paar lustige pariser Jahre wie die Butter an der Sonne schmelzen, dank dem Umstand, daß der Maler Willy Grétor den jungen Langen unter seine Flügel nahm.
Dieser nach mancher Richtung hochbegabte Däne – übrigens ein naher Freund Frank Wedekinds und als «Marquis von Keith» durch ihn in die Unsterblichkeit versetzt – fand, daß es eigentlich ein Unsinn sei, sich mit der Kunst mühselig durchzuschlagen; weit bequemer schien es ihm, durch allerhand Manipulationen von fragwürdigster Natur im Eiltempo zu Reichtum zu gelangen. Dieses freilich hat er nie erreicht und ist zuletzt, da nach dem großen Krieg geschäftlich gnadenlosere Zeiten kamen, in dem größten Elend umgekommen – wie es denn Leuten dieses Schlags kaum jemals glückt, sich selber ein Vermögen zu erwerben, während es ihnen immer leicht fällt, die Vermögen andrer klein zu kriegen, die sich von ihnen leiten und beraten lassen. Wozu nun alles Grétor den vertrauensseligen jungen Langen breitgeschlagen hat, darüber weiß ich in den Einzelheiten nicht Bescheid. Ein Beispiel aber kann ich hier erwähnen, wovon mir Langen selbst mit fröhlichem Humor berichtet hat: sein «Mentor» ließ ihn eines schönen Tages für sein teures Geld ein Schloß in der Stadt Cognac kaufen, weil er es für ein großartiges Unternehmen hielt, dort «echten» Kognak aus – Kartoffeln zu erzeugen.
Das Resultat all dieser Spekulationen aber war, daß Langen dann mit fünfundzwanzig Jahren außer einer schönen Wohnungseinrichtung aus alten Möbeln sowie einer ihm ebenfalls um viel zu teures Geld durch Grétor aufgehängten Bildersammlung überhaupt nichts mehr besaß und für die Gründung wohl schon seines Buchverlags, ganz sicher aber des «Simplicissimus» auf Darlehen seiner Geschwister, besonders seiner jüngsten Schwester, und auf die «Nachsicht» seiner Lieferanten angewiesen war. In meinen ersten Jahren bei der Firma herrschte eigentlich fast immer Ebbe in der Kasse, und ich befand mich noch nicht einen Monat auf der Redaktion, als Langen schon allwöchentlich mit mir die Frage zu erörtern anfing, ob man die nächste Nummer überhaupt noch bringen oder dem Blatte lieber gleich den Garaus machen solle. Dieses erwies sich nämlich anfangs, obgleich es die Gemüter stark bewegte und man sehr viel von ihm sprach, kaufmännisch als entschiedener Mißerfolg. Denn Langen hatte mit einer viel höheren Auflage, als zu erzielen war, und außerdem – falsch kalkuliert. Bei dem Zehnpfennigpreis hätte der «Simplicissimus», auch wenn der Absatz ins Phantastische gestiegen wäre, niemals seine Kosten eingebracht. Was Wunder, daß es Langen manchmal lockte, sich auf das ruhigere und sichrere Geschäft des reinen Buchverlags zurückzuziehen, aber er brachte das dann doch nicht übers Herz. So hielt er durch und hat es endlich auch geschafft.
Jeder Wechsel, dessen Einlösungsdatum drohend näherrückte, warf damals seine Schatten tagelang voraus, und ich erinnere mich gut, wie oft wir am Nachmittag vor dem Verfall solch eines querbeschriebenen Papiers im Fenster liegend auf den Geldbriefträger lauerten. Und dieser joviale Graukopf – Kleebauer hieß er, so was prägt sich ein –, dem wohl die Gründe unserer Sehnsucht nach ihm kein Geheimnis bleiben konnten, brachte dann oft statt den paar hundert, die wir dringend brauchten, vielleicht nur fünfundzwanzig oder dreißig Mark, versüßte uns die Pille aber durch die nette Art, wie er uns deshalb gleichsam um Entschuldigung bat und stumm sein Beileid fühlen ließ. Nun ja, und da nichts andres übrig blieb, nutzte man eben die Respektfrist aus, und Langen schaffte irgendwie noch den Betrag herbei. Aber wir waren jung – mein Chef selbst auch zwei Jahre älter nur als ich – so ist es trotzdem eine lustige Zeit gewesen, die ich in meinem Leben nicht gern missen möchte.
Langen, gewohnt, die pekuniären Enttäuschungen, die ihn betrafen, humoristisch anzusehn, nahm auch Frank Wedekinds Empörung über den mißglückten Pump nicht ernst. Der kommt schon wieder! dachte er. Doch siehe da, die Tage gingen hin, sie reihten sich zu Wochen, und kein Wedekind erschien. Nun fragte Langen sich besorgt, ob da kein anderer Verlag dahinterstecke, und faßte den Entschluß, dem Dichter eine goldne Brücke für die Wiederkehr zu bauen. Er bot ihm brieflich die bisher stets abgelehnte Übernahme seiner Jugendwerke «Liebestrank» und «Junge Welt» aus einem kleineren berliner Verlage an und forderte ihn auf, er möge wegen Festsetzung der Einzelheiten nächster Tage doch einmal auf dem Büro erscheinen.
Wedekinds Antwort hierauf war ein phantastisch grober Brief, der jeden Friedensschluß weit von sich wies. Die schönste Stilblüte daraus lautete etwa so: «Für Ihren mühelos ererbten Mammon kaufen Sie sich die größten Künstler und die schönste Frau, aber unter Ihren Metzgerhänden wird alles zunichte: Künstler, Frau und Geld.»
Es war recht kühn von Wedekind, der doch beim Schreiben seine eignen plumpen Finger nah genug vor Augen sah, Langens sehr wohlgeformte und gepflegte Hände so zu titulieren. Und dieser Brief zeichnete sich gewiß auch sonst nicht eben durch Geschmack und Takt zu seinem Vorteil aus. Wer hätte Langen wohl das Recht bestreiten können, darob wild zu werden! Aber er amüsierte sich vielmehr aufs höchste über die Epistel, las sie jedem, der ihm in den Wurf kam, vor und ahmte dabei Wedekinds gezierten Tonfall glänzend nach.
«Jedenfalls wälzt das mir einen kleinen Stein vom Herzen», sprudelte er dann wohl hervor. «Frank Wedekind bleibt uns erhalten; wetten wir? Mit solchen Kanonaden leitet er gewöhnlich Pumpversuche ein. Das hält er für Diplomatie.»
Trotzdem fand er es angebracht, diese Entwicklung noch ein wenig zu beschleunigen, und wählte mich als Werkzeug dafür aus. Ich machte mich denn auf den Weg, und er entließ mich mit den Worten:
«Na, viel Glück! Und ruhig weiterbohren und sich nicht verblüffen lassen, wenn er auch im Anfang heftig auf mich schimpft! Da ich Ihr Prinzipal bin, freut Sie das vielleicht noch außerdem, und mir tut es nicht weh. Er schimpft ja doch auf jeden; nicht?»
Hier meldete sich Wassermann zum Wort:
«Am Ende doch mit Unterschied ... Daß Wedekind auf mich nie schimpfen wird – dafür will ich die Hand ins Feuer legen.»
«Also dann auf jeden – außer Ihnen», sagte Langen trocken; und ich ging.
Wedekind bewohnte damals ein in dem sonderbaren Renaissancestil jener Zeit möbliertes Zimmer, das irgendwo am alten nördlichen Friedhof lag. Ich kam um etwa zwölf Uhr hin, ließ mich durch seine Wirtin melden und wurde gleich vor ihn geführt. Er lag trotz dieser mittägigen Stunde noch mit offener Männerbrust im Bett, hatte sich, wie ich aus dem Geschirrtablett auf seinem Nachttisch sah, eben das erste Frühstück einverleibt und rauchte jetzt die unvermeidliche Virginia, was übrigens die Luft im Zimmer höchstens angenehmer machen konnte. Er reckte mir die Rechte hin und rief erfreut und doch mit einem Unterton von Ironie:
«Herr Holm! Nein, was mir das für eine Überraschung ist!» Und diabolisch fügte er hinzu: «So hat die Bombe also doch gewirkt.»
«Darf ich mir eine Zigarette anzünden?» war alles, was ich mich im Moment hervorzubringen in der Lage fühlte.
«Bitte sehr! Ich selbst hab leider keine da. Nehmen Sie, bitte, auf dem Sofa Platz. Das Beste ist dann wohl, Sie schenken mir die Gunst, meinem Lever, wenn's Ihnen recht ist, anzuwohnen, und wir gehen dann zusammen irgendwohin Mittag essen?»
Lieber Gott, es mußte mir wohl recht sein; und mein Trost war der Gedanke, daß ich meinen Stab bald würde weitersetzen dürfen. Wedekind stand also auf und ging an seine Toilette, die ja Gott sei Dank nur wenig Zeit verschlang.
«Man mag von Albert Langen sagen, was man will», erklärte er – «daß er gerade Sie zu seinem Boten wählt, ist wieder mal verteufelt klug von ihm.»
«Ich weiß das Kompliment zu schätzen, das Sie damit meinen ›schönen Augen‹ machen», gab ich zurück.
«Hätte er diesen Jakob Wassermann geschickt – er wäre einfach nicht empfangen worden.»
«Ach?! Warum denn?» fragte ich und schmunzelte dazu nur innerlich.
Wedekind, der sich gerade wusch, kehrte mir sein eingeseiftes Antlitz zu und sagte scharf:
«Der Mensch hält es ja neuerdings für unter seiner Würde, mich, wenn ich dort erscheine, überhaupt zum Sitzen aufzufordern.»
«Nun», schlug ich erheitert vor, «da würde ich mich ruhig trotzdem setzen.»
«Das tu ich aber auch beim nächsten Mal!» rief Wedekind und trocknete sich mit dem Handtuch die von den Bärten freigelassenen Stellen seines in Tatbereitschaft leuchtenden Gesichts. – «Und sagen Sie, Herr Holm, will Albert Langen denn im Ernst dies Stück von ihm verlegen?»
«Weiß nicht. Sie verhandeln noch. Wär Ihnen dabei irgendwas nicht recht?»
«Im Gegenteil! Ich gönne ihnen beiden die europäische Blamage, die das gibt. Das Stück ist doch ein Plagiat. Glattweg geklaut!»
«Ach was? Von wem denn, wenn ich fragen darf?»
«Von Shakespeare», sagte Wedekind.
«Von Shakespeare?» Ich war nun noch überraschter als zuvor. «Und welches Stück von Shakespeare haben Sie dabei im Sinn?»
Hierüber nun schwieg Wedekind sich aus, und nicht ganz ohne Grund, wenn es – was übrigens nicht feststeht – Wahrheit war, was er mir einige Jahre später selbst erzählte. Er lag damals mit einem kompliziert gebrochnen Bein im Bett und suchte mich, als ich eine Krankenvisite bei ihm machte, durch die Mitteilung zu verblüffen, er hätte jetzt zum erstenmal in seinem Leben Zeit gefunden, sich etwas von Shakespeare anzusehn: den «Hamlet», und sei überrascht, daß er dies Stück doch recht talentvoll finden müsse. Um aber wieder auf meinen ersten Besuch bei Wedekind zurückzukommen, möge nur noch kurz erwähnt sein, daß es mir nachher beim Mittagessen ohne Schwierigkeit gelang, das zwischen Dichter und Verlag gerissene Band neu anzuknüpfen. Insofern hatte Langen recht behalten, dagegen war es eine Illusion von ihm gewesen, daß Wedekind nur anfangs auf ihn schimpfen würde – nein, er schimpfte munter fort; und Langen wurde dabei je nach Bedarf in einem Augenblick als Millionär, im nächsten schon als bankerotter Bettler vorgeführt; eins aber blieb er doch in allen Lebenslagen: ein «Rasiermesser». Unter dieser dichterischen Umschreibung war ein scharfer und gerissener Geschäftsmann zu verstehen, der um seines eignen Vorteils willen kaltblütig über Leichen geht.
An Tatsachen, die dieses harte Urteil stützen könnten, wußte Wedekind mir aber nur die eine anzugeben, daß ihm Langen für das Abdrucksrecht von, wenn ich mich nicht täusche, zwanzig seiner Gedichte im «Simplicissimus» den «einfach witzigen» Betrag von hundert Mark bezahlt hätte. Nun ist dies ja gewiß nicht großartig, doch es erscheint sofort in milderem Licht, wenn man vernimmt, daß dieser Abschluß gut ein Jahr zurücklag, also einer Zeit entstammte, als es noch sehr im Ungewissen schwebte, ob das geplante Blatt wirklich jemals erscheinen würde. Es handelte sich da für Langen also um einen Kauf auf Risiko, für Wedekind hingegen um «gefundenes Geld», weil damals keine Zeitschrift Deutschlands für die Annahme dieser neuartigen und «gewagten» Verse überhaupt in Frage kam. Doch wollte dies dem Dichter, als ich es ihm zu bedenken gab, durchaus nicht einleuchten; und auf die Frage, warum er denn Abschlüsse mache, die ihn nach einem Jahre reuen müßten, entgegnete er mir: «Sie hat die nackte Not noch niemals angegrinst.» Natürlich hätte er es Langen später oft genug ans Herz gelegt, ihm die der Situation entsprechende Nachzahlung zu gewähren, aber von diesem Menschen nichts als die «frivole» Antwort eingeheimst, hier sei ihm nun das einzige Mal in seinem Leben mit einem Dichter ein für ihn rentables Geschäft geglückt, und das erfülle ihn mit einem Stolz, den er sich nicht nachträglich rauben lassen wolle. Dies hat Langen nur so leicht im Scherz dahingesagt, aber es lag, ihm selber unbewußt, hierin auch etwas Ernsteres versteckt.
Langen war alles andre eher als ein richtiger Geschäftsmann. Er rechnete nicht ängstlich, und er hatte – wenigstens Leuten, die er schätzte, gegenüber – eine flotte Hand im Geldhergeben, wenn ihm die Barmittel gerade halbwegs reichlich zur Verfügung standen. Dabei sprach vielleicht auch ein leiser Hang zur Renommage mit. Trat in der Kasse wieder Ebbe ein, dann regte sich wohl das ererbte Kaufmannsblut in ihm, er machte sich Vorwürfe ob der eigenen Noblesse, fand, daß er immerfort der Ausgenützte sei, und faßte den Beschluß, sich selber und der Welt zu zeigen, daß trotz allem doch ein Kaufmann in ihm stecke. Da er jedoch als solcher eigentlich nur dilettierte, gelang ihm das nicht eben immer meisterhaft. Wer ihn bei solcher Laune antraf, konnte ihn in Geldsachen zuweilen etwas kleinlich und merkwürdig versessen auf geringer Nutzen finden. Weil nun die Leute so etwas, ganz anders als das Gute, das sie ihm zu danken hatten, nie vergaßen, ist über Langen häufig ungerecht geurteilt worden.
Wenn ich an jenem Tag auch Wedekind auf keine Weise davon überzeugen konnte, daß Langen nicht das Ungeheuer sei, das er in ihm erblicken wollte, so war doch offiziell der Friede wieder hergestellt und hatte bis auf weiteres Bestand.
Einige Zeit danach erschien es Wedekind auf einmal dringend wünschenswert, für einige Monate nach Berlin zu übersiedeln. Er hoffte, durch persönliche Verhandlungen mit den Theaterdirektoren Annahmen seiner Dramen zu erreichen. Um ihm die Mittel für die Reise zu verschaffen, schlug ihm Langen vor, ein neues Buch von ihm herauszugeben und ihm das Honorar dafür sofort bei Abschluß des Vertrages zu bezahlen. Das Manuskript zu diesem wahren Feuerwerk aus Genialität und Witz, zu diesem großartigen Buche, das «Die Fürstin Russalka» hieß und willkürlich und bunt Gedichte, mehrere Novellen und drei Pantomimen unter einen Deckel brachte, schickte Wedekind erst aus Berlin an den Verlag. Langen war verreist, ich gab das Werk in Satz und las nach Wedekind die Korrektur davon. Als Langen wiederkam, war es gedruckt; er ließ sich die Aushängebogen geben und nahm sie zur Lektüre mit sich heim. Am nächsten Morgen machte er mir mündlich und Wedekind in einem Briefe nach Berlin die bittersten Vorwürfe, weil die Ballade von der «Keuschheit» in dem Band enthalten war – wohl zweifellos der beste, freilich auch der stofflich kühnste Bänkelsang Frank Wedekinds.
«Das weglassen?» rief ich empört. «Ich bin doch nicht verrückt! Ja, finden Sie denn das Gedicht nicht gut?»
«Ach, darum dreht es sich doch nicht!» schrie er zurück. «Das Buch wird uns ja glattweg konfisziert. Dann hab ich den Salat! Ich danke schön dafür!»
Langens Befürchtung hat sich nicht erfüllt. Diese Ballade muß den Sittenschnüfflern jener Zeit durch Zufall irgendwie entgangen sein. Und jetzt ist es zu spät dafür, sie noch zu packen: heute gehört sie schon zum klassischen Bestande unserer Literatur. Wedekind aber antwortete damals Langen auf seinen Brief mit einer mitleidigen Ironisierung seines «Angstanfalls». Eine Konfiskation sei doch die herrlichste Reklame, die sich Verlag und Autor irgend wünschen könnten.
Ebenfalls aus Berlin schickte ein wenig später Wedekind dem «Simplicissimus» unaufgefordert und aus freiestem Entschluß sein erstes politisches Gedicht, das, nebenbei bemerkt, ganz allgemeinen Inhalts und in keiner Weise konfiskabel war. Es ging im Ton und Versmaß der «Jobsiade», und als Verfassername stand darunter «Hieronymus». Langen las es, war begeistert, schickte dem Dichter das nach dem Maßstab jener Zeiten glänzende Honorar von fünfzig Mark und sicherte ihm den gleichen Betrag für jedes weitere Gedicht politischen Charakters zu. Nun hat Frank Wedekind zwar später Langen diese freigebige Bezahlung ebenso gehässig ausgelegt wie die zu sparsame von einst – damals jedoch, da all sein Werben um die Gunst und Gnade der berliner Bühnenleiter fehlgeschlagen war und er für sich nichts andres wußte, als enttäuscht nach München heimzukehren, kam dieses Angebot ihm sehr gelegen und regte seine Schaffenslust gewaltig an. So konnte nun der «Simplicissimus» beinah in jeder Nummer ein «Hieronymusgedicht» von ihm veröffentlichen. Und Deutschland horchte auf, dergleichen hatte es seit Heinrich Heine nicht gehört; und hier war mehr: hinter der scharfen Witzigkeit der Verse stand Wedekinds seltsame Fähigkeit, auch Dinge, die die anderen nur lachen machten, ganz verzweifelt ernst zu nehmen. Hier liegt ja überhaupt das innerste Geheimnis seiner dichterischen Wirkungskraft. – Je kecker diese Verse nun ins Heute griffen, je stachliger sie sich an den das Steuer führenden Machthabern und Gewalten rieben, desto lauter wurde der Beifall um sie her. Dies – und nur dieses – reizte Wedekind zu immer schärferer Angriffslust.
Und nun geschah es, daß im Herbst des Jahres 1898 Kaiser Wilhelm auf die bekannte Palästinareise ging, die Mißfallen bei allen andern Mächten weckte, und über die man auch in Deutschland sehr geteilter Meinung war. Besonders die großartige «Aufmachung» – ich weiß kein passenderes Wort dafür –, die der prunkliebende Monarch der Sache gab, erregte Kopfschütteln und Heiterkeit. – Das mußte für den «Simplicissimus» ja ein gefundenes Fressen sein. Er brachte also eine Palästinanummer heraus. Und jetzt zog das Gewitter auf, das wir solange schon am Horizonte hatten drohen sehen, ohne uns in unserm jugendlichen Leichtsinn viel darum zu scheren, und der Blitz schlug ein, und zwar gleich zweimal, Krach auf Krach. Die Palästinanummer wurde am Druckort Leipzig bei Erscheinen konfisziert, die Nummer, die ihr hätte folgen sollen, vorsorglich schon in der Schnellpresse. Der Majestätsbeleidigung verdächtig schienen der Anklagebehörde die von Th. Th. Heine stammenden Titelbilder dieser Nummern und in jeder außerdem, und wohl vor allem, ein Hieronymusgedicht von Wedekind. Die beiden Heinebilder darf man wohl auch für damalige Begriffe harmlos nennen; man versteht es kaum, daß sie so streng geahndet werden konnten, wie es ihrem Zeichner widerfuhr. Dagegen wirkten die Gedichte Wedekinds stark aggressiv, obgleich wir das gefährlichere von den beiden nach der Meinung seines Autors schon durch Milderungen «hoffnungslos verwässert» in die Druckerei gegeben hatten. Denn es war Langen so gewagt erschienen, daß er die Aufnahme in die Palästinanummer von einem Gutachten seines Rechtsbeistands abhängig machte. Dieser erfahrene Jurist von großem Ruf hielt sich den Bauch vor Lachen über die ja freilich schlagend witzigen Verse und ließ sich durch seine Freude an der Sache wohl zu einer gewissen Unbesonnenheit verführen. Er fand, man könne das Gedicht in seiner Originalform allerdings nicht bringen; wenn man jedoch ein paar der schärfsten Spitzen behutsam abfeile – und er besorgte das zur Sicherheit gleich selbst –, hätte der Staatsanwalt das Nachsehen und wurde uns gewiß nichts tun. So folgten wir nun diesem Rate guten Muts und fühlten uns gedeckt durch die rechtskundige Autorität.
Selbst die Konfiskation der beiden Nummern machte uns naiven Jünglingen den Ernst der Lage keineswegs in vollem Umfang klar. Wir hatten an Beanstandungen ja schon allerhand erlebt, und es war immer noch ganz glimpflich abgegangen. Darum begrüßten wir den uns von früher wohlbekannten schwabinger Kriminalkommissar mit dem gewohnten lächelnden Humor.
Voruntersuchung war eröffnet gegen Albert Langen als verantwortlichen Redakteur, gegen den Zeichner Th. Th. Heine und gegen «Unbekannt»: den pseudonymen Dichter Hieronymus. Daß Wedekind dahintersteckte, hätte keinesfalls für längere Zeit Geheimnis bleiben können. In Leipzig wußten dies vielleicht nur wenige, in München aber fraglos beinah jeder Leser des «Simplicissimus».
Die erste Frage des Herrn Kommissars zielte natürlich auf den wahren Namen dieses Herrn Hieronymus. Langen und wir andern lehnten es natürlich ab, ihn anzugeben. Als zweites wurde uns dann die Herausgabe der beiden Manuskripte zugemutet. Wir lächelten in stillem Hohn, und Langen sagte, er bedaure sehr, daß er damit nicht dienen könne: alles Handschriftliche würde bei uns prinzipiell gleich nach Erledigung der Korrektur verbrannt. Warum? Mein Gott, es sei von je so eingeführt; und wie sich heute zeige, hätte dies System ja auch wohl seine Vorteile. Zwar die Arrangements der Nummern behielten wir zu unserer eignen Orientierung immer noch ein Weilchen da, doch Manuskripte könne keine Haussuchung darin finden. Und Langen trat an ein Regal, zog dort aus einem Fach ein solches Arrangement, schlug dieses auf und – schleunigst wieder zu und rief, etwas verlegen lachend, aber schnell gefaßt: «Dies Beispiel allerdings ist nicht so recht geeignet; aber hier ...» Er griff nach einem zweiten Arrangement. Doch schon war ihm das erste aus der Hand gerissen, bevor er sich's versah. Wir standen starr vor Schreck, als wir erkannten, welch guter Fang damit der Polizei gelungen war: sie hatte sämtliche Manuskripte unsrer Palästinanummer erwischt, darunter das Gedicht von Wedekind, genoß ihren Triumph und unsere Betretenheit und fand, nun dürfen wir ihr den Verfasser ruhig nennen. Da sie jetzt seine Handschrift hätte, würde er ihr ohnehin nicht lange mehr verborgen bleiben. Also, dann brauchte die Behörde uns ja um so weniger dazu, erklärten wir mit etwas mühevoller Ironie.
Man wird nun wissen wollen, wie so etwas möglich war. Da schlage ich mir reuig an die eigne Brust und kann unsere Unvorsichtigkeit mit weiter nichts entschuldigen als dem recht jugendlichen Alter, in dem wir alle damals ja noch standen. Jeder von uns war überzeugt gewesen, daß jenes Manuskript vernichtet sei, und jeder hatte sich dabei stillschweigend auf den anderen verlassen. Sträflichem Leichtsinn war das zweifellos; dies aber Albert Langen, wie es späterhin geschah, als arglistige Denunziation des Pseudonymen Dichters auszulegen – dazu gehörte schon Frank Wedekinds manchmal befremdend üppige Phantasie.
Schon tags darauf erhielten Langen sowie Th. Th. Heine ihre Ladung vor den leipziger Untersuchungsrichter. Langen lief sogleich zu seinem Rechtsbeistand. Der aber sah die Sache plötzlich in verblüffend neuem Licht und sagte ihm, daß er ihm gar nichts andres raten könne, als die deutsche Grenze schleunigst hinter sich zu bringen. Denn wenn er das nicht täte, käme er bestimmt ins Loch, und auf zwei Jahre mindestens. Langen hielt das erst für einen Witz und machte, als er dann erkennen mußte, wie durchaus ernst der Rechtsanwalt es meinte, diesem einen tollen Krach. Das mag ihm für den Augenblick das Herz erleichtert haben, viel nützen konnte es ihm aber nicht, noch etwas daran ändern, was auf des hochwohlweisen Fachmanns Gutachten hin einmal geschehen war.
Langen hat, bevor er sich zur Flucht entschloß, schwer innerlich gekämpft und sich bei seiner Frau und mir Rats eingeholt. Wir beide kamen, ganz wie er, zu der Erkenntnis, daß er sich hier in einer Zwangslage befand. Es ist nicht, wie man glauben könnte und geglaubt hat, Angst vor der Gefängnishaft an sich gewesen, was ihn von hinnen trieb, sondern ganz etwas anderes. Ich habe schon erzählt, daß bei der Mittelknappheit seiner Firma Langen selbst es war, der sich um die Beschaffung der notwendigen Darlehen und Kredite kümmern mußte. Hierin konnte ihn kein anderer vertreten; und seine Lahmlegung auf Jahre hätte den Ruin und die Zerstörung seines Lebenswerks bedingt. Dagegen traute Langen es mir zu, Verlag und »Simplicissimus« in Deutschland halbwegs selbständig zu leiten, wenn er nur in der Lage bliebe, immer rechtzeitig für Geld zu sorgen und mir bei wichtigeren Dingen aus der Ferne Weisungen zu geben. Ich nahm die Bürde wohlgemut auf mich – ein Sechsundzwanzigjähriger traut sich ja eine Menge zu. »Ich mach es schon!« so tröstete ich als neugebackener alleiniger Prokurist des Hauses Albert Langen meinen Prinzipal, als der mit sorgenvoller Miene Abschied nahm, um über Osterreich nach der Schweiz zu gehen, weil zu befürchten stand, daß der direkte Weg dahin für ihn schon nicht mehr offen sei.
Als letztes war noch zwischen uns vereinbart worden, daß ich nach Langens Flucht sofort Frank Wedekind aufsuchen, ihm die Entdeckung seines Manuskriptes durch die Polizei mitteilen und ihn bereden sollte, gleichfalls Deutschland zu verlassen und zunächst in Zürich Langen aufzusuchen. Dafür, daß ihm kein Schaden aus der Angelegenheit erwüchse, und für sein weiteres Fortkommen würde unbedingt gesorgt. Viel Hoffnung setzte ich nun freilich nicht in das Gelingen dieser Mission – wußte ich doch, daß endlich eine Bühne, und zwar das Münchner Schauspielhaus, den »Erdgeist« zur Uraufführung angenommen hatte. Wedekind erträumte sich davon den jeden Widerstand umreißenden Erfolg, der ihn mit einem Ruck zur Weltberühmtheit und zum reichen Manne machen müsse.
«Ja, das könnte euch so passen!» höhnte er, als ich ihm Langens Vorschlag übermittelte. «Er läuft davon, der Held! Ich habe jahrelang um seinetwillen Hungerpfoten saugen müssen – jetzt, wo ich es mir aus eigener Kraft errungen habe, daß ich im Brennpunkt des Interesses von ganz Deutschland stehe, soll ich mir diese sichre Zukunft um die Ohren schlagen, damit Herr Albert Langen beinah kostenlos die ihm so bitter nötige Reklame für sein im Absterben begriffenes Witzblatt kriegt! Nimmt mich nur Wunder, daß er mir nicht gleich den eingeseiften Strick schickt, um mich aufzuhängen. Das gäbe ja noch eine größere Sensation!» In dieser Art ging es gut eine halbe Stunde weiter; ich merkte bald, daß jedes Wort von mir verschwendet war, und ging.
Mittlerweile war Th. Th. Heine der Ladung des Gerichts gefolgt und nach Leipzig gereist. Auch er hatte die Anregung, es Langen nachzumachen, abgelehnt – er glaubte wohl, es könnte ihm für seine Zeichnungen nicht viel geschehen, und sagte sich wahrscheinlich nicht, daß er durch das Verschwinden Langens der Behörde gleichfalls fluchtverdächtig scheinen mußte. Er wurde also nach der ersten, sehr ausführlichen Vernehmung kurzerhand in Untersuchungshaft gesteckt und bis zur Urteilsfällung darin festgehalten. Man hat ihm später – wie ich gleich an diesem Ort berichten will – sechs Monate Gefängnis zudiktiert, ihn aber dann zu halbjähriger Festungshaft begnadigt, die er in seinem Heimatlande Sachsen auf dem Königstein verbüßen mußte.
Am zweiten Tag nach der Verhaftung Heines saß ich früh morgens im Büro, die eingelaufene Post vor mir, und hatte eben Langens ersten Brief aus Zürich aufgeschnitten, doch noch nicht aus dem Kuvert geholt, da klopfte es, ins Zimmer trat ein höchstens dreißigjähriger eleganter Herr, und hinter ihm erblickte ich durch die offne Türe den mir so gut bekannten Schwabinger Kriminalkommissar und einige von dessen Schergen. Schon stand der Fremde dicht vor mir, legte die Hand gebieterisch auf meine Post und sagte schneidigen Tones:
«Doktor Mittelstaedt. Ich bin der leipziger Untersuchungsrichter. So, Sie sind der Herr Holm? Niemand, der das Geschäftslokal betritt, darf es verlassen, ohne mich zu fragen. Ferner darf in allen diesen Räumen nicht ein Schriftstück angerührt, geschweige denn beseitigt werden, bevor ich die Mitglieder der Redaktion verhört und Haussuchung gehalten habe! Wollen Sie dem Kriminalkommissar, den Sie ja kennen, und der Ihnen, wenn gewünscht, bestätigen wird, daß ich im Einverständnis mit der hiesigen Justizbehörde handle ...» Und er schaute Antwort heischend nach der Tür.
«Jawohl, Herr Untersuchungsrichter», rief der Kommissar, sah aber, als sich der Gestrenge wieder von ihm abgewendet hatte, mich hinter dessen Rücken traurig an und hob die Hände leicht zu einer mutlosen Gebärde, die zu sagen schien: «Na haben mir die Sachsen da! Jetzt spuckt's! I steh für nix.» «Sie bleiben hier, Herr Holm!» bestimmte Dr. Mittelstaedt. «Rufen Sie jemand, der dem Kommissar vor allem sämtliche Registratormappen und Kopierbücher der Firma unterbreitet! – Herr Kommissar, und was auch nur entfernt auf eine Spur hindeuten könnte – nun, Sie wissen ja –, wird mir persönlich vorgelegt.»
«Jawohl, Herr Untersuchungsrichter!» klang es stramm zurück. Und dann verließ, geleitet von dem schnell herbeigerufnen Schreibfräulein, der Kommissar mit seinen Leuten mein Gemach, um draußen eine Durchstöberung sämtlicher Behältnisse ins Werk zu setzen, die kein Papierstück auf dem andern ließ. Inzwischen hatte Dr. Mittelstaedt nun Langens Brief aus dem Kuvert gezogen. «Ah!» kam es triumphierend über seine Lippen. Er las das Schreiben aufmerksam einmal und noch einmal und steckte es hierauf in seine Aktentasche. «Beschlagnahmt!» stellte er gelassen fest. Und dabei ist es bis zum heutigen Tag geblieben. Ich habe nie die ersten Weisungen, die Langen mir aus der Verbannung gab, nach ihrem Wortlaut kennen lernen.
Dann hoben die Verhöre an, die sich tief in den Nachmittag hinein fortsetzten. Was dabei der Untersuchungsrichter ganz besonders gern herausbekommen wollte, war der bürgerliche Name des Gedichtverfassers Hieronymus. Wir aber zeigten uns verstockt und ließen ihn uns nicht entreißen. Auch die Haussuchung fahndete vor allem scharf nach Briefen, die die gleiche Schrift aufwiesen wie das in die Hand der Polizei gefallene Manuskript. Da mochte man nun freilich lange stöbern; daß man dergleichen nicht entdecken konnte, dafür war gesorgt. Auch Briefe Th. Th. Heines gab es sonderbarerweise keine unter unserer Korrespondenz; das Unglück wollte nur, daß irgendwo im Winkel einer Schublade ein unserer Aufmerksamkeit entwischter Zettel ausgegraben wurde, auf dem uns Heine seinen Text zu einem schon vor längerer Zeit ohne Beanstandung veröffentlichten Bilde mitteilte. Dies schien dem Untersuchungsrichter den Verdacht zu stärken, jener sei, was er bisher hartnäckig abgeleugnet hatte, auch der geistige Urheber der Legenden zu seinen Zeichnungen. Heine gestand das dann, durch die plötzliche Vorweisung dieses Zettels überrumpelt, leider ein, und das mag zu dem harten Urteil gegen ihn mit beigetragen haben. Aber mit dieser Beute seines Husarenritts nach München mußte sich Dr. Mittelstaedt begnügen; alles andre wog gewiß nicht schwer.
Die bayrische Justizverwaltung ließ sich durch des Untersuchungsrichters unerwartetes Erscheinen offenbar viel heftiger verblüffen als wir Leute vom Verlag, sonst hätte sie wohl seinen Wünschen kaum so leicht willfahrt. Und diese Nachgiebigkeit tat ihr, wie ich annehmen darf, bald wieder leid. Sie wurde ihr nämlich in Bayern auch von Leuten verdacht, die unserm «Simplicissimus» durchaus nicht wohlwollten. Die Volksseele geriet ob dieses Attentats auf die bayrische Justizhoheit in Zorn, der Landtag redete vielleicht nicht ganz so kräftig, wie es sich geziemte, aber immerhin Fraktur dazu. Die angegriffene Behörde verteidigte sich lahm und mit ersichtlicher Verlegenheit und half sich praktisch dadurch, daß sie den weiteren Ermittlungen der Leipziger nur widerwillig Vorschub leistete. Beweisen kann ich dies ja nicht, ich schließe es aber aus der Art, wie sich der Kommissar von Schwabing fernerhin verhielt. Ihm schien es trotz der leipziger Ungeduld setzt mit der Dingfestmachung des geheimnisvollen Hieronymus nicht im geringsten zu «pressieren». Er hatte diese Sachsen offenkundig dick und fand uns Münchner Inkulpaten viel sympathischer.
Ich unterrichtete natürlich Wedekind sofort von dieser Haussuchung und legte es ihm eindringlich ans Herz, er möge sich über die Gefahr nicht täuschen, die jetzt nach der Verhaftung Heines ihn genau so gut bedrohe. Doch mein Reden war umsonst. Die Premiere seines «Erdgeists» hielt ihn gebieterisch in München fest.
So kam der Tag herbei, an dem die Lulu Wedekinds zum erstenmal im Rampenlichte wandeln sollte, und verlief für mich bis nach der sechsten Abendstunde ungefähr wie jeder andre Tag; dann aber brach ein toller Wirbel los. Das Personal des Langenschen Verlages war schon heimgegangen, auch mein Freund Geheeb und ich wollten gerade das Büro verlassen, uns für die Premiere umzuziehn – da schellte es noch einmal, und ich öffnete geschwind. Der späte Gast war unser schwabinger Kommissar. Was er zunächst von mir erfahren wollte, überraschte mich durch seine Nebensächlichkeit – deswegen hätte er um diese Stunde wohl nicht eigens herzukommen brauchen. Dann aber schaute er mich plötzlich sehr bedeutsam an und warf scheinbar beiläufig hin:
«Daß Sie sich fei net täuschen, gel: heut wissen mir's noch net, von wem daß die Gedichte sind. Aber bis morgen mittag wissen mir's bestimmt. Es wird auch Zeit: die von da droben setzen uns so zu.»
Ich horchte auf und hätte dem strengen Diener des Gesetzes gern die Hand gedrückt. Äußerlich aber blieb ich bei dem einmal eingeführten Ton und warnte ihn mit leisem Spott:
«Na, wenn Sie da bloß nicht den Falschen packen!»
«Wird sich ja zeigen! – So, das war's! – Wünsch guten Abend. Hab die Ehr. Grüß Gott, Herr Holm!»
Kaum war er draußen, als Geheeb und ich hastig begannen miteinander Rats zu pflegen. Ich erklärte, daß ich diese heilige Hermandad ganz einfach rührend fände. Denn sie kenne den Verfasser selbstverständlich auch schon jetzt und vielleicht längst, hätte jedoch den Grund erfaßt, weswegen er noch nicht auf- und davongegangen sei, und wolle ihm die Uraufführung seines Stückes nicht mißgönnen. Liebe, gute Polizei! Nun müsse aber Wedekind auch unbedingt noch heute nacht dem Wink gehorchen und verschwinden.
«Wenn's ein Erfolg wird, tut er das auf keinen Fall», wendete Geheeb kopfschüttelnd ein.
«Es wird ja kein Erfolg!» behauptete ich mit der größten Sicherheit.
«Na, du bist gut!» rief er verblüfft. Ich aber hatte meine Freundschaften in Bühnenkreisen und wußte wohl, warum ich dieser Meinung war.
Dann wurde erst das Kursbuch gründlich durchstudiert und der Beschluß gefaßt, daß Wedekind, da sich vorher keine Gelegenheit mehr bot, in aller Morgenfrühe, zwischen fünf und sechs, mit einem Bummelzug, der vom Ostbahnhof abging, erst einmal nach Kufstein flüchten und durch Osterreich nach Zürich weiterreisen solle. Denn ihn am Hauptbahnhof in den direkten Schnellzug nach der Schweiz zu setzen, schien uns zu gewagt. So, das stand fest und war damit so gut wie schon geschafft!
Nun aber hatten wir noch ein recht schwieriges Problem zu lösen. Die Kasse des Verlages war geschlossen, und ich konnte nicht in sie heran. In unsern eignen Taschen herrschte nicht gerade Flut, und dabei brauchten wir doch Reisegeld für Wedekind. Ich überlegte schnell, wer etwa anzupumpen wäre, und fuhr sofort mit einer Droschke los. Zum Glück befand sich gleich der erste Mann, bei dem ich vorsprach, im Besitze von zweihundert Mark und lieh sie willig her. Ich fuhr befriedigt heim, ließ meinen Wagen warten, zog mich um und war zwanzig Minuten vor dem ersten Glockenzeichen im Theater.
Das Münchner Schauspielhaus hatte damals seine Zelte im dritten Stockwerk der Zentralsäle an der Neuturmstraße aufgeschlagen, und die Verhältnisse der jungen Bühne litten an der äußersten Bescheidenheit. Das oberste Podest der Treppe, vor dem Eingang zum Zuschauerraum, trug nun als Zier eine verstaubte große Fächerpalme, soweit man diese nicht gerade zur Verschönerung der Szene brauchte. Dies war heute offenbar der Fall: als ich heraufkam, packten eben zwei Theaterdiener das Gewächs und zogen damit hinter die Kulissen ab, und eine Dame, sicher Stammgast dieses Hauses, sagte neben mir zu ihrem Mann:
«Die Palme wird hineingebracht. Dann wird es also wieder ein Salonstück sein.»
Na, du wirst dich ja wundern! dachte ich und sollte damit just das Richtige getroffen haben. Nicht nur, daß sich das Publikum sehr wunderte – es war sogar empört und gab das stürmisch kund. Die Schuld daran trug vielleicht weniger das Stück, obgleich es ja den Rahmen des Gewohnten sprengte, als die fragwürdige Art, wie man es spielte. Direktor Stollberg, der es anfangs selber inszenieren wollte, hatte dem Dichter, als ihm der bei der Austeilung der Rollen eigensinnig widersprach, schlankweg erklärt, dann solle er nur die Regie und die Verantwortung in seine eignen Hände nehmen. Wedekind war überzeugt, daß er das alles sehr viel besser als der Fachmann könne, und stimmte mit Begeisterung zu. Nun gab's am Schauspielhaus in jenen Zeiten sicher mehr als eine Künstlerin, die die Lulu zum mindesten ganz leidlich hätte spielen können. Da diese aber unter anderm einmal im Ballettkostüm erscheint, fand Wedekind, daß, um ihn selber zu zitieren, Lulus Unwiderstehlichkeit vor allem in den Beinen liegen müsse. Er suchte sich die Darstellerin also nicht nach der Begabung, sondern nach der Schönheit ihrer Waden aus; und so verfiel er auf ein hübsches Mädel, das sich bisher nur schlecht und recht in kleinen Zofenrollen beim Theater hingefrettet hatte. Bei dieser Lulu, die fast nichts für den weiblichen Erdgeist mitbrachte, der in elementarer Selbstverständlichkeit und einer Art von Unschuld Männer konsumiert, durfte sich Wedekind vor allem für den Durchfall der Tragödie bedanken. Aber auch die an sich begabten Kräfte, die die andern Rollen spielten, waren bei der Eigenart des Schauspielhauses ganz auf den Naturalismus eingeschult und fanden sich nicht in den neuen Stil. So ging der stärkste darstellerische Eindruck dieses Abends von dem Dichter aus, der selbst den Doktor Schön zu spielen übernommen hatte. Zwar körperlich erschien er steif und unbeholfen, auch fehlte jedes Mienenspiel, doch wie er seine Sätze stark und aus tiefinnerer Überzeugung sprach – das ließ aufhorchen und vermittelte ein Ahnen, daß hier etwas Bedeutendes geschah. Erstaunlich wirkte es, wie wenig er sich durch die Hohnrufe des Publikums und das so oft am falschen Ort einsetzende Gelächter stören und beirren ließ. Ernst und verbissen redete er weiter, sein Organ hielt durch und trug, es übertönte jeden Lärm. Und mit dem gleichen steinernen Gesicht stand er am Schlusse da, quittierte jedesmal, wenn sich der Vorhang hob, mit einer kleinen linkischen Verbeugung für den Beifall und den Widerspruch und schaute anscheinend unbewegt in den dort unten tobenden Skandal.
Als der verebbt war und er hinter die Kulissen kam, stieß er dort schon auf mich. Er gönnte mir aber nicht das erste Wort, sondern fing selber an:
«Ein Sieg nach hartem Kampf! Haben Sie bemerkt, wie ich die Bande jedesmal, wenn sie aufmucken wollte, mit einem Blick in das Parkett zur Ruhe zwang?»
Ich mochte ihm die Illusion nicht rauben, ob ich auch im stillen bei mir dachte: Himmel, wenn er das für Ruhe hält, dann möchte ich gern den Spektakel hören, den er anerkennt! – So sagte ich ihm lieber schnell und ohne Umschweif, was geschehen war, und daß er ungesäumt das Land verlassen müsse. Im Anfang zeigte er gar keine Lust dazu, und erst als der Direktor Stollberg mir zu Hilfe kam und ihm versicherte, daß nach diesem unzweideutigen Durchfall jede Wiederholung seines Stückes ausgeschlossen sei, stimmte er meinem Vorschlag zögernd zu. Und, sonderbar, sobald das einmal feststand, wurde er sogar vergnügt und sozusagen Feuer und Flamme für den Plan. Er dachte sich vielleicht, es wäre nicht so dumm, wenn man die Absetzung seiner Tragödie mit etwas anderem als ihrem Mißerfolg begründen könnte, auch mochte ihn das Abenteuerliche solcher Flucht bei Nacht und Nebel reizen, und nicht als letztes die zweihundert Mark, die ich in meiner Rechten schwenkte, und die für ihn damals noch eine Art von fürstlichem Vermögen darstellten.
Nach der Premiere traf man sich, wie üblich, in der Jahreszeiten-Bar, und heute bildete dort Wedekind zwiefach den Clou des Abends und den Mittelpunkt: als durchgefallner Autor und als fast schon durchgebrannter Majestätsverbrecher. Denn natürlich war unser streng gehütetes Geheimnis nach der ersten Viertelstunde für dieses ganze kleine, wunderbar akustische Lokal eine sehr öffentliche Angelegenheit. Der Dichter badete sich wohlig in dem allgemeinen Interesse, das er fand, und er erklärte, da sein Zug vor sechs Uhr ginge und er es nicht gewohnt wäre, bei tiefer Nacht schon wieder aufzustehen, müsse heute durchgesoffen werden. Ich bestärkte ihn darin, weil dies auch mir nur ratsam schien, und alles stimmte jubelnd ein. So hob ein zu dem Äußersten entschlossenes Pokulieren an, das sich dann aber leider als – wie soll ich's sagen – ökonomisch falsch erwies. Schon gegen zwei Uhr wurde alle Welt des deutschen Sektes satt und fing sich nach dem Bett zu sehnen an. Und einer um den andern drückte sich; auf einmal saßen nur noch Wedekind, Frau Frida Strindberg und ich selbst am Tisch. Der Mittelpunkt des Abends gähnte und teilte mir dann mit, er wolle jetzt auch heim, Frau Strindberg müsse ja noch seinen Koffer packen. Als er trotz meinem Widerspruch darauf bestand, erklärte ich: nun gut, ich ginge aber mit.
So pilgerten wir denn selbdritt nach Wedekinds möblierter Bude hin. Das Köfferchen war bald gepackt, und immer lagen noch drei Stunden Wartezeit vor uns. Wir saßen schläfrig da und nippten freudlos von dem Inhalt einer Flasche, die unser Wirt hinter dem Muschelaufsatz seines Kleiderschranks hervorgezogen hatte. «Crême de Cacao» hieß der Trank und schmeckte eklig süß und parfümiert. Die beiden andern schauten mich mit dumpfem Widerwillen an, und ihre Blicke flehten stumm: – So geh doch endlich einmal fort! Ich aber zeigte mich so taktlos dickfellig, wie mich vor dieser Nacht und später hoffentlich kein Mensch gefunden hat. – Nach einer Weile riß ich mich dann aus dem Halbschlaf los, der mich immer von neuem überfiel, und sah auf meine Uhr.
«Beinah zwei Stunden noch!» rief ich. «Ach, fahren wir zum ‹Donisl›! Lechzt Ihre Seele denn nicht auch nach Weißwürsten und Bier?» Dies Zauberwort erweckte Wedekind und seine lahmgewordne Energie. «Teufel, daß wir daran jetzt erst denken!» stimmte er ein, und schleunigst fuhren wir zum «Donisl». Als Wedekind die erste Halbe fast in einem Zug hinabgegossen und die erste Weißwurst mit viel süßem Senf verschlungen hatte, kriegte er auf Vorschuß Heimweh nach der münchener Gemütlichkeit und wurde sentimental, was sich auch darin äußerte, daß er den Arm zärtlich um meine Schultern schlang und mich als seinen besten Freund in diesem Jammertale pries. Nun, Gott sei Dank gelang es mir, den Sturm seiner Gefühle nach der andern Seite abzulenken, wo Frau Strindberg saß. – Ich darf schon sagen, daß ich mich von Herzen freute, als ich endlich doch am Ostbahnhof dem Zug nachwinkte, der den Majestätsbeleidiger entführte – diese Nacht war mir verzweifelt lang geworden. Ich brachte Frida Strindberg mit der Droschke noch vor ihre Pension, fuhr heim und fiel um sieben Uhr ins Bett, war aber pflichtgemäß um neun Uhr wieder auf dem Büro.
Am Nachmittag um drei erschien dann, längst von mir erwartet, unser Kommissar und fragte mich mit strenger Miene:
«Sie, Herr Holm, wo steckt denn der Herr Wedekind? Frank Wedekind? Das soll wohl heißen: Franz.»
«Nein: Frank. Ja, und was wollen Sie von dem?»
«A, tun S' net so! Verhaften soll ich ihn.»
«Na, also glücklich doch den Falschen!» grinste ich.
«A was! Mir kennen uns einander doch! Ich möchte wissen, wo er steckt!»
«Tja, gestern ist er noch im Schauspielhause aufgetreten.»
«Gestern ...! – Nein: zur Zeit?»
«Bei sich daheim vielleicht ...?» Ich gab diensteifrig die Adresse an.
«Da is er net.»
«Ach was?! Ja, aber suchen müssen Sie ihn dann schon selbst. Bin ich der Kriminaler, oder Sie?»
«Ja, bloß ... Da dürft ich lang hersuchen, und derweil ...» Hier drückte der Kommissar sein linkes Auge zu und schaute mir mit dem rechten mißtrauisch prüfend und doch irgendwie ermunternd ins Gesicht. Da er nun gestern abend wirklich nett zu mir gewesen war, tat er mir leid.
«Ob Sie ihn freilich finden ...?» warf ich achselzuckend hin und lächelte ihm listig zu.
«Na weiß ich schon Bescheid!» rief er und kratzte sich hierauf bedenklich hinterm Ohr. «Die von da droben werden schaun! A, Herrschaft nein! Was ich zu hören krieg, das wünsch ich Ihnen net! – Ja, weiter war es nix. Grüß Gott, Herr Holm!»
Ich durfte ihm den kleinen Wink getrost erteilen. Denn in meiner Tasche knisterte ein Stück Papier, ein Telegramm aus Innsbruck an Frau Strindberg, das lakonisch meldete: «Franziska glücklich niedergekommen. Ferdinand.»
Der Hochschwung von Gefühlen, der die letzten Münchner Stunden Wedekinds durchleuchtet hatte, hielt auch stand, solange er es sich als Langens Gast im «Baur au lac» zu Zürich wohl sein ließ. Einige Wochen später – inzwischen hatte Wedekind sich nach Paris davongemacht – besuchte ich dort Langen selbst und hörte ihn von seinem alten Feind mit ungewohnter Wärme reden: er sei doch eigentlich ein netter Kerl, sie hätten hier zusammen eine schöne Zeit verbracht.
Nun hatte Langen allerdings sich diese Liebe etwas kosten lassen und Wedekind ein überaus anständiges Monatsfixum zugesagt, wogegen dieser dem ‹Simplicissimus› allwöchentlich ein sogenanntes Hieronymusgedicht zu liefern sich verpflichtete – die Arbeit eines Tages höchstenfalls, so daß für seinen Unterhalt gesorgt war und ihm zwischendurch doch immer noch sechs Tage für sein freies dichterisches Schaffen blieben. Wedekind schien dessen anfangs auch sehr froh, und seine Verse liefen Montags pünktlich bei uns ein. Sie dünkten uns nur oft so scharf, daß wir uns nicht getrauten, sie zu bringen, weil gebranntes Kind das Feuer scheut. Zu diesen durch uns honorierten, aber niemals abgedruckten Beiträgen gehörte auch die witzige Ballade von dem Zoologen in Berlin, der wegen der streng wissenschaftlichen Feststellung, daß ein Ochs ein Rindvieh sei, zu einem Jahre Haft verurteilt wird – woraus der Dichter dann die weise Lebensregel schöpfte:
«Darum vor Zoologiestudieren
Hüte dich, o Jüngling, wenn du jung,
Denn es schlummert in den meisten Tieren
Eine Majestätsbeleidigung.»
Man sieht, daß Wedekind sein Herz für das monarchische Prinzip noch immer nicht entdeckt hatte, doch sollte es in Kürze überraschend anders kommen.
Das blinde Wüten sächsischer Behörden gegen den mißliebigen ‹Simplicissimus› erreichte nämlich den Erfolg, daß unsere Auflage binnen vier, fünf Wochen von fünfzehntausend auf, ich glaube, fünfundachtzigtausend Exemplare stieg. Das freute uns, wie man sich denken kann, obgleich das Blatt auch jetzt noch nur gerade knapp die Kosten deckte. Der Verdienst für Langen stellte sich erst später nach der ersten Preiserhöhung ein.
Da wir nun das Anwachsen unseres Leserkreises selbstverständlich nicht verheimlichten, erfuhr dies auch Frank Wedekind. Und seine Phantasie malte ihm gleich die Riesensummen aus, die Langen jetzt in seinen Geldschrank schaufle, indessen er, dem doch das alles eigentlich zu danken sei, sich mit ein paar ihm lässig hingeworfnen Gnadenbrocken kümmerlich durchhungern müsse. Sofort verwechselte er dann auch die Wirkung mit der Ursache; und Langen war hier nur ein hinterlistig vorbedachter Plan geglückt. Er hatte diese ganze Strafverfolgung aus Gründen der Reklame provoziert, um sich auf Kosten eines unschuldigen Dichters reich zu machen. Das Loch in dieser Rechnung: daß bei solcher Absicht Langen ja wohl kaum die konfiszierten Nummern selbst verantwortlich gezeichnet hätte, übersah Frank Wedekind. Und so entschloß er sich denn schnell, brach in Paris von heut auf morgen seine Zelte ab, reiste nach Leipzig hin und stellte sich.
Der Untersuchungsrichter mag beinah vom Stuhl gefallen sein, als der steckbrieflich Verfolgte vor ihn trat und ihm pathetisch meldete, er sei Frank Wedekind, ihn treibe ehrliche Reue her und das tiefinnere Bedürfnis, sich mit Deutschland und mit seinem Kaiser zu versöhnen. Das letztere wirkte dadurch ganz besonders pittoresk, daß Wedekind damals noch schweizer Bürger war. Im übrigen spielte er vor Gericht den reinen Toren und das Unschuldslamm, das Langen «durch die Hungerpeitsche» rücksichtslos gezwungen hätte, sich als Tiger aufzutun. Die guten Honorare, die wir ihm für die politischen Gedichte zahlten, legte er als eine Art Bestechung aus: sie wären allsogleich versiegt, wenn er sich je geweigert hätte, Majestätsverbrechen zu begehn. So malte er sich weiß und Langen schwarz. Mag sein, daß, was er gegen diesen sagte, seine Überzeugung war – er hatte sich nun einmal dahinein verrannt –, das andere, was er von seiner eigenen Person erzählte, konnte wohl auch er nicht für die Wahrheit halten. Er fand wahrscheinlich, daß hier alle Waffen helfen müßten; und wie ihn im Verkehr mit Langen Grobheit, so dünkte ihn den Richtern gegenüber schlichte Demut die geschickteste Diplomatie.
Nun ist Diplomatie ja leider häufig schlauer, als es ihren Zwecken frommt. Das hat uns die Geschichte unserer Tage oft gezeigt, und das erfuhr auch Wedekind. Wenn es ihm darauf an kam, Langen bei Gericht zu schaden, hat er dieses Ziel gewiß erreicht; daß er sich selber nützte und der Richter Herzen rührte, läßt sich aus dem Urteil, das sie fällten, schwerlich folgern. Denn ihm wurden sieben Monate Gefängnis zugemessen, also um einen Monat mehr, als Th. Th. Heine ohne jedes Buhlen um die Gunst der hohen Obrigkeit erhalten hatte. Auch er wurde zu Festungshaft begnadigt, kam auf den Königstein und durfte einen Teil der Strafzeit noch in der Gesellschaft Th. Th. Heines dort verbringen.
Im ganzen ging es Wedekind, wenn er auch seine Freiheit und das altgewohnte Nachtleben vermißte, in der Gefangenschaft recht gut, zu gut vielleicht – er sah mit Schrecken, daß bei der ausgiebigen Kost und bei dem Mangel an Bewegung seine Schlankheit offenbar zum Teufel ging. Die hohlen Backen seines, seit er den Schauspieler in sich entdeckt hatte, völlig entbarteten Gesichtes wurden langsam rund, und auch das Bäuchlein wölbte sich von Tag zu Tage mehr. Das kränkte ihn, weil aus der Bühne ja Tournure und Figur beinah so viel bedeuten wie Talent. Da kann es sich wohl jeder vorstellen, wie hart ihn eine Zeichnung Heines treffen mußte, die, als er wieder draußen war, im «Simplicissimus» erschien. Sie zeigte ihn porträtgetreu, wie er, mit nichts als seinem Embonpoint und Hausschuhen bekleidet, vor dem Spiegel stand und grimmig seufzte: «Das verfluchte Fett verdirbt mir meinen ganzen Satanismus!»
Weil er von jeher keinen Spaß verstand, hätte schon dieser «Angriff» ausgereicht, ihm jede weitere Mitarbeit an unserem Blatte zu verbieten, ganz abgesehen von den Wahnideen über Langen, die während seiner Festungsmuße erst so richtig wild ins Kraut geschossen waren. Dem Buchverlage, der dem gleichen Mann gehörte, blieb er sonderbarerweise treu, und Werk um Werk von ihm kam dort heraus. Doch in der Hauptsache verdiente er sich Brot und Abendtrunk, bis später die Erfolge kamen, auf den Brettern oder Bretteln, die die Welt bedeuten möchten: erst an der Wanderbühne des Direktors Dr. Heine, die auch seinen «Erdgeist» recht erfolgreich spielte, dann am Münchner Schauspielhause und späterhin als meisterhafter bänkelsängerischer Interpret der eignen Verse bei den «Elf Scharfrichtern».
Um «das verfluchte Fett» zu bändigen, gewöhnte er sich damals auch das Radeln an; und es ist mir in lebhafter Erinnerung, wie er mir das erstemal, ich glaube, in der Ludwigstraße, hoch zu Rad entgegenkam. Sehr stolz auf dieses neue Können, sprang er ab, von mir den Zoll sprachlosen Staunens einzuheimsen. Wie gewöhnlich, trug er sich in Schwarz, auch eine Art von schwarzer Jockeymütze und lange schwarze Strümpfe fehlten nicht, nur die Pumphose strahlte in dem reinsten Weiß, desgleichen war das Rad schneeweiß lackiert. Ich fragte ihn:
«Was haben Sie sich da für einen Milchwagen zugelegt?»
«Ach so? – Ja, daß es weiß ist, hat natürlich seinen Grund», erklärte er. «Es wird zu Hause im Schlafzimmer abgestellt; und da ist alles weiß.»
«Ah: und die Hosen wieder sind in der Farbe zu dem Rad gestimmt. Ich muß schon sagen: sinnig raffiniert!» erwiderte ich ernst und stellte bei mir fest, daß er's auch ohne sieben Bärte gut verstand, unter dem Schwarme der Banausen aufzufallen.
Schon bald erhielt ich die Gelegenheit, dies weiße Schlafzimmer persönlich zu betreten. Denn das Fahrrad mochte finden, daß sportliche Betätigung nicht recht im Stil dieses dämonischen Poeten lag. Es warf ihn also eines Tages ab, und Wedekind brach sich das Bein. Nun pflegt ein Beinbruch meist ja nicht den Tod herbeizuführen. Doch besondre Leute müssen alles auf besondre Art erleben. So wurde Wedekind schwer krank, lag fest im Gipsverband, nahm weiter zu, fand diesmal aber, daß er immer weniger würde, und bereitete sich heldenhaft zum Sterben vor. Alle Welt lief hin, ihm einmal noch die Hand zu drücken; und auch ich schloß mich nicht aus. So lernte ich dabei denn seine neue Wohnung kennen. Das Arbeitszimmer stach nicht sehr von seinen früheren Buden ab, nur war darin die eine Wand, um seine Schaffensstimmung anzuregen, mit einer wahren Bilderfülle zugedeckt: aus Zeitschriften geschnittenen Aufnahmen aller weiblichen Varieté- und Zirkussterne jener Zeit, man konnte ruhig sagen, einer Orgie aus Trikot und ödester Geschmackverlassenheit. – Gott, dachte ich, was so ein Pegasus doch alles frißt!
Aus diesem Venusberge aber trat man dann in ein wahrhaft jungfräuliches Schlafgemach. Wedekind hatte nicht gelogen: alles weiß! Nur eine Gipsstatuette der bekannten Lourdes-Madonna, die als einziger Wandschmuck hoch und schlank auf einer gleichfalls gipsernen Konsole stand, gab etwas Rosa und Hellblau dazu. Nun male man sich aus, wie durch die keusche Kühle ringsumher das feuerrote Nachthemd leuchtete, in dem der schwergeprüfte Dichter seiner Auflösung entgegensah. Da sich nun diese keineswegs programmgemäß vollziehen wollte, wurde die Sache dem Patienten langweilig. So kam es, daß er in den Abendstunden öfters einen Freundeskreis zusammenrief und sich sein Sterbezimmer dick mit Alkohol- und Tabakdunst erfüllte. Der Arzt sah dem ein Weilchen zu, dann jagte er seinen Patienten, dem es damit jetzt gar nicht so zu eilen schien, durch einen Machtspruch aus dem Bett.
Wedekind aber schleppte sich dann noch monatelang schwerfällig an zwei Stöcken hin, hinkte ungemein dekorativ und schob den Augenblick nach Möglichkeit hinaus, da er doch wieder gehen müßte wie andre Leute auch. In diesem Stadium sah er zum erstenmal seit Zürich Albert Langen wieder, der eben nach fünfjähriger Verbannung begnadigt worden und in München eingetroffen war. Der kaum vom Tod erstandene Poet zeigte sich mild gestimmt und reichte seinem alten Widersacher mit der größten Herzlichkeit die Hand, doch gleich danach trat eine Katastrophe ein, die den traditionellen Haß heißer denn je entbrennen ließ. Neben dem Schreibtisch Langens stand ein Klubsessel für seine Gäste. Mehrere hundert Leute haben sich vor jenem Tag und später dahineingesetzt, ohne ihm etwas Besondres anzumerken. Es war ein ganz normaler Stuhl, nur hatte er als Sitz ein ziemlich nachgiebiges Daunenpolster. Langen nun wies darauf hin und sagte:
«Nehmen Sie doch Platz! Man sieht, wie schwer das Stehen Ihnen wird.»
Wedekind humpelte an seinen Stöcken vor den Stuhl und ließ ein bißchen gar zu plötzlich sein Gewicht von ziemlich hoch her in den Sessel sinken. Der Fall ging aber tiefer, als er wohl erwartet hatte – er wurde käseweiß vor Schreck, starrte mit wilden Augen um sich her und streckte das gebrochne Bein steif in die Luft hinaus. Das wirkte so unsagbar komisch, daß mein Prinzipal und ich hell lachen mußten. Dies war vielleicht nicht hübsch von uns, aber als unwillkürliche Zwangsreaktion gewiß nicht schlimm gemeint. Des Dichters Blick durchbohrte uns mit kalter Wut, er rappelte sich mühsam auf und schrie:
«Das ist ein dummer Witz!»
«Witz? Ja, wieso denn?» stammelte Langen ganz verblüfft. «Der Stuhl ist etwas weich ...»
«Ich glaubte, es mit ernsten Männern zu tun zu haben, und sehe nun, daß es Popanze sind! Adieu!» schrie Wedekind. Und – sonderbar – er war plötzlich ganz gut zu Fuß, da er nunmehr den Staub von seinen Sohlen schüttelte. Und wieder einmal knallte hinter ihm die Tür des Langenschen Verlages hart ins Schloß.
«Wir hätten doch nicht lachen sollen», meinte Langen, als der Empörte draußen war. «Wer – c'était plus fort que moi . Peinlich – die Sache, und er tut mir leid! Holm, Sie müssen gleich zu ihm und ihn versöhnen! Er kann doch wohl nicht ernsthaft glauben ... Denn was wär das auch schon für ein Witz!»
«Schön! Aber morgen erst», erklärte ich. «Denn heute schmeißt er mich noch glatt hinaus. Er hält's für einen Witz! Sie unterschätzen seine Phantasie. »
Am nächsten Tag brachte ich Wedekind nach vielem Reden denn so weit, daß er den wahren Sachverhalt anscheinend begriff. Ich ging zufrieden heim, und Langen freute sich mit mir, daß diese nicht sehr angenehme Episode abgetan und hoffentlich vergessen sei. Doch darin sollten wir uns täuschen: Wedekind vergaß sie nie. Was er sich einmal eingeredet hatte, konnte ihm nicht wieder ausgeredet werden. Wenn es zu weiteren persönlichen Zusammenstößen zwischen ihm und Langen nicht mehr kam, lag es wohl nur daran, daß Wedekind schon bald darauf München für längere Zeit verließ.
Max Reinhardt hatte ihn an seine berliner Bühnen engagiert. Dort holte er sich als Schauspieler und mit seinen Dramen – «Erdgeist» und vor allem «Frühlings Erwachen» – den entscheidenden Erfolg und war nun endlich weltberühmt und eine Größe, die sich vor keinem mehr zu bücken brauchte. Hier in Berlin fand er auch seine Frau und kehrte, da sich späterhin seine Beziehungen zu Reinhardt lockerten, als ein gesetzter, wohlsituierter Gatte und Familienvater nach der Isarstadt zurück.
Seit jener Klubsesselgeschichte bohrte er die ganze Zeit daran, von Albert Langen loszukommen. An Verlegern, die ihn gerne haben wollten, fehlte es jetzt selbstverständlich nicht. Doch Langen, der bei seinen Büchern über ein Jahrzehnt lang ständig draufgezahlt hatte, begriff nicht recht, warum er einen anderen die Ernte seiner Mühen in die Scheuern fahren lassen solle. Er lehnte also diesen Wunsch des Dichters immer wieder ab und stand auf seinem Schein.
Nun hatte Wedekind es sich in dem Vertrag, der ihn an Langen band, vorsorglich ausbedungen, daß er eine von ihm geplante Komödie «Oaha» anderwärts erscheinen lassen dürfe. Da dieser Titel ihm nichts sagte und er die ganze Klausel mehr für eine Dichterlaune hielt, war Langen lächelnd darauf eingegangen. Aber im Jahre 1908 kam dieses Stück «Oaha» bei Bruno Cassirer in Berlin heraus. Und es entpuppte sich als bissige Satire gegen Albert Langen, den «Simplicissimus» und seine Leute; selbst Langens Frau und deren Vater Björnstjerne Björnson waren keineswegs verschont. Wedekind stellte darin seine Beziehungen zum «Simplicissimus» einschließlich der berühmten Majestätsbeleidigungsaffäre dar, wie er sie sah. Des näheren auf den Inhalt der Komödie einzugehen, darf ich mir ersparen, weil es nicht der Mühe lohnt. Aus blinder Wut allein wird nie ein gutes Stück. Den Ernst des Hasses, der den Dichter trieb, verspürt man in «Oaha» wohl, doch kaum den nötigen Ernst zum Werk. Übrigens spielt hier – und dieses sagt vielleicht genug – auch der von Wedekind so falsch verstandene Klubsessel eine große Rolle, und zwar als pfiffig konstruierte Menschenfalle, deren Zweck nun freilich dunkel bleibt. Man kann nur ahnen, daß sie dazu dient, harmlose Dichter zu erschrecken, damit man sie nachher in ihrer Fassungslosigkeit geschäftlich leichter übertölpeln kann. Nimmt mich fast Wunder, daß sich seit der Zeit noch kein Verleger dies moderne Folterwerkzeug patentieren ließ!
Mit diesem Stück gewann sich Wedekind, ob es auch auf der Bühne glatt versagte, einen Erfolg von andrer Art, der ihm wahrscheinlich überraschend kam: das Tor, an dessen Klinke er so lange Zeit unmutig und umsonst gerüttelt hatte, sprang von selber auf. Langen hielt ihn nicht mehr und gab ihm freien Weg. Und das geschah nicht etwa aus persönlicher Empfindlichkeit – hatte er sich doch bereits in mehr als einem Drama Wedekinds, besonders in «Hidalla», blutig karikiert gesehen und dazu mit dem heitersten Humor gelacht. Was ihn hier ärgerte, war die Verunglimpfung der Björnsons, und besonders seines Schwiegervaters, auf den er menschlich wie künstlerisch die allergrößten Stücke hielt. Und darum nahm er kurzerhand ein früher abgelehntes Kaufgebot Bruno Cassirers nun nachträglich an. Wedekind würdigte den Brief des Langenschen Verlages, der ihn von dieser Wendung unterrichtete, nicht eines Wortes der Erwiderung. So wurde es ein wahrhaft schlichter Abschied ohne Lebewohl.
Die beiden alten Feinde sollten sich nicht wiedersehen. Eine anfänglich zu leicht genommene tückische Erkältungskrankheit raffte im Frühling 1909 den noch nicht vierzigjährigen Albert Langen viel zu früh dahin. Nach seinem Tode hat Frank Wedekind es einmal Ludwig Thoma gegenüber mit manchem schönen Wort bedauert, daß er den Frühverstorbenen noch zuletzt durch die Komödie «Oaha» hätte kränken müssen. Thomas Erwiderung, es sei mit der Gekränktheit Langens gar nicht so weit hergewesen, wurde aber nicht gerade froh begrüßt. Es gibt indessen über Langen noch ein Zeugnis Wedekinds, das vielleicht schwerer wiegt, weil es mir ein ganz Unbeteiligter berichtet hat. Dr. Georg Hirth, der sich sowohl mit vielen aus der Schar des «Simplicissimus», vor allem Ludwig Thoma, als auch mit Wedekind freundschaftlich stand, schlug diesem vor, er wolle zwischen den zwieträchtigen Parteien eine Aussöhnung vermitteln, erhielt jedoch abweisenden Bescheid.
«Ich wüßte nicht, wozu mir dieses dienen sollte!» sagte Wedekind. «Der einzige von der Gesellschaft, der mich interessieren konnte, die einzige Persönlichkeit dabei war Albert Langen. Und der lebt nicht mehr.»
An einem Maiabend im ersten Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts sagte meine Frau zu mir:
«Weiß nicht: ich hab heut keine Lust, daheim zu bleiben. Essen wir in der Jahreszeiten-Bar!»
Ich prüfte mit gewohnheitsmäßiger Sorge erst den Inhalt meines Portemonnaies; und weil es noch recht früh im Monat war, vermochte ich den Plan zu billigen.
Der Weg zur nächsten Trambahn-Haltestelle führte uns an der Wohnung eines uns befreundeten erfolggekrönten Schriftstellers vorüber, den ich, weil sein wahrer Name nichts zur Sache tut, hier Conrad Sieben nennen will. Er hatte schon als blutjunger Student ein schönes, nebenbei durch einen hellen Kopf und fröhlich derben Witz geziertes Mädchen aus dem Volk geheiratet. Weil er auf diese Art darum gekommen war, sich vor der Hochzeit auszutoben, holte er die üblichen Jungmännerdummheiten als Ehemann mit desto heiligerem Eifer nach, ja, fast in einer Art von Pflichtgefühl. Es sah so aus, als wolle er sich selbst dadurch beweisen, daß er ein Künstler sei. Und da gerade ein Poet nicht gern mit seinem eignen Beifall vorlieb nimmt, waren die Seitensprünge Conrad Siebens eine öffentliche Angelegenheit und der Gesprächsstoff Schwabings. Als erste aber wußte sonderbarerweise immer seine Frau darum Bescheid. Inzwischen wird sie sich infolge steter Übung mit den Eigentümlichkeiten ihres Gatten abgefunden haben – damals war sie noch schwer von Eifersucht geplagt und machte hieraus ganz gewiß kein Hehl. Im Frühjahr 1901 nun spielte solch ein Fall, den sie besonders tragisch nahm. Ihr Conrad weilte schon seit Wochen fern von ihr in einer Großstadt Norddeutschlands und lag dort zu Füßen einer Tänzerin, an der das Interessanteste wohl war, daß sie, sei es mit Grund, sei es nur so zur Zierde, einen spanischen Namen adligen Gepräges führte. Und nebenbei half sie ihrer Bedeutung dadurch auf, daß sie sich als das gab, was man im Filmjargon von heute einen «Vamp» zu nennen pflegt. So reizte sie den Dichter denn nicht nur als Weib, sondern auch als Modell. In seinen viel gelesenen Romanen nämlich stellte er den Helden – Blut von seinem Blut und Geist von seinem Geist – gern mit zerrissenem Herzen zwischen zwei polar verschiedene Frauen: hie – um es kulinarisch auszudrücken – solid nahrhafte Hausmannskost, hie gaumenkitzelnder Kaviar-Ersatz! Mag also sein, daß die Betrübnis seiner treuen Jette diesmal besonders hohe Wellen schlug, weil sie schon ihres Mannes nächstes Buch vorausahnte – eins ist gewiß: sie litt, und Schwabing wußte um ihr Leid.
Als wir uns nun an jenem Abend ihrer Wohnung näherten, sagte infolgedessen meine Frau zu mir:
«Was meinst du: wenn wir Jette Sieben fragten, ob sie mitgehn will? Daß sie doch mal auf andere Gedanken kommt! Er läßt es sich bei seinem ausländischen Flitscherl wohl sein, sie darf verlassen Trübsal spinnen, und kein Mensch bekümmert sich um sie.»
«Recht hast du!» gab ich zu. «Hungrige speisen, Dürstende tränken und Strohwitwen trösten ist ja Christenpflicht.»
Gesagt, getan! Knapp eine halbe Stunde später saßen wir selbdritt in Münchens hübschestem Weinlokal und ließen es uns schmecken. Auch Jette Sieben wurde, nachdem sie sich erst wieder einmal richtig über ihren Conrad ausgesprochen hatte, kreuzfidel.
Als wir dann schon an das Bezahlen und den Aufbruch dachten, öffnete sich die Tür, und es erschienen Frank Wedekind und Eduard von Keyserling. Spricht einer heute von dem Grafen Keyserling, so denkt zunächst wohl jeder an einen anderen als den zu Unrecht fast vergessenen Dichter Eduard. Damals aber war er der Berühmte; und ich weiß genau, was er mir sagte, als sein junger Neffe Hermann, der noch an keine Weisheitsschule dachte und von dem man nur mitunter Glossen in der «Neuen Rundschau» las, zuerst in München auftauchte. «Neein, lieber Korfiz», sagte dieser Rabenonkel in dem schönsten Kurisch-Deutsch, «ich find es wirklich unerfreulich, daß nun jeder Keeyserling sich eeinbildet, er muß auch schreeiben.»
Wedekind also und Eduard von Keyserling begrüßten uns und setzten sich an unsern Tisch. Und damit durften wir drei andern uns gewiß sein, daß wir noch einen ebenso langen wie kurzweiligen Abend vor uns hätten. Denn ausdauernd beim Weine waren diese zwei sonst sehr verschiednen Freunde gleichermaßen, und jeder war auf seine Art interessant und geistreich im Gespräch.
So zeigten sie sich denn auch heute, bis dann gegen zwei Uhr Keyserling, schon damals keineswegs ein Riese an Gesundheit, vom Trinken und vom Reden etwas müde wurde und mählich verstummte. Ganz anders Wedekind, der sich in jener Lebensperiode erst nachmittags um vier aus seinem Bette zu erheben pflegte und ein entschiedener Nachtmensch war. Ihm löste sich erst jetzt so recht die Zunge, und er hielt uns eine Art von Vortrag über sein Lieblingsthema: den genialen Wedekind.
Nachdem er mancherlei ins Licht gestellt hatte, was ihm an seiner eigenen Person im Gegensatz zu andern Leuten aufgefallen sei, erzählte er, daß er nach seinem späten Mittagessen, bevor er sich über die abendliche Dichterarbeit hermache, ein halbes Stündchen auf der Chaiselongue zu liegen und sich in schwelgerische Träume zu versenken pflege. Er stelle sich zum Beispiel vor, daß er drei Töchter hätte, von denen die erste eine große Künstlerin, die zweite Lehrerin, die dritte aber Dirne würde. Die Ausmalung des Werdeganges und der erlebten oder unterdrückten Abenteuer dieser drei befruchte mächtig seine Phantasie und rege ihn aufs glücklichste zum Schaffen an.
«Da würd ich mir doch lieber», fiel ich ein, «sechs Töchter ausmalen, die alle Lehrerinnen würden – das kostet auch nicht mehr und scheint mir viel phantastischer.»
«Herrrr Holm, es überrascht mich nicht», klang es gereizt zurück, «daß Sie gerade auf die – Lehrerinnen fallen.»
«Na, oder auch sechs Dirnen, wenn das Ihnen besser liegt», erwiderte ich nachgiebig. «Mir kam es nur auf das Moment der Häufung an.»
«Was werfen Sie denn eigentlich den Dirnen vor?» rief Wedekind herausfordernd.
«Ja, wann denn?» fragte ich.
«Das ist der ranzige Pharisäerstandpunkt!» grollte er. «Meinen Sie etwa, diese Mädchen hätten einen leichten und erfreulichen Beruf?»
«Nein. Aber darum mal ich mir für meine Töchter lieber andere Beschäftigungen aus. Na, überhaupt, ihr Theoretiker von Junggesellen redet euch da leicht!»
«Wenn ihr die Prostitution so sehr verachtet, warum schafft ihr Praktiker sie dann nicht schleunigst ab?» erkundigte sich Wedekind.
«Nach Ihnen!» sagte ich bescheiden. Er aber warf sich in die Brust.
«Sie glauben mich damit wohl in Verlegenheit zu setzen, Herrrr Holm!? Zufällig aber weiß ich einen Weg, wie man nicht nur die Prostitution sofort beseitigen, sondern zugleich mit einem Schlag die soziale Frage lösen kann.»
«Erbarmung, Frank», rief Keyserling, der schon seit einer Weile wieder hellwach geworden war, «da bin ich aber doch jespannt.»
«Dazu gehört nur ein Gesetz», erklärte Wedekind, «wonach in Zukunft jeder Mann auch für die legitime Gunstbezeugung seiner Frau den angemessenen Barbetrag erlegen muß.»
«Zahlungserleichterung wird nicht gewährt», warf ich dazwischen.
«Euch noch was pumpen ...!» sagte Jette Sieben voller Ironie. Doch der von seinem großen Plan gepackte Reformator beachtete uns überhaupt nicht und fuhr fort:
«Wenn der Verkehr mit jeder Frau zu honorieren ist, entfällt doch automatisch das Odium, das heute Millionen arme Mädchen deswegen außerhalb der Gesellschaft stellt. Und überschlagen Sie sich mal den ungeheueren Betrag, zu dem sich das im Deutschen Reiche binnen Jahresfrist summiert! Den zieht der Staat durch seine Kassenboten ein und hat dann größere Mittel, als er braucht, um aller Not im Volk ein Ziel zu setzen.»
«Schön gedacht!» gab ich beifällig zu. «Nur ... Haben Sie noch nie was von dem populären Sport gehört, der ›Steuerhinterziehung‹ heißt? Wer wird fatieren, was man ihm doch kaum nachweisen kann!»
«Herrrr Holm!» Und Wedekind verachtete mich tief. «Kein schöpferischer Gedanke der Menschheitsgeschichte wäre jemals Tat geworden, wenn man sich von den armseligen Bedenken trockener Vernünftler hätte hemmen lassen. Taugt die Idee etwas, dann halten technische Schwierigkeiten sie nicht auf.»
«Sie meinen», sagte ich, «man soll den jungen Frauen bei der Hochzeit statt des Traurings einen rentamtlich plombierten Taxameter anmontieren?»
Keyserling und die beiden Damen mußten lachen, und das reizte Wedekind noch mehr als meine Worte, zumal da er im Augenblick nicht die erwünschte überlegne Antwort darauf fand. So witzig er ganz ohne Zweifel war, wenn er seine Bonmots in Ruhe prägen konnte – die sprungbereite Schlagfertigkeit, die eine Stichelei, bevor sie wirksam wird, mit flinkem Gegenstich pariert, ging ihm vollkommen ab. Er half sich dann durch Grobheit aus der Klemme. Und so fauchte er mich jetzt entrüstet an:
«Man scheint mich hier nicht ernst zu nehmen. Aber das charakterisiert nur Sie!»
Ich tat bereits den Mund zu einer Antwort auf, ließ die dann aber unterwegs, weil meine Frau verstohlen mahnend mit ihrem Knie an meines stieß. Ich hatte es ihr schon vorher ein paarmal angemerkt, daß die mein eignes dickes Fell nur leise prickelnden Giftpfeilchen Wedekinds sie ärgerten. Ich lächelte also nur leise vor mich hin und sagte – nichts.
Dies aber kam den andern völlig unerwartet und brachte es mit sich, daß Wedekinds ergrimmter Ausfall gegen mich nachträglich wie ein Stoß ins Leere wirkte, der irgendwie ein Loch in das Beisammensein gerissen hätte. Das Schweigen, das wohl fast eine Minute lang über der Tafelrunde lag, wurde von jedem als merkwürdig tief und hohl empfunden; und Jette Siebens Stimme klang erschreckend laut, da sie es mit den Worten unterbrach:
«Wedekind hat ganz recht.» Sämtliche Köpfe fuhren jäh empor und musterten sie neugierig. Man fragte sich, ob diese Beifallskundgebung aus heiterem Himmel ein scharfes Urteil gegen mein frivoles Witzeln in sich schließe, oder ob sie nur den von Wedekind skizzierten Plan zur Lösung der sozialen Frage billigen wolle. Aber es erwies sich, daß sie unserem Gespräch nur noch mit halbem Ohr gelauscht hatte, seitdem das Dirnenthema angeschlagen worden und ihr dabei ihr Eheunglück wieder aufgestoßen war; denn sie fuhr fort: «Saudumm ist man! Er gibt sich mit dem Weibsbild ab – das Richtige wär, wenn ich ihm täglich Hörner aufsetzte! Ich hab nur leider Gottes den Moment verpaßt! Wenn man so lang wie ich eine anständige Frau geblieben ist, kann man mit dem schon nicht mehr anfangen. Aber meine Trude, dafür sorg schon ich, darf nicht so blöd sein und soll ganz bestimmt ne Dirne werden!»
Der ganze Kreis sah sie und sah einander betreten an. Denn jeder wußte, daß die kleine Trude Sieben kürzlich erst ihr fünftes Jahr vollendet hatte. Und zum Schluß gab meine Frau der Meinung aller, oder doch der Mehrheit, mit den Worten Ausdruck:
«Liebe Jette, wart doch ab, ob denn das Mädel, wenn es so weit ist, auch Lust dazu verspürt.»
Nun aber warf Frank Wedekind mit kühnem Ruck das Kinn empor und redete Frau Jette feierlich so an:
«Gnädige Frau, Sie sind eine Tragödin, aber Sie finden heute nur Salonmenschen als Gegenspieler.»
Keyserling und ich wechselten heimlich einen Blick, denn wir genossen es mit reiner Künstlerfreude, wie sehr hier Wedekind sich wieder einmal selber glich. Merkwürdigerweise aber nahm meine Frau, die sonst doch Eleganz für keine Schande hielt, ihre Einreihung unter die Salonmenschen entschieden krumm. Dies war der Tropfen, der den schon zuvor allmählich bis zum Rande vollgeronnenen Becher ihres Zornes überlaufen ließ. Sie teilte Wedekind ihre Mißbilligung unverblümt und deutlich mit. Was er dagegen vorzubringen hatte, klang noch viel gereizter; und es entspann sich eine jener Kontroversen, bei denen jeder Teil im Grunde immerfort das gleiche wiederholt und dessen nur nicht müde wird, weil er dem anderen das letzte Wort nicht lassen mag. Nach diesem Maß gemessen, muß ich sagen, wirkte Wedekind hier zweifellos als der Weiblichere von den zwei Kämpen. Ich merkte bald, daß meine Frau den Tränen nahe war; und darum griff ich ein:
«Herr Wedekind, Sie scheinen zu vergessen, daß Sie eine Dame vor sich haben. Hören Sie gefälligst auf!»
«Aufhören? Ich? Sie glauben offenbar: wenn jemand weiter nichts als eine Dame ist, gibt ihm das schon das Privileg, einen, der doch am Ende etwas mehr sein dürfte, straflos zu beleidigen? Und ich soll alles schweigend einstecken und dazu wohl noch einen Kratzfuß machen und verbindlich grinsen?»
«Sie brauchen gar nichts schweigend einzustecken. Kommen Sie morgen zu mir aufs Büro und reden Sie dort, bis Ihr Drang gestillt ist! Halten Sie sich an mich!» Doch daran dachte der erboste Dichter nicht im Traum; er wendete sich vielmehr ungesäumt wieder zu meiner Frau:
«Gnädige Frau, es ist zwar das Bequemere für Sie, sich hinter Ihr Geschlecht und Ihren Gatten zu verschanzen ...»
Ich fiel ihm aber kräftig in den Satz:
«Herr Wedekind, verlassen Sie jetzt, bitte, meinen Tisch!»
«Den Tisch verlassen?! Ich?! Wieso? Warum?»
«Weil Sie sich schlecht benehmen!» sagte ich und wußte, kaum daß mir dies Wort entschlüpft war, was ich angerichtet hatte. Gerade Wedekind ließ es sich ja unendlich viel Nachdenken kosten, wie er sein Benehmen zwar abweichend von der Norm, doch streng in seinem eignen – und etwa noch des großen Casanova – Stil zu ziselieren hätte, um da die Krone der Vollendung zu erringen. Er wurde also kreidebleich, und seine ohnehin sonore Stimme ließ die erschrockenen Wände widerhallen:
«Ach?! Ich benehm mich schlecht? Ganz, wie Sie meinen, Herrrr Holm! Ich aber, sollte ich doch glauben, habe Sie noch nicht dem münchner Polizeipräsidium denunziert!»
An diesem Ausfall war mir nur das eine neu, daß Wedekind mir hier urplötzlich etwas in die Schuhe schob, dessen er zwar häufig Albert Langen, aber bisher noch niemals mich bezichtigt hatte, auch hinter meinem Rücken nicht – sonst wäre es mir in dem lieben Schwabing sicher zugetragen worden. Da ich mich nun gar nicht getroffen fühlte und auch wußte, daß Wedekind das nur so in der Wut hervorschrie, ohne selbst daran zu glauben, erregte mich die ehrenrührige Beschuldigung weit weniger, als man annehmen sollte. Sie aber einfach auf mir sitzen lassen konnte ich nicht gut. Und so erhob ich mich zu meiner ganzen Länge, holte eindringlich warnend mit der Rechten aus und rief:
«Nun aber schnell! Sonst helf ich nach!»
«Jetzt wird's gemütlich!» feixte Wedekind, indessen er geduckten Nackens in die Höhe kam. «Es ist mir selber lieber. Glauben Sie mir das?» Hierauf verneigte er sich leicht: «Frau Jette Sieben ...! Graf Keyserling ...!» Warum er seinen Duzfreund plötzlich mit dem Grafentitel ehrte, weiß der liebe Gott. Zum Schluß noch ein mir lässig an den Kopf geworfenes: «Sie werden von mir hören!», und er begab sich stolz erhobnen Hauptes in das Nebenzimmer.
«Weei, schade», sagte Keyserling mit einem Schmunzeln, das sich über uns alle gleichermaßen lustig machte, «zu schade, daß der sonst beei Gott jelungene Abend dies vorzeeitije Ende fand. – Tja, leeider muß ich aber wohl ... Da ich nu mal mit diesem Herrn jekommen bin ...» Auch er stand also auf und folgte Wedekind – wahrhaftig kein Adonis und kein Elegant, und trotzdem Graf und Weltmann von den Fersen bis zum rauhaarigen blonden Schopf, ein seiner Sicherer, der sein Benehmen längst auswendig weiß – par cœur , wie der Franzose sagt – und ihm gewiß keine Gedanken schenkt.
Gehört hab ich von Wedekind in dieser Sache niemals wieder eine Silbe, weder aus seinem eignen Mund, noch durch Vermittlung eines anderen. Er grüßte einfach meine Frau und mich nicht mehr, sah krampfhaft weg, wenn wir uns irgendwo begegneten, und zeigte uns mit jeder Miene und Gebärde, daß an unsere Todfeindschaft nicht zu tippen sei. Nun gut, wir tippten also nicht daran.
Eine etwas verzwickte Lage schuf es bloß, daß ich ja Wedekinds Verleger war, und daß er mich deshalb des öfteren in Geschäften aufzusuchen hatte. Aber er bezwang das schwierige Problem mit Leichtigkeit und zeigte mir, wie sich ein in Gedankenglut gehärteter Manieren-Fachmann zu benehmen weiß. Es war mir jedesmal ein kostbares Erlebnis und ein Studium, wie reinlich er da den Verleger, den er mit kühler, peinlich korrekter Höflichkeit um Vorschuß bat, vom Menschen Korfiz Holm zu trennen wußte, dem er durch einen starren Blick in seine Augen zeigte, daß er ihn überhaupt nicht sah. Ich konnte dabei häufig nur mit knapper Not mein Lachen niederzwingen, er jedoch saß mir in seinem Ernste unerschütterlich wie eine altägyptische Granitbildsäule gegenüber.
Daß sich dies strenge Antlitz ohne Gnade mir je wieder freundlich lächelnd neigen könnte, glaubte ich nicht. Es wäre auch ganz sicher nie geschehen, wenn nicht einige Zeit, ein Jahr, vielleicht auch zwei, nach unserem Krach der Hofrat Rosenberg aus Rußland – Kiew, Charkow oder sonst woher – am Himmel Schwabings aufgegangen wäre wie ein feuriger Komet. Gleich einem solchen lenkte dieser Mann, von dem zuvor kein Mensch ein Wort vernommen hatte, die Augen dieses sonderbaren Stadtteils mit magnetischer Gewalt auf sich.
Sein Äußeres schon schien diese Wirkung zu rechtfertigen: er hätte gut und gern für einen Revenant des seligen Grafen Trast von Sudermann passieren können – so ungemein ausführlich wallte ihm der lange schwarze Bart auf die gewölbte Brust, solch weltmännisches Air lieh ihm das vor sein rechtes Auge hingeklemmte Einglas. Diese auffällige Erscheinung aber und der Umstand, daß er darauf versessen war, sich in verschiedenen Künsten dilettantisch zu betätigen, waren den Schwabingern noch nicht das wichtigste – viel interessanter war das elegante Handgelenk, das dieser offenkundige Millionär beim Geldverschwenden sehen ließ. Man witterte in ihm die «Wurzen», wie der Münchner sagt, um ein organisches Gebilde zu bezeichnen, das sich bequem «ausziehen» läßt.
Der Hofrat wurde sicher ununterbrochen angepumpt; ob mit Erfolg, das weiß ich nicht – ich hab es nicht probiert. Mir scheint es auch recht fraglich, ob ein Herr mit einem solchen Propagandabart darauf erpicht sein kann, Wohltaten im verborgenen zu üben. Doch ließ er sich stets gern dafür gewinnen, durstige Künstlerseelen freizuhalten, sonst nicht verkäufliche Gemälde gegen bar an sich zu bringen, Abfassung und Druck von literarischen Erzeugnissen zu finanzieren, die ihm dann allerdings gewidmet werden mußten, und dergleichen mehr. Besonders die «Elf Scharfrichter», die es auch ehrlich brauchen konnten, erfreuten sich seiner tatkräftigen Protektion; und der Scharfrichter Heinrich Lautensack hat zu der Zeit sogar ein kleines Werk unter der schönen Überschrift «Der Hofrat erzählt» aus den gepreßten Tiefen seiner Dichterseele auf den Büchermarkt geschleudert.
Er war den Schwabingern mithin ein Born der Freude und ein Wender mancher Not. Zum Danke dafür raunten sie einander, sowie jedem, der es hören wollte, streng diskret ins Ohr, der Hofrat sei bestimmt ein russischer Spion, und nur aus diesem Grund verfüge er über das klotzige Geld. Natürlich war das nur Geschwätz. Denn für so ahnungslos darf die zaristische Regierung doch wohl nicht gehalten werden, daß sie ihre Spione mit den Goldfregatten just auf das liebe Schwabing losgelassen hätte. Zudem verdankte Rosenberg den Hofratstitel gar nicht Rußland, sondern Preußen, wie denn auch das Bändchen, das sein Knopfloch vor Nacktheit behütete, dem Roten Adlerorden vierter Kasse angehörte. Für welche Verdienste um den oder welche Stiftungen für den Staat der Gute sich besagte Auszeichnungen zugezogen hatte, weiß ich nicht; aber ich nehme an, daß sie ihm nicht gerade für die erfolgreiche Ausschnüffelung politischer Geheimnisse des Deutschen Reichs verliehen worden sind.
Nun, diesem Hofrat also fehlte es an Leuten, die sich in seinen Dunstkreis drängten, sicher nicht. Aber mit diesen kleineren Göttern umzugehen, schien ihm doch erst das halbe Glück. Sein Ehrgeiz war, die «Prominenten» Schwabings, wie man heute sagen würde, die Leute, die ihm nachzulaufen weder Lust noch Anlaß hatten, ebenfalls in seinen Kreis zu ziehen. Und darum lud er eines Tages alles, woran ihm aus diesem Grund gelegen war, für nächsten Donnerstag zu einem feierlichen Frühstück auf sein Atelier. Ob er in diesem, das bestimmt eines der größten von ganz München war, je einen Strich gemalt hat, weiß kein Mensch. Ich nehme aber an, daß er es mehr für seine Mäzenatenpflicht erachtete, in einem Raum mit Nord- und Oberlicht zu wohnen. Jedenfalls waren alle Wände dort mit prunkvoll goldgerahmten Ölgemälden buchstäblich gepflastert – Kunstwerken von der Art, die man in Schwabing «Atelierscheps» nennt. Ohne zu wissen, was er dafür ausgegeben hatte, durfte man getrost behaupten: «sie sind überzahlt», weil etwas andres schlichterdings unmöglich war.
An einem strahlenden Herbstvormittag um elf Uhr also versammelten sich hier die schwabinger «oberen Fünfunddreißig oder Vierzig». Kaum einer hatte abgesagt, weil man sich ja nach dem, was man vom Hofrat wußte, an Speis und Trank Erlesenes versprechen durfte. Und er bewies es, daß er in der Tat begriffen hatte, was er uns schuldig war. Es liegt mir fern, die Gänge dieses Frühstücks aufzuzählen – ich erwähne nur, daß es mit einem Kaviar begann, wie ich ihn sonst in Deutschland nie gegessen habe, und den sich Liebhaber aus ungeheuren Suppenterrinen pfundweise auf den Teller schaufeln konnten, und daß nach den köstlichen russischen Schnäpsen, die es zu dem Kaviar gab, das einzige Getränk, das überhaupt serviert wurde, ein trockener und äußerst rassiger französischer Champagner war.
So raffiniert sich unser Wirt nun auch in der Zusammenstellung des Menüs und in der Wahl des Weins erwiesen hatte – in der Platzanweisung für die Gäste zeigte er, zumal was meine bescheidene Person betrifft, nicht diese unfehlbare Hand. Es waren lauter kleine Tische aufgestellt, und diesem Unglückshofrat mußte es passieren, daß er dabei Frank Wedekind und mich nebst einer einzigen, übrigens sehr netten, jungen Frau zusammenbrachte. Wir beiden Feinde saßen uns, natürlich ohne uns zu sehen, Aug in Auge gegenüber, die Dame zwischen uns. Sie schaute uns des öfteren in bangem Zweifel an und schien uns nicht für ganz normal zu halten, was wir ihr schließlich nicht so sehr verübeln konnten. Wir beiden Kavaliere richteten, der eine von der rechten Seite, der andere von links, das Wort allein an sie und schwiegen das männliche Gegenüber steinern an. Daß da die Unterhaltung etwas kompliziert und mühsam war, kann man sich denken. Darin zu pausieren, ging aber auch nicht recht. Wenn man in einem Raum, wo so viel Zungen lebhaft schnattern, selbst verstummt, fühlt man sich von dem Lärm der andern gar zu bald betäubt und blöd gemacht. Und «Lärm» ist ein zu schwacher Ausdruck dafür, was hier im Gange war. Vormittags macht der Alkohol, wie jeder weiß, die Stimmung ganz besonders schnell vergnügt und führt die Leute auf dem nächsten Weg in die Gefilde nur noch halb bewußter seliger Entrücktheit.
So kann auch ich nicht mehr im einzelnen genau berichten, was in den nächsten ein, zwei Stunden alles vor sich ging. Ich weiß noch, daß im Anfang von den Nachbartischen her so mancher, der um unsere Feindschaft wußte, amüsiert herüberlächelte, und daß sich besonders Eduard Keyserling und auch Max Halbe ein Vergnügen daraus machten, immerfort Frank Wedekind und mir in schnellem Wechsel zuzutrinken. Und dann erinnere ich mich klar an gar nichts mehr. Das erste, was dann wieder scharf umrissen aus dem Nebel tritt, sind ein kohlschwarzer Vollbart und ein blitzendes Monokel, und dazu noch etwas Rotes, Glänzendes: des Hofrats Rosenberg zu mir herabgebeugtes freundliches Gesicht. Und während er die Hand begütigend auf meine Schulter legt, raunt er mir leise und auf russisch zu:
«Erbarmen Sie sich, Korfiz Dmitrytsch, ich bin désolé ! Ich habe nicht gewußt, bei Gott, daß Sie mit diesem andern Herrn verfeindet sind.»
Ich aber lehnte mich in meinem Stuhl zurück, lächelte unsern Wirt gemütlich an und sagte laut und ungeniert auf deutsch:
«Teuerster Hofrat, Ihre Verzweiflung kommt zu spät: jetzt haben Wedekind und ich gerade – Brüderschaft getrunken.»