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Selbviert übernachteten sie in der Kabine, wo sich zwischen den Kojen und alle dem Handgepäck, das am Boden lag, nur einer zurzeit notdürftig bewegen konnte. Da dauerte das Aufstehen morgens lange; und Thomas Kerkhoven, als der jüngste mit seinen einundzwanzig Jahren, mußte bis zuletzt warten. Ihm war das schließlich lieb: denn die Ungeniertheit, die der alte Konsul Wesselbeck bei seiner Toilette an den Tag legte, däuchte ihn im höchsten Maße verwunderlich. Wie er so – »kühlpfeifend« dachte Thomas – die Zahnbürste aus einem schmutzigen Stück Zeitung wickelte und sie in die aufgesammelte Asche seiner Morgenzigarre tunkte, – darin lag ein beneidenswertes Bewußtsein von der Richtigkeit des eignen Tuns.
Thomas Kerkhoven drehte sich mit einem Seufzer zur Wand. Wer von Natur schüchtern ist, hat immer eine melancholische Bewunderung für Leute, die sich bis zu den Naturlauten ihrer Morgentoilette breitspurig geben, wie sie sind. –
Thomas lebte seit zwei Tagen in einem sonderbar zwiespältigen Traumzustande. Ihm war, als sei er von einem Vorhang umgeben, durch den Licht und Schall von draußen nur gedämpft hereindrängen; aber zugleich sah er tausend Einzelheiten des gewöhnlichen Lebens ringsum, die er sonst nie beachtet hatte, gleichgültige Dinge, die ihn jetzt vielleicht noch fremder däuchten, und die er dennoch in einer dumpfen Verwunderung musterte, weil er sie heute zum erstenmal entdeckte, – musterte, ohne sich von ihnen losreißen zu können.
War es Angst, an das andre zu denken?
Er sollte an das Sterbebett seines Vaters treten. Ein Telegramm hatte ihn aus Berlin heimberufen. Am Ende fände er schon einen Toten?! Wünschte er sich das vielleicht? – Nein, er fieberte doch vor Angst, daß er ihn nicht mehr lebend antreffen könnte; er mußte noch mit ihm sprechen, mußte diesem streng schweigenden Munde sein Geheimnis entreißen, bevor es für immer zu spät wäre, – dieses Geheimnis, das irgendwie mit seiner Mutter zusammenhing, die Thomas nie gesehen hatte, von der auch nur zu sprechen im Hause seines Vaters wie in der ganzen Verwandtschaft von je verpönt war.
Und doch, – wenn er in sich hineinschaute: ob da im dunkelsten Winkel nicht die Hoffnung kauerte, es möchte schon alles vorbei sein, wenn er käme?!
Und dann noch das: eigentlich stand ihm der Gedanke an seinen Vater hinter andern Gedanken zurück. Was sich immer wieder vordrängte, so sehr er sich bemühte, es zu bannen, waren die Folgen dieses Todes: daß er jetzt frei würde und sein eigner Herr. – Annemarien heiraten und Maler werden! – Er brachte so wenig Schmerz um seinen Vater auf. Er dachte über sein Ende hinaus. War das nicht unnatürlich und häßlich?
So lag er und sann und zergliederte sich selber und seine Gefühle, während seine Kabinengenossen sich einer nach dem andern anzogen und an Deck hinaufgingen. Er war allein; aber noch immer lag er und starrte zu der blankweiß gestrichenen Decke, an der Wellenreflexe wie zerfaserte Silberspinnen hin und her liefen. Er sah ihnen müßig zu, und alle Zweifel nahm das Bewußtsein weg, daß er jetzt keine Eile hatte, daß er im Augenblick nichts ändern konnte, – was auch geschähe.
Auf einmal wurde der Rhythmus langsamer, in dem das Schiff heute schon den dritten Tag unter dem Gang der Schraubenwelle zitterte. Thomas fühlte es wohl, aber es kam ihm nicht zum Bewußtsein; auch nicht, als die Maschine ganz verstummt war und das Wasser auf einmal sonderbar laut an die Schiffswand gluckste, wie die Stimme einer Quelle bei Nacht. Aber dann klangen schwere Schritte über ihm, es wurde etwas über das Deck geschleift, das polterte an der Wand hinunter und fiel klatschend ins Wasser. Eine Strickleiter! Thomas sah durch das runde Fensterchen über seinem Bette hinaus. Das erste, was ihm ins Auge fiel, war ein kleiner Kutter, dessen Segel gerade geborgen wurde. Nun griff die Bemannung zu den Riemen und ruderte auf das Schiff zu. Der Kutter tanzte auf den Wellen, von denen der große, schwer beladene Dampfer kaum etwas merkte; nun lag er längsseit, und ein alter Seemann mit weißem Barte, auf dem Kopf einen schwarzen, steifen Hut mit silbernem Abzeichen, kletterte die Treppe hinauf: der Lotse.
Thomas schaute noch immer hinaus, als die Maschine schon wieder dröhnte und der Kutter schnell zurückgeblieben war. Hinter dem Meere, das heute eine ganz andre Farbe hatte als die Tage vorher – statt des tiefen Graugrüns ein warmes, schmutziges Gelb – hob sich, soweit der Blick reichte, ein weiß besonnter Dünenstreifen, gekrönt von dunstig blauem Föhrenwald. Und dort vorn – er mußte den Hals recken – sah er den weißen Leuchtturm über den Festungswällen von Dünamünde.
Sonderbar, wie ihm das Herz schlug!
Über ein halbes Jahr war er fort gewesen, zum erstenmal im Leben; viel Sehnsucht hatte er in dieser Zeit gehabt, aber nur nach Annemarien, – das hatte er wenigstens geglaubt. Wie konnte man sich auch in dem Mittelpunkt einer neuen Kultur, in Berlin, nach der Heimat und in ihre kleinen Verhältnisse zurückwünschen? Aber als ihn jetzt der Anblick eines Stückchens Heimaterde so mächtig ergriff, daß er sich zusammennehmen mußte, um die Tränen nicht aufkommen zu lassen, da merkte er, daß auch eine Sehnsucht nach dem Lande selbst die ganze Zeit geduckt und heimlich in ihm gelegen hatte. Er streckte sich noch einmal aus und ließ dies Gefühl, das seinem jungen Verstande rätselhaft war, auf sich wirken ... Aber beim Anziehen kam eine fahrige Hast über ihn. Was ihn in den nächsten Stunden erwartete, war auf einmal wieder da und drängte und arbeitete in ihm.
Jetzt konnte seine Angst es nicht mehr hinter Betrachtungen zurückdämmen.
Man war in der Flußmündung. Die Dampfwinde rasselte hart, die Ankerkette quietschte. Dann wurde es still, der Strom drehte das Schiff noch ein wenig, dann lag es regungslos vor Anker. Ein paar Ruderboote brachten eine Schar von Gendarmen, Beamten und Zollsoldaten in weißen Uniformkitteln. Es dauerte wohl eine Stunde, bis die Pässe abgestempelt, die Ladungspapiere geprüft und die Luken plombiert waren.
Währenddessen wanderte Thomas unablässig auf und ab: die Erwartung hatte ihn mit aller Gewalt gepackt. – Werd' ich ihn lebend treffen? fragte er sich immer wieder. – Eine Möwe strich auf grauen Hakenflügeln vorbei. Die Walze ihres Leibes blitzte silbern in der Sonne. Plötzlich ließ sie einen unendlich traurigen Schrei hören und stieß aufs Wasser hinunter. Thomas mußte an den Homer denken: weissagender Vogelflug! Die Möwe war von links gekommen.
Er fand es kindisch und wollte darüber lachen, vermochte es aber nicht. Von diesem Augenblick stand es in ihm fest, daß sein Vater tot wäre.
Jedoch seine Unruhe wich nicht; unwillkürlich setzte er einen Fuß vor, der andere folgte zögernd, und dann war er wieder auf seiner hastigen Wanderung. Die Beamten verließen das Schiff, es wurde Anker gelichtet und ging stromaufwärts.
Thomas rannte Leute an, er mußte sich durchdrängen und über herumliegendes Handgepäck steigen; er tat es mechanisch und sah alles nur wie von weitem.
Endlich legte das Schiff an. Während der Zollrevision glaubte Thomas manchmal fast, er würde verrückt: er mußte an sich halten, damit er den Beamten keine Szene machte.
Dann saß er zuletzt doch in einer Droschke. Er versprach dem Kutscher einen Rubel, wenn er schnell führe. Und der schlug auf sein ruppiges Pferdchen los, daß es den kurzen Weg im Galopp zurücklegte. Jetzt bogen sie in die enge Geschäftsstraße ein. Thomas konnte schon das lange Schild über dem Erdgeschosse sehen. Wie Flammen leuchteten die Goldbuchstaben in der Sonne:
Theodor Amadeus Kerkhoven Wwe. Sohn
Ex- und Import.
Thomas zuckte zusammen: Kein Mensch im Kontor, und die eiserne Tür geschlossen! – Ach so, Mittagpause, dachte er dann. – Der Wagen hielt noch nicht, als er schon aufs Trottoir sprang: ein Zettel klebte an der Tür.
In langgeschwänzter Kaufmannschrift stand da: Wegen Todesfall geschlossen.
Langsam stieg er die Treppe hinauf und stand lange vor der Tür, ehe er sich entschloß, an dem Porzellangriff der Glocke zu ziehen. Ein tonloser, fremder Klopflaut antwortete. Der Klöppel war wohl noch umwickelt.
*
»Nein, ich danke dir wirklich sehr, Onkel Albert, aber es ist ganz unnötig,« sagte Thomas Kerkhoven, »ich wache allein, ich brauche niemand.«
»Ich hätte es sehr gern getan, lieber Thomas. Du bist der einzige Sohn meines Bruders und – ja, häm! – Soll ich dir denn aber nicht vielleicht Harry schicken?«
»Danke sehr; aber wozu? Es ist wirklich nicht nötig.«
»Ich kann ja auch verstehen, daß du allein sein möchtest mit deinen Gedanken. Also, dann leb' wohl, und Gott gebe dir gute, fruchtbare Gedanken! Es ist eine ernste Stunde für dich, der Ernst des Lebens tritt wohl zum erstenmal an dich heran. Gott gebe dir ernste Gedanken – ja, häm ...«
Hofrat Kerkhoven ließ die langen, grauen Bartkoteletten, die zu beiden Seiten des sauber ausrasierten Kinnes herunterhingen, mit einer gewohnheitmäßigen Bewegung durch seine Hände laufen, weiße, zu oft gewaschene Arzthände, schmal, aber etwas schwammig, mit langen Fingern, an denen ein paar alte Ringe prahlten.
»Aber sonst, wie gesagt ...«
Thomas dankte noch einmal, höflich, aber schon ein wenig ungeduldig und durch den lehrhaften Ton gereizt.
Dem Hofrat war das im Grunde recht, weil er diesen Neffen eigentlich nicht leiden und in kein richtiges Verhältnis zu ihm kommen konnte; und dann war so eine Nachtwache in seinen Jahren und bei der großen Praxis, die seine Tage – und auch manche Nacht – in Anspruch nahm, etwas sehr Anstrengendes. Er hätte das aber um keinen Preis zugegeben und wiederholte sein Angebot noch einmal.
Thomas war froh, als er endlich die Tür hinter ihm verschlossen und die Sicherheitskette eingehängt hatte. Aber als er auf den Stuhl stieg, um die Gasflamme auszudrehen, die das Vorzimmer und den Gang erleuchtete, hielt er, die Hand am Hahn, plötzlich inne. Es packte ihn, daß es hier gleich dunkel sein würde; und dann die lange Nacht, allein mit dem Toten ...!
»Lächerlich!« sagte er halblaut vor sich hin und drehte mit einem energischen Ruck das Gas aus.
Schwarz legte sich die Dunkelheit um ihn. Er stand auf dem Stuhl und starrte und horchte in sie hinein, atemlos. Er mußte ein Streichholz anzünden, bevor er sich getraute, hinunterzusteigen und auf den Zehenspitzen durch den Korridor zur Saaltür zu schleichen.
Er öffnete sie zögernd. Schwer schlug ihm der Geruch des Wachses und der bittern südlichen Pflanzen entgegen, vermischt mit einem süßlichen Verwesungshauche, der noch kaum zu spüren war; aber er würde stärker werden, noch im Laufe dieser Nacht, sagte sich Thomas.
Die Flammen rauchten unruhig im Zugwinde. Thomas schloß die Tür und trat an den Sarg und vertiefte sich in das Gesicht seines toten Vaters. Es wurde ihm wohl nicht bewußt, aber er wollte sich an diesen Anblick gewöhnen, ihn fest ins Auge fassen, ihn sich so zu eigen machen, daß ihm nicht mehr graute vor dem einsamen Zusammensein die ganze Nacht hindurch.
Sonderbar: wenn man es von der einen Seite ansah, war dies Gesicht grämlich und sorgenvoll wie früher im Leben. Auf der andern Seite hatte die Leiche ein fremdes Gesicht. Der Mundwinkel hatte sich abwärts verzerrt, am Auge klaffte ein schmaler Spalt, aus dem der Augapfel beinah hämisch hervorblinzelte. Etwas wie befriedigter Hohn sah Thomasen daraus an.
Vielleicht kann einem ein toter Vater mehr sagen als ein lebendiger, dachte Thomas. Und er stand regungslos und starrte. Leise klirrten die offenen Fenster an ihren Haken. Die Lichter flackerten und ließen die Schatten auf dem kalten Gesichte tiefer werden und wechseln, so daß es manchmal einen beinah diabolischen Ausdruck annahm. Ein stärkerer Luftzug faßte die weißen Haare, daß sie sich über der Stirne sträubten. Thomas hörte sein Herz hoch oben in der Brust klopfen. Auf dem Korridor draußen knarrten die Dielenbretter. Er fuhr zusammen. – Unsinn! Das war ja nichts Ungewöhnliches. – Aber dann kamen Schritte den Gang herauf, tastende, schlurfende Schritte.
Er drehte sich um und heftete seine aufgerissenen Augen auf die Tür. Und plötzlich drehte sich die Klinke, wie unter einer unsichtbaren Hand.
Thomas stieß einen Schrei aus.
»Hab' ich Ihnen erschrocken, Jungherr?« fragte der alte Diener, der eintrat, in der Hand eine Küchenlampe, auf deren Messingreflektor das Licht in gelben Kreisabschnitten schwamm.
»Ach, Sie sind's, Janne!« sagte Thomas, noch immer atemlos, unwillkürlich mit einem heisern Lachversuch. »Was wollen Sie denn?«
»Ich, Jungherr? – Nichts nich. – Ob Jungherr nichts nötig hat?«
»Nein, Janne, dank schön.«
Der Alte kam zögernd herein und drückte die Tür hinter sich zu. Dann stand er und sah zweifelnd zu Thomasen hinüber. Dem war die Anwesenheit eines lebenden Menschen wie eine Befreiung, aber er fragte:
»Wollen Sie sonst noch was, Janne?«
»Nein, Jungherr, nichts. – Bloß so selbstig! – – Und denn, Jungherr, wollt ich fragen: darf ich nich mit Jungherr wachen?«
»Nein, Janne, gehn Sie schlafen!«
»Ach, Jungherr, altes Mensch brauch nich so viel zu schlafen. Is besser, wenn Jungherr nich so alleinig is bei die Leiche.«
Thomas hätte den Alten gern da behalten, wollte aber nicht zeigen, daß er Angst hatte.
»Lassen Sie mir, Jungherr,« bat Janne, »ich werd ganz still in ein Eckchen sitzen und kein Wort nich sagen!«
»Nu, meinetwegen,« sagte Thomas, »setzen Sie sich also dahin!« Er wies in die fernste, dunkelste Ecke des Zimmers.
Dann trat er ans Fenster und atmete erleichtert und tief. Schwermütig hell lag draußen die nordische Juninacht. Thomas beugte sich hinaus und sah nach dem Hause seines Onkels hinüber, das einen rechten Winkel mit seines Vaters Haus bildete. In Annemariens Schlafzimmer brannte Licht. Er schaute angespannt auf die helle Fläche des Rouleaus, über der tiefblau das Fensterkreuz lag. Jetzt erschien, kommend und gehend, sich bückend und wieder aufstehend, ein unförmiger Schatten, der bald das ganze Fenster erfüllte, bald wieder, dunkler und kleiner, die unklaren Umrisse einer menschlichen Gestalt auf den weißen Stoff zeichnete.
Das mußte Annemarie sein. So sah er sie zum erstenmal wieder, als schwimmenden Schatten, – heute, wo alles, was mit ihr zusammenhing, feste Umrisse für ihn gewonnen hatte, wo seine Träume Gestalt und Rundung bekamen ... Sein Herz jubelte auf.
Thomas trank den Rhythmus ihrer nackten Arme mit Augen, in denen er das Blut klopfen fühlte; aber dann stach ihn auf einmal die Scham vor seinem toten Vater. Er warf noch einen langen, zärtlichen Blick hinüber und trat vom Fenster zurück. Janne, der sich's bequemer gemacht hatte, fuhr wieder in die steife Haltung.
»Ach, lassen Sie nur!« stammelte Thomas und fragte nach einem Schweigen: »Sie, Janne, nicht wahr ...? Sagen Sie mal, Sie waren ganz allein dabei, als mein Vater starb?«
»Ja, ja, Jungherr, ganz alleinig. Herr Hofrat war grade zu Mittag jegangen. Und die Rote-Kreuz-Schwester hat der gnädje Herr ja nich hereinjelassen. Herr Hofrat hat nichts nich machen können. Keine Frauenzimmer kann er nich brauchen, hat er jesagt. Nu, Jungherr weiß ja ... Und so bis zuletzt auch.«
»Und wie war es denn? Was hat er denn zuletzt gesagt?«
»Seine Füße frieren, hat er jesagt, und ich soll die Laden aufmachen, hat er jesagt, weil so dunkel is. Aber war ganz schön hell in Schlafzimmer, und Sonnchen hat auf Fußende vons Bett jescheint. Und denn hat nichts mehr jesagt, und denn hör ich, er knirscht so. Nu, denk ich, will ich mal Herr Hofrat rufen, und jeh raus und schick die Rote-Kreuz-Schwester, sie soll Herr Hofrat holen. Und wie ich wieder hereinkomme, liegt er ganz still. Und ich denk, er is vielleicht einjeschlafen, und ich jeh wieder raus und bleib bei die Türe stehn. Und wie der Herr Hofrat gekommen is und ihm besehn hat, sagt er, – er is schon tot. – Ja, ja, ja,« fuhr Janne fort und schnäuzte sich gerührt, – »achzehn Jahr bin ich bei ihm jewesen, und jetzt mit einmal is tot.«
Der Alte schluchzte in zitternden Stößen, und Thomas hatte noch keine Träne um seinen Vater geweint; das kam ihm jetzt zum erstenmal zum Bewußtsein, und er fühlte ein dumpfes Staunen, denn er hatte die Empfindung, als säßen ihm Tränen in Mengen angesammelt in der Kehle, und nur irgendeine Hemmung, die er sich nicht zu erklären vermochte, ließe sie nicht herauf.
»Ja, und hat Ihnen mein Vater nichts für mich gesagt, bevor er ...?« fragte Thomas.
»Nein, Jungherr, vielleicht hat jeglaubt, Sie kommen noch. Er hat Ihnen jewartet und jewartet.«
»Und gar nichts hat er mir sagen lassen?« fragte Thomas noch einmal.
»Ach, Jungherr, bin ich dumm!« fuhr der Alte plötzlich auf, »vorjestern hab ich ihm was jeben müssen aus Schreibtisch, und denn hat er noch was jeschrieben für Ihnen, und ich hab zusiegeln müssen ...«
»Und was ...? Wo ist es?«
»In Schreibtisch ...«
»In die mittelste Schublade is,« sagte Janne.
Thomas schloß auf. Da lag ein versiegelter Brief. Er griff hastig darnach. In fahrigen, zitternden Bleistiftzügen trug er die Aufschrift: »An meinen Sohn Thomas.« Das also war zuletzt aus der schönen, deutlichen Kaufmannschrift seines Vaters geworden!
Thomas holte sich Jannes Küchenlampe und setzte sich an den Sofatisch. Noch lange aber lag der Brief unerbrochen auf der geblümten Ripsdecke. Was mochte darin stehen? Was würde er erfahren? – Endlich riß er das Kuvert auf und entfaltete die Bogen. Nach dem Datum war der Brief nahezu vier Monate alt. Er las:
Riga, den 6. Februar 1887.
Mein lieber Sohn!
Da gerade freie Zeit habe und nicht weiß, ob später nach Eröffnung der Navigation in der heißesten Geschäftssaison so gut dazu kommen werde, benutze ich die Gelegenheit, Dir schon heute zu schreiben, was ich mir vorgenommen, Dir zum 14. Juni, wo Du mündig wirst, mitzuteilen.
Es liegt mir am Herzen, Dir das Untenstehende zu sagen und hoffe ich, es wird seinen Eindruck auf Dich nicht verfehlen. Es dürfte Dir ja bekannt sein, daß Dich am liebsten als Kaufmann gesehen hätte; das Geschäft ist von Deinem Urgroßvater Theodor Amadeus Kerkhoven an immer auf den ältesten Sohn übergegangen, und wäre es schön gewesen, wenn Du es auch so gemacht hättest, wie ich und Dein seliger Großvater. Aber was nicht ist, das ist nun leider einmal nicht, und wirst Du mir zugeben müssen, daß ich Dir entgegengekommen bin, indem ich meine Zustimmung dazu gab, daß Du Jura studieren darfst. Nun hast Du immer zu mir gesagt, daß Du Maler werden willst und hast Dir große Versprechungen von einem Berufe als Künstler gemacht. Wie Du weißt, habe ich mich dem bisher energisch entgegengesetzt, weil meine Ansicht eine andere ist und ich solche zu vertreten nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet war.
Wenn Du diesen Brief erhältst, bist Du aber mündig, und verschließe ich mich durchaus nicht der Ansicht, daß man einen erwachsenen Menschen nicht zu etwas zwingen kann, das er nicht will.
Möchte Dir heute nur einiges sagen, was sich auf einen Punkt bezieht, von welchem zwischen uns noch niemals die Rede gewesen. Lies es aufmerksam durch, und überlege es Dir reiflich. Wenn Du nachher zu mir kommst und mir sagst, daß Du trotz alledem noch Künstler werden willst, dann will ich mit schwerem Herzen zustimmen und Dir weiter ein Hindernis nicht in den Weg legen.
Der Punkt, von welchem ich gesprochen habe, bezieht sich nämlich auf Deine Mutter, und fällt es mir durchaus nicht leicht, Dir darüber zu schreiben. Als Beweis dafür möge Dir dienen, daß ich mit meinem eigenen Bruder, Deinem Onkel Albert, auseinander gekommen bin, weil seine Frau, Deine Tante Karoline, immer von diesen Angelegenheiten schwatzen mußte. Sie ist ja nicht sehr begabt und taktvoll.
Doch um endlich zur Sache zu kommen, will Dir kurz und einfach sagen, daß Deine Mutter Künstlerin gewesen ist, und ich durch dieselbe sehr viel durchzumachen gehabt habe, während ich nicht glaube, daß mich ihr gegenüber ein Vorwurf treffen kann. Habe im Gegenteil ihren kostspieligen Gewohnheiten mehr geopfert, als mein Geschäft eigentlich vertragen konnte und nachher noch lange daran laborieren müssen. Deine Mutter war Schauspielerin am hiesigen Stadttheater, und kann ich wohl sagen, daß ich sie zuerst in geordnete und gehörige Verhältnisse eingeführt habe. Aber sie hat mir schlecht dafür gedankt, bevor ich etwas davon ahnte. Und was sie sich in Riga die Mäuler über mich zerrissen haben, kannst Du Dir am Ende denken. Das hab' ich aber alles erst später erfahren, als sie mit einem Barytonisten, einem ganz ungebildeten Menschen, auf und davongegangen war, ohne an Mann und Kind zu denken. Wenn es Dir wehe tut, daß ich Dir obiges von Deiner Mutter zu sagen genötigt bin, so kannst Du davon überzeugt sein, daß es mir noch weher getan hat, und wird es mir noch heute nicht so leicht, Dir darüber zu schreiben, als Du vielleicht glauben könntest. Will Dir auch gleich sagen, daß Du nach Deiner Mutter Nachforschungen nicht anzustellen brauchst. Sie hat noch vielerlei Abenteuer durchgemacht, von welchen ich Dir weiter nichts sagen will, und schließlich ist sie mit einem Manne zusammen, welcher auch keinen guten Ruf hatte, nach Amerika gegangen, woselbst sie lange verschollen war, und dann in einem Hospital in New Orleans am Typhus gestorben ist, vor jetzt sieben Jahren.
Wenn Du auf Deinen alten Vater hören willst, so meine ich, daß Du Dir das Schicksal Deiner Mutter, welche Künstlerin war, zum warnenden Beispiel dienen lassen sollst.
Dies ist der Grund, weswegen ich verlangt habe, daß Du studieren sollst, wenn Du keine Lust und vielleicht auch wirklich keine Anlagen zum Kaufmann hast. Aber wie bereits oben erwähnt, zwingen will ich Dich zu nichts, weil dieses keinen Zweck hat. Du bist jetzt erwachsen und mußt selbst wissen, was Du tust. Ich kann Dir nur raten, und bitte ich Dich dringend, meine Ratschläge reiflich zu überlegen und nicht in den Wind zu schlagen.
Den 10. Februar 1887.
Möchte Dir noch einiges sagen, wozu neulich nicht mehr gekommen.
1. Gehört es sich wohl, daß Dir einen Einblick in meine und Deine künftigen Vermögensverhältnisse gebe. Dieselben sind nicht so glänzend, wie Du nach einigen Bemerkungen, welche Du ein paarmal gemacht hast, zu glauben scheinst. Jedenfalls werde Dir nie einen höheren Wechsel geben, als wie bisher SR. 200.–. per Monat, was mir mehr als genug erscheint, und warne ich Dich dringend, daß Du Schulden machst, oder später, wenn mir was Menschliches passiert sein sollte, Dein Kapital angreifst. Geld ist leichter ausgegeben, wie verdient. Für alle Fälle sage ich Dir heute schon, was Du nach meinem Tode wahrscheinlich zu erwarten hast. Mein Barvermögen, das auf der Stadtdiskontobank in Staatspapieren deponiert ist, beläuft sich heute auf ungefähr SR. 100 000.–. Alles andere steckt im Geschäft; der Wert desselben dürfte sich alles in allem auf das Doppelte der obigen Summe beziffern. Da Du das Geschäft doch nie übernehmen wirst, habe ich für den Fall meines Todes einen Vertrag mit Deinem Vetter Harry Kerkhoven abgeschlossen, nach welchem derselbe dieses dann zu genau stipulierten Bedingungen übernimmt, welche letzteren Dich zurzeit noch nichts angehen. Nur das eine kann ich Dir schon heute sagen: Du wirst nicht in der Lage sein, gleich Dein ganzes Kapital aus dem Geschäfte zu ziehen. Harry ist nur zu einer Anzahlung von SR. 30 000 verpflichtet, während derselbe den Rest Dir zu verzinsen und in 10 gleichen Jahresraten an Dich auszukehren hat. Desgleichen ist der Prozentsatz vom Reingewinn des Geschäftes, welchen Du nach Maßgabe des jeweils noch in demselben steckenden Dir gehörigen Kapitals zu beanspruchen haben wirst, genau festgelegt. Habe dies für die beste Lösung obenstehender Frage gehalten, da zwar Dir das gute Geschäft lieber gegönnt hätte, als Harry, welch letzteren ich nicht als ein großes Licht ansehen kann, welcher aber durchaus zuverlässig und solid ist, wie ich aus seiner langjährigen Tätigkeit in meinem Geschäft, die letzten drei Jahre als Prokurist, zu ersehen in der Lage bin, und mir somit die nötigen Garantien für die Sicherheit Deines künftigen Vermögens zu geben scheint. Aus dem Vorstehenden wirst Du ersehen, daß Du jedenfalls nicht viel mehr als SR. 300 000 einst zu erwarten hast, und kannst Du Dich nicht einmal darauf fest verlassen, weil bei der Art meines Geschäftes große plötzliche Verluste durch starke Kursstürze usw. usw. leicht eintreten können. Also sei vernünftig, mein lieber Sohn und lerne was, so daß Du im Notfall Dich auch ohne meine Hilfe, resp. ohne ererbtes Kapital durchzubringen in der Lage bist.
2. Das Wichtigste im Leben ist: verplempere Dich nicht mit Frauenzimmern, und vor allen Dingen verheirate Dich nicht zu früh. Davon kommt das meiste Unglück in der Welt.
Also um zum Schluß noch einmal alles kurz zu rekapitulieren: Werde lieber nicht Künstler und sei vernünftig in bezug auf das Geld und die Frauen.
Dies rät Dir
Dein alter Vater
Ernst Amadeus Kerkhoven.
Thomas ließ den Brief mit einem Seufzer auf den Tisch fallen und blickte ernst vor sich hin. Janne war in seinem Stuhl zurückgesunken und schnarchte mit offnem Munde.
Eine große Enttäuschung war der Eindruck dieses Briefes. Seine Mutter! Was hatte er sich über sie alles zusammenphantasiert! Eine Verbrecherin aus Leidenschaft müßte sie gewesen sein, hatte er gedacht, eine finstre Tragödienfigur! Und nun war sie nichts als eine kleine Schauspielerin, die ihrem Mann Hörner aufgesetzt hatte.
Wie er so saß und seiner Illusion nachsah, kamen ihm die Tränen, über deren Ausbleiben er sich gewundert hatte. Er däuchte sich unendlich arm und bedauernswürdig: betrogen und beraubt. Er weinte. – Aus Mitleid mit sich selbst? – Und um seines Vaters Tod zu weinen hatte er nicht zustande gebracht? War das nicht häßlich?
Thomas straffte seine Gestalt und nahm sich zusammen. Und das wurde ihm eigentlich nicht schwer, denn nun machte sich mit aller Kraft etwas andres geltend: er war ja reich! Reicher, als er sich je hatte träumen lassen. – Weit über eine halbe Million Mark besaß er.
Jetzt lag sein Weg offen vor ihm: Annemarien heiraten und Maler werden!
Für die Ermahnungen seines Vaters hatte er nur ein Lächeln; was hatte dieser alte Mann davon gewußt, wie es in ihm aussah, wie er sich sein Leben bauen wollte, klar und sicher!
Thomas faltete die Bogen, die auf seinem Schoße lagen, zusammen. Da sah er, daß auf der letzten Seite, die er für leer gehalten hatte, noch etwas stand, – – in denselben zitternden Bleistiftzügen, die auch das Kuvert getragen hatte.
Thomas las:
Lieber Sohn
Weiß nicht, ob ich Dich noch sehe. Will nur noch sagen, daß ich weiß, meine Ratschläge helfen doch nichts. Kenne es von mir. Menschen sind ja alle gleich. Bist so jung. Möchte es Dir gut gehen. Ich kann nichts machen.
Vater.
Thomas steckte den Brief in seine Hülle; langsam begannen seine Tränen wieder zu fließen. In diesem Schlußwort lag für ihn mehr als in dem ganzen, großen Briefe. Es weckte lange Gedankenreihen. Er malte sich das Bild seines Vaters, wie auch er jung gewesen wäre und nach der Schönheit des Lebens verlangt hätte. Auch seine Mutter wollte er sehen ... Aber hier blieb es dunkel. Und dann trat wieder Annemarie vor ihn hin ... Langsam floß alles ineinander, und endlich schlief er ein ...
*
»Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du werden, Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub,« sagte Pastor Bienenstamm salbungsvoll und warf drei Handvoll Erde ins Grab. Die erste prasselte wie ein Hagelwetter, die zweite hörte man kaum – sie hatte wohl einen Kranz getroffen –, die dritte ließ den Sargdeckel dumpf erdröhnen.
Dieser Laut schreckte Thomasen aus seinen Gedanken. Er hatte die ganze Zeit nur Annemarien gesehen, heute eigentlich zum erstenmal wieder. Die flüchtige Begegnung gestern in Gegenwart aller der andern zählte nicht. Jetzt hatte er ein Gefühl, als ob sie in dieser schwarz gekleideten Menge allein wären, wie sie einander so gegenüberstanden, getrennt durch das offne Grab, getrennt und – vereint: es verschlang ja den, der nie seine Einwilligung zu ihrer Verbindung gegeben hätte. Seltsam fremd däuchte Thomasen das Mädchen, dessen goldblondes Haar unter dem Krepphut in der Sonne leuchtete. Etwas Neues war in ihrem Gesicht: er fand es schöner; auch ihre Gestalt erschien ihm höher und üppiger als vor einem halben Jahre. Die Wangen hatten ein bißchen von ihrer Rundung verloren und sahen blasser als früher aus. Ihre breiten Lippen hingegen brannten in einem satten Rot. Die gelblichen Schatten unter den Augen hatten sich vertieft und machten das Blau der Iris noch lichter. In dem allen aber lag das Fremde eigentlich nicht; das war in dem Ausdruck der Augen selbst, die schlafmüde unter den schweren Lidern standen, auf den Erwecker wartend und ein sprühendes Erwachen verheißend. Thomasens Freund und Vetter August Appeltoft hatte einmal von ihr gesagt: »Schön ist sie nicht, aber vielversprechend sieht sie aus. Das Weib hat Rasse; weiß der Kuckuck, wie sie in die Familie kommt!« – Daran mußte Thomas jetzt denken. Er war kein Frauenkenner von Augusts Schlage, aber er empfand es, wie verheißend Annemarie aussah. Und das alles war ihm verheißen. Ihm wurde schwindlig zumute.
Da weckte ihn das Dröhnen des Erdklumpens. Er fuhr auf und schaute fragend nach dem Onkel Hofrat. Der zischelte ärgerlich: »Ja, natürlich, jetzt mußt du ...«
Thomas warf seine drei Handvoll Erde hinunter. Dann kam der Hofrat an die Reihe. Er machte seine Sache sehr korrekt und zeigte schon wieder ganz die vorschriftsmäßige Trauermiene, trotzdem er sich gerade über Thomasens Ungewandtheit geärgert hatte.
Die Trauerzeremonie ging weiter, der Theaterchor sang: »Selig sind die Toten ...«, und dann mußte Thomas die Kondolationen entgegennehmen.
Als zuletzt der jüngste Lehrling aus dem Kontor sein Beileid angebracht und sich entfernt hatte, waren die Totengräber mit ihrer Arbeit fertig. Der Hofrat mit seinen Söhnen schichtete die Kränze über den gelben Lehmhügel, trat ein paarmal zurück, um sein Werk mit der Miene eines Künstlers zu mustern, änderte dann noch einiges und stieß endlich einen befriedigten Seufzer aus.
»Und nun«, sagte er, »kommt ihr alle zum Essen zu mir!«
»Nein, danke sehr, Onkel Albert,« wehrte sich Thomas, »ich kann wirklich nicht, ich möchte lieber ...«
»Ach was, Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen.« Der Hofrat lachte sein kurzes, dröhnendes Lachen auf dem Vokal o, – was er sich jetzt erlauben konnte, da die Familie unter sich war. »Vielleicht kommst du auch mit, Leocadie?« wendete er sich dann an seine Schwester, eine kleine Dame mit schneeweißen Querlocken über den Ohren.
»Tante« Leocadie, wie sie in der ganzen Familie genannt wurde, sah auf ihre Uhr und sagte:
»Dank dir sehr, lieber Albert; wenn ich gleich fahre, bekomm ich noch den Dreiuhrzug an den Strand. Ich hab mir zu Hause Mittag bestellt. – Adieu, Thomas, ich kann nicht viele Worte machen. Besuch mich doch einmal draußen. Adieu allerseits.« Damit trippelte sie eilig davon.
»Du mußt aber einfach mit,« sagte der Hofrat zu Thomasen, der schon wieder zu Annemarien hinübersah, die etwas abseits stand – den Kopf gesenkt, die Lippen nachdenklich aufgeworfen – und mit dem Sonnenschirm Figuren in den Sand zeichnete. Er würde mit ihr zusammensein, er könnte es ihr dann vielleicht gleich sagen ...
So entschloß er sich, die Einladung anzunehmen.
Vor dem Essen hatte sich ein Augenblick gefunden, wo Thomas ein paar flüchtige Worte mit Annemarien sprechen konnte. Sie waren im Wohnzimmer allein geblieben. Annemarie stand in der einen Fensternische und sah auf die graue Altstadtgasse hinaus; ihre Finger spielten unruhig am Fensterriegel. Thomas trat hastig hinter sie.
»Annemarie!«
»Ach –!« sagte sie und machte eine ungeduldige Schulterbewegung.
»Annemarie!« sagte er noch einmal und legte seinen Arm um ihre Taille.
Sie stieß ihn fort.
»Drüben bei Lönholdts können sie alles sehen. Die ekligen Jungens sitzen sowieso vom Morgen bis zum Abend mit den Operngläsern hinter den Gardinen.«
»Sie sollen's doch sehen!« sagte Thomas trotzig.
Annemarie zeigte ihm jetzt ihr Profil. Sie sann einen Augenblick; dann warf sie ihr Kinn mit einem Ruck empor.
»Komm morgen um vier auf das flache Dach,« sagte sie schnell und sonderbar energisch.
»Danke, Annemarie; ach, du weißt nicht ...!«
Die Hofrätin trat auffallend plötzlich ein und warf einen scharfen Blick zu dem Fenster hinüber, wo die zwei standen.
»Bitte zu Tisch!« –
Das Mittagessen verlief frostig und unbehaglich. Das traurige Ereignis war noch so nah ... Aber es war trostlos, immer davon zu sprechen; und auf andere Dinge zu kommen, genierte man sich. –
Nach Tische saßen sie beim Kaffee in dem langen Wohnzimmer zusammen, das erst recht ungemütlich war.
Das Gespräch tröpfelte eintönig, fast nur von der Hofrätin im Gange gehalten, deren Unbegabtheit es für nötig hielt, auch in solchen Augenblicken Konversation zu machen. Als passendes Thema für die heutige Gelegenheit hatte sie sich die Unsterblichkeit der menschlichen Seele erwählt; und eben verstieg sie sich zu dem Satze: »Nein, ich verstehe es nicht, wie sich eine Witwe noch einmal verheiraten kann. Welch ein Gedanke, bei der Auferstehung auf einmal zwei Männer zu haben!«, als der Hofrat die Erörterungen seiner Frau mit diesen Worten energisch abschnitt:
»Lieber Thomas, und was hast du dir eigentlich für Gedanken über deine Zukunft gemacht?«
»Gedanken ...? Ich ...« stotterte Thomas.
»Ja, ich meine, was deine Pläne sind?«
»Pläne ...? Ich hab' noch gar nicht darüber nachgedacht. Ich bin noch gar nicht dazu gekommen,« log Thomas; und dabei ärgerte er sich, daß er so feig war,
»Jawohl, ich meine ...« erwiderte der Hofrat und ließ seine Koteletten durch die Hände laufen, »die formelle Einsetzung einer Vormundschaft ...«
»Vormundschaft?« fuhr Thomas auf.
»Ja, ich meine, formell erübrigt sich das wohl, da du ja schon in drei Wochen mündig wirst. Aber de facto bin ich, als der Älteste in der Familie und als nächster Verwandter deines Vaters ... de facto ist meine Stellung zu dir die eines Vormundes, und späterhin die eines Ratsfreundes.«
»Ich weiß nicht, wozu ein erwachsener Mensch so etwas braucht,« sagte Thomas kratzbürstig.
»Na, lieber Thomas,« so mischte sich sein älterer Vetter Harry herein, »du kannst einen Ratsfreund wahrhaftig gut genug brauchen. Bei deiner geschäftlichen Naivität ... Sei froh, daß dein Vater den Kontrakt mit mir gemacht hat ... Wenn einer ein Spitzbube wäre, – dich könnte er leicht übers Ohr hauen.«
»Ich glaube, daß die Vorteile dieses Kontraktes nicht nur auf meiner Seite sind,« sagte Thomas ziemlich scharf.
Der Hofrat winkte Harry, der eine hitzige Antwort geben wollte, mit einem dünnen Lächeln ab.
»Lieber Thomas, du mußt nicht glauben, daß dein Vater Harry – und damit indirekt mir – irgend etwas geschenkt hätte. Dafür, daß wir Brüder sind, sind die Bedingungen sogar ...«
»Ich möchte gar keinen Preis unter Brüdern,« fiel Harry ein, »ich laß mir von niemand was schenken, von dir am wenigsten, mein lieber Thomas; das hab' ich gar nicht nötig.«
»Mach dich doch nicht so wichtig, Harry,« erklang jetzt die tiefe Baßstimme Burchard Kerkhovens, des zweiten Sohnes der Familie, der schon Kandidat der Theologie und mit einer adligen Gutsbesitzerstochter verlobt war, »du bekommst das Geld doch von Papa; es gehört ja nicht dir, denk' ich.«
»Also, als dein natürlicher Vormund und Ratsfreund wollte ich mit dir ein paar Worte über deine Zukunftspläne sprechen,« wendete sich der Hofrat wieder an Thomas, »du sagst, du hättest in diesen Tagen noch nicht weiter darüber nachgedacht. Und das scheint mir, möchte ich sagen, ein gutes Zeichen zu sein. Denn es ist wohl sicher das beste, wenn alles beim alten bleibt.«
»Wieso?« fragte Thomas.
»Denn deine früheren Künstlerpläne hast du wohl selber aufgegeben?«
»Warum?«
»Lieber Thomas, ich stehe hier doch gewissermaßen auch als Vertreter deines Vaters ...«
»Leb' ich für meinen Vater, oder leb' ich für mich?« fragte Thomas heftig.
»Sehr richtig!« schrie der Untersekundaner Joachim auf einmal.
»Halt den Mund!« donnerte ihn der Hofrat an, »du hast gar nicht mitzureden.«
»Und außerdem hat mir mein Vater einen Brief hinterlassen, in dem er mir volle Freiheit gibt. Ich kann werden, was ich will,« sagte Thomas.
Der Hofrat sah ihn mit hochgezogenen Brauen an und lächelte mild belustigt und zweifelnd. Das erboste Thomasen.
»Und ich werde doch Maler,« rief er.
»Das wirst du dir noch sehr überlegen. Das sind so jugendliche Träume ... Es wird nicht jeder Maler ein Thumann ...«
»Gott sei Dank!« warf Thomas grob dazwischen.
»Jawohl,« höhnte der Kandidat, »der ist dir schon wieder zu altmodisch. Die moderne Kunst kommt ja ohne Schweinereien nicht aus.«
»Ja, es weht eine böse Luft draußen im neuen Deutschen Reich,« bestätigte der Hofrat mit einem traurigen Kopfnicken, »Religion und Autorität ...«
»Bist du auch so fromm? Als Mediziner?« fragte Thomas.
»Mein lieber Thomas, es gibt auch unter uns Naturwissenschaftlern noch Leute, die es verstanden haben, sich ihren Glauben zu bewahren. Und dann ... Gott sei Dank! Bei uns haben die besseren Kreise doch noch Gesinnungen, daß sie sich schön dafür bedanken würden, vielleicht in ihrer letzten Stunde einen Atheisten an ihrem Krankenbett zu sehen.«
»Vom Glauben ganz abgesehen ...,« begann Harry wieder.
»Ach so,« fiel Thomas ihm ins Wort, »für dein Geschäft hast du den Glauben weniger nötig?«
Der Untersekundaner brach in ein beifälliges Lachen aus.
»Joachim, geh hinaus,« sagte seine Mutter, »das sind Gespräche, die sich für Kinder nicht passen.«
»Kinder ...!« rief der Gymnasiast und murmelte ein paar trotzige Worte, war aber vorsichtig genug, so undeutlich zu sprechen, daß man sie nicht verstand.
»Joachim,« sagte nun auch der Hofrat streng und winkte ihm mit den Augen nach der Tür. »Mach deine Schularbeiten und misch dich nicht herein, wenn Erwachsene reden!«
Joachim schnitt ein Gesicht und entfernte sich achselzuckend, aber gehorsam.
»Also, wie gesagt, Thomas,« so nahm der Hofrat das unterbrochene Gespräch wieder auf, »ich rate dir dringend, unter allen Umständen zuerst dein Studium zum Abschluß zu bringen. Dann bist du etwas und kannst ...«
»Was bin ich denn dann?«
»Siehst du, Künstler ...! Woher weißt du denn ...? Wie viele Künstler bringen es denn zu etwas? Kaum einer unter hundert. Die andern sind nichts als Proletariat. Die Genies sind selten.«
»Auch in anderen Berufen.«
»Wieso?«
»Ja, glaubst du denn, daß unter tausend Kaufleuten mehr als ein genialer ist?«
»Kaufmann und genial!« himmelte Tante Karoline belustigt und erstaunt.
»Ich bin froh, wenn ich ein tüchtiger Kaufmann bin,« sagte Harry mit überlegenem Lächeln, »geniale Kaufleute, – so nennt man die unreellen Spekulanten und Schwindler.«
»Nein, ich begreif' es nicht,« sagte Tante Karoline melancholisch kopfschüttelnd, »daß einer von meinen Söhnen Kaufmann werden konnte ...!«
»Ich dächte, die Kerkhovens wären eine Kaufmannsfamilie?« sagte Thomas gereizt.
»Wir stammen wohl von Kaufleuten,« mischte sich der Hofrat vermittelnd ein und fuhr dann selbstbewußt fort: »aber ich zum Beispiel ...«
»Nein!« sagte die Hofrätin mit einem dümmlichen Lächeln, »ich hätte auch nie einen Kaufmann geheiratet.«
»Lieber einen Maurermeister?« fuhr es Thomas heraus.
Er ärgerte sich über den Ton seiner Tante, und so entfesselte er unbedacht einen Sturm.
»So eine Taktlosigkeit!« schrie die Hofrätin.
»Thomas, was fällt dir ein!« zischte der Hofrat.
»Du bist noch etwas grün,« sagte der Kandidat voller Verachtung.
»Mein Vater war überhaupt Gutsbesitzer,« schluchzte die Hofrätin.
»Ja; als er genug hatte!« Thomas konnte nicht schweigen.
Die Hofrätin hob ihr tränenfeuchtes Gesicht und sagte giftig zu Thomasen:
»Was wohl der Vater deiner Mutter gewesen ist?«
»Tante Karoline!«
»Jawohl, du hast gerade einen Grund ...!«
Thomas warf einen flüchtigen Blick zu Annemarien hinüber, die die ganze Zeit über ihrer Stickerei gesessen hatte, ohne sich in das Gespräch zu mischen, und ohne ihn nur einmal anzusehen. Der Zorn kochte in ihm, aber um ihretwillen wollte er ihn zurückhalten. – Die Hofrätin war jetzt aber im Zuge:
»Jawohl, meine Kinder brauchen sich ihres Großvaters nicht zu schämen.«
Thomas stampfte heftig mit dem Fuße auf.
»Das verbitte ich mir!« rief der Hofrat, »benimm dich anständig!«
»Bleibt mir gewogen!« Damit ging Thomas zur Tür hinaus und warf sie hinter sich zu.
*
Thomas trat in dem Augenblick aus das flache Dach, als die Uhr der Petrikirche zu zwei tiefen Schlägen aushob, die brummend nachhallten, bis der Schlag der Domuhr einfiel, der sich schon mit dem der Jakobikirche mischte; von allen Seiten antworteten andere Glocken mit hellen und tiefen Stimmen.
Thomas schaute sich auf dem Dache um, das ihm ein Zeuge so vieler glücklicher Stunden gewesen war. Wie weit lagen sie zurück! Ihm war, als hätte er diesen Ort seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.
Er starrte auf die eisenbeschlagene Tür, die der gegenüber lag, durch die er gekommen war. Dort ging es auf den Boden des Hofrats, von dort erwartete er Annemarien.
Rechterhand begrenzte das Dach zur Hälfte eine Brandmauer, die einen vor neugierigen Blicken aus den Fenstern der benachbarten Höfe schützte. Die andere Hälfte dieser Seite war aus Vorsicht durch einen blechbeschlagenen Balken abgeschlossen, und hier strömte der Sonnenschein herein und zeichnete ein schwarzes Bild der Mauer und des Geländerbalkens auf die ein wenig geneigte Fläche des Blechdaches, dessen Hitze Thomas durch die Stiefelsohlen spürte, als er jetzt in die Sonne trat, um Ausschau zu halten: schmucklose Hofmauern mit Küchen- und Mansardenfenstern, weiterhin eine buntscheckige Herde von Dächern, mit Schornsteinen, aus denen Rauch wehte, mit Schornsteinen, über denen nur ein Flimmern der sonnigen Luft von der Glut zeugte, der sie Abzug gewährten. Ein einziger greller Punkt brannte in allen den verräucherten Farben, die selbst die Sonne nicht zum Leuchten bringen konnte: ein Blumenbrett vor einem Dachfenster, dicht über der Regenrinne. Rote Geranien und Verbenen und hartrosa Phlox blühten da. Ob in jener Kammer wohl noch immer die hübsche Zofe hauste, die bei ihrer Toilette so unvorsichtig war und nie das Rouleau herunterließ? August und er hatten sie oft im Dunkeln beobachtet, durchs Opernglas, schweigend, höchstens hie und da ein trotz aller Bemühung heiseres Wort tauschend. –
Thomas seufzte, als er daran dachte, und es schwindelte ihn ein wenig. Ihm war die Frau ein schwüles Wunder geblieben; die Liebe zu Annemarien hatte ihn davor bewahrt, zu früh eine Art Lebemann zu werden, wie August. Für sie hatte er sich aufgespart, und alle Versuchungen, früher schon und jetzt während dieses halben Jahres in Berlin, waren für ihn kaum Versuchungen gewesen. Nur an Annemarien hatte er Abend für Abend mit Gedanken gedacht, deren er sich am nächsten Morgen oft schämte.
Und wie er jetzt so stand und in den blendenden Tag hinausstarrte, stellte er sie sich wieder vor, wie er sie in seinen Träumen gesehen hatte ... Rote Ringe tanzten brodelnd vor seinen Augen und wuchsen und wurden mehr. In seinem Kopfe klopfte das Blut, aus schwarzem Grunde quollen die Ringe jetzt in einem stechenden Grün.
Thomas taumelte, tastend griff er vor sich hin, um nicht zu fallen, und verbrannte sich an dem heißen Blechbeschlage des Balkens die Hände; das brachte ihn wieder zur Besinnung. Mit ein paar Sätzen sprang er über das dröhnende Dach in den Schatten der Mauer. Keuchend lehnte er da und staunte in die Helligkeit. – Wenn er jetzt hinuntergestürzt wäre, drei Stockwerke tief?! Sterben, wo das Leben erst anfing?!
Wieder schlugen die Uhren. Noch eine Viertelstunde!
Thomas stellte sich vor, wie er Annemarien entführen würde, er sah die heimliche Trauung ... Vielleicht müßten sie nach Helgoland gehen ... Er phantasierte sich die unwahrscheinlichsten Schwierigkeiten zusammen und erfand schlaue Winkelzüge, um ihnen zu entrinnen. Aber dann sagte er sich, daß wahrscheinlich alles viel einfacher sein würde, als er sich's jetzt dachte. – Auf einmal tastete ein Schlüssel klopfend an die Innenseite der Eisentür drüben und glitt mit einem schnappenden Geräusch ins Schloß! –
Thomas wollte auf Annemarien zu, aber sie winkte ihm hastig und befehlend, er solle in seiner gedeckten Stellung bleiben: »Gleich! Warte!«
Sie verschloß die Tür von außen leise und vorsichtig und wies hinüber auf die andere Seite:
»Abgeschlossen?«
»Ja,« nickte Thomas, und dann riß es sich aus ihm los: »Ach, Annemarie ...!«
Sie kam langsam heran, blaß, mit baumelnden Armen, in den Augen das erstarrte Feuer eines Entschlusses. Das Blechdach krachte mit dumpfem Metallklang unter ihren Tritten.
»Annemarie!« rief Thomas noch einmal und ergriff ihre Hand und zog sie an sich.
Sie drängte ihn zurück, nicht heftig, aber mit solch einer melancholischen Gewalt und Bestimmtheit, daß er erschrak.
»Ach,« sagte sie, verdrossen gleichsam, »was hat das für'n Zweck!«
Er stand und fand keine Worte und sah sie in dumpfem Staunen an.
»Ja, was soll denn daraus werden? Das kann ja zu nichts führen!« stieß sie auf Thomasens fragenden Blick hervor.
»Du liebst mich nicht mehr,« stotterte er schließlich.
Sie wollte etwas Hastiges sagen, sendete aber nur einen flüchtigen wunden Blick über sein Gesicht, hob leise die Schultern und ließ sie kraftlos fallen.
»Liebst du einen andern?« schrie er – ein wenig pathetisch, wie er merkte.
»Siehst du, Thomas,« begann sie leise, in beinah singendem Tonfall, als sage sie eine Lektion her, »wir müssen doch auch vernünftig sein ...«
»Vernünftig ...!« lachte er auf.
»Was soll denn daraus werden? Siehst du, du bist noch so jung, jünger als ich ...«
»Die paar Monate!«
»Ein Student heiratet doch nicht ...«
»Ich werde Künstler!«
»Aber du bist doch noch nichts. Wie lange sollen wir denn warten?«
»Heute noch können wir davongehn!«
»Ja, glaubst du denn, meine Eltern geben das zu?«
»Brauchen wir sie zu fragen! Du bist mündig ...«
»Ja, das sagst du so ...!«
»Und ich werde in ein paar Wochen mündig. Wer hat uns dann noch was zu sagen? Bin ich nicht mein eigener Herr, hab' ich nicht mein eignes Vermögen?«
»Ach Thomas,« seufzte sie, » das macht es ja nicht allein ... Du bist ja kaum erwachsen. So jung heiratet man nicht.«
»Kaum erwachsen? Darauf kommt es doch nicht an. Nachgedacht hab' ich vielleicht mehr als mancher, der vierzig ist.«
»Ja, glaubst du, die Leute fragen darnach?«
»Die Leute! Die Leute!« schrie er. »Was kümmern uns die Leute? Hast du sonst so viel nach den Leuten gefragt?«
»Man muß doch unter ihnen leben ...«
»Jawohl,« höhnte Thomas erbittert, »die Leute ...! – Als ob man deine Mutter sprechen hörte ...! Sie sind es, deine Eltern sind es. – Wissen sie vielleicht schon eine gute Partie für dich? Was?«
Annemarie schwieg, mit gesenktem Kopfe; dann warf sie auf einmal das Kinn in die Höhe, unter halbgesenkten Lidern hervor kam ein gekränkter und hochmütiger Blick.
»Es ist alles mein freier Wille,« sagte sie, »was ich durchgemacht habe, geht dich ja nichts an ...«
»Also worauf wartest du dann noch?« rief er zitternd, »dann geh doch, geh nur!«
Sie schwieg.
»Ich wollte dich nicht kränken,« begann er nach einer Pause mit stockender Stimme. »Du hast so viel durchgemacht, sagst du? Was ist es? Sag es mir! – Annemarie ...«
»Ach wozu! – Siehst du, du bist noch so jung!« seufzte sie gescheit und mild.
Er stieß nur einen wütenden Laut aus und machte eine ausholende Bewegung mit dem Ellenbogen, als wolle er sie von sich stoßen. – Da sagte sie:
»Leb wohl, Thomas. Du denkst vielleicht einmal auch noch anders über mich und diese Stunde. Und für einen Künstler ist es überhaupt sicherlich besser, nicht zu früh zu heiraten. Das sagt man doch immer.«
Er lachte auf. Sie warf ihm einen bedauernden und überlegnen Blick zu, seufzte und ging.
Er stand in der Pose des Verächters. Als aber die Zunge des Schlosses hinter ihr einschnappte, lief er an die Tür und schlug mit den Fäusten dagegen und rief viele Male ihren Namen, klagend, wütend, flehend. – Es kam keine Antwort.
Thomas fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Etwas wie ein dummes Staunen war in ihm. Langsam, ohne zu wissen, was er tat, ging er in den schattigen Winkel der Mauer und setzte sich auf den Boden. Gedanken jagten sich, düstre und phantastische Pläne tauchten auf; dann wurde es allmählich weicher in ihm: er tat sich unendlich leid und fing schließlich zu weinen an.
*
Als Thomas in sein Zimmer hinunterkam, fand er seinen Vetter August Appeltoft, der sich in die Sofaecke geflegelt und die Füße auf einen Stuhl gelegt hatte.
»Na ...? Rendezvous ...?« fragte August lauernd.
»Nein, nein ...« sagte Thomas und gab sich Mühe, unbefangen auszusehen.
»Keen Schauspieler biste nich, Jungchen,« lächelte August und ließ eine Rauchsäule zur Decke steigen, die er mit dem Blick verfolgte, bis sie sich in rollende Wolken auflöste. »Wenn man lügt, steht's einem auf der Stirn geschrieben, sagte meine Alte früher zu mir, als ich den Schwindel noch glaubte. Auf deiner Stirn steht ein ganzer Roman. Sie kriegen sich nicht. Ende! Ort der Katastrophe: ein flaches Dach! – Was sagst du nu?«
»Quatsch!« entgegnete Thomas und zündete sich eine Zigarette an.
August richtete sich auf und musterte ihn scharf, mit einem schlauen Glanz in den Augen. Und effektvoll schleuderte er ihm einen Namen entgegen: »Waldemar Bökh!«
Thomas verstand ihn nicht.
»Besoffen ...?« fragte er und fuhr sich mit dem Finger über die Stirn: »Oder ...?«
»Na, sieh mir bloß einer an! Ich glaub' wahrhaftig ... Nee, aber ...!« rief August verwundert. »Du weißt noch von gar nischt?«
»Führ' kein Theater auf,« knurrte Thomas. »Was soll ich denn wissen?«
»Daß Annemarie sich ganz stilliechen verlobt hat.«
Thomas sprang auf.
»Was! Mit wem?«
»Na, eben gegen besagten Freiherrn Woldemar Bökh.«
»Ist das wahr?«
»Scheint's dir so unwahrscheinlich?«
» Der Kerl ...!«
»Mm, warum? Sie wird Freifrau. – Reich is er ooch. Tante Karoline schlägt Räder, weil ihre Tochter 'nen Baron kriegt ... Und er hat das Zeug zum Ehemann. Die Dummheiten hat er vorher gemacht ...«
Thomas ging hastig auf und ab.
»Der verlebte Idiot!«
»Sag das nich, Jungchen! So dumm ist er wahrhaftig nich! Die Annemarie könnte mir auch gefallen ...«
Thomas hörte nicht auf ihn; er stand am Fenster und starrte zu dem schmalen Himmelsstreifen hinauf, den die grauen Häuser sehen ließen. Ein Netz von rosigen Lämmerwolken lag darüber, leicht und wechselnd, aber immer dünner werdend, verschwimmend und sich langsam auflösend.
August schlug ihm, ein bißchen verlegen, auf die Schulter.
»Sei kein Frosch, Thomas ...!«
Thomas fuhr zusammen und wendete sich um.
»Jawohl,« sagte er ein wenig krampfhaft, »sie ist ne Gans, lassen wir sie schwimmen!«
»... sagt Schiller,« sekundierte August und fuhr dann hastig fort: »Weißt du, was mir kolossalen Spatz gemacht hat? – Daß du dich gestern mit unserm ehrwürdigen Ober-Familienhaupt so schön verkrakeelt hast.«
»Onkel Albert? Ach das ...!«
»Es hat mich wahnsinnig gefreut,« lachte August, »weißt du, dem mal richtig die Meinung sagen zu dürfen, das war schon immer mein größter Weihnachtswunsch. Aber diese Welt ist eine dreckige Einrichtung. Und so ist es bisher meine Hauptbeschäftigung gewesen, mich bei meinem lieben Onkel Albert dafür zu bedanken, daß er mich immer so gütig unterstützt hat und sich wegen der paar Kopeken vor der breitesten Öffentlichkeit dick tut. Familiensinn hat er, das muß man ihm lassen, aber er will auch dafür bewundert sein.«
Thomas saß steif und schweigend in einer Sofaecke.
»Weißt du was,« fuhr August fort, »ich bin in diesen zwei Semestern in Dorpat zur Einsicht gekommen, daß das Leben wirklich nicht mehr und nicht weniger als eine Hühnerleiter ist. Sieh mich mal an: wieviel Talente schlummern unter dieser glücklich aufgesoffenen Fettschicht!«
»Ja,« sagte Thomas zerstreut, »es ist wirklich schade: du solltest Maler werden.«
»Ach, Maler, das ist nur die eine Seite! Sieh mich mal an, hätte ich nicht auch das Talent, die Zinsen von zwei bis siebzehn Millionen mit der größten Grazie auszugeben?«
»Ja, mein lieber August, Millionär ...! Das könnte schließlich jedem passen.«
»Na ja, ich meine ja bloß ... Aber meiner Alten geht's wirklich dünn genug. Und das muß ich sagen, für sich braucht sie so gut wie nichts ... Was dein Alter und Onkel Albert zugeschossen haben, hat sie noch immer an mich gehängt.«
»Lieber August, das will ich dir bei dieser Gelegenheit gleich sagen, selbstverständlich wird dieser Zuschuß weitergezahlt, auch wenn es nicht ausdrücklich im Testament stehen sollte.«
»Danke, danke ...« – August stand auf und gab dem Vetter die Hand – »Übrigens, na ja, ich kondoliere nochmals und so weiter. Weißt du, große Reden kann ich in solchen Situationen nicht schwingen ...«
»Danke, ist auch nicht nötig.«
Die beiden saßen eine Weile schweigend und rauchten.
»Du gehst wohl bald wieder hinaus?« fragte August schließlich.
»So bald wie möglich.«
»Nach München?«
»Natürlich!«
»Du hast's gut! Glücklicher Mensch! München ...!«
»Jawohl, ich bin glücklich!« lachte Thomas auf.
»Ach so! Der Liebe Leid ... Na, das dauert auch nicht ewig.«
»Laß mich in Ruh!«
»Nein, ich sprech' grade davon. Sei doch kein Kamel, Thomas, ich bitt' dich ...!«
»Jawohl,« bemerkte Thomas, »es gibt Leute, die jeden für ein Kamel halten, der anders ist als sie.«
»In dem Punkt sind alle gleich,« dozierte August, »lehr du mich die Welt kennen. Was hast du nun von aller deiner Tugend? – Das hättest du dir doch sagen können: aus solchen Geschichten wird ja nie was. Erste Liebe ...! Lächerlich!«
Thomas ärgerte sich. »Wem glaubst du durch diesen Ton zu imponieren?« fragte er.
August lächelte gemütlich.
» Ein Vergnügen muß der Mensch doch haben. – Im allgemeinen ist das mein Ton, mit Tanten umzugehn. Ich genieße infolgedessen eines sehr angenehmen Rufes in der ganzen Verwandtschaft. Im übrigen«, seufzte er melancholisch, »habe ich keine Ideale mehr. Wozu auch? An die Kunst denk' ich lieber gar nicht. Ich werde Medizinmann und schnickere zunächst in toten Leichnamen herum und säge später meinen mit Recht so beliebten Mitbürgern die Hinterflossen ab, oder auch die Vorderflossen, ›wie sich's trefft‹, sagt Janne. Und dann probier' ich, mir in zehn Jahren recht viel Rubelstücke zusammenzukratzen – wenn mal wieder die Cholera kommt, geht's vielleicht noch schneller – und dann mach' ich, daß ich raus komm' und mich möglichst gut amüsiere. Na, vielleicht kann man sich dann seine sogenannten Ideale auch wieder mal besehen.«
»Hm,« machte Thomas. »Glaubst du eigentlich selbst, daß du dir jemals ein Vermögen zusammensparst?«
August ließ einen langgezogenen Ton hören, der alles bedeuten konnte, und fixierte seine Stiefelspitzen.
»Hö ...,« sagte er dann, »vom Väterchen die Frohnatur ...! Nee, wenn ich so denke, wie mein Alter zu den wohlrangierten Kerkhovens gekommen sein mag? So ein herrlicher Schiffskapitän! Schade, daß er sich so früh totjesoffen hat! – Du hast vielleicht recht, und ich bin von ihm erblich belastet. Das Portemonnaie hält bei uns Appeltöften nicht dicht. – Na, hoffentlich wird das bei mir noch kommen. Und in dublio nehm' ich an: ich werde in fünfzehn Jahren schon so versimpelt sein, daß mir die Chose piepe is.«
»Aber schließlich, August, begreife ich dich nicht. Warum gehst du denn nicht einfach hinaus?«
»Leicht gesagt, mein edler Graf mit dem großen Portemonnaie ...!«
»Deine Mutter wird sich schon damit abfinden, wenn's mal geschehen ist.«
»Vor der Alten hab' ich keine Angst,« sagte August mit einem kurzen, glucksenden Lachen.
»Und der Zuschuß von meiner – oder vielmehr Papas – Seite wird dir deshalb auch nicht entzogen.«
Das schien auf August Eindruck zu machen. Er starrte auf die Tapete und schien über einem schwierigen Problem zu brüten.
»Na, August ...?«
August warf den Kopf zurück.
»Es geht doch nich!«
»Warum denn?«
»Der Ober-Familien-Medizinmann gibt mir dann keinen Kopeken mehr.«
»Na, weißt du, es gehen genug Leute mit weniger Geld auf die Kunstakademie.«
»Weiß schon, weiß schon. Die wohnen dann in einer Dachtraufe und gewöhnen sich das Essen ab und malen recht dünn, weil die Farben so teuer sind ... Sag mal, du, glaubst du, daß ein Balte das jemals fertiggebracht hat?«
»Na, August, und wie wär's, wenn ich dir auch noch die fünfunddreißig Rubel im Monat gäbe, die du jetzt von Onkel Albert kriegst?«
»Thomas,« schrie August, »du willst ...? Du willst wirklich?« Und er umfaßte ihn und tanzte mit ihm im Zimmer herum.
»Ich bin aber auch kein Millionär. Vernünftig mußt du schon sein.«
»Selbstverständlich! Von heute an wird jeder Kopeken dreimal umgedreht. Noch mehr von dir nehmen? Nee! Nie! Jamais de la vis! – Und ich sag dir: in München setz' ich mich auf die Hosen und schufte. – In drei, vier Jahren hast du alles wieder.«
»Sag' mal, August, hat dir Onkel Albert nicht schon einmal Schulden bezahlt?«
»Hat er dir's erzählt? Das sieht ihm ähnlich. Jawohl, zweihundert Rubelstücke, um die Familie vor Schande zu retten! – War aber eine schwere Geburt.«
»Sollten wir ihm das nicht wiedergeben?«
»Der kann lange warten! – Ich denk' ja nicht dran! – Das schöne Geld! – Verklagen tut er mich doch nicht. Das würde ja das Wappenschild der Famulie beflecken. – Nein, weißt du, wenn du was übriges tun willst, pump mir jetzt mal einen Fünfundzwanzigrubelschein.«
»Ja, gern, aber ...«
»Kein Aber ...! Ich muß mich dir auch dankbar erweisen für alles. Und das tu ich am besten, wenn ich dich jetzt auf andre Gedanken bringe. Komm mal mit!«
»Wohin denn?«
»Erst essen wir im Romkeller; nicht ohne den nötigen Champagner ...«
Thomas lächelte.
»Du fängst das neue Leben gut an.«
»Das ist nur heute und deinetwegen, obgleich ich, aufrichtig gestanden, selbst das Bedürfnis habe, diesen großen Tag zu feiern ...«
»Na, dann feire allein. Ich hab' keine Lust ...«
»Sei doch nicht so'n Papp-Pferd! Komm mit! Und nachher gehn wir weiter. Überlaß dich nur meiner sachkundigen Führung. Ich weiß dir ein Arkanum gegen Liebesgram ...«
Thomas stellte sich diesen Abend vor: einsam und traurig. Die Zeit würde still zu stehen scheinen ...
»Na, dann meinetwegen! Aber nur in den Romkeller; weiter nichts!«
August lachte.
»Komm nur mit! Wenn wir erst einige Schnäpse und eine Pulle Sekt intus haben, findet sich das übrige schon. Es lebe die Homöopathie! Similia similibus. Der Unterschied zwischen Honoratiorentöchtern und andern Mädchens liegt nämlich nur in Äußerlichkeiten. Und wer erst etwas davon versteht, sagt freundlich lächelnd: Das also ist die berühmte Liebe?«
*
Am nächsten Tage wachte Thomas erst nach elf Uhr auf. In seinem Kopfe dröhnte ein dumpfer Schmerz, auf der Zunge spürte er einen faden, pappigen Geschmack, an seinen Fingern haftete noch der staubige Parfümduft von schlechtem Puder ... Das stellte ihm auf einmal wieder die Bilder dieser Nacht vor Augen.
Er klingelte.
Der alte Janne trat ein und blieb in der Tür stehen, einen stummen Vorwurf in dem bekümmerten Gesicht.
»Janne, laufen Sie mal in die Apotheke und holen Sie mir ein Antifebrinpulver! Und dann machen Sie Kaffee; aber stark! Zu Mittag bin ich nicht zu Hause, ich fahr' an den Strand.«
Der Diener verließ schweigend das Zimmer.
Alter Esel! dachte Thomas; aber im Grunde hätte Janne ja nicht unrecht.
*
Als Thomas in Bilderlingshof aus dem Zuge stieg, war ihm ein wenig besser geworden, und er verspürte Hunger. Da wäre es wohl das klügste, gleich in der Bahnhofsrestauration zu essen; denn Frau Ohsoling führte eine berühmte Küche.
Herr Ohsoling, der wie gewöhnlich mit der schwarzseidnen Ballonmütze auf dem kahlen Kopfe hinter dem Büfett stand, begrüßte den alten Bekannten mit einem Handschlag.
»Auch wieder im Ländchen, Herr Kerkhoven? Ach ja, Ihr Papa ...! Hatt' ich ganz verjessen. Kondoliere, kondoliere! Ja, ja, wenn man denkt, wie schnell das jehn kann ...!«
Als Thomas nach dem Essen seine Tasse Kaffee trank, ging die Tür auf; sein früherer Schulkamerad Magnus Schlaar kam herein und bestellte sich am Büfett eine halbe Flasche Portwein.
»Herr Kerkhoven is auch da,« verkündete Ohsoling.
»Ah, moin, Kerkhoven!« sagte Schlaar, »bist du wieder da? – Ach so!« – Sein Blick fiel auf den Trauerflor auf Thomasens Ärmel. – »Aufrichtigstes Beileid! Wart', ich setz' mich bißchen zu dir.«
»Du bist ohne Farben?« fragte Thomas, um irgendetwas zu sagen.
»Weißt du denn nicht ... Ich bin ja momentan von der Korporation geruckt, weil ich einem ins Bein geschossen habe.«
»Ach richtig, die Pistolengeschichte mit dem jungen Konsul Bondelius ... Ach ja, die traurige Sache ...! Nicht wahr, das Bein mußte abgenommen werden?«
»A, was braucht so'n Konsul zwei Beine!« sagte Schlaar gelassen.
»Na, weißt du, sein Leben lang ein Krüppel sein?«
»Und ich ...? Mir ist die ganze Karriere verdorben.«
»Ja, lieber Schlaar, das hättest du dir früher überlegen müssen.«
»Konnte ich wissen, daß die Leute so borniert sind? Gott, Sachen, die im Ausland jeden Tag vorkommen ...! Es gibt ja keinen modernen Roman, wo nicht einer ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau hat. – Sogar in der Korporation finden die Idioten das unhonorig. Mir sagt das ja keiner, denn sie möchten nicht gern gleichfalls ins Bein geschossen werden ... Aber hinten herum erfährt man so was doch. Na, das wäre das wenigste ... Ich würde mich schon in Respekt setzen, das kannst du mir glauben. Aber die Schweinerei mit den Stipendien ...! Ich hätte nicht mehr die moralische Qualifikation, finden die wohlweisen Herren ...«
»Ja, was willst du denn jetzt machen?«
»Was soll ich machen? – Zum Ladenschwengel bin ich mir doch zu gut. Und Schiffsjunge zu werden hab' ich auch keine Lust. Ich muß als Volontär auf ein Gut. Praktisch die Landwirtschaft lernen. Stoppelhopser ...! Wer mir das vor einem Jahre gesagt hätte ...«
»Ja, das ist schlimm ...,« sagte Thomas und stand auf. »Vielleicht sehn wir uns noch: ich muß jetzt fort. Herr Ohsoling, ich zahl' heute abend.«
»Wohin gehst du denn?« fragte Schlaar. »Wenn du einen Moment wartest, komm ich mit. Wir bummeln noch bißchen ...«
»Nein, ich muß zu meiner Tante Weller,« sagte Thomas: die Begleitung war ihm nicht erwünscht.
»Dann also auf Wiedersehn!«
»Adieu. – Adieu, Herr Ohsoling!«
Thomas ging den sandigen Fußweg durch den Wald, dessen kümmerliche Föhren leise im Nordwind rauschten. Die Luft war so erfüllt von dem Gesange der Brandung, daß Thomas nicht hätte sagen können, von welcher Seite er kam, wenn er es nicht gewußt hätte. Es war, als ob dieses ganze magere Land sänge. Und in Thomasens Brust klang es schwellend mit ... Dabei ging ihm Magnus Schlaars Geschichte nicht aus dem Kopfe. Wie so eine Leidenschaft alle Pläne vernichten konnte, die ein Mensch sich gebaut hatte, eine ganze Laufbahn zerstören, auf die er nach seinen Gaben ein Recht hatte ...! Jawohl, Magnus Schlaar war selber schuld daran; er steckte wohl in keiner glücklichen Haut. Charakterschwäche nannte es Thomas. Aber dann kam ihm ein andrer Gedanke: Waren die Leute, die Schlaaren glichen, nicht gerade die Starken? Und er selbst däuchte sich so schwach und so arm an Leidenschaft ... Hatte er nicht Schmerz und Kränkung genug erfahren in diesen Tagen? Und was hatte er getan? Geweint hatte er und hatte sich dann in Würde gefaßt, und war hingegangen, um das, was er durch Jahre für die eine gehütet hatte, in den Schmutz zu werfen, trotzig wie ein dummer kleiner Junge. – Ach, was half es, drüber zu grübeln? – Er beschloß, nun wirklich seine Tante Leocadie aufzusuchen, um sich auf andre Gedanken zu bringen, und um sie nach mancherlei zu fragen. Er verließ den Wald und ging auf dem Bretterstege den Gartenzäunen entlang. Es war noch früh im Jahre, aber trotzdem waren die meisten Häuser schon bewohnt, und auf den Veranden saßen hellgekleidete Menschen. Das hohe Kuppeldach von Onkel Alberts Villa tauchte auf. Er schritt rascher zu, denn daneben lag Tante Leocadiens Häuschen, die Sommer und Winter hier draußen wohnte.
Tante Leocadie saß auf ihrer Veranda und häkelte an einem wollenen Schal; sie empfing Thomasen erfreut.
»Nett, daß du auch mal zu deiner alten Tante herauskommst! Wart' einen Augenblick ... Gegessen hast du doch schon? Aber Kaffee muß uns die Lene machen ...«
Thomas blieb allein. Er trat in das große Mittelzimmer, an dessen Decke er mit der Hand langen konnte, wenn er sich auf die Fußspitzen stellte. – Wie gemütlich altmodisch es hier aussah! Es waren Möbel von Thomasens Großvater, die bei der Erbteilung dem Hofrat zugefallen waren; der hatte sie aber verachtet und auf den Dachboden gestellt, wo Tante Leocadie sie nach Jahren entdeckte und sich zur Möblierung des Häuschens ausbat, das sie nach ihrer Scheidung einem alten kinderlosen Fischer um billiges Geld abgekauft hatte.
Die alten Möbel hätten wohl manches erzählen können ... Aber sie standen ruhig mit glatten, verschlossenen Gesichtern. – »Es ist alles vorübergegangen,« – das waren die Worte, die Thomas darin las.
Und als er nachher mit Tante Leocadie beim Kaffee saß, da vernahm er unter ihrem sachlichen Geplauder dieselbe gelassene Weisheit. – Auch das müßte gut sein, dachte Thomas, sein Schicksal schon hinter sich zu haben.
»Sag', Tante,« fragte er dann auf einmal, »du hast meine Mutter doch auch gekannt?«
»Ja, zu deines Vaters Hochzeit war ich damals aus Ssaratoff herübergekommen. Gekannt eigentlich nicht ... Nur zwei-, dreimal gesehen, weil ich gleich wieder abreiste.«
»Erzähl' mir von ihr ...«
»Ja, was soll ich dir erzählen? Nett war sie, mir hat sie gut gefallen ...«
»Nett?« fragte Thomas, »klein, zierlich?«
»O nein, ich meine: in ihrem Wesen! Sie war eine große, schlanke Person, größer als dein Vater.«
»Ja, und ... Wie sah sie denn sonst aus?«
»Etwas große Züge, aber edel geschnitten. Streng sah sie aus, die Augenbrauen beinah zusammengewachsen. Aber schöne, lebhafte, freundliche Augen.«
Wieder also veränderte sich ein Bild, das sich Thomas gemacht hatte.
Er saß sinnend und musterte eine breite Ritze zwischen zwei Brettern des Fußbodens.
»Und wie war meine Mutter denn ...?« fragte er. »In ihrem Wesen ...?«
»Nett,« sagte die alte Dame wieder, »mir hat sie sehr gefallen. Sie sprach ein bißchen Dialekt – österreichisch, glaub' ich – und konnte so lustig sein. Das wirkte pikant zu ihrer Erscheinung. Sie sah wirklich wie eine Heroine aus.« Tante Leocadie lachte in der Erinnerung. »Manchmal konnte sie Sachen sagen, daß Albert die Hände über dem Kopfe zusammenschlug und das gute Linchen errötend in ihren Schoß guckte. Sie war so frei im Sprechen. Ich weiß nicht, dein Vater bewunderte als Bräutigam alles an ihr; aber ich war doch traurig bei der Hochzeit. Ich hab' mir gleich gedacht, daß es nicht gut gehen würde ...«
»Was hat sie denn aber eigentlich getan?«
»Ach Thomas, ich hab' es nicht mit angesehn. Ich war ja nicht hier. Traurige Geschichten ... Und dir steht es ja nicht zu, darüber zu richten ... Ich habe sie nie verurteilen können ... Dazu müßte man viel besser wissen, wie das alles gekommen ist ... Wer kann in einen andern Menschen hineinsehen?«
Mehr als solche allgemeine und unbestimmte Andeutungen brachte Thomas aus seiner Tante nicht heraus. So sagte er ihr denn schließlich Adieu und ging durch den Dünenwald dem Meere zu.
Als er die Höhe der Düne erstiegen hatte, mußte er an seinen Hut greifen, – so stark faßte plötzlich der Wind. Das Meer ging in aufgeregter Brandung. Mehrere weiße Schaumstreifen bezeichneten die dem Ufer vorgelagerten Sandbänke, auf denen die Wasserberge ihr Haupt nach vorn beugten, als wollten sie sich um sich selbst rollen; aber da lösten sie sich schon in Gischt auf, der brodelnd vorwärts trieb ... Nur eine kurze Strecke ... Dann kam wieder eine tiefere Stelle, und wieder wuchs ein Wasserberg und stürzte bei der nächsten Untiefe aufs neue zusammen ... Bis die Welle schließlich das Ufer erreichte und flach über den Sand stürmte, um langsam zurückzugleiten ... Denn unten ging die Gegenströmung, die alles Wasser, das der Wind ans Land warf, wieder in die See zog, heimlich und unablässig ...
Thomas legte sich mit aufgestemmten Ellenbogen nieder und träumte vor sich hin. Feine harte Sandkörner prickelten auf seinen Wangen, der Wind spielte hastig in seinen Haaren. Er dachte an Annemarien ... Daß er sie verloren hatte, würde ihm wohl erst mit der Zeit so recht bewußt werden, der Schmerz würde nachkommen ... Aber er wollte ihn überwinden. Hatte er denn nicht seine Kunst? Und war er nicht jung? Leben ...! Und mochte das Leben zwecklos sein, wie der Aufruhr dieser Brandung, – er wollte sich ihm geben, er wollte es nehmen, wie es war. Ach ja, gestern nacht ...! Das nannte nun August: das Leben kennen lernen. Schmutzig werden ...! Hieß das, das Leben kennen lernen? – Vielleicht gehörte auch das dazu. Schmutzig werden und unglücklich werden, und klein werden, und sich selber verachten ... Was machte das! Er sah wieder das Überwinderlächeln um die Mundwinkel seines toten Vaters. Er wollte das Leben zwingen, solange er noch lebte ...
Brandung und Schaum und Lärm ... Aber Thomas schließt die Augen und malt sich ein andres Bild ... Eine glatte See ... Man kann nur ahnen, daß hier Stürme getobt haben. Feurige Himmelsfarben schwimmen auf spiegelndem Grunde; eine goldne Brücke reckt sich von diesem öden Strande zu der heißen Heimat alles Lebens: zur Sonne hinüber, die langsam versinkt ...
Kämpfen und leiden und überwinden ... Und dann ein Abend an glatter See ...