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Wulf hatte kaum die Bestattung seines Pflegevaters besorgt, da zeigte sich, daß es mit ihm und Kanters nicht gehen würde. Der besänftigende Vermittler, der jedes Mißverständnis ausgleichende Papa Bäcker fehlte. Und weil kollegialische Mißgunst jedwede dem Bevorzugten, durch allgemeine Gunst Ausgezeichneten entschlüpfte scharfe Bemerkung über das Treiben der Direktion letzterer getreulichst zutrug, so konnte wohl seines Bleibens nicht sein. Auch wurde die dem Schauspieler ehrenvolle Anerkennung von seiten feindlicher Besatzung ihm, dem Menschen, förmlich zur Last, seitdem er Ifflands patriotische Klagen vernommen, dessen deutsche Gesinnung kennen gelernt hatte. Je eifriger die nach Vergnügung lüsternen Franzosen seinen Umgang suchten, je häufiger sie ihn mit Einladungen zu ihren Gelagen bestürmten, desto mehr sehnte er sich fort aus diesen Kreisen nach einer Stadt, wo er wieder vaterländische Uniformen sehen dürfte. Er sprach darüber ohne Rückhalt mit dem Direktor und bat um Entlassung. Herr Kanter entgegnete: »Ich begreife nicht, wie Sie politische Ab- und Zuneigungen mit unserem Geschäft vermengen können? Die Kunst ist eine Weltbürgerin. So lange die Herren Offiziere der großen unüberwindlichen Armee fleißig mein Theater besuchen, habe ich kein Recht, über sie zu klagen. So lange man Ihr Spiel ›goutiert‹ und Sie mit Applaus überschüttet ... was kümmern Sie sich, ob es Kamtschadalen oder Hottentotten sind, die ihn spenden? Ist nicht der Vorzug für Sie um so großer, wenn Sie auf Zuschauer wirken, denen Ihre Sprache fremd oder doch nur höchst ungenügend bekannt ist? Ist es nicht patriotisch von mir, wenn ich dem Feinde das Geld, welches er dem Lande durch Kontributionen im großen abpreßt, im kleinen wieder abzugewinnen suche durch hübsche Vorstellungen? Ist es unser Beruf, an Weltereignissen und Staatsumwälzungen thätig Anteil zu nehmen? Gewiß nicht. Wir sind nur da, um auf den Brettern, welche ›die Welt bedeuten,‹ nachzuahmen, was draußen in der Welt vorging, und ihr einen Spiegel vorzuhalten, worin sie sich selbst erblickt. Wir müssen uns durchhelfen, so gut wir können, und von allem, was geschieht, möglichst Vorteil zu ziehen suchen. Sie, mein Bester, Sie werden sich, wenn Sie so fortfahren, Ihre ganze Carriere verderben. Jetzt sehnen Sie sich nach dem Anblick vaterländischer Krieger. Das macht Ihrem Deutschtum alle Ehre. Aber glauben Sie mir, der ich das Ding ein Weilchen mit ansehe, unsere Herren Offiziere bildeten gerade kein sehr liebenswürdiges Publikum. Mir, als Unternehmer, sind die französischen lieber. Sie nehmen sich allerdings auch gar viele Freiheiten heraus ... das liegt nun einmal in ihrem Stande, in ihren Vorrechten, und sie befinden sich, wohl zu bemerken, als Sieger in Feindes Lande, betrachten sich als Eroberer. Dennoch ist in den fünf Jahren ihrer Anwesenheit gar nichts vorgefallen, was nur den geringsten Vergleich aushielte mit den zahlreichen Skandalen durch unsere lieben Landsleute verübt vor dem unglücklichen Feldzüge. Freilich ist kein weibliches Mitglied der Bühne (bei diesen Worten rieb sich Herr Kanter die Stirne) sicher vor ihren Galanterien. Das ist ein Geschick, welches die Damen vom Theater mit allen ihren Schwestern in allen Ständen teilen, Großmütter ausgenommen. Es wird auch an Zudringlichkeiten nicht fehlen; ich geb' es zu. Doch trotzdem verleugnen diese ... Feinde die Rücksichten, die der Mann dem zarteren Geschlechte schuldig ist, nie so gröblich, daß sie gewisse Formen ganz und gar verletzen sollten. Auch im Übermute, in der Frechheit selbst bleiben sie eben ›galant‹ und wer dawider verstößt, wird von den eigenen Kameraden zurechtgewiesen. Wir hatten hier ein Mädchen aus gutem Hause, welches ihren Eltern mit einem Studenten davongelaufen war. Die Antecedenzien sind übel, ich gestehe es ein. Nichtsdestoweniger liebte sie aufrichtig und treu. Einige junge Unterleutnants verfolgten sie mit Anträgen. Sie wies Briefe und Geschenke zurück. Die eitlen Bürschchen wollten sich an ihr rächen, schickten hundert Soldaten ins Schauspiel und ließen sie furchtbar auspfeifen. Sie weinte sich schier die Augen aus dem Kopfe ... ich konnte ihr nicht helfen. Was geschah? Das Offiziercorps nahm sich ihrer an. Jene Anstifter der Kabale wurden zur Rede gestellt, mußten sich schlagen und trugen recht fühlbare Denkzettel davon.«
»Das ist nichts Besonderes. Das wäre in jeder Armee der Fall gewesen!«
»Meinen Sie? Ich weiß doch nicht! Kennen Sie das beliebte Singspiel Fanchon?«
»Wie gehört das hierher?«
»Sollen Sie gleich vernehmen! In einer Stadt, welche Sie kürzlich besuchten, machte Madame G......r, obwohl keine Sängerin ersten Ranges, in eben dieser Fanchon besonderes Glück und hob sich auf den Flügelchen Himmelscher (nicht himmlischer, sondern leichter Pariser Vaudeville-) Melodien zu allgemeiner Gunst. Ein hübsches Frauenzimmer kann nun einmal keinen Erfolg auf der Bühne haben, ohne zugleich unreine und frivole Empfindungen zu erregen. Die G. war als anständige Frau bekannt. Das hinderte natürlich nicht, daß man sie mit Liebesbriefen quälte, sie auf Schritt und Tritt verfolgte; – sie war ja ›nur eine Schauspielerin!‹ Ihre Hauptpeiniger waren etliche Offiziere, an leichte Eroberungen gewöhnt, zu jeder Schändlichkeit gegen ihre Opfer bereit. Die Herren konnten nicht begreifen, wie eine Komödiantin ihnen Widerstand zu leisten wagte! ihnen, die doch so wenig Widerstand bei Frau von X., bei Baronin Y., bei Gräfin Z. gefunden? Sie fielen die harmlose Frau eines Abends beim Nachhausegehen aus dem Theater förmlich an; Madame G. rief ›Hilfe!‹ und die Herren wurden unsanft zurechtgewiesen. Vielleicht hatten sie darüber auch den Spott ihrer Genossen erleiden müssen. Sie hielten sich für beleidigt und brüteten Rache. Bei der nächsten Wiederholung der Fanchon wurde Madame G. mitten auf der Scene getroffen von einer aus der nächsten Loge ihr in Gesicht und Brust gespritzten ätzenden Flüssigkeit. Sie sank vor Schmerzen schreiend zusammen, wurde fortgetragen und brachte nach langen Leiden die nie mehr zu vertilgenden Narben dieser teuflischen Verwundung vom Krankenbette mit ins Leben. Die ganze Stadt nannte der Thäter Namen. Auf der Brüstung der von ihnen innegehabten Loge fanden sich unzweifelhafte Spuren jener zerstörenden Säure; ... die Sache wurde von oben vertuscht. Na, das ist der Lauf der Welt. Aber auch die Kameraden ignorierten diese Niederträchtigkeit, und keiner zog seinen Degen für eine Frau, in welcher hier sozusagen das ganze weibliche Geschlecht gemißhandelt war. Wir dürfen voraussetzen, etwas Ähnliches könne jetzt schon nicht mehr geschehen! Und führen die Institutionen, die unser gerechter Monarch, obwohl mit noch halb gebundenen Händen, edel und mutig fördert, zum Ziele; werden wir wieder ein selbständiges freies Reich; schütteln wir die Fesseln ab, die uns jetzt noch drücken ... nun, dann haben wir hoffentlich vom Feinde gelernt, was von ihm zu lernen ist, und wollen ihm glückliche Reise wünschen auf Nimmerwiedersehen. Ja, stieren Sie mich immer an, es hilft Ihnen nichts; ich bin ein guter Patriot: ich hasse die Franzosen; ich bete meinen König an; ich füge mich aber dem Unvermeidlichen, weil mir die Kraft mangelt, mich dagegen aufzulehnen. Ihr Herr Iffland trägt den roten Adler – und mit Recht. Er hat seinen Standpunkt behauptet wie ein Ehrenmann, und wollte Gott, von allen Festungskommandanten könnte man dasselbe sagen! Ich auf meinem kleinen Standpünktchen muß unterducken, will ich nicht in Grund und Boden getreten werden. Ich werde keinen Orden erringen, keinen Adler, keinen roten Sperling, nicht einmal den Zaunschlüpfer. Dennoch bin ich im Herzen Deutsch, preußisch ... Sie müssend aber um Gottes willen nicht ausplaudern!«
»Es freut mich, daß Sie mich Ihres Vertrauens würdig achten, Herr Direktor, und ich will's gewiß nicht mißbrauchen. Dagegen will ich ebenfalls offen reden und Ihnen nicht verhehlen, daß ich Ihr Benehmen durchaus nicht billigen kann. Die Rücksicht auf ›gute Geschäfte‹ sollte so weit nicht gehen. Sie gelten für einen unbedingten Verehrer und Anhänger unserer Unterjocher. Ziemt das einem deutschen Schauspielunternehmer? Ich meine, niemand soll seine Gesinnungen verleugnen! Ich wenigstens will Farbe bekennen, sei's mit Gefahr verbunden!«
»Dann ist's wirklich besser, wir lösen rasch unser Verhältnis,« sagte Kanter plötzlich umgestimmt. »Ihr jugendlicher Ungestüm könnte mir mehr Verdrießlichkeiten zuziehen, als durch Ihr Talent aufgewogen werden. Ich wünsche Ihnen Glück auf die Reise! Sind es aber vielleicht unbestimmte Aussichten auf Breslau oder gar auf Berlin, die Sie von hier forttrieben, dann erlauben Sie mir ein altes Sprichwort anzuwenden? man soll unreines Wasser nicht weggießen, bevor man reines hat! ... Gott befohlen, Herr Wulf!«
»Gott befohlen!« wiederholte Wulf mehrmals hintereinander, nachdem er den Prinzipal verlassen. Was mag wohl in lieben Gottes Rate über mich beschlossen sein, daß so plötzlich und wie von einer höheren Macht überwältigt Herr Kanter mich meiner Verpflichtungen entbindet? Deutet diese von seiner sonstigen Genauigkeit abweichende Ausnahme darauf hin, daß mir überhaupt nicht beschieden ist, irgendwo länger als ein halbes Jahr auszudauern? und soll ich vor dem Grabe nirgends eine bleibende Stätte finden? Soll ich als reisender Komödiant in den Sarg gelegt werden wie Vater Bäcker? Oder ist's ein Fingerzeig von oben, daß jetzt endlich der feste Punkt gewonnen sei, wo ich bleiben, Wurzel fassen darf? wo es meinen Gaben gestattet sein wird, sich zu vervollkommnen? Und wenn es so gemeint wäre, und wenn ich mir's in gläubiger Zuversicht so günstig auslegen wollte ... wer sagt mir, wo ich diesen festen Punkt zu suchen, wohin ich mich zu wenden habe? Ob nach Breslau an Schall? oder nach Berlin zu Iffland? Wer sagt mir, ob nicht, während ich an einem dieser Orte unnütze Versuche wage, mir entgeht, was ich am andern vielleicht errungen hätte? Auf welchen von den beiden Männern ist mehr Verlaß? Ach, wer mir das sagen könnte! –
Jawohl, wer ihm das sagen könnte! Ein solcher wäre Herr über vieler Geschick! wäre mächtig die Richtung zu bestimmen die einzelner Mitmenschen Zukunft nehmen soll. Da dies aber eine Bestimmung ist, welche höhere Mächte sich vorbehielten, so geschieht es oft, daß Scharfsinn, Klugheit, Vorbedacht, Erfahrung im Vereine gerade die falsche Wahl treffen. Was Wunder, wenn Wulfs Aufgebot alles dessen, was er von diesen schönen Eigenschaften mehr oder minder besaß, ihn ebenfalls irre führte. Er folgerte scheinbar ganz richtig: da Schall nur ein Theater freund, Iffland aber ein Direktor, so sei der Letztere ungleich befähigter denn jener, das ihm gegebene Versprechen zu erfüllen.
Wußte er denn, der Arme, konnte er ahnen, daß Schall unterdessen den geistvollen liebenswürdigen Führer der Breslauer Bühne, den ihm so nahe befreundeten Regierungsrat Streit schon gewonnen hatte? Daß einige Proberollen schon so gut wie gestattet waren? Daß bei günstigem Erfolge weder Direktion noch Publikum danach fragen würden, ob dieser Debütant bis dahin nur Mitglied wandernder Truppen gewesen sei? Hatte man denn bei Devrient danach gefragt? Wenn ein neuaufgehender Stern strahlt, so ist er eben da!
Wulf unternahm also nach Verlauf weniger Wochen, in denen er noch tüchtig angespannt wurde, die weitere, kostspieligere Reise nach Berlin und ließ die Stadt hinter sich, die ihm höchst wahrscheinlich eine Heimat geworden wäre, wenn ... Ja, wenn! Ich hab' es, dünkt mich, schon sonst wo drucken lassen: »ein wenn an die rechte Stelle gesetzt, wirft die ganze Weltgeschichte über den Haufen!«
In Frankfurt an der Oder machte er Halt. Es befand sich daselbst eine durchziehende Gesellschaft, deren Prinzipal ihm vorjammerte, daß seit Verlegung der Viadrina nichts mehr »los sei!« Die Burschen hatten noch ein bißchen Leben ins dortige Leben gebracht; jetzt war' ihm München fast eben so lieb! Dennoch ließ er ihn auftreten, für sehr geringes Honorar. Desto größer war der Erfolg. Ein zufällig anwesender Berliner suchte den Gast hinter der Scene auf und ermunterte ihn lebhaft. »Es kann Ihnen,« äußerte der ganz verständige Mann, »in Berlin nicht fehlschlagen, wofern Sie nur wirklich zum Spiele kommen; aber das ist ...«
»Das ist mir versprochen!« versicherte Wulf.
»Deshalb ist's noch nicht gewiß,« sagte der Berliner. »Sein Sie vorsichtig, daß Sie nicht ausgleiten oder stolpern. Der Fußboden ist schlüpfrig, und an Knütteln, die etwaigen Gästen heimlich zwischen die Füße geworfen werden, fehlt's auch nicht. Ich stehe zwar dem Theater ganz fern, bin aber ein eifriger Schauspielbesucher und würde mich freuen, wenn wir frischen Zuwachs in Ihnen gewönnen. Ohne den Kritiker zu spielen, glaub' ich doch, Sie können sich auf meinen Anteil etwas einbilden; denn ich gehöre unter die Malkontenten, die im Parterre ihren alten Fleck, den sie von jeher drin behauptet, nicht verlassen und ihren Fleck auf der Bühne nicht vergessen mögen. Heute zum erstenmal wieder, seit langem Grabesschweigen, hat er durch Sie mich seine Stimme hören lassen und hat mir die Seele erquickt. Dafür nehmen Sie meinen Dank ... und meine Wünsche! Die letzteren gelten Ihrem Gelingen. Was Sie erreichen, wird uns gedeihen. Aber behutsam!«
»Sie sind gar gütig, lieber Herr! Darf ich um Ihren Namen bitten?«
»Was thut mein Name zur Sache? Der ist unbekannt und für Sie unbedeutend. Ich bin ein Berliner Bürger, kam nach Frankfurt, höchst prosaische Geschäfte zu ordnen, kehre nach Hause und werde diese Nacht unterwegs an Sie denken. Nützen kann ich Ihnen nichts ... doch ja! Es wäre möglich, Sie spürten, in Ihren Erwartungen getäuscht, augenblickliche Verlegenheiten ... wie das auf Reisen kommt ... Sie verstehen mich ... man muß bisweilen lange auf Entscheidung harren ... Berlin ist teuer ... Dann erinnern Sie sich der Strahlauer Straße Nummer siebzehn! Der Berliner ist allemal derjenige, welcher ... Adieu!« –
Wulf glaubte, da er einige Tage später dem neugewonnenen Freunde nachreiste, dessen wohlwollendes Angesicht auf dem Wege von Frankfurt nach Berlin neben sich her lächeln zu sehen. Die Begegnung war ein gutes Vorzeichen, dachte er; nun gelingt mir's gewiß!
* * *
Berlin kam ihm, verglichen mit anderen, auch viel kleineren Städten, auffallend menschenleer und öde vor. Außer einigen vorzugsweise belebten Gassen schien alles wie ausgestorben. Die Hitze war, Dank sei's dem berühmten Kometen, trotz vorschreitendem Herbst zwischen diesen Häuserreihen immer noch fast unerträglich. Er verbrachte den ersten Tag mehrenteils im kleinen Stübchen des Einkehrhauses, wohin man ihn, als in ein »billiges« gewiesen. Unter den Linden lag es nicht, wie begreiflich. »Ich will's nicht leugnen,« gestand er sich ein, »es ist, was man gewöhnlich eine ›Ausspannung‹ nennt, und der hoffnungsvolle Nachfolger eines Fleck hätte anständiger wohnen sollen. Doch wer sich selbst erniedrigt, wird ja, will's Gott, erhöht; und ein Hotel zu beziehen, ist's immer noch Zeit!«
Mit dem Glockenschlage fünfeinhalb Uhr begab er sich nach dem Schauspielhause. An der Kasse sein herkömmliches Anrecht auf freien Eintritt geltend zu machen, unterließ er. Ihm lag daran, ein unbeobachteter Beobachter zu sein. Der Kassierer, ein etwas aufgeblasener Herr, reichte ihm mit dicken von Brillanten flimmernden Fingern die Karte höchst verbindlich; sicheres Merkmal eines leeren Hauses. Sein huldreiches Benehmen ermutigte Wulfen zu der bescheidenen (schrecklich albernen) Frage: ob Herr Iffland bereits wieder eingetroffen sei? Augenblicklich nahm der Mann im Geldkäfig ein anderes Wesen an, fixierte den Fragenden scharf, runzelte die Stirn und erwiderte barsch: »Der Herr Generaldirektor sind längst hier, befinden sich aber unwohl.«
Solcher an und für sich geringfügige Übergang von zuvorkommender Artigkeit zu kurz angebundener Kälte darf bei Beamten dieses Schlages nie befremden. Unsern Freund jedoch erfüllte er mit Besorgnissen, als ob der Kassierer gewittert haben könne, was, wohl gar wer er sei, und als ob er ihm übel wolle. Unter dem Eindrucke dieser Besorgnisse betrat er die großen, wenig besetzten Räume.
Es wurde gespielt: »Heinrich des Fünften Jugendjahre,« ein recht artiges Lustspiel nach Alexander Düval (an Shakespeare dabei zu denken dürfte einem nicht einfallen!) und die allerliebste Operette: »Das Geheimnis.« Im ersten Stücke sah Wulf nichts Hervorragendes, glaubte wenigstens nichts wahrzunehmen, was ihm imponierte, und murmelte vor sich hin: »Am Ende kochen sie hier auch mit Wasser!« Im Singspiel überraschte ihn der Komiker, welcher den alten neugierigen Diener gab. Absichtlich hatte er wieder kein Personenverzeichnis zur Hand genommen; er wollte sein Urteil nicht im voraus von Celebritäten abhängig machen und beschränken. Der »Thomas im Geheimnis« trat kühn aus dem Rahmen. Das mußte ein Schauspieler sein, der seiner Gewalt über ein ihm vertrautes Publikum sicher wagen durfte, was er irgend wollte, der aber auch von diesem gefährlichen Vorrechte starken Gebrauch machte und sogar die Grenze überschritt, welche, durch eine Lampenreihe bezeichnet, Bühne und Parterre trennen soll, der dabei doch den Grazien niemals untreu wurde, selbst bei den frivolsten Scherzen nicht. Das konnte nur Unzelmann sein!
Wulf, bisher abgesondert, rückte weiter links und suchte sich einen Nachbar. »Wie heißt dieser Akteur?« fragte er leise.
Der Nachbar sah ihn ängstlich an. Von welcher wüsten Insel, aus welchem unentdeckten Lande hatte sich ein Mensch nach Berlin verlaufen, der solche Frage stellte! » Der da?« sprach der Erschrockene; »der? ... Ja, kennen Sie den nicht?«
»Ich bin zum erstenmal hier, traf erst gestern Abend hier ein. Ich denke mir, es ist Unzelmann.«
Beruhigt atmete der Berliner auf: »Na, wer denn sonst? Das ist klar! Es giebt man einen. Jawohl, das ist unser Unzelmann!«
In dem »unser« lag wohlthuende Wärme. Hier haben sie ihre Schauspieler lieb, dachte Wulf. Der Berliner knüpfte nach beendigter Vorstellung das Gespräch wieder an und erbot sich zuthunlich, den Fremden zu führen. »Dieser Unzelmann,« fuhr er fort, »nimmt sich mangunter große Gurken heraus, aber ihm geht alles durch; warum, er hat zu verfluchte Einfälle und schont niemand, sogar sich selbst nicht. Er war früherhin verheiratet an die jetzige Bethmann, das that nicht besonders gut; denn er ist ein Lebemann, und sie ist eine Liebefrau ... obgleich sie auch sonst eine liebe Frau ist. Ihr gefielen die schönen Offiziere besser wie ihr Komikus; und da war vorzüglich einer von den Herren Gendarmen, ein Herr von Quast, der sie auszeichnete und sie ihn. Kurzum es kam eine Oper in die Mode ... Kennen Sie Fanchon?«
»O ja! Und habe erst ganz kürzlich eine traurige Geschichte gehört, welche damit zusammenhängt. Hoffentlich ist die Ihrige nicht so traurig.«
»Nee, wahrhaftig, traurig ist die nicht. Kurzum in dieser Fanchon machte Madame das Leiermädchen und superb! Wirklich einzig. Und ihr Gemahl, Herr Unzelmann, den Tapezier... prächtig! – Sie wissen ja: ›Warme Kissen, weich wie Moos, bieten lockend‹ ... Wundervoll! Kaum haben sie ihr Duettchen gesungen, er und der ›kleine Cousin‹, und dazwischen Möbel geschoben, Gardinen aufgeputzt, Staub weggewedelt, sieht er sich um, wie wenn ihm noch was fehlte im Zimmer, und dann schreit er den kleinen Cousin an: Es sieht so leer aus ... hier müssen noch Quasten dran kommen und dort auch und da auch! Mehr Quasten! Fanchon ist eine Liebhaberin von Quasten! ... Na nu der Spektakel! ... Sehen Sie, so was wär' einem andern nicht durchgegangen. Ihm nimmt man nichts übel.«
»Verzeihen Sie mir, ich finde diese Geschichte ebenfalls traurig. Sie wirft kein günstiges Licht weder auf den Komiker, noch auf sein Auditorium. Von Rechts wegen hätte ihm gerade dieses ex tempore sehr übel genommen werden sollen!«
»Meinen Sie? I nu ja, besonders zart war es justement nicht; aber sie lebten schon in der Scheidung.«
»Und der zweite Gatte hat sich durch das Schicksal seines Vorgängers nicht abschrecken lassen?«
»Es scheint doch nicht. Er ist denn wohl auch viel jünger ... und überhaupt, unter diesem Völkchen ... das ist ja bekannt, wie's bei den Schauspielern zugeht!«
Wulf stand im Begriffe aufzufahren und den harmlosen Plauderer grob anzulassen. Doch besann er sich noch zu rechter Zeit. Er wünschte gute Nacht und entfernte sich raschen Schrittes.
»Schwerenot,« rief jener ihm nach, »Sie sind wohl gar am Ende selber einer?« –
Und in ärgerlicher Stimmung tappte sich der Heimatlose nach seiner Herberge, wo er auf erbärmlichem Lager nichtsdestoweniger einen erquickenden Schlaf genoß. Neu gestärkt und ermutigt trat er den »wichtigsten Gang seines Lebens« an; er begab sich zum Herrn Generaldirektor. –
Es geschieht den meisten Menschen, und wir alle miteinander verfallen trotz häufig empfangener strenger Lehren stets wieder in denselben Irrtum, daß wir jene umgängliche Freundlichkeit (um nicht Herablassung zu sagen), welche sehr vornehme, oder sehr gewaltige, oder sehr berühmte Leute uns irgendwo gönnten, während sie auf Reisen waren, übertragen zu dürfen wähnen und unverändert wieder zu erleben hoffen, wenn wir ihnen in ihrem Wirkungskreise aufwarten, wo sie in Amt und Würden uns – vielleicht gar als Supplikanten – empfangen oder nach Umständen auch nicht empfangen. Wie oft hat Verfasser dieser wahrhaftigen Geschichte zu seinem Schrecken erlebt, daß Staatsmänner, Gelehrte, Künstler, Schriftsteller von hohem Range, die am Table d'hote, im Postwagen, in Badeörtern, beim Erklettern eines Berges, in den Hallen einer Bildergalerie u.s.w. ihm artige mitteilsame Gefährten und Gesellschafter sein wollten und sich unaufgefordert ihm anschlossen ... daß diese aristokratisch vornehm, kalt, abstoßend ihm entgegen kamen, wenn er vertrauensvoll in ihr Arbeitszimmer, ihr Atelier, ihr Bureau eintrat. Wie oft hat er dann ein hartes Verdammungsurteil über jene ausgesprochen, ohne zu erwägen, daß sich ungleich mehr zu ihrer Entschuldigung vorbringen läßt als zu ihrer Anklage. Man sollte gerecht sein! Leider ist man das in eigenen Angelegenheiten selten und bei verletzter Eitelkeit am wenigsten.
Wir dürfen es, nach solchem Eingeständnis, unserem Wulf nicht übel deuten, daß er nicht nur offene Thüren, daß er auch offene Arme, zu finden hoffte. Es war ihm jedoch nicht beschieden, das Letztere zu erproben, weil schon das Erstere fehlschlug. Die Thüren blieben für ihn verschlossen. Sie wurden bewacht von demselben Manne, dem er gestern Abend die Eintrittskarte abgekauft, der ihn sogleich erkannte und schon ungefragt ihn anschnauzte: » Sind nicht zu sprechen!«
»Bis wann denn vielleicht?« stotterte Wulf.
»Läßt sich nicht bestimmen!«
Und die Thüre ward ihm vor der Nase zugeschlagen.
Da stand er auf der Straße und wußte nicht aus noch ein. Jeden Vorübergehenden sah er ängstlich an, ob der ihm vielleicht Erklärung zugeben vermöchte. So gänzlich rat- und hilflos hatte er sich noch nie gefühlt, seitdem er in weiter Welt auf sich allein angewiesen umherirrte. Und ein Unmut, ein Lebensüberdruß befiel ihn, wie er desgleichen in Tagen bitterster Not, in Stunden ungestillten Hungers nicht empfunden. »So tief gestürzt aus allen meinen Himmeln!« Diese sieben Worte nahmen sein Denkvermögen gefangen; weiter brachte er's nicht; sie schienen ihm mit glühendem Eisen in die Hirnschale gebrannt. Was eigentlich mit ihm geschehen in dem Vorzimmer dort; wie er durch verschiedene Gassen gegangen und weshalb; ob nun wirklich alles aus sei? Er wußte nichts. Wußte er doch nicht, wie lange er schon auf einer Stelle stand und in den schmutzigen Rinnstein starrte, als fließe da der klarste Bergquell über blinkende Quarze. Ein Gassenjunge erweckte ihn. Der Berliner Gassenjunge ist und war und wird sein eine höchst beachtenswerte Specialität. Er behauptet das juste milieu zwischen dem Pariser Gamin und dem Wiener Schusterbuben. Er verhält sich zum ersteren, wie sich Deutsch zu Französisch, zu letzterem, wie sich Norddeutsch zu Süddeutsch verhält. Und das gilt im guten wie im üblen Sinne nach jeder Seite hin. Was er mit beiden gemein hat, ist sein neckerhafter Übermut, seine herausfordernde Keckheit. Worin er sich vor beiden auszeichnet, ist sein Gerechtigkeitsgefühl. Er wird sich gern auf die Seite des Unterdrückten stellen; wie denn überhaupt norddeutsche Gesinnung, trotz ihrer vielgeschmähten scharfen Ecken, ungleich mehr inneren Kern hat, als die weltberühmte südliche Gemütlichkeit. Bevor er aber, was etwa löblich an ihm wäre, zur Geltung bringt, entwickelt der Berliner Gassenjunge schlechte Eigenschaften in Fülle. So auch derjenige, von dem hier geredet wird. Er hatte sich dem »aus allen Himmeln Gestürzten« entgegen postiert und schickte schlechte Witze über die Gosse. »Hören Sie, Juter, ist Ihnen vielleicht ein Friedrichsdor hineinjefallen? Soll ich Sie rausjrabbeln helfen? Sie sehen aus, wie wenn Sie zu ville Kümmel jedrunken hätten? Wollen Sie ausschlafen? Kommen Sie mit; ick führe Ihnen in'n dustern Keller. Oder sind Sie ein Angeleer? Hier in des Wasser iss nich die Probe von Icklei, nich mal 'ne Sardelle. Da müssen Sie sich jedulden bis zum Stralauer Fischzuge!«
Diese und ähnliche Albernheiten verklangen dem Angerufenen unbemerkt; erst der » Stralauer Fischzug« wirkte. »Stralauerstraße Nummer siebzehn,« rief er und gedachte der Frankfurter Bekanntschaft. »Wenn ich mich in meinen Erwartungen getäuscht sehe, sollte ich mich seiner erinnern!«
Der Gassenjunge empfing einen dankbaren Gruß, den sich sein schlechtes Gewissen nicht zu deuten wußte, und Wulf entfernte sich schleunigst. Bald saß er im Comptoir des biedern Lederhändlers. Kaum hatte dieser sich berichten lassen, was gestern Abend und heute Früh geschehen, war er im klaren: »Der Herr Kassierer ist Ifflands Vertrauter, sein Sohn angehender Heldenspieler und einer von den persönlichen Lieblingen der Direktion. Von dieser Seite ist schon vor Ihrer Ankunft gegen Sie manöveriert worden; und wenn es jenen auf die Länge unmöglich ist, eine Zusammenkunft zu verhindern, so steht doch sehr zu fürchten, daß diese wirkungslos bleibt. Wahrscheinlich hat Iffland, des Breslauer Abends voll, unvorsichtig Ihr Lob gepriesen. Das genügte jenen, sich beizeiten zu rüsten. Sie hätten an der Kasse keine Erkundigung einziehen dürfen; hätten sich als gleichgültiger Zuschauer zeigen müssen. Ihre Frage, Ihre Sprache, Ihre Augen haben Sie dem argwöhnischen, für seinen Schreihals von Sohn kindisch eingenommenen Vater verraten. Sie sind zuverlässig auch während der Vorstellung beobachtet worden; an Spionen fehlt es nicht. Nun ist nichts mehr zu machen. Gott mag wissen, welche Fallen Ihnen schon gelegt, welche garstige Gerüchte über Sie schon im Gange sind! Gedulden Sie sich einen Tag. Ich werde unterdessen die Ohren spitzen. Mir sind einige Leute bekannt, die das Gras auf dem Gendarmenmarkte ums Schauspielhaus herum wachsen hören. Der alte Theaterdiener Eisig läßt sich durch eine Flasche Medoc leicht erwärmen, trotz seinem kalten Namen. Sprechen Sie morgen wieder bei mir vor. Heute treiben Sie sich außerhalb der Stadt herum, im Tiergarten, in Charlottenbrunn, in Treptow, wo Sie wollen ... nur nicht in der Nähe des Theaters. Und wenn Sie abends die Lust nicht bezähmen können, das Schauspiel zu sehen, so lassen Sie sich Ihr Billet... nein, es ist besser, Sie holen es bei mir ab; ich werde Ihnen einen Sitz im zweiten Range besorgen, wo Sie nicht ins Auge fallen, wo Sie sich hinter einem Pfeiler verbergen können. Und dann schlüpfen Sie hinein, wenn gerade viele Menschen im Zuge sind, damit Sie nicht beachtet werden. Man soll Sie schon abgeschreckt und abgereist wähnen. Morgen hören Sie mehr. Jetzt gehen wir beide an unsere Arbeit. Die Ihrige heißt für diesen Tag Müßiggang; die meinige wirft mich zwischen Rindshäute. Ledern sind beide.«
Sie schüttelten sich die Hände und schieden. Auf der hölzernen Tafel außerhalb der Eingangsthür stand die Firma dieses »ledernen Geschäftes« geschrieben, und Wulf las einen Namen herab, den er in treuem Gedächtnis bewahrte, den Familiennamen eines Mannes, welchem wir anmutige, echt deutsche Singspiele verdanken. Vielleicht ist der Komponist von »Zar und Zimmermann« ein Abkömmling jener L.s gewesen?
Im Tiergarten war's wunderschön. Kein blumengeschmückter, von reizenden Villen gezierter, sauber gehaltener Park! Durchaus nicht! Ein halb verwilderter, mit tüchtigen alten Bäumen bestandener, herbstlich bunter Wald. Ach wie still und sanft sich's da wandeln ließ! Wie die Einsamkeit kranken betrübten Seelen so wohl that! Welch' zauberhafte Zuflucht aus trockener Öde einer großen weiten Stadt in die volle frische Natur! Nur durch das im edelsten Stil erbaute Thor brauchte der traurige Wanderer zu schreiten ... und er fand Labung, ruhige Heiterkeit. Die Zierde des hohen Portals fehlte zwar. Eine furchtbar beredte Anklägerin deutscher Schmach wurde Preußens Viktoria noch in Paris festgehalten. Aber nur Geduld, sie wird heimkehren. Und du, mein unbeglückter, armer Wulf sollst sie frei machen helfen. Davon ahntest du allerdings noch nichts, da du den Blick emporhobst zu der leeren Fläche, und dein angeborner Schönheitssinn dir sagte: Dort oben fehlt etwas ... du wußtest nicht was.
Er trieb sich den ganzen Tag im Tiergarten und dessen weit ausgedehnten Umgebungen hin und her, vermied die von Menschen besuchten Plätze, nahm mit dürftigem Mahle vorlieb, holte zu richtiger Zeit das in L.s Comptoir für ihn hinterlegte Theaterbillet ab, gelangte glücklich und unbemerkt an der Kasse vorüber und fühlte sich, da er die ihm angewiesene Bank erreichte, so müde, daß er seinen Sitz bequem und angenehm fand. Wahrscheinlich ist er sehr müde gewesen und unfähig auf den Füßen zu stehen. Sonst bliebe diese genügsame Anerkennung unerklärlich.
Man spielte Kotzebues »Stricknadeln.« Auch eines der bürgerlichen Dramen, über welche so leicht ist mit kritischem Nasenrümpfen den Stab zu brechen; ... und trotzdem wieder so reich an wirklichen Meisterzügen. Was dem unerschöpflichen Vielschreiber – J. P. Fr. Richter meint, Kotzebue besitze zu viel Witz, um ein ganz vortreffliches Lustspiel zu machen; das klingt paradox, ist jedoch, verständig aufgefaßt, ein tiefer, wahrer Ausspruch; denn es weist darauf hin, daß witzige Einfälle auf der Bühne nur dann dramatischen Wert gewinnen, wenn sie im rechten Augenblicke angebracht, nur den entsprechenden Persönlichkeiten in den Mund gelegt, nicht willkürlich verschwendet werden! – was ihm selten gelang: er hat in genanntem Stücke einen originellen, vaterländischen Charakter geschaffen, festgehalten, lebenswahr durchgeführt. Die adelstolze, edle, eben so gut als hochmütige Matrone Durlach ist eines der liebenswürdigsten Bilder in unserer Theaterlitteratur. Und daß es in Wahrheit für ein eigentümlich deutsches gelten darf, hat sich aufs treffendste bewiesen durch Kasimir Delavignes Nachahmung: »Die Schule der Alten,« worin Talma und die Mars in Paris unvergeßlich bleiben werden; eins der besten und beliebtesten Werke neuerer Zeit. Delavigne französierte Kotzebues »Stricknadeln,« übersetzte Handlung und Personen aus einfacher Prosa in klingende Verse ... hütete sich dennoch wohl, das innerlichst deutsche Element mit aufzunehmen. An die alte Landrätin Durlach wagte sich der Pariser Schriftsteller nicht. Sie zerfiel bei ihm in einen bonhommistischen Freund und in eine steife, kalte Salontante. Das machte er aus der liebetreuen, lebenswarmen, deutschen Dorfedelfrau und Mutter. Chacun à son gout!
Diese Mutter aller Mütter gab, als Wulf der Darstellung beiwohnte, Demoiselle Döbbelin; die nämliche Döbbelin, von deren Gräfin Orsina ihm Vater Bäcker oft erzählt und hervorgehoben hatte, daß »Figur, Anstand, Stellungen und Aktion besagter Künstlerin Charakteren dieser Art vollkommen entsprachen.« Hätte der Verstorbene heute wohl in der uralten Mama eines alternden Mannes die bewunderte, feurige, rachedürstende, italienische Gräfin wieder erkannt? Gewiß nicht, um so weniger, weil jedesmal, wenn sie auftrat, förmliche Dunkelheit im Hause herrschte, was Wulf in den ersten Scenen auf zufällige Nachlässigkeit des Beleuchters schob. Erst wie es sich konsequent wiederholte, fragte er – vorsichtig, nicht als Sachverständiger, vielmehr als kleinstädtischer Ignorant – bei den neben ihm Sitzenden an und erhielt den Bescheid, das Demoiselle Döbbelin, an den Augen leidend, völlig zu erblinden befürchte; daß die Ärzte ihr untersagt, sich dem blendenden Lampenlichte auszusetzen; daß folglich, sobald sie aufträte, »halbe Nacht« gemacht werde, »Denn,« hieß es weiter, »wenn wir die Wahl haben, sie gänzlich zu entbehren oder uns diesen Übelstand gefallen zu lassen, so. ziehen wir das letztere vor. Wir haben sie lieb. Sie ist noch ein Erbstück aus alten Theaterzeiten.«
Diese Erläuterung empfing Wulf glücklicherweise während des rührenden Auftritts zwischen der Landrätin und ihres Hauses ergrautem Diener. Es ließ sich also thun, daß er seine Augen trocknete und die Thränen, welche ihm, dem Komödianten, die Anhänglichkeit und Vorliebe der Berliner für eine alte Komödiantin erpreßt, kamen auf Rechnung Kotzebues und der Darsteller. Um wie viel schmerzlicher faßte ihn jetzt wieder die Befürchtung, aus dieser Stadt zu scheiden, ohne wenigstens versuchen zu dürfen, ob sie ihm eine Heimat werden könne und wolle.
Wie er am nächsten Morgen bei seinem Lederhändler eintrat, las er aus dessen Mienen schon die ermutigendsten Nachrichten, ehe noch das erste Wort gesprochen ward. »Nur heraus mit dem Schlimmsten.« sagte er; »ich bin auf alles vorbereitet!« Ach, auf das, was er hören sollte, war er's am allerwenigsten. Die Kabalen derjenigen, welche in ihm einen zweifach gefährlichen Nebenbuhler fürchteten, zerfielen ja in nichts, verglichen mit einem Hindernisse, dem hier zu begegnen er nicht erwarten durfte.
»Standen Sie« – so begann die Einleitung – »vielleicht jemals in Beziehung zu einer hohen Familie aus dem Reiche, welche teils dort, teils in unseren Landen große Herrschaften besitzt?«
Wulf bewegte sich nicht. Er lauschte nur.
»Denn Sie müssen wissen, ich spiele mitunter des Abends mein Partiechen L'hombre in einer sehr anständigen Tabagie mit dem Kammerdiener des Fürsten W., und obgleich gestern mein Tag nicht war, bin ich doch ›hingewesen‹ weil ich weiß, daß der Fürst große Stücke auf Ifflanden hält, und Iffland nichts thut ohne den. Und der Kammerdiener wieder ... kurz und gut, ich hatte mir ein Plänchen gemacht; und wenn ich sage ein Plänchen, meint Iffland als Kosakenhetman im Benjowski, so versteh' ich darunter einen großen Plan. Wie man um einen heißen Brei herumgeht, daß man sich's Maul nicht unnötig verbrennt, das hab' ich los. Ich erwähnte keine Silbe von Ihrer Anwesenheit, von unserer Bekanntschaft, von Ifflands Versprechungen in Breslau, von Ihren Hoffnungen auf Berlin. Ich erzählte man einzig und allein, daß ich Sie in Frankfurt spielen sah und höchst erstaunt war, etwas so Apartes unter Bröckelmanns Leuten zu finden. Ich war meiner Sache noch gar nicht gewiß, ob der Herr Kammerdiener, wie er so fest in seine Karten guckte, auf mich höre. Da fuhr er schon auf: das interessiert mich sehr; kennen Sie des Menschen Namen? Natürlich, fiel ich, voll der besten Erwartungen, ein; so was Gutes merkt man sich; er heißt Wulf. – Dacht' ich mir's doch gleich, sprach der Kammerdiener. – Also ist von ihm. gesprochen worden? fragte ich vergnügt. – Freilich! Seine Durchlaucht ließen sich just ankleiden, wie Iffland davon redete, daß er einen Gast erwarte, von dem er sich viel verspreche, obgleich es ein totalement unbekanntes sujet sei; er habe ihn zwar nicht en scène gesehen, doch sonst geprüft, und erwarte unendlich viel von diesem Wundertiere, welches Wulf genannt werde. In demselben Nomsut blies mein Fürst die Lippen auf, wie so seine Art ist, wenn ihm ein Bedenken kömmt, und äußerte: man möge sich nicht übereilen, es solle erst ein renseignement abgewartet werden. Noch in derselben Stunde wurde ein Briefchen an eine vornehme Name befördert, eine Witwe, die mit ihrem Söhnchen teils hier, teils auf den Herrschasten lebt; dieselbige ließ sich gleich darauf bei meinem gnädigsten Herrn anmelden und hatte ein langes pour parler mit ihm. Kaum war sie fort, wurde Iffland wieder herbeigerufen und diesem der Befehl erteilt, den gewissen Wulf, wofern er sich hier einstelle, unter keiner Bedingung debütieren zu lassen, weil sein öffentliches Erscheinen nicht gewünscht werde!« –
Hier unterbrach Wulf den Berichterstatter mit der ängstlichen Frage, »ob der Kammerdiener den Namen der Witwe genannt?« –
»Nicht allein, daß er sie nicht nannte, schien er seine Schwatzhaftigkeit zu bereuen. Er nahm uns das Gelübde ab, zu schweigen. Wir versprachen es, ich mit dem Vorbehalte, eine Ausnahme zu machen, wenn jener Wulf hierher käme und mich besuchte. Diese Ausnahme, sagte der Kammerdiener, gestatte ich Ihnen gern, ja ich wünsche sogar, daß sie stattfinde; denn je eher dieser Patron sich wieder auf die Strümpfe macht, desto angenehmer für uns (!) und desto besser für ihn! – So weit geht mein Rapport. Ich vermag den Zusammenhang dieser mysteriösen Geschichte nicht zu ergründen; Sie werden wissen, was Sie daraus machen, was Sie thun und lassen sollen!«
»Was ich lassen soll,« rief Wulf, »ist jede Hoffnung! Was ich thun soll, ist Ihnen danken ... und weiter ziehen. Es ist nicht Furcht, was mich vertreibt, denn ich hätte nichts zu befürchten; es ist Zartgefühl und Schonung für ... diejenigen, denen meine Anwesenheit unbequem scheint. Iffland darf den Anteil, den er mir schenkte, nicht durch Verlegenheiten büßen. Ich will ihm ein paar Zeilen schreiben und dann auf und davon!«
»Wohin gedenken Sie? ...«
»Weiß ich's, wohin der Fluch mich treibt?«
Und sie trennten sich; Wulf in der Meinung, den braven Mann nie wieder zu sehen.
* * *
Ist sie langweilig die Strecke durch brandenburgisch Land bis nach Mecklenburg hinein! – Unterwegs erfuhr Wulf von einem aus Hamburg kommenden Schauspieler, daß der große Ludwig Schröder die dortige Theaterführung noch einmal übernommen habe. Dies bestimmte ihn, Schwerin, wohin sein Augenmerk sich eigentlich gerichtet, fürs erste aufzugeben und bei Schröder anzuklopfen. »Wenigstens seh' ich auch den von Angesicht zu Angesicht, wenn's gleich zu weiter nichts führt!«
Eintritt bei Schröder zu erhalten, fiel nicht schwer; es waren bestimmte Geschäftsstunden festgesetzt, wo jeder ihn sprechen konnte. Wulfs Anerbieten wies er entschieden ab mit der kurzen Erklärung: »Sie finden mich des ganzen Wesens höchst überdrüssig und ich denke nur daran, wie ich eine Last abstreife, die ich nur, von unverzeihlichen Selbsttäuschungen verlockt, leichtsinnig aufgebürdet. Ich bereue sehr, den stillen, ländlichen Aufenthalt zu Rellingen gegen dies Leben voll Sorgen und Ärger hingegeben zu haben, wo ich weder Dank noch Segen für alle Mühen ernte. Publikum und Schauspieler sind verwildert, die Geschmacksrichtung ist eine durchaus verkehrte geworden ... ich werde alles liegen lassen, um mich nur bald wieder ins Privatleben zurückzuziehen, sei es mit den größten Aufopferungen. Während dieser Übergangsperiode neue Engagements zu versuchen, ist nicht ratsam. Es thut mir leid, Sie fortschicken zu müssen.«
»Darauf bin ich gefaßt gewesen, als ich kam,« erwiderte Wulf. »Mir war's nur darum zu thun, jetzt, nachdem ich Iffland kennen gelernt, auch den gewaltigen Künstler in Person zu schauen, von dem mein verstorbener Vater Bäcker so oft gesprochen; den er nur den Großmeister nannte.«
»Sind Sie Maurer?« fragte Schröder dazwischen, wahrscheinlich durch die Benennung »Großmeister« irre geführt, welche ihm als Deputierten der niedersächsischen Provinzialloge geworden. Wulf seinerseits, der vom ganzen Freimaurertum keine nähere Kenntnis hatte, faßte das falsch auf und erwiderte verlegen errötend: »Nein, Tapezier sollte ich werden, brachte es aber nur bis zum Lehrjungen.« Dieses Mißverständnis veranlaßte fernere Fragen und Auskünfte, und das Ergebnis derselben war die Bewilligung, sich des Abends noch einmal einfinden zu dürfen; eine Bewilligung, von der, wie leicht zu denken, unser Freund sich sehr beglückt fühlte und auf die Minute pünktlichen Gebrauch davon machte. Es war noch ein Dritter zugegen: »Professor Meyer aus Bramstedt« nannte ihn der Hausherr. Unwillkürlich bot sich der Vergleich dar zwischen dieser Vereinigung dreier Personen und jener in Breslau. Dort wie hier vermittelte sozusagen zwischen dem reisenden Komödianten und einem hochgeachteten, in bürgerlichen Ehren stehenden Künstler, Schriftsteller, Bühnenbeherrscher, ein Theater-Freund, -Kenner, -Kritiker. Wulf, in Hamburg derselbe, der er in Breslau sich gezeigt, fand gleichwohl den bedeutsamen Unterschied bald heraus, der die heutige Gruppe am »Gänsemarkt« von der Breslauischen in den »drei Bergen« abtrennte. Dort hatten gesellig-leichte Grazie, scherzhafter Humor, schwach verhüllter Epikurismus sich wie Blumenkränze zwischen ernsten und geistreichen Aussprüchen durchgewunden. Hier walteten künstlerischer Ernst, besonnener Rückhalt, imponierende Würde vor, deren Herbigkeit nur durch Meyers gutmütig sanftes Benehmen gemildert wurde. Damit der Scherz nicht gänzlich ausgeschlossen bleibe, erwähnte Schröder lächelnd die Geschichte vom »Maurer und Tapezier,« die auch Meyern herzlich lachen machte, diesen aber doch zu der Frage trieb: weshalb Wulf nicht Gelegenheit gesucht habe, sich jenem großen Bunde zu verbrüdern?
»Ein umherziehender Schauspieler, Herr Professor! Ein Mensch ohne Namen, Geltung, Einfluß! Wie sollte der sich in solche Verbindung zu drängen wagen? Was könnte der ihr darbieten, mitbringen? Müßte er nicht besorgen, sich schimpflich zurückgewiesen zu sehen?«
»Wer weiß auch,« sagte Meyer, ihn freundlich betrachtend. »Ihnen hat die Natur einen leserlichen Empfehlungsbrief ins Gesicht geschrieben, und Ihre Stimme bekräftigt solche Schrift. Wie ich das finde, würden es gewiß auch andere anderer Orten gefunden haben. Was mich betrifft, ich gebe bei der Ballotage niemals schwarze Kugeln; auch nicht, wenn ich öftermalen einsehe, daß dem Bunde durch den Aufzunehmenden kein sonderlicher Gewinn erwächst. Halte ich ihn nur für einen ehrlichen Kerl, so denke ich: dient er nicht der Maurerei, je nun, so dient sie ihm vielleicht! und ich gebe in Gottes Namen meine weiße Kugel.«
Schröder schüttelte den Kopf zu dieser Ansicht. Ihm stand die Sache höher, dünkte ihm wichtiger als Meyern, der offen zu bekennen pflegte, ihm gefalle bei der ganzen Maurerei hauptsächlich, daß in ihr jedweder Mensch nur den Menschen sehen wolle, ohne die sonst im Leben notwendige Sonderung der Stände. Übrigens sei ihm die Geheimniskrämerei zuwider. – Das mag der einzige Punkt gewesen sein, worin jene zwei vorzüglichen, durch so viele Bande vereinigten Männer voneinander abwichen.
Wulf entgegnete Meyern: »Es kann schon sein, daß es dem reisenden Schauspieler Vorteile bringt, wenn er sich hervorragenden Persönlichkeiten als Glied eines weitverzweigten, wirksamen Vereines zu erkennen geben darf. Ich aber gestehe ein, daß ich trotz der mir gebührenden Bescheidenheit mich zu stolz fühle, nach dergleichen Hilfsmitteln zu haschen. Was ich etwa erreichen soll, will ich nur meinem Talent verdanken.«
»Sehr edel gedacht,« sagte Meyer; »wenn nur das liebe Talent auch immer gleich erwünschten Platz fände, sich. zu zeigen. Was denn aber, wenn es ohne Protektion dazu nicht gelangt, wenn es im Verborgenen bleibt wie jetzt in Berlin?«
»Das war ein ganz eigentümlicher Fall. Der Generaldirektor meinte es gewiß gut mit seinem Anerbieten; auch über die kleinlichen Kabalen hätte ich gesiegt... es ist von Außen ein Hindernis gekommen, welches ihm die Hände band ... Mir ward nun einmal nicht beschieden, mich aus dem Schlamme, worin ich mühselig knete, auf sichern, festen Boden zu retten.«
»Das ganze deutsche Theater wird bald im Schlamme versinken,« seufzte Schröder, bei welchem gerade damals der Unmut über das entschiedene Mißlingen seiner neuen Unternehmung aufs höchste gestiegen war.
»Je nun, wir dürfend wohl behaupten,« fiel Meyer ein, »wir haben bessere Tage gesehen.«
»Und schönere Abende.« ergänzte Schröder.
»Die schönsten für mich waren immer diejenigen, an welchen ein Stern leuchtete, der ...«
»... Der im Erbleichen ist! Gedenken Sie seiner vor den Menschen, Meyer! Sie müssen mein Biograph sein.«
»Was reden Sie, Freund? Es ist höchst unwahrscheinlich, daß ich Sie überlebe. Sie besitzen mehr Lebenskraft als ich.«
»Besaß sie, Freund; sie ist längst aufgerieben, und das jüngst verflossene Jahr hat sie vollends erschöpft. Sie sind es unserem vertrauten Umgange schuldig, meiner Achtung und Anhänglichkeit für Sie, daß Sie der Nachwelt ein treues, unparteiisches Bild von mir und meinem redlichen Schaffen hinterlassen!« –
»Der Nachwelt? Das ist ein sehr umfassender Begriff. Ich fürchte, es würde ein unvermeidliches, wenngleich pflichtgeborenes Unglück für diese von mir zu liefernde Biographie werden, daß ihre bescheidenen und sorgfältig gewählten Worte nur wohlunterrichteten Lesern ganz verständlich sein können. Und leider giebt's der verständigen Leser nicht viele. Das Publikum, worauf ich mich beschränken muß, sind Zween ... oder niemand. Eine kleine Nachwelt!«
Als der edle Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer so entmutigt und entmutigend redete, ließ er sich schwerlich träumen, daß er seinen großen Freund um volle vierundzwanzig Jahre überdauern, daß er aber bald nach dessen Hingange jene Lebensgeschichte beginnen, abfassen, vollenden und mit ihr ein des Gegenstandes würdiges Monument aere perennius errichten sollte! Schröder hat richtig vorausgesehen. Denn obgleich der andere gleichfalls die Wahrheit sprach, daß sein Buch nur eine kleine Anzahl bewundernder Kenner befriedigen werde ... diese bilden ja die Nachwelt! Diejenige Nachwelt nämlich, welche der Künstler meinte, in deren Gedächtnis er fortzuleben wünschte. Was kümmerte ihn die übrige Welt? –
Wulf ging mit dem guten »Bramstedter« bis an dessen Absteigequartier. »Wie wunderbar,« sagte er zu diesem, »daß der heutige Abend dieselbe Wendung nahm als jener mit Iffland! So abweichend Ton und Benehmen beider, so verschieden das Wesen Schalls von dem ihrigen, so unvergleichbar die Eindrücke sein mögen, die ich dort und hier gewann ... in einem trafen beide zusammen; in der Klage darüber, daß ihre Schöpfungen – ihre Schöpfungen als Schauspieler, nicht als Schriftsteller! – mit ihnen sterben und begraben sein werden. Jeder hatte andere Worte für dieselbe Empfindung; bei jedem aber klang der Schmerz des Künstlers durch, der seine Kunstwerke in Rauch aufgehen sieht und höchstens auf eine ihn überlebende Schilderung ihres Wertes hofft. Ein jammervoller Trost ... aber doch ein Trost für Unsereinen! Was dürfen wir armseliges Gesindel verlangen, wenn es um die ersten und besten so schwach steht? Und was haben wir am Ende verloren, wenn wir glanzlos ermattet niedersinken, ohne jemals geglänzt zu haben? Da heißes wie in Matthisons schönem Gedichte: »Eines Weltbeherrschers stolzen Scheitel und ein zitternd Haupt am Pilgerstab deckt mit einer Dunkelheit das Grab.« Aber eine Gunst können Sie mir doch erweisen, lieber Herr Professor, ehe Sie morgen nach Ihrem Bramstedt ziehen, und ich meinen Stab setze ... wer weiß, wohin? Die eine Gunst, mir zu erklären: weshalb scheint es mir unmöglich, Iffland und Schröder miteinander zu vergleichen? Welche Kluft trennt die beiden ersten Schauspieler Deutschlands; daß ich ihre Personen, die doch lebenslang ein Ziel verfolgten, wie auf ganz gesonderten Pfaden, in widersprechenden Richtungen zu erblicken wähne? Schröder hab' ich nicht spielen sehen, dennoch bin ich fest überzeugt, er ist auf der Bühne ein ganz anderer wie Iffland. Worin liegt das?«
»Sie haben den sichern Blick des Instinktes; Sie besitzen das Urteil des Mannes vom Fach; Sie sehen was ist! Iffland, aus gutem Hause, zwar heimlich entlaufen, doch in geregelten Bühnenverhältnissen aufstrebend, war ein Glückskind, genoß höfische Gunst, bildete in ihr sein geistiges Vermögen, überwand körperliche Mängel und Schwächen, mußte die fehlende Natur oft durch Kunst ersetzen, lernte dabei künsteln, verkünstelte sich mitunter, bewahrte doch sein reiches Herz, unterlag nicht selten glühender Leidenschaft, neigte sich als genußsüchtiger Lebemann manchmal zur Schwelgerei, hob sich dazwischen als bedeutender Autor, schuf tüchtige gediegene Charaktere (was dem eigenen Charakter auf die Länge immer zu gute kommt!), stieg mit ausdauerndem Fleiße, klarem Verstande konsequenter Willenskraft bis an die Stufen eines Thrones; blieb treu und deutsch und fest, während dieser Thron wankte ... und wurde, was er nun ist und mit Recht gilt. Schröder dagegen war ein Theaterkind ... Sie wissen aus Erfahrung, wie sich das zum Glückskinde verhält! Ein zwischen kümmerlich unsteten Komödianten, Gauklern, Seiltänzern umhergeworfener Junge, gering geschätzt, gemißhandelt von den Seinigen, in den Strudel wilder Begierden gerissen, durch Not und Leiden geläutert, erfaßte er mitten im niedrigsten Leben das Leben selbst, durchdrang es und ward von ihm durchdrungen, brauchte nicht zu klügeln, zu berechnen, abzuwägen, wie weit seine Kräfte wohl reichten, es künstlerisch veredelt wiederzugeben. Seine von tausenderlei Anstrengungen und körperlichen Exercitien gestählten Muskeln hielten den für die Bühne eigentlich zu hohen Wuchs in festem Gleichgewichte, verliehen ihm Kraft, jeder Anstrengung zu genügen. Das Sprachorgan, ohne Eckhofs Zauber zu üben, ist doch eben so biegsam als stark, eben so weich als dauerhaft. Er wollte immer nur, wovon er fühlte, daß er es vermöge; deshalb vermochte er, was er wollte. Iffland mit allem Suchen, Prüfen. Wählen hat oft fehlgegriffen, wo die Natur nicht ausreichte; Schröder selten oder nie, weil seine Natur ihn auf die Kunsthöhe trug. Iffland ist der vornehme, hochgeachtete, höchst achtungswürdige Hofschauspieler im neueren, kleinlich ausmalenden, geistreich zersetzenden ... Schröder ist der echte, geniale deutsche Komödiant im alten, grandiosen, aus dem Ganzen schaffenden Stile. Er und das heutige Theater können sich nicht mehr ineinander finden. Nun sieht er selbst es ein und denkt nur daran, baldmöglichst wieder davon los zu kommen. Diesem unglücklichen Zustande allein müssen Sie's zuschreiben, daß er Sie keiner näheren Prüfung unterzog. Er will nichts mehr mit der Sache zu thun haben. Sie trafen's eben schlecht.«
»Wie überall und immer! Dennoch bringt mir mein Unglück fast jedesmal Glück.«
»Inwiefern? Welches Glück wäre Ihnen denn hier begegnet? Was nehmen Sie denn Gutes von Hamburg mit auf Ihre Ungewisse Wanderung?«
»Das Angedenken des heutigen Abends!«
Professor Meyer wollte das Gespräch noch fortsetzen; zuversichtlich in einer für Wulf günstigen Absicht. Doch dieser hatte ihn bereits verlassen.
* * *
An einem klaren milden Märztage gehen im Nadelholzwalde bei Ludwigslust zwei Männer spazieren, die sich angelegentlich über theatralische Gegenstände unterhalten. In dem einen erkennen wir ohne Mühe unseren Wulf. Der andere, der ihn um eine halbe Kopfhöhe überragt, ist der dramatische Schriftsteller und Schauspieler Gustav Hagemann, dessen Redefluß im vollsten Gange ist ... »und ich fand wirklich, da ich mein Zimmer betrat, ein kleines Kästchen vor, welches eine bedeutende Summe schwerer Goldstücke enthielt. Das beiliegende Briefchen, obgleich vorsichtig abgefaßt, ließ keinen Zweifel weder über die Person, noch über deren Absichten auf mich. Vielleicht sehen Sie mir's noch an, daß ich einst gewesen bin, was die Weiber einen schönen Mann zu nennen belieben; eine Eigenschaft, worauf ich niemals besonderen Wert gelegt, weil mir der Ruf eines erträglichen Schriftstellers, eines guten Schauspielers, eines redlichen Menschen wünschenswerter galt. Vorteil von meiner Gestalt zu ziehen, mich zu verkaufen wie so viele unserer Kollegen, lag mir fern. Die Herzogin war, wenn auch nicht mehr jung, doch immer noch eine blendende Erscheinung. Wer weiß, wozu mich Eitelkeit und Jünglingsfeuer verleitet, hatte sie mir in anderer Weise zugesetzt! Mit ihrer Geldsendung widerte sie mich an. Was sollt' ich beginnen? Den Mammon an sie zurückzuschicken dürft' ich nicht wagen; das wäre ein crimen laesae geworden; man hätte die Sendung verleugnet; Beweise fehlten mir. Ich schickte die Souveräns der Armendirektion, die ich im Wochenblättchen über richtigen Empfang quittieren ließ. Das Residenzlein geriet in diskreten Alarm. Binnen vierzehn Tagen entließ mich der Kammerherr, dem das herzogliche Schauspiel unterstand, aus meinem Engagement, obschon der Kontrakt noch lief. Einwendungen zu machen, untersagte mir mein Stolz. Ich ging. Seitdem hab' ich keinen festen Halt mehr gefunden und werde ihn nicht eher finden, als bis ich von den Brettern in die Bretter gelange; Sie wissen: »Sechs Bretter und zwei Brettchen.« wie unser viel verkannter Bürger singt. Dabei bleib' ich heiteren Sinnes! Haben Sie mir abgemerkt, daß ich traurigen Gedanken nachhänge? Haben Sie mich seufzen hören, die Augen verdrehen gesehen? Und bin doch so viel älter wie Sie; Sie sind ein Kind neben mir, könnten mein Sohn sein! Können leichter tragen wie ich! Also fort mit Niedergeschlagenheit und Trübsinn. Hier geht's uns noch lange nicht so schlimm, wie's gehen könnte. Ich denke, wir habend schon beide schlechter gehabt. Dieses Mecklenburg ist ein eigen Stück Welt; genießt den doppelten Natursegen des Waldes wie der See; wird von einem derben, biederen, kräftigen Menschenschlage bewohnt. Und wenn Sie erst Schwerin, Rostock, Wismar, Güstrow kennen lernen, werden Sie eingestehen, daß es sich für Leute unseres Standes hier fast besser leben läßt, als irgend sonst in Deutschland.«
»Das gesteh' ich Ihnen heute schon zu, lieber Hagemann, wo ich erst Ludwigslust kenne. Aber um so mehr muß ich mich wundern, daß Sie diesen nicht unangenehmen Aufenthalt schon wieder aufgeben. Weshalb gehen Sie?«
»Weil's mich nicht leidet! Weil's mich forttreibt. Wer gewisse Jahre überschritten hat, ohne sich fixiert zu haben, der wird zuletzt wandertoll. Gründe kann ich nicht angeben. Mit Direktion und Publikum bin ich leidlich zufrieden, beide scheinen es auch mit mir zu sein. Ihr Umgang sagt mir zu ... dennoch jagt mich's auf und davon. Doch damit ist nicht gesagt, daß wir uns nicht bald wiedersehen könnten. Wofern Sie nur ein Weilchen im Engagement bleiben, mag's leicht geschehen. Ich war schon mit verschiedenen Unternehmern hier, bin abgegangen, bin mit anderen wiedergekehrt ... ich hab' eine Vorliebe für diese Obotriten. Auch hab' ich hierzulande schon mancherlei erlebt, schon allerlei Wechsel im Theaterwesen gesehen: Steigen wie Fallen. Hab' nette Menschen gefunden. Zschokke hat in Schwerin sein Brot als Hauslehrer erworben und von hier aus für Reichardts Theaterkalender Berichte geliefert, in denen er den in Mecklenburg vorherrschenden Geschmack und die ästhetische Bildung nicht eben gar hoch stellt. Das war vor etlichen und zwanzig Jahren; jetzt sieht's schon besser aus ... Und wissen Sie denn, daß Schröder ein Schweriner Kind ist!«
»Schröder? Der große Ludwig Schröder?«
»Ja, die Stadt am schmalen langen Landsee darf sich der Ehre rühmen, ihn geboren zu haben. Es war 1789 unter Fischers Direktion, wo wir gerade den Geburtstag der Prinzessin Ulrike, einer geistvollen Gönnerin des Theaters, feierten, daß Schröder zum Besuche seiner Vaterstadt eintraf und dem Schauspiel ›Spielerglück‹ beiwohnte. Ich war damals für Ihr Fach angestellt, und ich erlaubte mir, im Vertrauen auf die allgemeine Gunst, unangemeldet herauszutreten und ihn mit einer Gelegenheitsrede zu begrüßen, die ich wahrhaftig heute noch auswendig weiß; sie lautete etwa so:
Nehmt immer unsrer Kunst in unserm Vaterlande
(Wo freilich wohl nicht jeder Künstler denkt),
Nehmt ihr den Glanz, den ihr das Ausland schenkt;
Laßt unserm Leben Armut, unserm Hügel Schande;
Laßt hier und da Thespis auf Karren reisen
Und seinen Altar unter Brettern baun; ...
Wir haben einen Namen aufzuweisen,
Auf den wird Welt und Nachwelt noch bewundernd schaun.
Frankreichs
Lekain ist neben ihm verschwunden,
Bescheiden räumt ihm
Garrik selbst den Vortritt ein
Und will den Lorbeerkranz, von Musen ihm gewunden,
Nun seinem Sieger,
unserm Garrik weihn.
Der Mann, ich brauch' ihn nicht zu nennen,
Denn wenn wir Deutsche sind, so müssen wir ihn kennen,
Der Mann ist hier: und sieht – o Stolz für diesen Kreis! –
Mit Kennerblicken unsre Arbeit, unsern Fleiß.
Doch ach, wenn's auch nur
einmal wär',
Ach wenn er neben uns auf dieser Bühne stände,
Teil nähme, mit an unserm Kranze bände,
Durch Meisterwerk uns die Gesellen ehrte,
Die schwache Kraft ermutigend vermehrte! ...
Er widmete dann seinem Heimatland
Den Ehrenkranz, den deutsches Volk ihm wand. –
Die Anwesenden unterstützten durch vielstimmigen Zuruf meine Aufforderung!«
»Und was that er?«
»Er entschuldigte sich gebunden zu sein; er müsse morgen abreisen. Später zu kommen versprach er; ob er's gehalten, kann ich selbst nicht sagen, denn meines Bleibens war nicht mehr lange nachher. Ich war erbost, daß er dem so laut und herzlich ausgesprochenen Wunsche widerstehen mochte. Seine Entschuldigung galt mir für keine. Wenn sein Gefühl ihn dazu getrieben, hätte er leicht die Abreise um einen Tag verzögert. Der viele Weihrauch thut dem Herzen nicht gut. Lassen wir das! Es thut mir weh! ... Ein anderer Name von gutem Klang lebt mir auch noch in der Erinnerung: Karl Ludwig Fernow, der spätere Jenaische Professor. Der hat viel fürs Theater gethan, darüber geschrieben, leider auch gegen den armen Fischer, der mit seiner Direktionsführung in manche Klemme geriet; wie das denn niemals ausbleibt. Das sind gewöhnliche odiosa. Ich will Ihnen lieber noch etwas Fröhliches ans mecklenburgischem Theaterleben mitteilen, womit Fernows Feder in Verbindung stand. Wir hatten eine junge Schauspielerin, Demoiselle Werthen, die sehr beliebt war und mit Recht; sie heißt jetzt Hartwig. Dies gute Mädchen ward von den bösen Blattern befallen. Die Ärzte gaben sie fast auf. Ihr Zustand erregte das allgemeinste Bedauern. Desto lauter brach die Freude aus, wie sie außer Gefahr erklärt wurde. Doch drohten die Pocken merkliche Spuren zu hinterlassen, und da wurden zur Glättung und Regeneration der zarten Haut Bäder in lauwarmer Kuhmilch verordnet. Dergleichen Verordnungen sind leicht erteilt, aber schwierig auszuführen. Um eine Badewanne hinreichend zu füllen, braucht es viel. Was thaten die jungen Herren? ... deren übrigens keiner dem sittsamen Mädel näher gestanden ... Sie bildeten an jedem Morgen eine Reihe von der Apothekerstraße, wo sie wohnte, bis zur Holländerei im Ostdorf, und durch diese Reihe gingen die Milchgefäße von Station zu Station, von Hand zu Hand, wie die Löscheimer bei Feuersbrünsten, so daß die frischgemolkene Flüssigkeit noch lau und brauchbar anlangte. Bei solchem Liebeswerke beteiligten sich auch die Stutzer, und das hat mich mit verschiedenen Zierbengeln ausgesöhnt, die mir sonst sehr zuwider waren. Die Milch that Wunder. Weißgebleicht erschien die Genesene als ›Gurli,‹ in welcher Rolle sie besonders beliebt gewesen; und für ihren Austritt hatte ihr Fernow eine Rede gedichtet, im Charakter jener kleinen Indianerin, nur um vieles wahrer und poetischer als die Rolle selbst. Leider besitz' ich sie nicht mehr. Aber ich entsinne mich einiger Zeilen daraus, die so tiefe Wirkung machten, daß kein Auge trocken blieb:
O Gurli kann's mit Worten euch nicht sagen!
Sie fühlt sich unaussprechlich froh;
Noch nie war ihr an dieser Stelle so.
Und ach, nur noch vor wenig Tagen
War sie dem Tode nah. –
Der böse Tod, nun kenn' ich ihn! Ja, ja.
Scherzt nicht mit ihm; wünscht nicht, daß er erscheine!
Traun, wenn er kommt, dann ist's kein Scherz,
Dann zagt wohl auch des Kühnsten Herz,
Hu, eiskalt rieselt er durch Glieder und Gebeine,
Ein schauerlicher Gast!
Jedoch, so gern auch Gurli länger noch zu leben
Gewünscht – war Gurli doch gefaßt,
Und ruhig sah sie ihn ums Lager schweben.
Wie sie ungeziert und mit fester Stimme diese Verse sprach, hätt' ich ihr zu Füßen fallen mögen. Man hörte es dem Tone an, daß sie wirklich bereit gewesen, dein Leben zu entsagen. Und nun der Jubel, der die Lebendige begrüßte! Das war ein unvergeßlicher Abend. Einer von den wenigen, wo wir armen Komödianten aus unserer Erdennacht zum Sternenhimmel aufschauen.« –
Ähnliche Mitteilungen bei ähnlichen Spaziergängen eigneten sich recht, den bald darauf erfolgenden Abgang Hagemanns dem zurückbleibenden Wulf doppelt fühlbar zu machen. Er sah sich wieder völlig vereinsamt, weil er seinem Vorsätze treu blieb, nie mehr an den Gelagen teilzunehmen, die reisenden wie einheimischen Schauspielern allzu bereitwillig von sogenannten Kunstfreunden dargeboten werden. Einer der Aussprüche, welche der Bramstedter Meyer bei Schröder gethan, war ihm ins Innerste gedrungen: »Es ist nie zu spät, Kenntnisse zu erlangen. Die Fähigkeit, zu verbinden, zu folgern, zu unterscheiden, welche des reiferen Verstandes Eigentum ist, vermag in vielen Fällen das regsamere Gedächtnis und die Lebhaftigkeit der Jugend aufzuwiegen.« So hatte der Professor gesagt, und weil Wulf sich diese Lehre thätig zu nutze machte, litt er nicht an Langweile, auch an Tagen nicht, wo er seitens der Bühne unbeschäftigt blieb. Kollegen, die ihn darüber neckten, pflegte er zu entgegnen: »Daraus läßt sich hauptsächlich unseres Standes Elend herleiten, daß fast keiner von euch Trieb zeigt, seine leeren Stunden durch eine fesselnde und ihn geistig fortbildende Thätigkeit auszufüllen. Die Langweile wirkt mächtiger als die eigene Überzeugung; sie zwingt euch, mit rohem Umgange vorlieb zu nehmen, überantwortet euch den Kneipen, entfremdet euch dem Berufe; dabei verleppert ihr eure letzten Groschen und verdummt obenein.«
Daß dergleichen Lehrsätze ihn bei den männlichen Mitgliedern der Gesellschaft nicht beliebt machten, ist leicht zu begreifen; unter den weiblichen zählte er wohl einige Verehrerinnen. Das waren ihm aber nicht die rechten. Ihm hatte eine erst kürzlich zur Truppe gestoßene Berlinerin, eines bekannten Bildhauers Tochter, durch ihre wahrhaft plastische Schönheit die Möglichkeit gezeigt, sich noch einmal zu verlieben! Und gerade diese befand sich nicht unter Men Verehrerinnen, schien kaum auf ihn zu achten. Es war ein verwöhntes Dämchen, hielt sich zu großen Ansprüchen berechtigt. Hatten doch Schadow, Wichmanns, Friedrich Tieck und mehrere Künstler sich eifrig darum beworben, ihre Reize in Thon und Stein zu verewigen. Prangten doch ihre makellose Büste, ihr edelgeformtes Antlitz in manchem Atelier! Minder begründet stellten sich die Ansprüche dar, die sie als beginnende Schauspielerin machte. An Verstand und Einsicht fehlte es der Schönen nicht, wohl aber an Wärme, Weichheit, Modulation, vielleicht sogar an eigentlicher Darstellungsgabe. Wulf hat ihr das ehrlich zu Gehör gebracht. Seine Wahrheitsliebe schrillte als Mißton in die Schmeicheleien minder Aufrichtiger. Sie grollte ihm lange. Auf der Fahrt nach Stralsund, wo die Gesellschaft für einige Zeit ihr Lager aufschlug, kamen sie einander näher. Demoiselle Unger besaß denn doch zu viel Sinn fürs Bessere, hatte in Berliner Künstler- und Gelehrtenkreisen feineren Schliff bekommen, sah endlich im Theater mehr als die meisten hübschen Lärvchen, die eben nur dazulaufen, um diese Lärvchen zur Schau zu stellen. Sie vermochte folglich auf die Länge nicht zu verkennen, daß Wulf mehr sei, als ein gewöhnlicher guter Akteur. Und da schloß sich denn der seltsamste Bund. Ihrerseits Anerkennung, Achtung, Bewunderung für den bedeutenden Künstler, den originellen Menschen, doch keine Spur von sinnlichen Regungen für ihn! seinerseits besonnener Zweifel an Friederikes Bühnenberuf, kalt beurteilende Zergliederung ihrer anderweitigen Eigenschaften; doch dabei eine aufs höchste gesteigerte, leidenschaftliche Glut! Vielleicht eigneten sich so widerstrebende Elemente trotz – ja wegen – ihrer Verschiedenheit zur sichersten Grundfeste dauernder Vereinigung. Doch das Verhängnis wollte den Versuch nicht gestatten.
Sie kehrten mit Breedes Truppe nach Mecklenburg zurück. In Rostock gesellte sich als neues Mitglied ein Herr Stavinsky zu ihnen, der als Kaufmann Herb im Lustspiel »Der Amerikaner« debütierte. Ein talentvoller Nachahmer Ifflands mit selbständiger Produktionskraft. Noch jung, von vorteilhafter Gestalt, vielseitig und gewandt. Komischen wie ernsten Charakterrollen entsprechend, war er auch in der niedrigen Posse heimisch und gab z.B. als Dorfbarbiersgeselle »Adam« ein meisterhaft ausgeführtes Scherzbild zum besten. Das hinderte ihn keineswegs, von den Rechten des Debütanten Gebrauch zumachen und den »Dünois« in Schillers Johanna zu geben, der doch in Wulfs Domäne (in Mecklenburg sagen sie Domäne) gehörte. Daß durch Stavinskys imposante Heldenfigur unser Held nicht allein in seinem kontraktlichen Rechte, sondern auch in den Augen vieler, aufs äußerliche achtenden, Zuschauer und Schauerinnen recht eigentlich verkürzt wurde – er war um einen halben Kopf kleiner – das beachtete er nicht und lachte dazu. Daß ihm der Bastard von Orleans aber auch die Agnes Sorel ungetreu machte; daß die schöne Berlinerin ihren Landsmann sehr bald dem bisher mehr verehrten als geliebten Freunde vorzog, diesem den Abschied und jenem die Hand am Altare gab... das ging ihm über den Spaß. Er kündigte. Und die Direktion nahm die Kündigung an, weil sie mehrfachen Ersatz, in ihrem Sinne, hatte. Der Petersburger deutsche Hofschauspieler Aresto, Verfasser der »Soldaten« und anderer bekannter Stücke, zog gerade auf Gastrollen umher und füllte auch hier manchen Abend aus. Wulf schien wieder einmal entbehrlich. Es ist beinahe, als wären es die Besten immer und überall.
Wohin er sich nun wenden wolle, überlegte er gar nicht. An Gelegenheit unterzukommen konnte es nicht fehlen zur Zeit, wo Mangel an jüngeren Schauspielern fühlbar ward. Denn Deutschland war erwacht und hatte sich zum großen Kampfe erhoben. Von dem beweglichen rüstigen Völklein, welches in gewöhnlichen Zeitepochen und im Frieden Rekruten verschiedenartigsten Kalibers unter Thalias Fahnen zu liefern Pflegt, waren nicht wenige dem dröhnenden Rufe welterweckender Drommeten nachgezogen, um sich in kriegerischen Reihen dem Erbfeinde entgegenzustellen. Wer zu den »Dreißigern« zählte wie Wulf, der durfte jetzt beim Theater auf blühendes Jünglingstum Anspruch machen. Ihn ergriff die allgemeine deutsche Begeisterung nicht. In ihm war die Erinnerung jenes dumpfen Grolles, den er in Piastau wider unsere Unterdrücker gehegt und geäußert, schon erloschen. Er selbst hatte seither zu tief gelitten, fühlte sich zu schwer bedrückt, wollte keine erhebende Regung mehr in sich aufkommen lassen. Wahrscheinlich würde er in einer anderen Umgebung anders empfunden haben, würde, wo es um ihn gestürmt und geglüht hätte, mit fortgerissen worden sein. Gerade wo er sich während jener ewig denkwürdigen Tage befand, zeigte sich – seinen Blicken wenigstens – kein ermunterndes Beispiel; und er hüllte sich als skeptischer Misanthrop in das künstlich gewobene Gewand spöttischen Zweifels. Ja die Krankheit seines verletzten Herzens gewann so viel Macht über ihn, daß er sich fast zum blinden Glauben an die Wiederherstellung napoleonischer Weltmonarchie hinaufschraubte. Leider ist es nicht der einzige, sonst edle, Mensch gewesen, der solch' schmählichen Verrat an Deutschlands Wiedergeburt übte! Er affektierte die auffallendste Gleichgültigkeit gegen Gunst oder Ungunst des Waffenglücks; nahm absichtlich von den allerdings sich oft widersprechenden Kriegsnachrichten gar keine Kenntnis. Da konnte leicht geschehen, was ihm geschah, daß er, von Ort zu Ort streifend, die unsicheren Spuren irgend einer reisenden Bande verfolgend, mitten ins Getümmel der Waffen geriet, welchem er auszuweichen getrachtet. Ein Transport des Lützowschen Freicorps war vom Feinde überfallen und unter anderen ein Adjutant des Generals durch die Brust geschossen worden. Als Wulf auf seinem Einspänner des Weges gefahren kam, wurde der Gebliebene unter einer Eiche bestattet. Der Name »Theodor Körner« machte ihn aufmerksam; den hatte er unter dem Titel einiger neuen Schau- und Lustspiele gelesen. Das war ein Theaterdichter, den sie da begruben, und zugleich der begeisterte Sänger, sagte man ihm, dessen Lieder von Karl Maria Webers Tönen getragen, dem Brausen heiliger Eichenhaine gleich, durchs deutsche Land ziehen, jeden aufrufend, der gesunde Glieder und starke Arme hat.
In Wulfs Herzen arbeiteten schmerzhafte Zuckungen, ihm neu und fremd. Er unterdrückte sie gewaltsam. »Was geht's mich an?« wiederholte er; »wer keine Heimat findet, hat auch kein Vaterland!«
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Der Verfasser sieht sich genötigt, auf einige Minuten hervorzutreten und in »eigenen Angelegenheiten« den Erzähler zu unterbrechen. Schon früher hat er sich bei geneigten Lesern entschuldigt wegen unvermeidlicher Mißdeutungen, welche durch die seinen handelnden Personen beigelegten Familiennamen veranlaßt werden können. Es ist keine Verletzung des Zartgefühls, wenn er allbekannte, geachtete oder berühmte Persönlichkeiten auf ehrenhafte Weise in den Roman verflicht und sie nennt, wie sie hießen und heißen; es ist aber höchst unangenehm, wenn fingierte Namen, deren Träger man eben der Nachforschung entziehen wollte, auf falsche Fährte leiten und andere verletzen, an die der Autor nicht dachte. Wer kann bei sorgsamster Wahl und Prüfung verbürgen, daß er nicht irgendwo anstößt? Ebenso verhält es sich mit Bezeichnung der Gegenden und Städte, in denen die Handlung vor sich geht. Manche darf man unbesorgt hinschreiben; manche wieder gebietet vorsichtige Schonung ungenannt zu lassen. Dies Schwanken zwischen Realität und Fiktion erschwert den Schriftsteller seine Wirksamkeit, zerstört oft den Eindruck beim günstigen Leser und läßt sich doch nicht vermeiden. Es bleibt nichts übrig, als Nachsicht dafür zu erbitten
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Die einer alten Theatersippschaft entsprossene Tollandsche Direktion befand sich nach kriegerischen Unterbrechungen zum erstenmal wieder in einem ihrer Winterstandquartiere, günstigen Erfolges harrend. Die große Leipziger Schlacht, wie sie die fatalistische Zuversicht auf des Weltbesiegers Unbesieglichkeit gebrochen, an welcher seine Truppen und er selbst (trotz Rußlands Winter) noch festgehalten, löste endlich auch mit ihrem Triumphgesänge schmetternden Nachhall die Trostlosigkeit, worin viele redliche Seelen geschmachtet, daß sie sich erfrischender Lebenshoffnung hingaben. Es war ein blühender Herbst, der frühlingsgrünen Winter verkündigte. Mochten Arme wie Reiche, je nach Stand und Vermögen, durch Opfer aller Art erschöpft, mochten Eltern, Geschwister, Bräute und Kinder durch Tod, Verwundung der Ihrigen, durch bange Sorge um den Ausgang noch bevorstehender Kämpfe gebeugt und gequält sein ... das hinderte nicht den Aufschwung höherer Gefühle, freudiger Bewegung. In solchen Tagen allgemeiner begeisterter Aufgeregtheit tritt ein Bedürfnis hervor, sich mitzuteilen, die Mitteilungen anderer zu empfangen, auch bei sonst eingezogen lebenden Menschen; und gerade weil sie, zur Sparsamkeit gezwungen, sich außer stande sehen, Feste zu geben und gesellige Zusammenkünfte zu veranstalten, suchen sie den ersehnten Vereinigungsort im Schauspielhause. Das Theater bleibt unter diesen Verhältnissen immer noch der wohlfeilste öffentliche Versammlungs- und Vergnügungsplatz. Und wenn der Unternehmer dafür Sorge trägt, vor und nach jeder Darstellung die jüngsten Nachrichten vom Welttheater verkündigen zulassen; wenn er Stücke giebt, in denen Anspielungen auf Zeit und Gegenwart enthalten oder anzubringen sind, dann wird er nicht zu klagen haben über »die schlechten Zeiten.«
Die Tollandsche Truppe, größtenteils aus Überbleibseln verschiedener, kürzlich auseinander gefallenen Unternehmungen buntscheckig zusammengefügt, erfreute sich nur zwei hervorragender Mitglieder. Das eine unser Wulf, das zweite Madame Isidoria Brummler. Herr Brummler, ein weniger als mittelmäßiger Akteur, ein mürrisch-verdrossener Mensch, würde diesen Namen mit Recht geführt haben, und ich bedauere, daß ich ihm denselben nur beilege. Wie Frau Isidora zu solchem Gatten kam, vielmehr er zu solcher Frau – kein Sterblicher hat es jemals zu erklären gewußt; und die Zwei, die es vermochten, thaten es nicht. Unterrichtet, sein gebildet, wohlerzogen, belesen, geistreich im Auffassen, decent im Betragen, edel in ihren Bewegungen, schön in der umfassendsten Bedeutung des Wortes! Was eine Schauspielerin kann, hatte sie erlernt; was eine außerordentliche Künstlerin mitbringen soll, damit war sie von Kopf zu Füßen reichlich ausgestattet! ... nur eines fehlte; jenes eine, was sich nicht nennen, nicht beschreiben, nicht definieren läßt, was viele Theaterbesucher gar nicht vermissen, was zarter organisierte Kunstfreunde nicht entbehren mögen, was Wulf so wichtig achtete, daß er es – auf Gefahr seiner persönlichen Freiheit – ihr beizubringen versuchen wollte. Zuerst beschränkten sich die Anläufe zu diesem Versuche auf ein genaues Studium, wie und wodurch Isidorens Schönheit von jener Friederikens unterschieden sei. Der zweite Vergleich, den er zwischen ihnen anstellte, bezog sich auf beider theatralische Begabung. Der dritte erst galt ihren moralischen Eigenschaften. Damit brachte er einige Wochen zu, bevor er ins reine kam. Und weil er Brummlers gegenüber wohnte, wurd' es ihm sehr leicht, Blicke in ihr eheliches Leben zu thun. Das gestaltete sich denn seltsam genug, und die Verbindung zweier so ganz und gar nicht zusammen gehörigen Menschen erschien von Tage zu Tage rätselhafter. Auch an kleinen Zwistigkeiten, die manchmal aus dem Innern der Häuslichkeit in die Gasse drangen, fehlte es nicht; doch behielten sie stets einen mehr komischen Anstrich, wozu die Plumpheit des eigentlich, nicht bösartigen Gatten und die unerschütterliche Ruhe der Gattin beitrugen. Letztere liebte des Abends nach beendigtem Schauspiel am Fenster zu sitzen und zur Guitarre in die Nacht hinein zu singen, was von sämtlicher Nachbarschaft gehört wurde. Doppelfenster galten im Jahre 1813–14 durch den ganzen deutschen Norden noch für einen seltenen Luxus; und Frau Isidorens Singstimme, weit entfernt den Wohllaut ihrer Sprechstimme zu haben, besaß eine schneidende Schärfe. Herr Brummler pflegte, sowie er die Frau nach Hause gebracht, sich ins Weinhaus zu begeben. Dann hielt sie Dunkelstunde ... und sang. Wulf hörte ihr gern zu. Wahrscheinlich milderte sich die Schärfe der Stimme, ehe sie durch zwei geschlossene Fensterflügel bis an sein Gehör drang. Eines ihrer Lieblingslieder war der Goethesche Schäfer, der »da droben auf jenem Berge viel tausendmal an seinem Stabe gebogen steht,« und wir dürfen annehmen, daß sie die elegische Klage über ihre Guitarre gebogen ebenfalls viel tausendmal nach einer hinreichend larmoyanten Melodie vorgetragen. Bekanntlich lautet in diesem wunderbar schönen echt Goetheschen Liede eine Strophe:
»Dann folg' ich der werdenden Herde,
Mein Hündchen bewahret mir sie,
Ich bin herunter gekommen
Und weiß doch selber nicht wie!«
An den letzten zwei Zeilen nahm Wulfs Hauswirt Ärgernis. Er lauerte eines Abends Brummlern auf und sagte ihm wohlmeinend: »Herr, das dürfen Sie nicht leiden. Mag Madame noch so sehr herunter gekommen sein durch die Verheiratung mit Ihnen, erstens muß sie doch am besten wissen wie, und zweitens ist's eine Beleidigung für den Mann, wenn sie's Abend für Abend so laut ausschreit, daß die Fensterscheiben bibbern. Wozu braucht denn das die ganze Nachbarschaft zu erfahren?«
Brummler dankte dem wohlmeinenden Bürger, trat als Censor auf und strich, wo nicht den ganzen Schäfer, doch die verdächtige Strophe. Sie dagegen, von den Brettern schon an wo irgend mögliche Umgehung der Censur gewöhnt, wartete nur auf seine Entfernung, um dann sogleich dem Verbote zu trotzen. Bisweilen verrechnete sie sich; kaum war er über die Treppe hinab geklettert, wenn sie ihn schon im Weinhause wähnte, und die inkriminierten Zeilen erreichten ihn noch. Dann brüllte er wütend hinauf: »Dore, gröle nicht!« Und rings umher öffneten sich die Fenster, aus denen hinter ihm her gelacht wurde.
Dadurch kühlte sich Wulfs Feuer immer auf vierundzwanzig Stunden ab. »Auch eine Göttin müßte an Reizen einbüßen,« rief er dann aus, »wäre sie die Gemahlin eines solchen Lümmels!« Wahrscheinlich dachte er bei seinem Ausrufe nur daran, daß Vulkan sich ohne Schwierigkeit in einen Ochsen zu verwandeln wußte, vergaß aber, daß er mit der Venus selbst kopuliert gewesen.
Das Feuer brach immer wieder aus und trieb ihn endlich doch in Isidorens Arme. Dann verstummten plötzlich die Gesänge am Fenster, und sehr verehrliche Nachbarschaft hörte fernerhin weder den Schäfer, noch ein anderes Liedchen, flüsterte dagegen von zweistimmigen Singübungen, welche Madame Brummler mit Herrn Wulf anstelle, nur leider so leise, daß nichts davon in der Gasse zu hören sei. Desto mehr Vorteil zogen die Besucher des Theaters aus des Paares Vertraulichkeit. Jenes oben angedeutete unnennbare »Etwas,« welches Kundige bisher an Doras Spiele vermißt hatten, brach jetzt in einzelnen Auftritten hier und da hervor. Daß dies gewöhnlich diejenigen Waren, in welchen Wulf mit agierte, konnte nicht unbemerkt bleiben, und ein derber Schiffskapitän, den der Winter an den Hafen fesselte, äußerte sich im Weinhause gegen Brummler: »Gott straf mich, Herr, Ihre Frau hat mir immer höllisch gefallen, aber sie kam mir doch mitunter vor wie ein delikater Steinbutt, woran der Koch das Salz gespart. Jetzt ist sie ganz auf dem Zeuge!« – »Mag sein,« entgegnete gleichgültig der Gatte; »so was hängt vom Geschmacke ab. Mir ist ungesalzener Fisch lieber als versalzener; den laß ich stehen!« Diese Äußerung ging am nächsten Tage von Mund zu Munde, gelangte auch bis an Wulf, den sie heftig erschreckte. Er hatte gewähnt, das tiefste Geheimnis bedecke sein Verhältnis, welches ihm eigentlich mehr Gewissensqual und Unruhe bereitete, als reine Freuden. Wie überrascht war er nun, wo es zur Auseinandersetzung so kitzlicher Nebenumstände kam, von Isidoren zu vernehmen, daß sie mit Herrn Brummler schon seit mehreren Monaten »in der Scheidung lebe;« daß sie der gerichtlichen Lösung einer längst nicht bestehenden Ehe binnen kürzester Frist entgegen sehe; daß sie dann, vollkommen frei, sich wieder verheiraten dürfe! Niemand bei der Truppe konnte darüber etwas Näheres wissen, weil der Prozeß zwischen den ungleichen Gatten in einer andern Stadt, die gar nicht zu Tollands Direktion gehörte, begonnen worden, ehe Brummlers in dessen Engagement getreten waren.
Welch ein Schreck für den beglückten Liebhaber. Er bedurfte all' seiner Beherrschungskraft, sich vor Isidora nicht zu verraten. Wie er aber erst wieder mit sich allein war, da brach er in heftige Klagen aus, die gar bald in Anklagen eigenen verwerflichen Leichtsinns, unverzeihlicher Inkonsequenz übergingen. »Hab' ich,« jammerte er, »mir nicht unzähligemal gelobt, nie und nimmer einer verheirateten Frau nahe zu treten? Hab' ich nicht den aufrichtigsten Abscheu genährt gegen gewissenlose Heuchler, die sich zwischen Mann und Weib drangen? Hab' ich nicht die härtesten Verdammungsurteile ausgesprochen über derlei auf Lüge und Verstellung begründete Befriedigung niedrigster Selbstsucht? Und nun hab' ich mich verblenden lassen, verächtliche Künste dieser Gattung zu treiben! mich einzuschleichen, wo ich zum Frevler an meinen Grundsätzen wurde! ... Denn daß die Leute getrennt, daß ihre gegenseitigen Pflichten und Rechte bereits erloschen sind, das wußte ich ja nicht! Das kann für eine Entschuldigung vor der öffentlichen Meinung gelten, nach der ich nichts frage; keineswegs vor mir und meiner Ehre, die mir über alles gehen sollte! Und die Strafe folgt auf dem Fuße. Sie hat mich schon erfaßt mit scharfen Krallen, sie zerreiht mir schon die Brust. Dora will und erwartet, daß ich sie zum Altar führe. Ich muß ihr zugestehen, daß sie berechtigt ist, es zu verlangen. Mir aber muß ich eingestehen, daß der Gedanke mir fürchterlich erscheint. Welche Hölle, eine Ehe ohne festes Vertrauen! Und kann ich Vertrauen in ein Weib setzen, welches mir so willig entgegen kam, während es noch für eines andern Weib gilt? welches von diesem andern sich gerichtlich scheiden läßt ... nicht einmal wegen meiner Dazwischenkunft, sondern wegen Ereignissen, die » vor meiner Zeit« liegen! Entsetzlich! Mir wird der Mut fehlen, ihr diese Bedenklichkeiten ins Gesicht zu sagen. Sie wird mein Schweigen für Einwilligung nehmen. Es beginnt eine zweite Verstellungsqual für mich, noch unerträglicher, noch unehrenhafter als jene im Umgange mit Ludmilla, die ich doch wirklich geliebt, die sich mir jung und rein, voll großmütiger Leidenschaft hingegeben, deren Schuld gegen mich, durch mein Unrecht gegen sie aufgewogen wurde! – O, die Strafe ist verdient, aber hart ist sie!«
So stöhnte der in selbstgelegten Schlingen Zappelnde.
Modische, elegante Leser würden ihn um seiner Gewissenhaftigkeit und mich um dieser unnützen Schilderung willen verhöhnen, würden ihn einen zweibeinigen Esel schimpfen, daß er zarte Rücksichten nehmen will auf eine zweideutige Frau; Rücksichten, die ihnen auf ein vorwurfsfreies, schändlich verführtes Mädchen nicht beikommen könnten, wären sie auch durch Schwüre und Gelübde verpflichtet! würden ... aber was bin ich für ein Narr, herzuzählen, was sie würden! Bin ich doch sicher, daß sie meine Bücher nicht in die Hand nehmen, und ich darf unbesorgt vor Herausforderungen hinzusetzen: Ich halte es für einen schmutzigen Schandfleck auf den Lehrbriefen und Zeugnissen ritterlicher wie bürgerlicher Ehre, wenn darin geschrieben steht, das Ehrenwort, einem Mädchen gegeben, binde nicht!«
Daß dieser Grundsatz gelehrt, sophistisch verteidigt und befolgt wird, davon kann sich jedermänniglich leicht überzeugen, am leichtesten im Verkehr mit jenem Stande, dessen Lebenszweck die Aufrechterhaltung der Ehre, ritterliche Beschützung des schwächeren Geschlechts und verfolgter Unschuld sein sollte – aber leider nicht ist. Und wir brüsten uns mit unserm »Fortschritt?« Rede mir doch ja niemand von Veredlung des Menschengeschlechts, so lange die öffentliche Meinung (diese abgeschmackte vox populi) feig und niederträchtig genug ist, dergleichen feige Niederträchtigkeit, durch alle Stände verbreitet, nicht nur zu dulden; nein, sogar zu bewundern! Ich kann es mir nicht versagen, eines französischen Schriftstellers (Paul Féval) Gedanken auszugsweise und auf meine Art zugeschnitten hier einzuschalten. »Und der Mensch, der Ruf und Glück von zwanzig Opfern zerstört hat, geht durchs Leben erhobenen Hauptes, geziert mit Siegeszeichen, abscheulicher als die Skalpe der Indianer. Er trägt einen Rosenkranz aus zerrissenen Herzen. Man huldigt ihm wie einem Sieger. Diese huldigende Menge besteht aus Frauen, Mädchen, Brüdern, Vätern, Gatten. Auf aller Augen liegt die Binde der Dummheit. Don Juan ist tot, der elende Weibermörder. So wie ihm die Welt einen Erben hofft, bricht sie in Jubel aus. Ehemänner, Brüder, Väter kränzen (die Schwachköpfe!) seinen Kopf mit Lorbeeren. Die Weiber spannen ihm die Pferde vom Wagen, um sich vorzulegen und ihn auf Blumenpfaden zu ziehen. Die Jungfrauen staunen ihn bebend von der Seite an; ihr Zittern gleicht dem der Eva, als ihr die Schlange den Apfel darbot. Weshalb heftet sich dieser Reiz an den ehrlosen, durch nichts zu entschuldigenden Verbrecher? Weshalb vergönnt die stupide grausame Züchtigung, die das Opfer verfolgt, dem mörderischen Henker Palmen und süßlächelnde Huld? Und weshalb geht diese schreiende entsetzliche Ungerechtigkeit hauptsächlich von den Opfern selbst aus? Weshalb ist das Weib die geborene Bundesgenossin Don Juans. Weshalb?« etc.
Jawohl, weshalb? – Auf diese in einem einzigen Worte enthaltene Frage müßte, wofern sie ihren Stoff erschöpfen wollte, eine Antwort erteilt werden, welche die »Physiologie des Weibes« umfaßte. Und wer soll die liefern? Ein Mann versteht es nicht, und ein Weib vermag es nicht, jener weil er kein Weib, dieses weil es kein Mann ist.
Wir begnügen uns, den Helden dieses Buches, nachdem wir ihn als Sünder preisgeben mußten, als Menschen von Gewissen und Ehrgefühl rehabilitiert zu haben und kürzlich zu erwähnen, daß eben diese edleren Eigenschaften ihm den von Jung und Alt beneideten Himmel bei Isidora zur Hölle machten, woraus er kein Entkommen sah. An ihrer Seite, in ihren Armen zitterte er der Stunde entgegen, wo das längst ersehnte Aktenstück eintreffen und ihr die gerichtliche Erlaubnis bringen dürfte, aus einer geschiedenen Brummlern eine neuvermählte Wulfin zu werden. An Teufeln, diese Hölle zu bevölkern, mangelte es nicht. Sie gaukelten mit boshaft pfiffigen Mimen umher. Gewiß hatten sie früher schon ihr Wesen getrieben, nur daß er sie nicht beachtet. Es ist eine traurige Unvollkommenheit der Menschennatur, daß sie, so lange entzückende Leidenschaft den rosenfarbenen Schleier ums Antlitz hüllt, alles rosig erblickt, auch drohende Teufel für Engel hält; daß sie jedoch, sobald der täuschende Schleier sich entfärbt, sich verschiebt, abfällt oder plötzlich entzwei gerissen wird, überall schwarz statt rosig sieht. Ein Hauptteufel saß auf Doras Zunge, wo er sich gern lustig machte. Bis dahin waren ihre spitzen, scharfen Urteile über Personen und Verhältnisse dem aufmerksamen Hörer glänzende Proben ausgezeichneten Verstandes gewesen; jetzt galten sie ihm für Beweise eines lieblosen Herzens; wo er sonst beifällig gelacht und treffende Witze belobt hatte, mußte er sich jetzt Zwang auflegen, für grausam Angegriffene nicht als heftiger Verteidiger einzutreten. Eines Tages traf er mit Isidoren bei der Direktrice zusammen, der man zu ihrem Geburtsfeste Glück wünschte. Sie gingen miteinander fort. Kaum auf dem Flur, that sie die beißendsten Äußerungen über die arme Frau, der sie vor wenig Sekunden freundschaftlichste Zusicherungen gemacht. Wulf konnte sich nicht enthalten zu sagen: »Aber das ist doch schlecht; wir haben das Haus noch nicht verlassen, und du fängst schon an!« Doch sie erwiderte ihm: »Sei unbesorgt; ich habe Vorrat, es reicht bis in meine Wohnung!« – Da lief er weg und ließ sie mitten aus der Straße stehen. Abends war er doch wieder bei ihr.
Ein zweiter Teufel trieb seinen Spuk in ihrem kleinen Haushalte, wo es stets unordentlich aussah, wo niemals die weibliche Sorgfalt vorwaltete, die dem ärmlichsten Gemache Reiz und Behagen verleiht. Durch den bewußten, frischgewebten, rosenfarbigen Schleier war ihm dieser Teufel ebenfalls wie ein Engel erschienen, und er hatte ihn »geniale Nichtbeachtung kleinlicher Formen« benamset. Jetzt, durch den großen Riß betrachtet, erkannte er ihn für das, was er ist: für den Erbfeind friedlicher Häuslichkeit, für den Teufel unweiblicher Nachlässigkeit.
Ein dritter meldete sich in ungeregelter Naschlust, die ohne Rücksicht auf Zeit und Stunde Leckereim begehrte, süße Weine nippen wollte ... und so fort. Es wären ihrer noch etliche ungebetene Gäste zu nennen, doch wozu? Diese reichen schon hin für ein Privathöllchen. Zu töten wußte der Arme sie nicht; was blieb ihm übrig, als sich mit ihnen einzurichten, so gut er konnte, und Sorge zu tragen, daß niemand den Zustand seines Innern durchschaue! Der Gedanke, ausgelacht zu werden, nachdem er so lange beneidet worden, dünkte ihm der schrecklichste. Lächerliche Schicksale und Zustände, sagte er sich, treffen nur denjenigen, der sich in die seinigen nicht zu finden weiß. Die Leute müssen mutmaßen, ich sei zufrieden, dann bleib' ich sicher vor ihrem Spotte. Wozu wäre man Komödiant, verstünde man nicht dem Publikum etwas weiß zu machen! Sogar die Komödianten dürfen mir nichts abmerken.
Um diesen Vorsatz tatsächlich durchzuführen, bedurfte es mannigfacher Zerstreuung, die ihn vom Quell seiner Gemütsleiden ableitete, und die doch auch wieder Sammlung gestattete. Letztere fand er im fleißigen Studium seiner Rollen, in poetischer und wissenschaftlicher Lektüre; erstere in artistischer Beobachtung seltsamer Kollegen, die auch hier wieder neben ihm ausduckten. Das ist eine der tröstlichen Erfahrungen im Theatertreiben, die über manche Trübsal forthilft, daß es humoristischer Auffassung beinahe immer gelingt, verwunderliche Käfer – Schauspieler genannt – aufzuspüren und unter des Forschers Mikroskop zu bekommen, wo sie dann auf höchst ergötzliche, zugleich belehrende Weise krabbeln. Die Klage, daß in nivellierender Verflachung der Gegenwart sogenannte »Originale« immer mehr abnehmen, ist ringsum verbreitet und gerechtfertigt. Ältere Mitlebende suchen vergeblich heutzutage nach eigentümlichen Figuren, wie deren in Jugenderinnerungen ihnen dutzendweise vorschweben. Das Bühnenvölkchen bietet Ausnahmen. Wie Voltaire einst aussprach: um gute Schauspielerin zu sein, muß eine den Teufel im Leibe haben, so möchten wir behaupten: um ein ganzer Schauspieler zu werden, muß man ein halber Narr sein! Bis auf einen gewissen Punkt natürlich, und einer mehr, der andere weniger. Seine wacklichte Schraube hat einmal jeder. Die mittelmäßigen sind gewöhnlich Dreiviertel-, die schlechten Vierfünftelnarren. Souffleure, Friseure, Schneider, Theatermeister, Theaterdiener, Zettelträger leisten das ihrige. Und das ist eine Gnade des Himmels, nicht allein für diejenigen, die sich an ihnen ergötzen, auch für die Narren selbst. Wer hielte denn ohne Narrheit auf die Länge aus im großen Tollhause! Theaterdirektoren geraten in die Lage der Irrenhausdirektoren; sie ziehen nach und nach an von ihren Umgebungen. Der Verfasser kennt das aus eigener Praxis und Erfahrung.
Für unseres Freundes aufheiternde Zerstreuung trug die Vorsicht offenbar Sorge, indem sie einen sichern Herrn Henne der Tollandschen Truppe wieder zuführte, gerade in einem Zeitpunkte, wo es um Wulfs Stimmung aufs schlimmste stand. Henne spielte zärtliche, sehr zärtliche Väter. Zu denen paßte auch sein Naturell. Wie es denn aber bei kleineren Unternehmungen notwendig wird, daß ein jeder in jedwede Lücke zu springen bereit sein muß, wurden auch ihm Leistungen zugemutet, welche diese handwerksgeläufige Bezeichnung nur dadurch verdienten, daß er sie sämtlich über einen Leisten schlug, über den zärtlichen. Er blieb immer ein gütiger Haustyrann, ein liebevoller Bösewicht, ein sanfter Wüterich. Doch er und die Direktion kannten sich längst, hatten sich öfters getrennt, ebenso oft vereinigt, weil sie sich brauchen konnten, sich dann doch wieder getrennt, weil ... darüber mag uns ein Auftritt belehren, der sich in Wulfs Gegenwart begab. Man hatte diesen auf Hennes »Narrheit« einstweilen vorbereitet; doch weil er meine oben ausgesprochene Ansicht teilte, so erwartete er nichts Besonderes und entdeckte in den ersten zwei Spielabenden keine andere Narrheit an ihm, als jene der meisten geringen Akteurs, daß sie sich für große halten. »Warten Sie nur bis wir Vollmond haben,« vertraute ihm der Garderobier; »ich soll nicht darüber sprechen, aber verbergen läßt sich's doch nicht, und Sie werden Ihr blaues Wunder sehen!«
Der Vollmond kam, mit ihm die erste Aufführung einer dramatischen Ephemere, die gewissen Mücken ähnlich nur am Strande einiger Seeplätze ihr kurzes Dasein genoß, unter dem Titel: »Simon Matern, der große Räuberhauptmann aus Danzig.« Des Dichters Name ist nicht zu unserer Kenntnis gelangt. Henne war mit einer Hauptpartie bedacht, die für ihn so wenig paßte als er für sie. In der Probe stolperte Wulf hinter den matt beleuchteten Coulissen über ein kleines Tischchen, welches umfiel; ein darauf stehendes Wasserglas zerbrach, und sogleich ließ sich aus dem Dunkel des Hintergrundes mattes Gekrähe vernehmen, wie von einem alten heiseren Hahne. Zugleich rückte Henne an, rief ängstlich nach dem Requisiteur, bat um ein neues Glas voll Wasser, um eine zweite Lieferung Gerste, und klaubte die auf den Boden geworfenen Körner sorgfältig auf. Wulf, der sich begnügt hatte, die ihm zugeteilte Rolle zu memorieren, ohne tiefer in die leere Handlung einzudringen, neigte sich der Meinung zu, es spiele ein lebendiger Hahn in diesem Spektakelstücke mit, und Henne habe die Obhut über den tierischen Kollegen zu führen, was ihm ganz passend schien; denn Hahn und Henne gehören zusammen. Er sah mit einiger Spannung dem Debüt des platonischen (noch ungerupften) Menschen entgegen. Wie aber eine Scene, ein Akt nach dem andern sich allgemach abhaspelte; wie Henne unaufhörlich nach seinem Vorratstischchen ging und dennoch jedesmal ohne Vogel zurückkam, da ward er bedenklich, sah näher zu und gewahrte, daß die Gerste nicht für den Hahn ausgespeichert liege, sondern für den Henne, der von Viertelstunde zu Viertelstunde eine Handvoll Körner in den Mund nahm und die trockene Kost mit einem Schluck Wasser befeuchtet hinabspülte.
»Ist das eine Kur, die Sie gebrauchen?« fragte er mitleidig.
»Ach nein, zu kurieren bin ich wohl nicht,« erwiderte der würgende Henne; »das ließe sich ja nur durch den Kaiserschnitt bewerkstelligen! Aber die Bestie will doch leben, und der Gerechte erbarmt sich auch seines Viehes!«
»Welche Bestie?«
»Je nun, Sie wissen ja...«
»Was?«
»Daß ich einen Hahn im Leibe trage.«
»Einen Hahn?«
»Einen roten, großen, bösen Hahn! Bei gutem Wetter hält er sich still und gönnt mir Ruhe. Bei Sturm, Regen oder Schnee wird er wild, und wenn er nicht auf die Minute sein Futter empfängt, ist's nicht mit ihm auszuhalten. Der Direktor weiß das so gut wie ich und läßt meinen Einwohner keine Not leiden; sobald ich wieder ins Engagement trete, wird ein halber Scheffel von der besten Gerste angekauft. Aber verzeihen Sie, Herr Wulf, da fällt mein Stichwort!«
Es konnte nicht fehlen, daß bei etwaiger Abwesenheit des Direktors alle Mitglieder den Verrückten mit Neckereien quälten, wobei Wulf sich regelmäßig zu seinem Schutze berufen fühlte. Doch gelang es dem Beschützer nicht, sich des Schützlings Vertrauen zu erwerben; dieser wendete sich lieber seinen Quälern zu, weil er sie empfänglich fand für die fixe Idee, welche ihn beherrschte. Sie gingen darauf ein, erkundigten sich verbindlich nach dem Befinden des Leibhahnes, reizten den Inhaber an, das Beest krähen zu lassen, was jedesmal meisterlich exekutiert wurde, trieben tausenderlei Kurzweil mit ihm und machten ihn immer toller. Wulf aber, redlich bemüht, ihm Vernunft zu predigen, ihn ad absurdum zu führen durch Beweise, erweckte nur seinen Groll und Argwohn. »Dieser Wulf,« sprach Henne, »ist mein Feind; er glaubt nicht an den Hahn; er will mich ins Geschrei bringen, ich sei wahnsinnig; er beneidet mich um meine Rollen; er ist ein schlechter Mensch!«
Edlen Seelen thut es weh, sich verkannt zu sehen; sie wollen ihre guten Absichten geachtet wissen, nicht aus Eitelkeit, nur aus Rechtlichkeitsgefühl. Sogar des Verrückten Mißtrauen kränkte den, der es einzig und allein gut mit ihm meinte. Und er sann auf eine Annäherung, die zugleich dem Versuche der Heilung gelten sollte. Wie denn überhaupt viele Leute, und nicht allein Laien, auch gelehrte Ärzte die Ansicht hegen, sogenannte Geisteskranke könnten durch psychologische Mittel hergestellt werden; eine Ansicht, von der vielerfahrene Vorsteher großer Irrenhäuser immer entschiedener abzufallen scheinen. Mir selbst haben zwei der berühmtesten erklärt: Der reinste Spiritualist, nachdem er zehn Jahre hindurch einem Tollhause vorstand, muß zum krassen Materialisten werden, mag er wollen oder nicht! Wir lassen diese höchst wichtige, in die tiefsten Mysterien des Menschendaseins eingreifende Streitfrage auf sich beruhen und erzählen, was Wulf ausgeheckt.
Des Direktors Töchterlein, den Kindern entwachsen, für Liebhaberinnen noch zu kindisch, wäre gar so gern auf der Bühne beschäftigt gewesen, und es gab nichts für sie zu thun außer etlichen Pagen, die nicht viel sagen, eben weil sie nicht viel zu sagen haben. Überschwenglich kluge, dozierende, tragische Schuljungen, sämtlich rhachitisch-skrophulöse Abkömmlinge des Knaben Otto in Müllners Schuld, warm noch nicht vorhanden. Nur Kotzebue, der große Kinderlieferant, hatte einiges in diesem Artikel gemacht. Der »kleine Deklamator« schien Herrn Tolland, bei dem der Theaterprinzipal sich nie vom Familienvater influenzieren ließ, »gar zu langweilig von wegen des ewigen Gesabbers.« Dagegen billigte er den »Hahnenschlag;«. – wie Isidora behauptete, nur deshalb, weil er in diesem kleinen Stücke auf die Anziehungskraft zweier Tiere: des Hahnes und seines Fräuleins Tochter rechnen könne, als welche hierorts sich noch nicht zur Schau gestellt, aber bedeutenden Anhang unter den Gymnasiasten dritter Klasse habe, denen sie regelmäßig zu begegnen wisse, wenn die Lehrzimmer, nach beendigter Lektion, ihren Inhalt auswerfen.
Auf den Hahn baute Wulf seinen Plan. Er steckte sich zuerst hinter den Requisiteur und beredete den zu der Lüge, es sei höchst schwierig, einen hübschen Hahn aufzutreiben, weil niemand den Sultan seines Hühnerserails darleihen wolle; denn das dumme Volk, Kotzebues menschen- und hahnfreundliche Gesinnung verkennend, lasse sich nicht ausreden, es solle mit Knütteln auf das arme Tier losgekeilt werden, was um so zuversichtlicheren Glauben finde, da irgend ein vorlauter Litterat ausgesprengt, dies Schauspiel sei in Knüttelversen geschrieben. Auf den Märkten jedoch stehe oder sitze kein dergleichen Geschöpf zum Verkaufe aus, welches durch Federschmuck würdig erscheinenden Liebling der »Mamsell Direktor«« zu agieren. Wulf, der die Regie hatte, nahm Henne untern Arm, zog ihn zum Gerstenmagazin und sprach zutraulich: »wie wär's, wenn Sie uns aus der Not hülfen und uns Ihren Einwohner überließen?«
»Ah,« rief Henne zweifelnd, »seit wann glauben Sie an meinen Hahn?«
»Schon lange, Freund! Es war nur eigensinnige Rechthaberei, mich dagegen zu wehren. Ich gesteht ein. Ziehen Sie mich aus der Verlegenheit. Vielleicht gelingt es uns zugleich auf die Weise, Sie von Ihrer Not zu befreien.«
Henne zeigte sich sehr geschmeichelt. Bereitwillig faßte er die Idee auf. Nur wie sie ausgeführt werden könne, wollte ihm nicht einleuchten.
»Nichts leichter als das! Sie geben dem Racker heute und morgen keine Nahrung, achten nicht auf den Lärm, den er macht, und eine Stunde vor Beginn der Komödie bringe ich Doktor Koch, mit dem ich mich des Näheren beriet, zu Ihnen. Wir halten dem ausgehungerten Vielfraß leckeres Futter, große weiße Weizenkörner vor. Denen kann er nicht widerstehen. Er reckt den Schnabel aus Ihrem Rachen heraus, und hat ihn Koch erst beim Kamm, dann läßt der nicht mehr locker, er zieht den ganzen Kerl sein langsam nach. In solchen Operationen ist er geübt. Er hat, wie er noch Militärarzt gewesen, einem Stückknechte auf ähnliche Weise eine wilde Gans, die der Unglückliche im Magen trug, siegreich herausgesponnen.« –
»Können Sie mir nicht sagen, Wulf, wie der Stückknecht zu seiner Gans gekommen war?«
»Nichts einfacher. In wasserreicher Gegend lag er an einem Landsee zwischen Schilfrohr und hielt Mittagsruhe, seiner üblen Gewohnheit gemäß mit weit offenem Munde. Leider hatte er den Kopf gerade auf jenen Fleck gebettet, den seiner Gans Mutter zum Neste für ihre Brut eingerichtet. Sie ist aus der Höhe herabgeschwebt und hatte ihm das erste Ei in den offenen Mund gelegt; warm und weich, wie frisch gelegte Eier sind, ist's hinabgeschlüpft, und des Stückknechts Wärme hat's ausgebrütet. Daher auch der ewige Durst dieses Menschen; denn die Wildgans ist fast Amphibium.«
»Doktor Koch scheint ein tüchtiger Mann, ohne die Vorurteile seiner Kollegen.«
»Ja, es will was sagen! So 'ne Gans besitzt doch ein ungleich größer Volumen als Ihr Hahn. Koch versichert, es sei ganz merkwürdig zu sehen, wie dünn sich diese Eindringlinge zu machen wissen, und wie sie durch die engste Speiseröhre schlüpfen, sobald ihnen klar wird, es geht an Kopf und Kragen. Und setzen wir den (für unser Schauspiel schlimmsten) Fall, Ihrem Hahne würde der Kopf weggerissen ... dann bleibt der tote Rumpf zurück, und den zermalmt Ihr Magen spielend. Wollen Sie, Henne?«
»Es ist die erste gescheite Würdigung meines Zustandes, die ich vernehme. Ja, ich will mich entschließen. Ich werde wohl schwere Stunden zu durchleben haben bis morgen Nachmittag fünf Uhr ...«
»Dafür aber dann auch das wonnige Gefühl ...«
»Abgemacht, Wulf! Ich erwarte Euch!«
Der größte aller bunten Hähne, der in allen Hühnerhöfen der Stadt aufzutreiben gewesen, war von der Besitzerin, die man eingeweiht, hergegeben worden. Wulf barg ihn in einem Sacke, den er unterm Mantel trug, und begab sich zur bestimmten Stunde mit Doktor Koch, einem klugen umgänglichen Lebemann, zum Patienten, welchen sie in gewaltiger Gemütsaufregung fanden. Henne wollte Licht machen, denn es dämmerte schon; doch der Arzt bestand auf Dunkelheit, weil, setzte er auseinander, der Hahn, an den finstern Magen als seine Heimat gewöhnt, vor blendenden Kerzen zurückschrecken müßte. Einige stählerne Instrumente, wie Geburtshelfer sie anzuwenden pflegen, wurden hervorgeholt und in Bereitschaft gelegt, was Hennes Vertrauen stärkte. Dann mußte er sich niedersetzen und seinen ohnehin breiten Mund so weit aufsperren, daß Doktor Koch mit der Handvoll Weizen hineinfahren konnte. Was er für Hokus Pokus darin getrieben, vermögen wir nicht zu erraten. Doch gelang es ihm die beabsichtigte Täuschung hervorzubringen. Henne würgte, als ob ihm in Wahrheit ein Hahnenkopf durch den Schlund ginge. Wahrscheinlich war's dem Arzte gelungen, einen ähnlichen Körper unbemerkt hinein zu zwängen. »Es geht, es gelingt, ich halte ihn!« jubelte der wohlmeinende Betrüger; »Herr Wulf, reichen Sie mir die Zange her ... nein, die andere ... wir müssen die höchste Vorsicht anwenden ... nur keine Gewalt, sonst ... ha, er giebt nach, er drückt sich zusammen ... fühlen Sie, wie es gleitet? ... o herrlich ... noch drei Rücke ... jetzt ... Triumph! Schlagen Sie Feuer an, Wulf; machen Sie Licht! Es ist geschehen!«
Als die Kerzen brannten, hielt der Operateur dem halb Ohnmächtigen den mitgebrachten Hahn entgegen. Dieser offenbar sehr zufrieden, aus dem engen Sacke erlöst zu sein, gab seine Zufriedenheit durch ein majestätisches Krähen zu erkennen. Koch und Wulf standen erwartungsvoll.
Und Henne? Er wischte sich die Thränen, Zeugen drohender Erstickung, von den Wangen, schöpfte Luft ... und erwiderte des Gastes Krähen durch ein gleiches. Dann schlug er sich auf den Bauch und sagte mit dem listigen Ausdruck hartnäckiger Verschmitztheit, die Verrückten eigen ist: »Dies Tier geht mich nichts an, das habt Ihr mitgebracht. Mein Hahn sitzt fest, wo er saß, den fühl' ich wie vorher! Ich lasse mir nichts weiß machen! Kikeriki, meine Herren; jetzt wollen wir ins Theater gehen!«
* * *
Es wäre noch mancher Zwischenspiele zu gedenken, mit denen Wulf seine beängstigenden Verpflichtungen zu vergessen und die Furcht vor endlichem Abschlüsse des Brummlerschen Ehescheidungsprozesses hinzuhalten suchte. Doch wir haben Eile, einen wichtigen Wendepunkt seines Geschickes zu erreichen, und dürfen nicht über Gebühr bei Nebendingen verweilen.
Von Isidoren eigentlich schon lange getrennt und an sie und fortgesetzten Umgang mit ihr nur noch durch jenes Band geknüpft, welches, wie gesagt, Ehr- und Pflichtgefühl woben, verbrachte er den Winter im ganzen, wenngleich nicht zufrieden (welcher Schauspieler wäre das je?), doch sehr befriedigt von der ihm allgemein gezollten, täglich zunehmenden Anerkennung. Isidore war ein Hemmschuh für ihn gewesen. In seiner zartsinnigen Weise hatte er anfänglich, wenn sie mit den zierlichen Flügelchen ihres Verstandes den genialen Schwung seiner Fittiche nicht erreichte und hinter ihm zurückbleiben mußte, sich entsagend gefügt und war auf ihr kleinliches Nuancieren eingegangen, wodurch das Zusammenspiel gewann, die hinreißende Kraft seiner Naturgaben verlor. Jetzt nahm er keine solche Rücksichten mehr. Er ließ sie flattern und hüpfen, wie es in ihrem Wesen lag, und ohne sich weiter um sie zu bekümmern, stieg er, von gewaltigen Schwingen getragen, hoch empor. Wenn die Zuhörer aufjauchzten, that es ihm doch wohl, und er dachte: Ist mir nicht gar, als fänd' ich noch Freude an mir selbst?
Das Frühjahr brachte die Scheidungsakte. Sämtliche Formalitäten waren abgethan, jedes Hindernis war beseitigt, Isidora frei.
Wulf hielt sich für gefangen. Gebunden glaubte er sich längst. Die Nachricht davon empfing er in der Probe, wo Madame Tolland ihn anredete: »Nun, die Papiere sind endlich eingetroffen, jetzt werden wir, denk' ich, bald auf einer Hochzeit tanzen?«
Wulf verbeugte und entfernte sich, ohne den letzten Akt abzuwarten, was ihn sechzehn gute Groschen an Ordnungsstrafe kostete. »Nur keinen Aufschub!« hieß seine Losung! Er flog die Treppe hinauf; keuchend platzte er zu ihr hinein: »Du bist geschieden! ich komme zu fragen, ob du mich nun heiraten willst?«
Es war der erste Antrag dieser Art, der über seine Lippen kam. Isidora hatte ihn gewiß schon längst nicht mehr erwartet, um so weniger, weil sein abgemessenes Benehmen der letzten Monate auf schlau vorbereiteten Rücktritt schließen lassen. Deshalb wurde sie jetzt fast überwältigt. Das Blut schoß ihr ins Gesicht; zitternd und weinend streckte sie ihm die Arme entgegen und warf sich an seine Brust, Er stand dem Sturme unbeweglich. Von Erwiderung ihrer heftigen Empfindungen verspürte sie nichts. Sie zog sich zurück, lächelte durch die Thränen, schüttelte den Kopf, reichte ihm die Hand und sprach: » nein!«
»Nein?« wiederholte er tonlos.
»Niemals, niemals! nein!« sang sie mit Emmelinens Worten und Tönen aus dem ersten Finale von Weigels Schweizerfamilie.
Dieses Zeichen übermütiger Heiterkeit, unmittelbar nach erfolgter Weigerung, machte ihn ganz irre: »Um Gottes willen, Dora, du gerätst doch nicht auf Hennes Sprünge? Hast du auch einen Vogel im Magen? Etwa eine Nachtigall?«
»Ein Zeisig war's und keine Nachtigall,« rief sie lustig. »Da lies, rechtschaffenster aller nicht mehr liebenden Liebhaber; lies und freue dich!« ... und sie gab ihm einen zerknitterten Brief.
Die Lettern tanzten vor seinen Blicken. Nur mit äußerster Anstrengung vermochte er den Sinn des Schreibens, vom vorvorigen Monat datiert, zu erfassen.
Magister Dr. *** in *** meldete seiner »ewig anzubetenden Schülerin, seiner über alles geliebten Dorn, daß er Witwer geworden, und daß nun der legitimen Veröffentlichung ihres innigen Vereines nichts mehr im Wege stehe. Sie werde sehnlichst erwartet vom getreuen und lernbegierigen Lehrer.«
Wulf legte den Brief auf ihren Nähtisch, ohne zu sprechen, ohne sie anzusehen. Er schämte sich für sie und in ihre Seele. Schweigend verließ er sie, und sie ließ ihn scheiden wie einen Fremden. Als er auf der Treppe war, hörte er, daß sie ihm noch einen herzhaften »Philister« nachschickte.
Es ist, wenn ich nicht irre, Balzac, der scharf zerlegende Kenner menschlicher Schwächen und Stärken, der in einer seiner schauerlichen Erzählungen hinwirft: »Männer der That neigen sich, der Mehrzahl nach, dem Fanatismus zu; Denker dagegen glauben meist an eine waltende Vorsicht.« Ich wollte gerade etwas Ähnliches auf unseren Freund anwenden, da fiel mir noch zum Glücke ein, daß ich beschuldigt werden könnte, mich mit fremden Federn zu schmücken. Ich gebe also jene Bemerkung auf und mache eine andere. Jeder sogenannte verständige Mensch hätte an Wulfs Stelle den absonderlichen Zufall gepriesen, der Isidora, die blaustrumpfige, zu eines verliebten Magisters Schülerin gemacht und diesem dummköpfigen Gelehrten zu so passender Zeit seine Frau Magisterin einsargen ließ. Er hätte ihm viel Vergnügen in zweiter Ehe, sich aber Glück gewünscht, daß er mit blauem Auge und heiler Haut davon kam. Wulf hingegen als unverständiger Idealist, grübelnder Denker, brachte es kaum zur Freude über seine unverhoffte Rettung vor lauter Nachsinnen. So viel Geiste so viel Wissen, so viel Schönheit ... und so wenig Herz, so wenig Stolz, so wenig Achtung vor sich selbst! kalte Leidenschaft, gemütlose Sinnlichkeit ... eine Schmach ihres Geschlechtes und zugleich dessen glänzendste Zierde! Wenn ein Dichter solch' ein Weib auf die Bühne brächte, müßte es nicht, der Natur treu nachgebildet, unnatürlich gescholten werden? Und doch lebt das Urbild, vermag zu tauschen, zu erobern, zu entzücken. Ich hab' es in meinen Armen gehalten, und der Magister wird es Gattin heißen, »ewig angebetete« Gattin! ... Hu, die Menschen sind erbärmliche Narren, und Henne mit seinem Hahne ist nicht der armseligste von uns.
Weiß Gott, der Gute hätte sich zuletzt gar in die Einbildung hineingegrübelt, von Isidorens Lippen ein junges Schlänglein abgeküßt und verschluckt zu haben, welches in ihm zur großen Schlange aufwachsend ihn ins Irrenhaus trieb ... wäre nicht bald darauf ein Antrag eingetroffen, mit ehrenvollen Auszeichnungen verbunden. Er wurde in eine größere Stadt berufen, Wo zwei achtungswerte Männer das Theater führten. Diese bekräftigten ihren Wunsch, ihn zu gewinnen, durch das höchste Gagengebot, welches sie in ihren Verhältnissen nur zu erschwingen vermochten. Sie fügten bei, sein Ruf sei durch Reisende an sie gedrungen, und ganz M. werde sich freuen, ihn zu haben!
Natürlich griff er zu.
An demselben Tage, da der Pariser Friede vom 30. Mai feierlich proklamiert wurde, traf er in M. ein und wandelte inmitten einer wogenden und begeisterten Volksmenge durch festlich erleuchtete Gassen. Das erhebende Gefühl, ein Deutscher zu sein, erwachte nach langer, gewaltsamer Unterdrückung an jenem Abend zum erstenmal wieder in seiner Brust.
* * *
Empfehlungsbriefe, die man ihm vor seiner Abreise fast aufgedrungen, die er annehmen müssen, die er erst nicht zu benutzen gedachte, gab er dennoch ab, weil er sich von Isidora fern wie neugeboren und fast lebensfroh fühlte. Mehrere jener Briefe brachten ihn mit angesehenen Männern in Berührung, die nicht recht zu wissen schienen, was sie mit einem Komödianten beginnen sollten. Sie nahmen ihn nicht unfreundlich, doch sichtbar verlegen auf. Dasselbe wiederholte sich bei einem durch Lieferungen reichgewordenen Kauf- und Fabriksherren, der kurzweg fragte: womit er dienen könne? Für Wulfs empfindliches Zartgefühl war das hinreichend, seinen Fuß in keines dieser Häuser mehr zu setzen, und er sah sich also wieder ausgestoßen und allein. Dagegen sagten ihm die beiden Direktoren zu durch ihr biederes gewinnendes Wesen. Mit einem derselben, einem geborenen Tschechen, was auch die Aussprache noch beendete, wär' er bei der ersten Zusammenkunft schier in Zwist geraten. Herr Hostky als treuer Zögling und Anhänger der alten Theaterschule war den Fortschritten metrischer Dichtung auf der Bühne entschieden abhold. Das hätte ihm Wulf, in Erinnerung an Papa Bäcker, schon hingehen lassen. Daß er aber, von Schiller sprechend, die Äußerung that: »Ich bin nur froh, weil verfluchter Jambenmacher tot ist!« das vertrug Wulf nicht, und sie hätten sich, Unternehmer und neuangestelltes Mitglied, gleich während ihrer ersten Regiekonferenz bei den Köpfen gekriegt, wäre nicht Herr Faber, der Mitdirektor zwischen sie getreten. Der brachte beide zu gegenseitigen Konzessionen, und sie wurden bald die besten Freunde.
Ein schlimmer Umstand nur drohte Wulfs Lust an seinem neuen Wirkungskreise zu trüben. Er hatte in letzter Zeit so viel als möglich darauf hingearbeitet, sich vom »jugendlichen Helden« nach und nach ganz los zu machen. Faber und Hostky wollten ihn vorzugsweise dafür verwenden. Es gab langes Hin- und Herstreiten. Endlich behielt die Rücksicht auf gegenwärtiges Bedürfnis die Oberhand. Wulf seufzte, doch fügte er sich. »Für einen Schmachtlappen und Liebhaber bin ich mit meinen Fünfunddreißigen schon zu alt,« meinte er. Die Direktion versicherte, er dürfe sich dreist für einen Fünfundzwanziger ausgeben, auch außerhalb der Bühne! und wollte der Himmel, sagten die zwei Freunde, es gäbe viele solche Männer beim Theater, dann wäre an Jünglingen kein Mangel mehr; und er würde allen Weibern die Köpfe verdrehen; und so weiter.
»Reden Sie mir nicht von Weibern,« unterbrach er heftig; »mit denen bin ich fertig.«
Faber lachte ihm ins Gesicht: »Das kennt man schon!«
»Auf Ehre, ich meine das sehr ernst.«
»Ich zweifle nicht daran. Sie wähnen abgeschlossen zu haben; Sie wollen keine Bekanntschaft aufsuchen; das geb' ich Ihnen zu. Wie dann, wenn Sie aufgesucht werden? Wenn der Groll, den Sie mit hierher brachten, verflogen ist? Ihre Augen sehen gar nicht danach aus, sich abwenden zu wollen, wo Gefahr droht. Und die Frauen ... wissen Sie nicht, was Just seinem Major erwidert? ›Der Pudel wird nicht zurückbleiben, dafür laß ich den Pudel sorgen!‹ Die holden Frauen haben mitunter etwas Pudelisches an sich.«
»Bis auf die Treue, Herr Faber!«
»Aha! Weht der Wind daher? Nur Geduld, warten wir Ihre Antrittsrolle ab! Für den ersten Abend bleibt es beim Mortimer.«
»Den hab' ich seit vierzehn Jahren nicht gespielt!«
»Desto frischer werden Sie ihn übermorgen geben.«
* * *
Er mußte während der Vorbereitungen auf diese einst mit Gottliebe eingeübte Rolle über den Wulf von damals lächeln. Und dann wieder war ihm das Weinen näher, wenn er den heutigen mit dem damaligen verglich. Jener konnte in seiner poetisch-begeisterten Unschuld ernstlich daran denken, aus seinem Mortimer einen schleichenden Intriguant zu machen und ihn aller äußerlichen Vorzüge zu berauben, lediglich im Interesse dramatischer Wahrheit. Dieser, der gegenwärtige Wulf, suchte im Garderobevorrat diejenigen Gewänder aus, die ihm am besten geeignet schienen, Fabers Vorhersagung wahr und sich recht hübsch, recht jung zu machen.
»O Unschuld, wo bist du geblieben?« fragte er sich. »Und was will ich denn eigentlich? Geh' ich auf Eroberungen aus? Pfui Teufel! Aber dennoch will ich gefallen, womöglich entzücken. Und das nicht einmal im leicht verzeihlichen Hinblick aus eine ... Nein, ich will alle für mich einnehmen, mit der niedrigen, prosaischen Absicht, daß durch mich die Einnahmen der Direktion steigen und mit ihnen die meinige. Ich kleide mich jugendlich, rapple mich zusammen, kokettiere mit Wuchs und Knochen und Fleisch und sämtlichem Unheil, um ... hört es ihr ewigen Musen! ... um, wenn sich's erschwingen läßt, einige Thaler Zulage auf meine Wochengage zu erspielen. Mit meinem Leibe, mit dem Wohnhause meiner unsterblichen Seele muß ich einstehen, muß ihn käuflich zur Schau stellen, wie der Roßkamm sein Tier ... und nenne mich Künstler! Mein Kunstwerk aber ist dieser Körper, der ich doch selbst bin. Subjekt und Objekt, wie die Logiker sagen, beides zugleich. Kuriose Kunst, die Schauspielkunst, fürwahr ... aber ich bleibe doch bei dieser dunkelroten Strumpfhose. Meinen Sie nicht auch, Leopold, daß sie am besten sitzt? Sie müssen wissen, ich wattiere mich nie.«
»Wie angegossen, Herr Wulf! Sie sind der erste Herr, den ich zu bedienen habe, der kein Wollenfleisch braucht, weder Baum- noch Schafwolle. Nein wirklich, so was ist mir noch nicht vorgekommen und bin doch schon lange dabei. Da fehlt nirgend eine Ausfüllung, auch nicht so viel Watte, wie ich ins Ohr stecke, wenn ich Zahnreißen habe. Sie könnten Modell stehen in der Zeichnen-Akademie.«
»'s käme schier auf eins heraus. Wenigstens hätte man Aussicht, in den Mappen der jungen Maler aufbewahrt zu bleiben; gelangte wohl gar zur Ehre, die Gruppen eines berühmten Bildhauers als gut gewachsener Sklave oder sonstiges nacktes Menschenkind ausschmücken zu helfen. Als Komödiant ...«
»Sie vergessen die Sprache, Herr Wulf. Statuen bleiben halt immer stumm, und Modellsteher dürfen nicht mitreden. Der Schauspieler spricht; und wer gar so sprechen kann wie Sie ... ich war auf der Probe, hab' ein wenig gehorcht ... man will doch wissen, wen man abends anzieht! Sie sprechen wie der schönste Gesang, Herr Wulf. O das klingt ...«
»Und verhallt, mein lieber Leopold.«
»Ja, darüber hab' ich auch schon manchmal nachgesonnen; denn warum, wenn man so sitzt und stichelt, sinnt man auf mancherlei, und ist man gleich nur Schneider, man schneidet auch allerhand Gedanken zu. Ob denn vielleicht einstmals eine Erfindung gemacht werden wird, die Herren Akteurs aufzubewahren, heißt das, ich will sagen ihre besten Rollen, daß sie auch nach ihrem Tode noch vorhanden wären? Wär' ein schönes Ding! Wenn ich mich so erinnere, was ich schon gesehen habe und gehört ... keine Spur mehr davon übrig! 's ist betrübt. Kriegt unsereiner zur Frühlingszeit ein freies Stündchen und läuft rasch hinaus ins Grüne, aus dem dumpfigen Kleiderkram weg, frische Luft schöpfen, kommt über eine Wiese, sieht kleine Blümlein, flugs bricht man eine Handvoll ab, legt sie ins große Garderobenregister oder etwa ins Gesangbuch zwischen bedruckte Blätter, und mitten im Winter schlag' ich mir ein erbaulich Kirchenlied auf, suche nach einem alten Kostüm, siehe da find' ich die getrockneten bunten Dinger, gleich sitz' ich im Maien drinnen, ob der Schnee draußen ellenhoch liegt! Sind arme Wiesenblümchen und dauern fort. Was aber solch' ein Herr wie Sie hinzaubert, das vergeht mit zwei Stunden. 's ist betrübt!«
Wulf legte dem Leopold die Hand auf die Schulter und sagte gerührt: »Hundert Zuhörer jeden Abend im Hause, die solche Gedanken hegen ... nur fünfzig, und ein Schauspieler wäre den Göttern gleich.«
»'s sind halt Schneidergedanken,« meinte Leopold bescheidentlich.
* * *
An lauten Ausbrüchen beifälliger Teilnahme blieb das Publikum dieser Stadt weit zurück hinter den meisten, wo Wulf sich bisher gezeigt. Doch kam es ihm nicht in den Sinn, darüber zu grollen. Und als Herr Faber ihn trösten zu müssen vermeinte wegen scheinbarer Kälte der Zuhörer, da erwiderte er: »Machen Sie sich keine Sorge meinetwegen; ich verstehe solche Aufnahme sehr wohl zu würdigen und ziehe die fast andächtige Aufmerksamkeit gebildeter Menschen dem oft verletzenden, immer störenden Bravogebrüll bei weitem vor. Ist Ihr Auditorium mit mir so zufrieden, wie ich es mit ihm bin, dann wünsche ich mir nichts besseres.«
Die nächsten Tage schon sollten ihn belehren, daß dieser Wunsch in Erfüllung ging. Von allen Seiten kamen ihm Zeichen vollständiger Anerkennung zu. Er hatte dreimal gespielt, da brachte die politische Zeitung der Provinz, welche grundsätzlich sonst über das Theatertreiben schwieg, einen langen Aufsatz, der mit der Erklärung begann: »Die Redaktion werde heut' ihrem Prinzip untreu und mache eine Ausnahme von der Regel lediglich deshalb, weil es einer Ausnahme gelte. Denn so lange man hierorts Theater gehabt, sei ein Künstler dieser Gattung noch nicht Mitglied desselben gewesen; und da es in den Verhältnissen liege, daß ein so hervorragendes Talent baldigst wieder von ihnen scheiden werde, um sich auf einer der größten Bühnen zu bewegen, so halte Referent es für Pflicht, die Bewohner dieser Stadt zu ermahnen, daß sie nicht versäumen möchten, sich beizeiten an ihm zu erfreuen!«
Wer die Wirkung jener Zeilen etwa vergleichen wollte mit den Eindrücken, die heutzutage durch tausend und hunderttausend Theaterartikel hervorgebracht werden, der unterläge einer großen Täuschung. Ebensowenig als verständige Leser unzähliger Tagesblätter jetzt auf Lob und Tadel achten, wohl wissend wie häufig beides erkauften Federn entfließt, eben so fest überzeugt hielt man sich in M., daß es wirklich etwas Außergewöhnliches sein müsse, was auf diese Weise empfohlen werde. Familien, die niemals das geringste Interesse gezeigt an Hostkys und Fabers Unternehmung, fanden sich veranlaßt, das Schauspiel zu besuchen. Auch diejenige des reichen Kaufmannes, an welchen Wulf ein Empfehlungsschreiben abgegeben, und welcher ihn durch die schnöde Frage: womit kann ich dienen? zurückgeschreckt. Als Herr Schundelius mit seinen Damen sich zum erstenmal zeigte, sprach Direktor Faber: »Darauf können Sie sich etwas einbilden; diese Menschen haben unser Theater noch mit keinem Fuße betreten. Aber das verdanken Sie einzig der Zeitung. Professor G., der sie schreibt, ist Hausfreund bei Schundelius. Apropos, haben Sie dem Verfasser auch eine Danksagungsvisite abgestattet?«
»Gewiß nicht! Werd' es auch nicht thun. Wofür sollte ich ihm danken? Daß er seine Meinung über mein Spiel ausgesprochen? Je jünger diese ist, desto mehr fühl' ich mich angetrieben, alles aufzubieten, damit ich ihrer würdig werde. Mein Dank muß in meinem Fleiße bestehen; ich muß seiner Empfehlung Ehre zu machen suchen. Das ist der einzige Dank, den ich ihm darbringen darf; jeder andere würde ihn beleidigen.«
»Sie sind ein Querkopf,« entgegnete Faber. »Wenn Sie so fortfahren, werden Sie's mit all' Ihrem Talent nicht weit bringen!«
Am nächsten Tage empfing Wulf zwei Briefchen. Das eine enthielt eine Einladung für Sonntag zum Mittagessen bei Herrn Kommerzienrat Schundelius, das andere kam von Professor G. Dieser hatte noch gestern Abend mit eigenen Ohren vernommen, wie Direktor Faber dem Buchhändler, in dessen Verlage die Zeitung erschien, des »Querkopfs« Erklärung wörtlich mitgeteilt. Der schrieb ihm nun: »Wenn die Achtung, die Sie mir einflößen, durch etwas erhöht werden konnte, so war es durch die Äußerung, die Sie da gethan. Sie haben mir für nichts zu danken; denn ich folgte einzig dem Antriebe durch Sie erregter Empfindungen, indem ich meiner Vaterstadt sagte, was sie an Ihnen besitzt. Doppelt freue ich mich jetzt, Sonntags bei Kommerzienrat S. die persönliche Bekanntschaft des Künstlers zu machen, der mir hochbejahrtem Manne der Jugend schönste Stunden ins Gedächtnis zurückrief. Sie haben mich an die großen Meister, die ich noch sah, lebhaft erinnert, und gleich jenen an Lessings bezeichnendes Wort: ›Wo Kunst sich in Natur verwandelt etc.‹ Die Anwendung desselben wird leider mit jedem Tage seltener und droht endlich ganz und gar zu ersterben.«
»Jetzt darf ich freilich die Einladung nicht zurückweisen,« klagte Wulf; »aber ich weiß nicht, welche Angst mich dabei überfällt? Mir ist, als sollte ich zur Schlacht gehen!«
* * *
Der große, wenn auch schlau erworbene Reichtum versäumt noch selten eine Gelegenheit, wo er sich dumm zeigen kann. Von diesem Vorrechte, wenn wir's so nennen wollen, machte Herr Schundelius gar fleißigen Gebrauch. Albern und unwissend in allem, was außerhalb seiner Spekulationen lag, war er doch anmaßend und eitel genug, immer mitzureden und Gewicht zu legen auf sein Geschwätz. Seine Tischgäste ließen ihn gewähren und achteten nicht sonderlich auf ihn. Ein Teil derselben, und das war der größere, pflegte sich an die gute Tafel zu halten; der kleinere Teil, worunter Professor G. gehörte, führte lebhafte Gespräche mit den Frauen vom Hause, die allerdings bisweilen vom Herrn des Hauses störend unterbrochen wurden. Dieser übermütige Geldsammler hatte es nicht für nötig gehalten, einen Schauspieler den Damen vorzustellen, sondern begnügte sich, den eintretenden Wulf mit einigen oberflächlichen Redensarten über »hübsches Spiel« zu empfangen. Wulf erwiderte die ihm gezeigte Protektionsmiene durch eine so meisterlich ausgedrückte Gleichgültigkeit und musterte den Mann von Kopf zu Fuß mit so scharfen Blicken, daß dieser in Verlegenheit geriet. Der Professor kam erst einige Minuten später und begrüßte den verlassen zur Seite Stehenden mit wahrer Herzlichkeit. Hätte er ahnen können, daß der Fremde nicht vorgestellt sei, würde er's gewiß nachgeholt haben. Da man aber nur auf ihn gewartet, so gingen sie gleich nach seiner Ankunft zur Tafel, um welche acht Herren und zwei Damen saßen. Die Jüngere von beiden gab Wulfen einen Wink, den Platz neben ihr einzunehmen. Diese hielt er, weil die Ältere von ihr Mutter genannt wurde, für des Hauses Tochter. Er gewann bald die Überzeugung, der Professor gehe lediglich um ihretwillen hier aus und ein. Ihr und ihrem würdigen alten Freunde, das war deutlich, hatte er die Einladung zu verdanken, durch welche aus eigenem Antriebe der Kaufherr ihn gewiß nicht ausgezeichnet haben würde. Seine Nachbarin gab es unumwunden zu verstehen, indem sie mit einfachen Worten die Freude schilderte, die er ihr im Theater gewährt habe. »Eine Freude,« setzte sie hinzu, »welche ich bei Aufführung eines Schauspiels zu genießen gar nicht für möglich gehalten hätte; denn wie weit bleiben sogar in Residenzen die Darsteller, auch die vielgepriesenen, hinter den Erwartungen zurück, welche des Dichters lesende Verehrerin mitbrachte. Ich habe das Theater fast überall unbefriedigt verlassen.«
»Dann sei Gott mir und meinem Beaumarchais gnädig,« sagte Wulf.
»Dies Gebet,« fuhr sie noch leiser fort, »war schon erhört, bevor Sie es thaten. Ganz im Widerspruche mit früheren Erlebnissen muß ich gestehen, daß Sie die Erwartungen, die der Professor doch schon hoch genug gesteigert, um vieles übertrafen. Obwohl Clavigo (sprach sie lauter) nicht zu meinen Lieblingen gehört unter Goethes Werken.«
»Laß mich zufrieden mit Goethe,« rief Herr Schundelius über die Tafel weg. »Das ist ja langweiliges Zeug. Wo bleibt der gegen Kotzebue! Kotzebue versteht's. Der Goethe versteht seine Sache nicht im geringsten. Alles läßt er sich entgehen. Was ist das zum Beispiel für ein Fehler in diesem Clavigo, daß er den Kanarienvogel nicht anbringt! Heißt es nicht ausdrücklich, der junge Mensch ist von den Kanarischen Inseln nach Madrid zugereist? Wie? Wär's nicht ganz galant gewesen, daß er seiner Braut hätte ein Paar Kanarienvögel geschenkt zu einer Hecke? Wäre das nicht eine schöne Aufmerksamkeit? Allegorie nennen Sie das, Professor, nicht so? Daraus hätte Kotzebue die rührendsten Auftritte gemacht. Der Goethe rührt gar nicht.«
Wulf errötete für Gattin und Tochter. Kaum wagte er beide verstohlen anzuschauen. Zu seiner Verwunderung bemerkte er, daß die eine unverhohlen über den Unsinn lachte, seine Nachbarin aber den Mund zu höhnisch bitterem Lächeln verzog. Sie lieben ihn beide nicht, dachte er.
Schundelius ließ sich nicht irre machen. Er faselte weiter: »Überhaupt haben wir in Deutschland keine richtigen Theater. Es wird zu viel geredet. Sogar in den Opern sprechen sie zwischen der Musik. Damit sollten sie den Italienern kommen! In Italien wird alles gesungen, auch die Gespräche; das klingt weit vornehmer.«
»Wenn auch nicht vornehmer,« warf der Professor ein, »daß es künstlerischer ist, geb' ich zu.«
»Ich kann Sie versichern, wenn man wie ich auf meiner großen Reise das Theater Didaskalia in Mailand gesehen hat, so kommt einem unsere Wirtschaft hier wie ein Stall vor ... ohne Herrn Wulf zu beleidigen; Sie machen Ihre Künste recht gut, darüber ist nur eine Stimme an der Börse. Werden Sie noch einen zweiten Gastrollen-Cirkus eröffnen?«
»Meine Debüts sind zu Ende; ich bin bereits ins Engagement getreten.«
»Viel Ehre für uns,« sagte Schundelius; doch sagte er's in einer Art, die ans Spöttische streifte. Es klang, als ob er dabei dächte: wenn der Mensch wirklich wäre, was der Professor und die Frauenzimmer aus ihm machen, müßten ihm doch ganz andere Bühnen offen stehen!
Wulf las diese Gedanken aus dem breiten Gesichte heraus und erwiderte darauf: »Es ist weit schwerer, als man denken sollte, bei großen Theatern Eingang zu finden, wenn man bei wandernden Truppen aufwuchs und sein Leben bei solchen hinbrachte. Dazu gehört nicht allein Talent und wahrscheinlich größeres, als ich besitze; es gehört auch Glück dazu.«
»Ei was mir wäre, Glück! Sein Glück macht sich jeder selbst. Das muß ich wissen.«
»In Handel und Wandel vielleicht; das kann ich nicht beurteilen. In der Kunst wahrlich nicht.«
»Dann kann sie mir gestohlen werden, die Kunst, nämlich was meine Frau und der Professor Kunst nennen. Was ich so nenne, das steht auf einem anderen Blatte. Das ist die Kunst reich zu werden! Auf die soll man sich legen; die andere hat keinen Wert.«
Wulf verbeugte sich. Seine Nachbarin zitterte vor Ärger. Alle waren verstummt.
Diese peinliche Stille zu beenden, brachte der Professor das Konzert in Anregung, welches Hermbstädt aus Sondershausen hier zu veranstalten beabsichtige. »Ist die Abonnentenliste Ihnen schon vorgelegt, Herr Kommerzienrat?«
»Was wird sie nicht! Mich findet jeder, der eine Einnahme machen will. Ich hab' auf zwei Billets unterschrieben für meine Damen.«
»Und Sie denken den berühmtesten aller lebenden Klarinettisten nicht zu hören?«
»Ich besuche kein Konzert; ich bin selbst musikalisch.«
»Das ist allerdings ein schlagender Grund. Aber ich höre zum erstenmal davon. Welches Instrument ist denn so glücklich, Ihrer Huld sich zu erfreuen?«
»Klavier hab' ich spielen gelernt in meiner Jugend; sehr gut.«
»Und Sie üben noch immer?«
»Das sollte mir fehlen! Wo nehm' ich Zeit her. Seit dreißig Jahren hab' ich keinen Klavus angetippt. Genug, daß ich's kann. Es gehört zu den Humaniora!«
Wulf, der schon lange mit sich kämpfte, war im Begriffe loszuplatzen, als er seine Nachbarin flüstern hörte: »Berauben Sie mich der Freude nicht, Sie ferner bei uns zu sehen!«
Dies Flüstern erschütterte ihn wie Weltgerichtsposaunen, und er ging aus dem Ansatz, den er schon zum Lachen genommen, in einen vortrefflich fingierten Krampfhusten über. Da er das Taschentuch zog, sich die künstlichen Thränen zu trocknen, welche der Husten ihm erpreßt, sah er zwei natürliche Thränen auf der Nachbarin Teller fallen. In ihrem Antlitz war keine Spur mehr zu entdecken, daß sie geweint habe, nur die Augen schwammen noch. Welche Meisterschaft, dachte er, muß sie schon errungen haben im Verbergen schmerzlicher Gesuhle! Ach! und was gelitten! – Jetzt erst entdeckte er, wie schön sie sei; nicht von jener Schönheit, die ein jeder auf den ersten Blick erkennt und preist, nein, von der höheren, die Entzücken oder Schmerz auffordern müssen, daß sie hervortrete und sich zeige.
Er verbarg die rechte Hand unter seinem Rock und preßte sie mit Macht aufs Herz, um dieses gleichsam festzuhalten, damit es keine Thorheiten beginne.
Was weiter Kluges oder Albernes geredet ward, hörte er nicht mehr, obgleich er gedankenlos drein sprach, wenn die Schicklichkeit erforderte, daß er Bescheid gebe. Er sehnte sich nur nach dem Augenblicke, wo die Tafel aufgehoben würde. Zu seinem Schreck geriet der Herr Kommerzienrat noch einmal auf Kotzebue und forderte ihn auf, in dessen Stücken zu spielen. »Zum Beispiel ›Menschenhaß und Reue‹, daß ist moralisch, tugendhaft, rührend, ganz das Gegenteil von Clavigo und der ekelhaften schwindsüchtigen Mamsell. Hernach das niedliche Ding ... wie schreibt sich's gleich? ... wo der Schneider Fips vorkommt ... Können Sie den Fips machen, Herr Wulf? Er wird Ihnen wohl zu schwer sein! ... Wie heißt denn das schöne Stück? Mir fällt's nicht ein.«
»Dies Meisterwerk der Poesie ist die ›Gefährliche Nachbarschaft‹/«, entgegnete Wulf aufbrausend. Ihm war zu Mute, als müsse er dem Herrn des Hauses jetzt eine Schmach anthun; er vergaß alles um sich her; und wie ein Vogel, der hoch steigen will, die Flügel regt, eh' er sich vom Boden erhebt, bewegte er willenlos die Arme zum heftigen Anlauf, berührte mit seinem Ellbogen den der Nachbarin, empfand einen elektrischen Schlag und kam nicht fort über die »Gefährliche Nachbarschaft.«
Diesen Moment benützten die Damen, ihre Stühle zu rücken ... die Herren erhoben sich ... das Diner war überstanden.
Den Professor berief die Pflicht des Zeitungsschreibers ins Redaktionsbureau. Wulf verlor sich mit ihm nach kurzer, stummer Begrüßung der Mutter und Tochter. Herr Schundelius, in ein Fouragelieferungs-Gespräch verwickelt, bemerkte seine Entfernung nicht.
»Wie kommt dies Ungetüm zu solcher Tochter!« lautete des Schauspielers erstes Wort, als sie draußen waren.
»Das Ungetüm besitzt keine Tochter. Die Ehe war und ist kinderlos.«
»In welcher Beziehung steht dann meine Tischnachbarin zu diesen Leuten? Ist sie eine adoptierte Verwandte?«
»Ihre Tischnachbarin? Bester, Sie scheinen berauscht: nicht vom Weine, dessen Sie wenig genießen, wohl aber von der gefährlichen Nachbarschaft! Wissen Sie nicht, daß Sie neben der Kommerzienrätin saßen?«
»Die junge liebenswürdige Frau ...«
»Ist die zweite Gattin des alten, unliebenswürdigen Herrn seit drei Jahren ...«
»Dafür hielt ich die andere Dame, die sich den Jahren nach besser dazu geeignet hätte.«
»Der Rätin Mutter.«
»Diese hasse ich!«
»Die gute, stille Seele! Weshalb?«
»Weil sie ihre Tochter einem solchen Kerl an den Hals geworfen hat. Das ist fluchwürdig!«
»Ich find' es segensreich. Durch diese Frau haben wir ein angenehmes Haus gewonnen. Vorher war es nicht auszuhalten bei Herrn Schundelius. Jetzt finden wir dort unsere liebste Zuflucht im Winter. Was geistreich und unterrichtet ist, versammelt sich um Frau Julie, die ausnehmend gut versteht, verschiedenartige Elemente zusammenzuhalten. Das einzige, was uns bei ihr abgeht, wäre die Erlaubnis, ihren Herrn Gemahl hinauswerfen zu dürfen. Doch er kommt dergleichen frommen Wünschen zuvor und sitzt allabendlich in der Ressource am Spieltisch, so daß die Luft gewöhnlich rein bleibt. Sie werden das hoffentlich mit uns genießen! Auf Wiedersehen!« –
Seine Frau! Des Geldsacks Gemahlin! Fürchterliches Schicksal! ... Und er scheint sich gar nichts aus ihr zu machen. Hat sie nur aus Eitelkeit gekauft, als Ausputz, wie ein teures Möbel! Schauderhafter Patron! ... Und sie ... Gott behüte, ich betrete ihre Schwelle nicht mehr. Die Gefahr ist zu groß. Eine verheiratete Frau ... Nie, nie mehr! Wo bleiben alle Weiber, die ich kannte, Ludmilla nicht ausgenommen, im Vergleiche zu dieser Julia! Das ginge auf Leben und Tod! Gott behüte! Ich darf sie nicht mehr sehen!
* * *
Einige Monate, mehr als die Hälfte des Sommers, gingen vorüber, ohne daß Wulfs Festigkeit auf eine gefährliche Probe gestellt worden wäre; denn die Gesellschaft brachte, wie alljährlich, sechs bis sieben Wochen in H. zu. Nachdem sie zurückgekehrt waren, fiel ihm wohl ein, daß es Schuldigkeit sei, einen Besuch zu machen; doch er unterließ es, seinem Vorsatze getreu. Dadurch, tröstete er sich, bin ich vor künftigen Einladungen sicher gestellt; man wird mich für einen Flegel halten, der keine Lebensart versteht. Wie nun aber Woche auf Woche verstrich, und er die Direktoren ihr Befremden äußern hörte, daß Madame Schundelius sich auch bei seinen bedeutendsten Rollen nicht mehr im Schauspielhause blicken lasse, da bemächtigte sich seiner eine bange Wehmut. Er entschloß sich endlich, beim Professor anzuklopfen, und fragte, ob er sich vielleicht durch unbewußte Vernachlässigung auf der Bühne die seinem Talente geltende Gönnerschaft verscherzt habe.
»Davon kann nicht die Rede sein,« versicherte der Professor; »nichtsdestoweniger geht die Rätin auf meine Lobeserhebungen nicht mehr ein. Sie vermeidet von Ihnen zu sprechen. Ich weiß nicht, was sie hat! Es muß im Hause Verdrießlichkeiten geben. Sie ist zerstreut, verstimmt, nicht heiter wie sonst.« – – –
Wenn sie mich vermiede, dachte Wulf, wie ich sie zu meiden gelobte, und aus demselben Grunde! Wenn sie, um ihre Ruhe nicht zu gefährden, sich vorausgesetzt hätte, mich nicht mehr spielen zu sehen! Wenn sie mich ...?
Das war ein unseliger Gedanke. Wer hatte ihn eingeblasen? Wie konnt' er entstehen?
Ja, wie entstehen Gedanken? Woher kommen Ideen? Gute und böse, beglückende und quälende, reine und unreine? Wer vermag's zu sagen? Wulfs Gedanke hielt die Mitte zwischen diesen Grundsätzen; er war an sich weder dies noch jenes. Unselig dennoch, weil er den Frieden der Entsagung raubte und einer beunruhigenden Hoffnung Raum gab.
Wer mag doch die Hoffnung als Götzenbild auf einen Thron gestellt haben? Sie verdient wahrlich die Anbetung nicht, die leichtsinnige Thoren ihr widmen, nicht den Weihrauch, den Sänger und Dichter ihr spenden. Sie ist nicht bloß eine Betrügerin, sie ist auch eine gewissenlose, grausame Quälerin. Werden die kleinen Reize, womit sie den Unglücklichen kitzelt und aufstachelt, um ihn hinzuhalten, nicht endlich zu größerer Marter als wirkliche, todbringende Schmerzen! Der Entsagende lernt genügsam sein und schweigen; der Verzweifelnde darf sich wenigstens ausrasen; der Hoffende soll streben, sich bemühen, dankbar lächeln ... Das bringt der Jüngling notdürftig zustande, für den Mann taugt's nicht mehr.
Der Septembermonat kam wie ein trauter Freund, unserm Freunde die Hand zu reichen, ihn hinauszugeleiten ins Freie. In mildem Herbst am Strome wandeln, unbeachtet, einsam; in die Wellen schauen; ihren Lauf mit den Augen verfolgen; daß Feldgeschrei der Wandervögel vernehmen, die sich zur weiten Reise scharen; den Fischer aus der Ferne sehen, wie er im kleinen Kahne sich schaukelt; ... der hohe Himmel blau und klar, von Wetterwolken rein! Die Sonne wärmend, die Luft erfrischend! Die Bäume bunt gefärbt, als ob ihre Blätter Blüten wären und die roten Beeren Knospen! ... Woher stammt das wehmutsüße, behagliche Gefühl des Friedens im Herbst? Doch wohl aus einer sanften Vorahnung des Todes! Die bunten, absterbenden Blätter sind seine Boten: sie verkündigen den großen Winterschlaf unter weißem Grabestuche. Das giebt Empfindungen, die nur unsere nördlich gemäßigte Zone gewährt. Der heiße Süden kennt sie nicht.
Wulf hatte sich einen Lieblingsweg ausgesucht, der ihn zwischen Gartenzäunen auf menschenleeren Pfaden durch die Vorstadt ins Freie führte. Den ging er fast täglich und grüßte jedweden überhängenden Zweig, jeden von schwarzen und roten Beeren prangenden Strauch wie einen guten Bekannten. An einer Stelle machte er gewöhnlich Halt, lehnte sich gegen eine Bretterwand und starrte hinüber auf das an der Straße stehende Lusthäuschen unter uralten Fichten, deren dunkelgrüne Äste ein hohes Dach über dem Dächlein wölbten. Das Fenster des kleinen Gebäudes war mit hölzernen Laden geschlossen. Einigemal schon hatte er gemeint durch die Spalten der Jalousien einen Glanz dringen zu sehen, wie er nur menschlichen Augen entströmen kann. Wessen Augen blickten nach ihm? Wer lauschte hinter jener Mauer auf sein Vorüberkommen? Es fehlte ihm in M. so wenig als anderswo an namenlosen Zuschriften, deren Schreiberinnen des Schauspielers Umgang wünschten. Er vernichtete alle unbeachtet, fast ungelesen. Wollten ihn die neckenden Irrlichter, die da aus dem Dunkel flimmerten, in einen Sumpf locken? oder waren es Sterne, deren Strahl aus höherer Sphäre zu ihm hernieder drang? Hundertmal hatt' er angesetzt, sich zu erkundigen, ob der Kommerzienrat in jener Vorstadt einen Garten besitze, und wo dieser liege? Er hatt' es nie vermocht. Die heilige Scheu, welche ihn abhielt, sein Geheimnis durch profane Gespräche zu entweihen, veranlaßte ihn auch, sich einen andern Weg ins Freie zu suchen. Eine Woche lang mied er die Nähe des Gartenhauses unter den Fichten.
Am fünfundzwanzigsten September überkam ihn ohne bestimmte Veranlassung die unabweisliche Sehnsucht danach. Er hatte am Abend zuvor den Tell gegeben, den er sich in seiner aufgedrungenen Stellung als »jugendlicher Held« förmlich erflehen müssen, und den ihm Faber nur »abgetreten« aus Rücksicht für die Kasse. Es war ihm damit gelungen, so daß er mit sich zufrieden, ein seltener Fall bei ihm, eine Belohnung verdient zu haben glaubte, und diese bestand in dem seit acht Tagen gemiedenen Wege. Wie er sich der engen Gasse näherte, die zum Ziele seiner Sehnsucht einbog, da erfaßte ihn Todesangst: »Noch ist's Zeit; noch kannst du umkehren!« ... Und er wollte umkehren, ja er wollte ... aber seine Füße trugen ihn dennoch immer weiter vorwärts ... »Nur noch einen Schritt!« ... Jetzt lehnte er an der Ecke des Gartenzaunes ... jetzt übersieht er den schmalen Raum zwischen den Planken ... die Jalousien, die Fensterflügel stehen offen, und im Fenster sitzt, ein Zeitungsblatt in den Händen, Julie.
Er regt sich nicht. Unbeweglich bleibt er auf dem grünen Rasenfleckchen, als ob er einwurzeln wollte. Julie kann ihn nicht atmen hören. Sie kehrt ihm den Rücken; sie liest aufmerksam. Sind es Berichte vom Wiener Kongresse, die ihr wichtig erscheinen? O nein! Denn wie sie sich erhebt, und vom Papiere fort, herausblickt, trägt ihr Angesicht den Ausdruck der Betrübnis. Nur eine Bewegung des Kopfes ... und sie wird ihn sehen ... und er sieht sich dem Verdachte bloßgestellt, sie als Spion hierher verfolgt zu haben? Das darf nicht sein! Er denkt daran, sich unsichtbar zu machen, hinter dem Vorsprunge des Zaunes sich zu verbergen ... zu spät! Sie schrickt zusammen ... ohne aufzublicken hat sie seine Nähe empfunden ... sie verschwindet ihm ... er vergißt, daß er entfliehen wollte ... er dringt weiter vor ... er steht unter dem Fenster ... nun zeigt sie sich ihm wieder ... er zieht den Hut herab ... ohne Gruß, ohne Anrede bleiben beide ... und dennoch sagt ihr Schweigen so viel.
Wenn zwei edelgesinnte Menschen an der Grenze sich begegnen, die selbstbeherrschende Resignation vom Ausbruche verderblicher Leidenschaft scheidet, so darf mit Zuversicht angenommen werden, das schwächere Geschlecht werde das stärkere sein. Wo der Mann zögert, schwankt, zweifelt, tritt die Frau handelnd auf und sucht zu retten, was noch zu retten ist. Freilich hätte sie auch, könnte sie keinen Widerstand leisten, alles zu verlieren, wo für den Mann wenig oder nichts auf dem Spiele steht. Doch daran denkt sie nicht in solchem Augenblicke. Der Gefahr würde sie Trotz bieten; dem anerkannten Pflichtgefühl unterwirft sie sich. Leider müssen wir zugestehen, daß derlei starke Vertreterinnen des schwächeren Geschlechts nicht allzu häufig sind.
Julie gehörte zu den achtbarsten Ausnahmen. Mit übermenschlicher Anstrengung errang sie noch einen Sieg über die drohende Gefahr. Sie reichte das Zeitungsblatt hinab, in fester Hand, ohne zu zittern, und sagte dabei: »Lesen Sie doch, Herr Wulf, diesen Aufsatz, der Ifflands Tod meldet.«
Er hielt das Blatt, die Buchstaben schwirrten vor ihm herum wie eben so viele Glühwürmer zwischen den Gräsern eines Friedhofes. Er wußte nicht, wo er war, nicht, was mit ihm geschah, Julias Stimme tönte in ihm nach, und ein dumpfer Glockenton schlug aus der Ferne die Todeskunde an. Aber alles war einem Traume ähnlich, und von der Wirklichkeit hatte er kein rechtes Bewußtsein.
Als er zu sich kam, stand er noch, wo er zuvor gestanden, die Zeitung hielt er ungelesen wie zuvor; die Fenster waren geschlossen, und grüne hölzerne Laden bedeckten sie. Abermals glänzte und flimmerte es zwischen Fugen und Ritzen, doch überzeugte er sich, daß es der Wiederschein gläserner Spiegelscheiben gewesen, was er für strahlende Augen gehalten.
* * *
Wenige Tage nachher enthielt die M.sche Lokalzeitung neben einer kurzen Betrachtung über Ifflands Tod verschiedentliche halb authentische, halb unverbürgte Nachrichten, welche des Hingeschiedenen Ersatzmänner, teils im administrativen, teils im künstlerischen Fache betrafen. Für die Generaldirektion ward ein königlicher Kammerherr von vornehmem Range und altem Namen bezeichnet. Als sein Nachfolger auf den Brettern sei der Schauspieler berufen, welcher sich bereits in einer der größten Provinzialstädte glorreich hervorgethan und sich die Gunst des in hochwichtigen Zeitläuften dort vollzählig versammelten königlichen Hauses erworben habe. Weiter wurde angedeutet, »es wolle verlauten, daß ein hierorts nach Verdienst anerkannter und allbeliebter Künstler für die Stelle des von Breslau nach Berlin vorrückenden Meisters ausersehen sei; und man könne der dortigen Verwaltung sowohl, als dem Auserwählten zu dieser Wahl nur Glück wünschen. Obgleich der Verlust des Lieblings aller Gebildeten hier tief empfunden werden dürfte!«
Wulf, von Anfragen und Gratulationen überhäuft, mußte bedauern, bis jetzt »noch nichts Bestimmtes darüber mitteilen zu können!« Dennoch veranlaßt ihn diese, offenbar vom Professor ausgeheckte und in günstiger Absicht publizierte Zeitungslüge, ausnahmsweise seine ihm eigentümliche Scheu zu überwinden und an Herrn Karl Schall zu schreiben, dem er als Entschuldigung die gedruckte Notiz mitschickte. Er empfing eine ausweichende Antwort, etwa folgenden Inhalts: »Regierungsrat Streit ist von der Leitung des hiesigen Theaters zurückgetreten, und da ich zu dem gegenwärtigen dramatischen Direktor nicht in den freundschaftlichen Beziehungen stehe als zu jenem, so bin ich außer stande, Ihrem schätzbaren Vertrauen wirksam zu entsprechen. Auch muß ich darauf hinweisen, wie es durchaus nicht das von Ew. Wohlgeboren ausgefüllte Rollenfach ist, welches durch D.s Abgang erledigt wird. Es thut mir im Andenken an unsern hübschen Abend mit dem Unvergeßlichen recht leid, nichts mehr für Sie thun zu können. Hätten Sie sich damals von Piastau an mich gewendet, da wäre günstigere Konstellation gewesen.«
Wenn nun auch dadurch des Professors wohlgemeinte Redaktionslist entschieden vereitelt war, so hatte sie doch eine andere, für Wulf höchst wichtige Folge. Der Kommerzienrat ward von den vielfältigen Klagen, die sich rings um ihn her wegen Wulfs bevorstehendem Abgang erhoben, auf den Längstvergessenen wieder aufmerksam gemacht und legte es seiner Frau wie eine Verpflichtung auf, »den Menschen, an dem die Leute nun einmal einen Narren gefressen,« zu ihren Abendgesellschaften einzuladen! »Er kann ihnen ein bißchen die Zeit vertreiben!«
Julie wußte nicht auszuweichen. Es fehlte ihr an mitteilbaren Gründen für eine entschiedene Weigerung, und sie fügte sich dem Gebote. Die Einladung abweisen konnte Wulf nicht füglich, weil sie den beiden Abenden in der Woche galt, wo das Theater gewöhnlich geschlossen blieb.
Der erste Gang zu diesen Thees fiel ihm recht schwer. »Es ist mir bänger ums Herz,« sprach er, »und schnürt mir die Brust enger zusammen, als wenn ich eine große Rolle vor mir hätte.« Im Saale legten sich Angst und Besorgnis bald. Es war nicht wie beim Diner, wo die wenig Anwesenden Raum und Zeit fanden, einander gegenseitig zu kontrollieren. Die Abendgesellschaft, zahlreich und belebt, trieb sich plaudernd durcheinander. Sobald er der Frau vom Hause und deren Mutter die herkömmlichen Verbeugungspflichten geleistet und etliche Begrüßungsworte gemurmelt – wobei er vorsichtig vermied, Julien frei in die Augen zu blicken – war das Schlimmste überstanden, das für ihn Gefährlichste wenigstens. Denn an Langweiligem fehlte es nicht, weil jeder und jede ihn »kennen lernen wollte!« Dem armen Professor legten sie die Mühe auf, den Schauspieler, den ersten wohl, der jemals in diesen Kreisen erschien! da- und dorthin zu führen und das Amt zu üben, für welches die Römer eigene Nomenklatoren gehabt.
Wulf ging von einer Gruppe zur andern, wie ein seltenes Tier ... wie ein Elefantenkalb, meinte er, dessen Kornak der Professor sei. Bald wurde das Verlangen rege und dem Kornak kundgegeben, des gelehrigen Geschöpfes Kunstfertigkeiten zu sehen. Dagegen stellte Wulf sich zur Wehr, und der Professor unterstützte seine Weigerung, was die Damen höchlich Wunder nahm. Man wendete sich an die Kommerzienrätin, und eine ganze Schar schöner Mädchen und alter Weiber bestürmte sie, daß sie ihren Gast zu irgend einer Produktion veranlasse! Er stand seines Urteiles gewärtig, ihres Ausspruches harrend, dem er sich zwar unterworfen und Gehorsam geleistet, aber sich auch gewiß gleich darauf entfernt und nie mehr exponiert haben würde.
Julie gab eine bestimmte Erklärung ab: »Wenn Herr Wulf Sänger wäre und dem Wunsche dieser Damen sich fügen wollte, so könnte ich nichts dagegen einwenden, daß er eine Arie vortrüge, obgleich es meinen Ansichten vom Gastrecht zuwiderläuft, mich für eine freundlich angenommene Einladung bezahlt zu machen. Einem Schauspieler jedoch, der eben nur im Vereine mit anderen sein Talent zu entfalten angewiesen ist, darf gewiß nicht zugemutet werden, sich hier einzeln zu produzieren; in meinem Hause wenigstens würde ich nicht dulden, daß man ihn dazu zwänge. Ich stelle die dramatische Kunst höher ... und auch Herrn Wulf. Die ihn zu schätzen wissen, finden ja Gelegenheit, ihn auf der Bühne zu bewundern; und diejenigen, welche diese Gelegenheit nicht benützen, haben um so weniger Ansprüche auf ihn.«
Tiefes Schweigen. So energisch war Frau Kommerzienrätin noch nicht vorgetreten, seitdem sie »das erste Haus« in der Stadt machte. Zur Ehre der Anwesenden sei gesagt, daß die Mehrzahl ihr beipflichtete. Der Professor hielt eine förmliche Abhandlung über ihren feinen Takt und zarten Sinn.
Wulf näherte sich ihr. Sie konnte ihm nicht entwischen, so gern sie es offenbar gethan hätte. Es bildete sich ein Kreis um ihn und sie. Alle waren gespannt zu hören, wie er ihr danken, und ob er sich seines Schauspielerberufes auch im Salon würdig zeigen werde.
Er sagte laut und allgemein verständlich: »Durch Ihren offiziellen Ausspruch, Frau Rätin, haben Sie mir erst eine feste Stellung in Ihrer Gesellschaft angewiesen. Ich halte mich der Achtung, die meinem Stande und mir dadurch zu teil ward, nicht unwert. Aber nun seh' ich auch nicht mehr, was mich hindern könnte, zur Unterhaltung Ihrer Gäste durch mein Talent beizutragen? Sie bemerkten vollkommen richtig, daß der Akteur mit detachierten Scenen in solchen Kreisen nicht auf seinem Platze ist. Ich will also nächsten Mittwoch ein hier noch nicht aufgeführtes neueres Schauspiel mitbringen und Ihnen aus diesem einen Akt vortragen. Für meine Mängel mag die Dichtung entschädigen, und ich zeige dadurch ...«
Die Zuhörenden ließen ihn nicht ausreden, sie unterbrachen ihn mit Beifallsruf, und es entstand ein vielstimmiges Gesurre der Befriedigung. Diesen Moment benutzte Wulf, um Julien zuzuflüstern: »Unter diejenigen, welche die Gelegenheit, mich spielen zu sehen, nie mehr benutzen wollten, gehören auch Sie!«
»Hab' ich denn Ansprüche gemacht?« erwiderte sie ... und schon war sie ihm im Gedränge ihrer Gäste entschwunden.
* * *
Der Winter hatte kaum seine Herrschaft angetreten, da wußte Wulf, daß er geliebt sei. Sie that es ihm durch nichts kund, als durch gewissenhaftes Vermeiden jeder Annäherung. Wie groß mußte ihr die Gefahr erscheinen, wenn sie auf Kosten alltäglicher Höflichkeitsbeziehungen vermied, ohne Zeugen in nächster Nähe eine Silbe mit ihm zu wechseln! Deshalb also hatte sie keiner von seinen Darstellungen mehr beigewohnt, seitdem die ersten Besorgnisse für ihre Ruhe erweckt. Doch was nützen alle Vorsichtsmaßregeln, wo zwei Seelen in gleicher Sehnsucht sich zu einander gezogen fühlen? Mitten im leeren gedankenlosen Treiben der andern Welt spinnen und weben sie an der ihrigen und bilden sich eine Zeichensprache, die verständlicher ist, die verführerischer wirkt, als lange ausführliche Gespräche. Nicht einmal den Schein retten sie. Von hundert neidischen und boshaften Augen bewacht, gelten sie längst für einig, werden ein Liebespaar gescholten, und je ferner sie sich voneinander halten, desto eifriger dichtet ihnen verleumderische Nachrede heimliche Zusammenkünfte an. Sie ahnen dies Unheil und sie gehen, thatsächlich schuld los, dennoch wie schuld beladen umher. Ihr Gewissen raunt ihnen zu: »Was Lästerung von euch lügt, in der Idee habt ihr's ja doch schon gesündigt!«
Es hat Frauen vom schlechtesten Rufe gegeben, die ihr Lebenlang nichts Schlimmeres begingen.
Der Professor, in dessen Arbeitsstube die bösen Gerüchte endlich auch drangen, hielt sich verpflichtet zu warnen. Er machte in seiner Eigenschaft eines älteren Freundes, die Rätin aufmerksam, wie unklug sie handle, sich im Theater nicht zu zeigen. Ihr Wegbleiben müsse für berechnete Absichtlichkeit ausgelegt werden. Kein Mensch könne glauben, daß sie für Wulfs Genie unempfindlich sei.
Jetzt entschloß sie sich, eine Loge zu nehmen, und fiel aus einem Extrem ins andere, denn sie ließ keinen Theaterabend mehr aus. Auch wenn er nicht auftrat, war sie anwesend. Dann stand er im Parterre ihr gegenüber. Das stieß dem Fasse den Boden aus. Es hieß: nun setzen sie sich auch über »die Formen« hinweg!
Wie gewöhnlich war der Herr Gemahl der Letzte, den der schlechte Leumund seiner Gattin erreichte. Wenn's noch ein vornehmer Mann wäre! äußerte Schundelius, der alles, was von Anlagen zur Eifersucht etwa in ihm keimte, seinen Geschäftskonkurrenten zuwenden mußte und kein Atom davon in Banken behielt für seine Frau. Sein Wahlspruch hieß: Ich geh' meine Wege, laß sie die ihrigen gehen! – Nur Schande darf sie der Firma nicht machen. Ein Komödiant, das ist wider die Kleiderordnung.
Er schickte einen Commis ab, der anfragen sollte, wie viel der Schauspieler Wulf an barem Gelde verlange, wenn er binnen drei Tagen die Stadt verlassen wolle?
Der Commis brachte den Bescheid, Herr Wulf hätte ihm zwei Ohrfeigen geschlagen und ihn aus dem Zimmer geworfen. Herr Kommerzienrat schenkte dem Commis für jede Ohrfeige einen Friedrichsdor, für den Hinauswurf einen dritten, mit dem Befehle über die Sache zu schweigen.
Dann begab er sich zu seiner Frau, um ihr anzuzeigen, daß sie »mit dem Schauspieler zu brechen« habe, und daß sie ihm »absagen« müsse.
»Auf Ihr Geheiß,« erwiderte sie gefaßt, »hat man ihn neuerdings eingeladen, und zwar in Bausch und Bogen für sämtliche Wintersoireen. Ich habe keine Veranlassung, ihn plötzlich auszuschließen. Solche grobe Beleidigung kann nur von Ihnen ausgehen, und Sie sind Herr in Ihrem Hause!«
Als dieser ließ der Herr Kommerzienrat, diesmal durch einen Diener, bestellen: »Er finde sich veranlaßt, dem Schauspieler Wulf sein Haus zu verbieten!«
Wulf schenkte dem Diener einen Thaler und entließ ihn freundlich.
Fünf Minuten später brachte ein Stubenmädchen folgende Zuschrift von Julias Mutter:
»Herr Kommerzienrat S. will nicht, daß Sie ferner unsere Gesellschaften beehren. Meine Tochter hat nichts versucht, sich gegen den brutalen Befehl aufzulehnen, aus Hochachtung für Sie und Ihren gerechten Stolz. Da Sie aber dem Herrn Kommerzienrat keine Berechtigung zugesteht, diejenigen roh zu kränken, die ihr wert sind, so wünscht sie den Umgang mit Ihnen fortzusetzen und ladet Herrn W. durch mich ein, sich morgen Nachmittag vier Uhr ins bekannte Gartenhäuschen zu begeben. Dieses ist mein Eigentum, und wir werden uns eine Ehre daraus machen, Sie dort zu empfangen.
Ihre ergebene Christiane, Witwe F.«
Was aus dieser Opposition hervorgegangen ist, die eine in ihrer Tochter verletzte Schwiegermutter leitete, läßt sich leicht erraten.
Am Kamine, vor hell loderndem Feuer sitzend, erwarteten die zwei Frauen den verbotenen Gast. Julie hatte schwerlich vorher bedacht, daß eine Auseinandersetzung der Verhältnisse unvermeidlich sei, und daß diese nicht stattfinden könne ohne Berührung zartester Saiten, die man niemals ungestraft anschlägt. Es mußte ja zur Sprache kommen, welch' unbegründeter Argwohn Herrn Schundelius angetrieben, so unerhörte Flegeleien zu begehen. Und wie dieser Argwohn erst ausgesprochen, war auch die Schranke gefallen, welche die Liebenden zwischen sich aufgerichtet und bisher mit seltener Willenskraft erhalten hatten. Fernere Zusammenkünfte wurden verabredet. Die Gegenwart der Mutter diente zur Rechtfertigung. Doch weil der Weg in die Vorstadt jedesmal zu Fuß angetreten werden mußte, denn des Kommerzienrats Kutsche hätte Aufsehen erregt, und weil die kränkelnde Matrone bei rauhem Wetter sich nicht hinaus wagte, so blieben die Liebenden häufig allein. Was dann vorging, hätte zwar keinen Zeugen zu scheuen gehabt; es geschah nichts Unrechtes. Aber was gesprochen wurde, nahm doch jedesmal die bedenklichste Wendung, und ihre Herzen wuchsen immer fester ineinander. Mochte er tausendmal beschwören, daß Julia seine erste, wahre Liebe sei ... ableugnen konnte er doch nicht, daß er dieselbe Versicherung schon früher gegeben, daß er andere (Ludmilla vor allen) schon zu lieben gewähnt habe; daß er folglich, an Siege gewöhnt, Gefahr bringe! Und mochte sie, im vollen Glauben an sich, ihrer Gefühle Reinheit darthun ... ableugnen konnte auch sie nicht, wie schwach sie sich im Widerstande gegen seine Wünsche und Bitten empfinde.
Ein Hilfsmittel, dessen Wirksamkeit sich bald erprobte, wendete sie mit weiblicher Schlauheit, die sittsame Weiber auch als edlere Waffe zu führen verstehen, bei drohender Gefahr ihres Alleinseins nie vergeblich an: Sie verwickelte ihn in ästhetische Streitigkeiten, bekämpfte seine künstlerischen und poetischen Ansichten, oft ihren eigenen widersprechend, nur um ihn »auf andere Gedanken zu bringen.« Und er, ein Kind von fünfunddreißig Jahren, derselbe, der er einst in Kauzburg gewesen, ging naiv und treuherzig darauf ein, nicht ahnend, daß sie mit ihm spiele.
Eines ihrer unerschöpflichsten Themas für diesen tugendsamen Zweck blieb die notwendige Moralität der Poesie! und Gegenstand stets erneuter Angriffe Goethes oft angefochtene »Sittenlosigkeit.« Dadurch ließ Wulf sich unfehlbar in Zorn bringen, verlief sich in heftige Diskussionen ... und vergaß, welche kühne Hoffnungen er von dieser Zusammenkunft gehegt.
Sie las den »Wilhelm Meister.« Was wußte sie nicht immer und immer wieder für Anklagen auf dieses Werk zu richten! Wie täuschend spielte sie die Entrüstete. Und immer ließ Wulf sich täuschen. Immer und jedesmal predigte er gegen die abscheuliche Prüderie des Philistertums, welche die Künste zum Hausmittelchen für Familienwohlergehen und Sittsamkeit herabwürdigen wolle, gleich Sennesblättern, Rhabarber und Kamillen. Immer wieder stritt er für Wilhelm Meister, dessen erstere Teile er das Evangelium der kleinen gläubigen Theatergemeinde nannte.
»Und der Schluß des Werkes?« fragte Julie.
»Der ist mir lange ein Greuel gewesen. Er schien mir die Sache der Prosa siegen lassen zu wollen im Kampfe mit der Poesie. Jetzt denk' ich auch darüber schon ruhiger. Ich bin nicht mehr so blind begeistert für eine Kunst, die mir meine kindlich-treue Anhänglichkeit stiefmütterlich vergolten. Und dann ... ist mir doch, als käme sie täglich mehr herab, verlöre ihre Glorie trotz all' der Pracht und Herrlichkeit, womit sie jetzt umkleidet wird. Vielleicht denk' und red' ich wieder einmal wie der Fuchs, als er die Trauben sauer nannte? ... aber ich kann mir nicht helfen: ich habe etwas gegen die Hoftheater! Seitdem Ifflands Stelle nicht mehr durch einen von Metier besetzt worden ist, seitdem ein Höfling sie bekleidet ... es mag ein kluger, guter Herr sein ... fürs Theater im allgemeinen ist's ein Unglück, für die deutsche Schauspielkunst ein Rückschritt. – Die Zeit wird's lehren!«
Er versank in ernstes Sinnen ... und die Gefahr für Julien war abermals vorübergegangen.
* * *
»Des Märzen Idus ist nun da!« nicht um Cäsarn den Tod von Mörderhand, sondern um Europa noch einmal den Krieg von eines modernen Cäsars Hand zu bringen. Die Manifeste vom dreizehnten und fünfundzwanzigsten riefen zu den Waffen wider Napoleon, verkündeten die erneuerte Alliance. Truppenmärsche belebten abwechselnd die Stadt, Freiwillige strömten von allen Seiten zu, Jägercorps bildeten sich, der kaum gelöschte Rachedurst loderte in blutroten Flammen auf, und der Puls des öffentlichen Lebens zeigte mit raschen dicken Schlägen auf heftiges Fieber. Auch jene kleine Welt, die in und von der großen lebt und zehrt, die Schaubühne ward davon ergriffen und fieberte mit, so gut, so schlecht sie konnte. Sie suchte sich den Bedürfnissen der Zeit anzuschließen durch Darstellung patriotischer Stücke und Scenen, teils aus älterem Vorrat herausgefunden und der Gegenwart angepaßt, teils Gelegenheitsstücke, in den jüngst vergangenen Kriegsjahren entstanden. Ein solches – dieses aber aus der noch früheren Epoche der österreichischen Kriege für Wien gedichtet und komponiert – sollte über unseres Helden, über Julias Geschick entscheiden.
»Manchmal strebt er wohl romantische Höhe zu erklimmen, doch zum Dorf im Gebirg rollt er gelinde hinab;« so spöttelt Schlegel im epigrammatischen Katalog Kotzebuescher Schauspiele und begeht damit eine Ungerechtigkeit. Denn genanntes Schauspiel macht gar keine Prätension und hat den guten Zweck erfüllt, im Gewande harmloser Scherze und schlichter ländlicher Auftritte die erhebendsten patriotischen Wirkungen hervorzubringen, wozu allerdings Weigels angenehme Musik beitrug. Wulf hatte einen aus dem Feldzuge heimkehrenden schwerverwundeten Offizier zu geben, der die Seinigen durch einen reisenden Maler auf den Anblick des Totgeglaubten vorbereiten läßt. Einzelne zeitgemäße Schlagworte wußte er so gewaltig herauszuheben, daß der Enthusiasmus der Zuhörer aufs höchste stieg und ihn selbst fortriß. Er gestand, wie er am nächsten Tage mit Julien zusammentraf, in Beziehung darauf ein: »Wäre gestern Abend ein Bataillon vorübergezogen, um sich zur großen Armee zu begeben ... weiß es Gott, ich befand mich in der Stimmung, mit zu marschieren!«
»Und weshalb thun Sie's nicht?« fragte Julie.
Er sah sie groß an.
»Ich rede im vollkommensten Ernste, Freund. Diese Tage her nagt es an meinem Herzen, und nun Sie selbst den wunden Fleck berühren, nun will, nun darf ich's nicht verschweigen. Es thut mir weh, es kränkt mich tief, den Mann, den ich mehr liebe als mein Leben, dem ich mit der Seele edelsten Empfindungen angehöre, wie einen Fremdling, gleichgültig, teilnahmlos, inmitten eines hochbegeisterten Volkes – seines Volkes! – zu erblicken. Ja, während sie gestern Abend, mit Tönen, wie nur Ihrer Brust entsteigen, aufriefen zum Kampfe; während Kinder, Weiber und Greise Ihnen Beifall jauchzten; während die anwesenden Krieger ihre Säbel klirren ließen und siegestrunken einstimmten, da ... zürnen Sie mir nicht, geliebter Freund, weil ich's ausspreche ... da schämte ich mich für Sie. Mir gegenüber saß ein Offizier, der lächelnd auf Sie herab sah. In seinen Mienen stand zu lesen, daß er von Ihnen dachte: »Dieser Mensch ist einem Prediger vergleichbar, von dem es heißt: richtet euch nach meinen Worten, doch nicht nach meinen Werken!« Um seinen Mund spielte bitterer Hohn. Ich konnte die Idee nicht ertragen, daß er, die tapfere Brust von Ehrenzeichen geschmückt, denjenigen verächtlich betrachtete, den ich liebe und ehre. Es ließ mir keine Ruhe. Ich bat den Professor über diesen Mann Erkundigungen einzuziehen. Der gefällige Alte brachte mir den Bescheid: Premierleutnant Julius, auf dem Durchmarsch zu seinem Regiment; früher ein sehr beliebter und eleganter ... Schauspieler!«
»Der Breslauer Julius?«
»Derselbe. Wissen Sie, was mich im unruhigen Schlummer vergangener Nacht für ein Traum gequält hat? Sie spielten auf der Bühne einen wackern Rittersmann und hielten feurige Reden. Julius trat in Uniform aus der Coulisse, schlug Ihnen das Schwert aus der Hand und schalt Sie: Maulheld! Es war ein fürchterlicher Traum und wollte gar kein Ende nehmen. Immer aufs neue ... sind Sie mir böse?«
»Wie sollt' ich, Julie? Sagen Sie mir denn, was ich mir nicht selbst sagte? Lastet nicht, seitdem ich Sie kenne und liebe, der uralte bürgerliche Makel, der das Histrionenvolk bedrückt, doppelt schwer auf mir? Gesteh' ich mir's nicht ein, wenn ich nach diesem Gartenhause schleiche wie ein Dieb?«
»Und hab' ich nicht stets Ihre krankhaften Selbstquälereien in Nichts aufgelöst, sobald Sie mir damit kamen? Wer in der Meinung der Besseren, ja Besten so hoch als Künstler steht wie Sie, der darf sich auch im bürgerlichen Leben neben jene stellen. Und daß die Liebe ihn anerkennen will, habe ich Ihnen bewiesen. Davon ist hier nicht die Rede. Nicht von der bürgerlichen Bedeutung oder Geringschätzung des Schauspielers und seines Standes, nur von der Pflicht des Deutschen für sein Vaterland.«
»Das deutsche Vaterland? wo ist es?«
»In unserm Geist, in unserer Seele, in unserm Herzen, in unserer Sprache soll es sein! Nur wenn wir daran glauben, können wir's herstellen. Und wem liegt es näher, daran zu glauben, als dem Künstler, der seine größten Dichter lebendig macht, wie Sie es thun? Ich würde blutige Thränen weinen, Sie von mir scheiden zu sehen ... aber meine Liebe würde sich zur Anbetung steigern, wüßte ich den Geliebten gerüstet in den Sieg ziehen!« –
»Oder in den Tod!« –
»Auch in den Tod, den er um diesen Preis nicht fürchtet!« –
»Den er nicht fürchtet! Du wirst von mir hören, Julie!« – Damit verließ er sie.
* * *
Einige Tage später stand in der Zeitung unter den »Vermischten Nachrichten«: »Unsere Bühne erleidet einen unersetzlichen Verlust. Der Stolz und die Zierde derselben, der hochbegabte Schauspieler Wulf, hat sich zum Freiwilligen einkleiden lassen, den Feldzug mitzumachen. Wie überall hat er sich auch hier und jetzt als ehrenwerter Mann gezeigt. Sein Andenken wird in unserer Stadt fortdauern. Wir flochten ihm den Lorbeerkranz; mög' er mit dem deutschen Eichenkranze geschmückt wiederkehren, zweifache Triumphe zu feiern!«
Am Abend des nämlichen Tages – der März war zu Ende, und die Veilchen blühten – lauschte hinter den nur halbgeöffneten Jalousien des uns wohlbekannten Gartenhäuschens eine uns nicht unbekannte junge Frau, welche ihren Platz mit anbrechender Dunkelstunde dort eingenommen.
Um acht Uhr kam raschen Schrittes ein Mann des Weges, aus dessen flatterndem grauen Mantel Uniform und Seitenwaffe des Soldaten hervorblickten. Wie er sich dem Häuschen näherte, sang er mit leisen Tönen die Schlußzeilen eines damals allverbreiteten Liedes: »Bleib' ich doch treu bis in den Tod dem Vaterland und meiner Liebe!«
Sogleich thaten sich die grünen Laden auf. Der Sänger schwang sich im Nu über die Fensterbrüstung ... dann schlossen sich die Laden wieder ... und der Gesang verstummte.